Gute Einfälle, schlechte Einfälle

  • Dies ist ein Versuch, allerdings kein Versuch, einen neuen Regietheaterthread aufzumachen. Hier geht es darum, nicht ganze Inszenierungen zu analysieren und zu bewerten, sondern gelungene oder misslungene Einzeleinfälle, die dann natürlich Rückschlüsse auf das Ganze erlauben. Der Anlass zu dieser Idee war der "Figaro" am Donnerstag auf arte, live aus Aix, eine etwas unentschiedene Mischung verschiedener Inszenierungsstile (ich habe absichtlich keine Regietheater - Inszenierung gewählt).


    Beispiel 1: Akt III, Szene 23, die Szene mit dem Billet und der Nadel. Geht das, ein Billet mit der Nadel zu schließen, wenn die Szene in einem modernen Büro eines Rechtsanwaltes spielt?


    Beispiel 2: Arie der Gräfin Akt III, Szene 8 (dove sono): die Gräfin singt von ihrem Schmerz, ihrer Trauer, aber sie ist nicht allein, ihr Mann in Robe geht umher, Figaro und Susanna sitzen auf Stühlen. Da will uns doch der Regisseur mit dem padagogischen Zeigefinger sagen: seht, da sind die Schurken oder die Mitwisser. Für meine Begriffe vermindert der Regisseur damit die Wucht der Trauer und der Einsamkeit der Gräfin; er verfehlt die Szene deutlich, indem er sie erklärt. Aber diese Trauer ist von Mozart komponiert, und wenn die Arie gut gesungen und ergreifend gespielt wird, braucht es mehr nicht.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zum 2.Bsp (denn ich habe die Aufführung auch gesehen) ich empfand das gar nicht als so als Verminderung der Trauer. Gerade die Einsamkeit kam so doch noch besser raus, einsam unter vielen sozusagen.
    Bsp. 1 fand ich dagegen auch weniger passend...da sieht man doch eben, dass nicht immer alles total durchdacht ist und wenn es nur ein Detail ist.


    Was ich einen guten Einfall fand, ist die Darstellung des Drachens in "Siegfried" an der Bayerischen Staatsoper dieses Jahr
    zu sehen dort (Bild 7) :
    http://www.bayerische.staatsop…erien~fotogallerien.html#


    Als Drache zu erkennen und trotzdem surreal (weil ich allerdings die Inszenierung nicht gesehen habe, weiß ich nicht, wie dieses Bild im Konzept zu Stande kam). Und gruselig wirkt es alle mal.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Lieber Dr. Pingel,


    unbesehen würde ich vorschlagen, "Dovè sono gli bei momenti" als Artikulation jener Entfremdung und Einsamkeit zu lesen, die nicht in einer Trennung begründet liegt, sondern in der Erkaltung der Beziehung selbst beschlossen ist. Es ist eine nicht kommunizierbare Erfahrung von Alleinsein in der Beziehung, so daß es mir schlüssig und intelligent scheint, die Anwesenheit der Betroffenen aufzuzeigen. Die Alleinstellung der Gräfin bei diesem Auftritt (Beginn Akt 2) ist vielmehr ein Klischee, das bloß der monologischen Anlage des Stücks geschuldet ist, welches aber gar nicht einer realen Isolation der Figur bedarf.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber SchallundWahn, lieber farinelli, vielen Dank für eure Beiträge, wonach ich feststellen muss, dass die gezeigte Version tatsächlich eine schlüssige Lösung sein kann, auch wenn ich die andere persönlich favorisiere!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Nachtrag: mit der Überzeugung, dass die in Aix gesehene Interpretation von "dove sono" auch sinnvoll ist, haben wir auch gesagt, dass bestimmte Regieeinfälle im Regietheater erhellend sein können und man das RT nicht pauschal ablehnen sollte, was ich auch nie getan habe. Ich erinnere mich z.B. an eine großartige "Gloriana" in Gelsenkirchen, in der die Regisseurin bestimmte Mittel des Regietheaters einsetzte, die ich überzeugend fand. Gloriana gleich Elisabeth I. wurde im Merkelschen Hosenanzug dargestellt und gleichzeitig durch eine Schauspielerin verdoppelt, die Elisabeth im berühmten Prachtgewand vorstellte. Zudem wurde das Stück großartig gesungen und gespielt, sodass man auf jeden Fall gebannt gefolgt ist.

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  • Lieber dr.Pngel,


    ein wirklich interessanter Thread. Da leg ich mal gleich los.


    Im Stockholmer Lohengrin vor einigen Monaten hingen Girlanden von der Decke bis zum Boden mit der Aufschrift: Nie sollst du mich befragen.
    Einen Akt weiter wurde eine Pyramide mit Buchstaben-Würfeln aufgebaut. Als Ergebnis war zu lesen: Nie sollst du mich befragen.
    Wieder einen Akt weiter wurde eine Pyramide mit Buchstaben-Würfeln aufgebaut. Als Ergebnis war zu lesen: Nie sollst du mich befragen.


    Ich habe lange, schlaflose Nächte über den geheimnisvollen Sinn dieses Tun gerätselt, doch er hat sich mir nie erschlossen.


    Mein einziger Trost: ich werde nie den Kalaf singen können!


    hami1799

  • unbesehen würde ich vorschlagen, "Dovè sono gli bei momenti" als Artikulation jener Entfremdung und Einsamkeit zu lesen, die nicht in einer Trennung begründet liegt, sondern in der Erkaltung der Beziehung selbst beschlossen ist.


    Stell Dir vor, werter Farinelli,


    dass ich einmal mit Dir einer Meinung bin. :hello:

  • Lieber Dr. Pingel, liebe SchallundWahn, lieber hami1799,


    strenggenommen betrifft das Dovè-sono-Beispiel bloß die Personenregie, noch nicht das Regiekonzept. - Um auch in diesem Punkt mit dir, werter hami1799, zur Übereinkunft zu gelangen:


    Il Conte: Eh, già, solita usanza, le donne ficcan aghi in ogni loco ...


    Das ist ein historisch kaum übersetzbares Spiel mit dem Topos der Fährnisse und Bitterkeiten der Liebe - "roses have thorns", "Rose sprach, ich steche dich", "jâ braeche ich rôsen wunder, wan der dorn" usw. Unübersetzbar ist die Einbettung der Symbolik weiblicher Widerhaken in eine alltägliche Praxis (des Zusammensteckens von Falten und Volants etc. vermittels Nadeln). Bei jeder Verlegung über das 19. Jh. hinaus geht nicht die Symbolik, sondern ihre Anschließbarkeit an eine Praxis verloren.


    Auch in einem Anwaltsbüro kann ein Flirt eine dornige Angelegenheit sein; aber die Stacheln, die hier zum Einsatz gelangen, haben kein erotisches Pendant in der Damenwäsche mehr.


    :hello:

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