Gute zeitgenössische Inszenierungen - Mythos, Wunschvorstellung oder Realität?

  • Es wird sicherlich verwundern, dass gerade ich diesen Thread eröffne, aber da ich nun so oft den Vorwurf der angeblichen "Schwarz-Weiß-Malerei" lesen musste und gleichermaßen so oft gesagt wurde, dass es gute, zeitgenössische Inszenierungen mehrfach zu sehen gäbe, bin ich doch nun einmal neugierig, welche konkreten Beispiele die Betreffenden dann auch nennen können. Ansonsten drängt sich mir immer der Gedanke an den "guten" oder "echten" Sozialismus/Kommunismus auf, der ja auch als Schimäre durch die Köpfe diverser Salonkommunisten geisterte/geistert, der aber in der Praxis so schlecht nachzuweisen war/ist .
    Einige Bedingungen würde ich von den Diskutanten doch gern erfüllt sehen.
    1. Die betreffenden Beispiel sollten möglichst visuell, also als Foto oder besser noch als youtube-Dokument erbracht werden. Bilder sind sehr viel aussagekräftiger und überzeugender als Worte.
    2. Die Prämisse zur Definition einer "guten" Inszenierung sollte in der Frage bestehen, ob die Oper in ihrer Aussage untermauert wird, ob die Handlung beibehalten und das Werk als solches erkennbar bleibt.
    3. Zum gewünschten Stil, in dem die Diskussion erfolgen soll, möchte ich folgendes Gedicht von Wilhelm Busch bemühen:



    Bewaffneter Friede


    Ganz unverhofft, an einem Hügel,
    Sind sich begegnet Fuchs und Igel.

    Halt, rief der Fuchs, du Bösewicht!
    Kennst du des Königs Ordre nicht?
    Ist nicht der Friede längst verkündigt,
    und weißt du nicht, daß jeder sündigt,
    Der immer noch gerüstet geht?
    Im Namen seiner Majestät
    Geh her und übergib dein Fell.

    Der Igel sprach: Nur nicht so schnell.
    Laß dir erst deine Zähne brechen,
    Dann wollen wir uns weiter sprechen!

    Und allsogleich macht er sich rund,
    Schließt seinen dichten Stachelbund
    und trotzt getrost der ganzen Welt,
    Bewaffnet, doch als Friedensheld.


    Und nun viel Spaß! :hello:

    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

  • Liebe Strana,


    es mag solche Inszenierungen durchaus geben, mir ist aber leider keine untergekommen. Auch wenn bei meinen hunderten Opernbesuchen zwei,drei Mal eine moderne Inszenierung noch irgendwie überzeugen konnte, war diese Überzeugung nie so groß, dass ich nicht eine klassische Inszenierung bevorzugen würden.
    Vielleicht noch am ehesten eine Ariodante-Inszenierung die mal vor Jahren an der Münchner Staatsoper lief. Die nahm das Stück ernst (also relativ klamaukfrei), verwendete ein paar barocke Zitate und das Bühnenbild konnte sich noch irgendwie sehen lassen.Die Kostüme waren zwischen Barock, Rokoko, Ritterrüstungen und modernen Tigermänteln einmal mehr "epochenübergreifend". Die Handlung wurde mehr oder weniger nacherzählt ohne verbogen zu werden, aber auch da ging es natürlich nicht ohne Nackte und (angedeutete) Vergewaltigungsszenen....

  • Liebe Strana,


    vielen Dank für diesen Thread!


    1. Die betreffenden Beispiel sollten möglichst visuell, also als Foto oder besser noch als youtube-Dokument erbracht werden. Bilder sind sehr viel aussagekräftiger und überzeugender als Worte.

    Doch hier gehe ich nicht ganz konform. Wer würde eine gute Interpretation einer Beethoven-Sonate mit einer akustischen Momentaufnahme oder meinetwegen mit zehn Sekunden eines Mitschnittes untermauern wollen? Das wäre ja ungerecht gegenüber den Interpreten.


    Gerade, wer Oper als Gesamtkunstwerk betrachtet, wird sich ja nicht der zahngoldbrechenden Leichenfledderei eines kurzen Youtube-Ausschnittes hingeben wollen.



    Zitat Wer in einer Oper ein Gesamtkunstwerk sieht, in dem nicht nur die Musik und der Text, sondern auch Bühnenbild, Bewegungsabläufe, Gestik usw. zusammen ein stimmiges Ganzes ergeben, der kann Oper nur als durchchoreographierte Produktion wollen – was die Einbindung von Gästen natürlich problematisch macht


    Oper war und ist für mich vor allem das. Und zwar schon seit frühester Kindheit.

    2. Die Prämisse zur Definition einer "guten" Inszenierung sollte in der Frage bestehen, ob die Oper in ihrer Aussage untermauert wird, ob die Handlung beibehalten und das Werk als solches erkennbar bleibt.

    Zur zweiten Prämisse: Das ist bzgl. der Erkennbarkeit ganz einfach: Ich höre einfach hin und erkenne dann meist nach wenigen Sekunden das Werk. Höchstens ein optisch fixierter Mensch könnte hier danebentippen, aber das kann ja wohl kaum ein Opernfreund sein. Waren wir uns doch einig, dass Musik mehr als die Hälfte einer Oper ist.


    Die Frage, ob eine Oper in ihrer Aussage untermauert wird, ist schon schwieriger. Was ist denn die Aussage der Zauberflöte? Und der Bohème? Und der Traviata und der Carmen? Gibt es wirklich nur eine? Gibt es eventuell mehrere, eventuell sogar einander widersprechende Aspekte, die kaum gleichzeitig gleich deutlich herausgearbeitet werden können? (Ähnlich Waldstein-Sonate: Motorik oder E-Dur-Mystik? Welcher Pianist wäre beiden Aspekten gerecht geworden?)


    Ob die Handlung beibehalten wird - nun ja, solange der Text beibehalten wird, ist das ja wohl kaum zu leugnen? (Ausnahme: Optisch fixierte ... usw. usw.)


    Also, meine Beispiele wären für den Anfang:


    Wagner, Götterdämmerung, Konwitschny. Hier beschrieben.


    Wagner, Meistersinger, Konwitschny. Live gesehen in Hamburg in der Premierensaison. (2002/03?) Leider nicht auf DVD erhältlich, aber auch in anderen Internetforen positiv besprochen.


    :hello:

  • Gerade, wer Oper als Gesamtkunstwerk betrachtet, wird sich ja nicht der zahngoldbrechenden Leichenfledderei eines kurzen Youtube-Ausschnittes hingeben wollen.


    Hm, das sehe ich aber ganz anders. Es hat nichts mit "Leichenfledderei" zu tun, wenn man seine Ausführungen durch ein Foto oder ein kurzes Video lebendig macht.


    Und Qualtiät spricht doch wohl für sich, egal, ob sie nun nur als Ausschnitt oder als Gesamtaufnahme vorliegt. Es sei denn......ich benötige erst ellenlange Erklärungen und Gebrauchsanweisungen, um die "Qualität" als solche zu erkennen. Gerade weil es sich aber hier eben nicht um Opernneulinge handelt, werden die dies wohl am ehesten beurteilen können.
    Darum wiederhole ich meine Bitte - sofern eine Inszenierung visuell verfügbar ist, möchte ich um eben dieses visuelle Material bitten. Etwaige Erläuterungen können und sollen natürlich trotzdem gegeben werden, und diese Erläuterungen sollten vor allem erklären, warum der Betreffende dieses Inszenierung gelungen findet.

    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

  • Ich zitiere mich hier mal eben selbst :

    Zitat

    Ein Beispiel, habe vor einigen Tagen im TV eine Aufführung des "Don Giovanni" aus Aix-au-Provence gesehen, u.a. mit Bo Skovus als Don Giovanni. Die Idee, die Handlung in eine großbürgerliche Familie zu verlegen fand ich wirklich interessant, das Zerstörirische der Beziehungen kam so gut zur Geltung, alles dreht sich nur um den Don, alle Personen drehen sich nur um ihn, er zerstört durch seine Andersartigkeit ein Bild, in dem Fall das der geordneten,"glücklichen" Familie. Und was gab es da für wirklich grandiose Szenen! Der Auftritt der Elvira und ihr "Gespräch" mit dem Don, der Don, der den toten Komtur herumschleichen sieht, der Don bekommt einen Herzanfall, die Szenen zwischen Okatvio und Donna Anna, glänzende Einfälle, tolle Personenführung.


    Hier nur einige Ausschnitte (zB die Psychologisierung von Anna und Octavio fand ich super) :



    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Dass die "Götterdämmerung" von Konwitschny sofort hier auftauchen würde, konnte ich mir denken. Ich kann mich auch nach der ausführlichen Beschreibung der DVD hier im Forum nicht dafür begeistern und würde sie mir kein zweites Mal ansehen wollen.
    Hier noch ein paar Ausschnitte, nach denen jede beurteilen kann, ob ihm so etwas gefällt oder nicht:
    http://www.youtube.com/watch?v=8Dx35oNWwTQ
    http://www.youtube.com/watch?v=bYYsjg8pw5Y
    http://www.youtube.com/watch?v=pHm9Q2aJFv0
    Da finde ich die Schenk-Inszenierung weitaus angemessener und auch sehr viel packender (ich denke da vor allem an die Szene Hagen-Alberich. Aber auch der Schluss ist weitaus dramatischer.
    Ich möchte aber zum Thema sagen, dass auch ich einzelne Inszenierungen der Moderne mag. Leider sind es rare Ausnahmen. So habe ich schon mehrfach die Inszenierung von "Tristan und Isolde" in Mailand erwähnt, inszeniert von Patrice Chereau, der allgemein auch als Regisseur des sogenannten "Regiertheaters" giilt. Das Bühnenbild ist einfach gestaltet, lässt aber durchaus die drei Handlungsorte erkennen, die Kostüme sind zeitlos, so dass man sich in die Zeit des keltischen Mythos, nach dem sie komponiert wurde, hineinversetzen kann und die Handlung hält sich an das Libretto, ohne Veränderungen und zusätzlichen Firlefanz. Ausführlicher habe ich das in meiner DVD-Beschreibung geschildert und will es hier nicht wiederholen. Nur noch zur Unterstützung ein paar Ausschnitte, auf denen auch das Bühnenbild des ersten und dritten Aktes zu erkennen ist:
    http://www.youtube.com/watch?v=WhsQt-PFC2o
    http://www.youtube.com/watch?v=oOGs8TtnwoI


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Habe bis jetzt nur den ersten Akt gesehen, aber der gefiel mir trotz Revolvern bei Don Giovanni und Don Ottavio ausnehmend gut. Dezent modern, mit um Welten besserer Personenführung und Bühnenorganisation als bei Graf/Furtwängler.



    :hello:

  • Hier ein paar Beispiele aus dem genannten Don Giovanni:





    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

  • Leider kann ich die Regeln technisch nicht einhalten, bitte daher selbst bei YouTube nachsehen.
    1. Britten Budd, Düsseldorf (bei YouTube)
    2. Britten Peter Grimes, Düsseldorf (keine Bilder)
    3. Britten Gloriana Gelsenkirchen (YouTube)
    4. Korngold Tote Stadt, Gelsenkirchen (YouTube)
    5. Boito Mefistofele, Gelsenkirchen (keine Bilder)
    6. Giulio Cesare, Düsseldorf (keine Bilder)

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

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  • Es ist natürlich eine Frage was man unter "zeitgemäß" verstehen will (ja , ihr habt richtig gelesen -"WILL")
    Die von mir hier an drei Beispielen gezeigte Inszenierung ist nicht im eigentlichen Sinne klassisch, man mertkt ihr an, daß derle um - sagen wie 1950 unmöglich gewesen wäre. Andrerseits werden die Verfechte des sogenannten Regietheater sie als zu "konventionell" bezeichenen. Die Aufführung ist in hinsicht auf die Bühnenbilder gradezu spartanisch, die indes eine gewisse Raffinesse haben, die nur Franzosen oder Italienern gelingt.
    Trotz Verzicht auf Plüsch des 19. Jahrhunderts ist dieses stets gegenwärtig, man kann über die Aufmachung von Hoffmann dpskutieren. Und diskutieren könnten wir über die Aufführung NACHDEM Ihr euch ein paar kurze Szenen angeschaut habt - oder vielleicht die DVD gekauft habt - Es gibt im entsprechenden Bereich des Forums eine ausführliche Kritik von mir.




    Inwieweit wird diese etwas eigenwillige - aber keineswegs das Werk entstellende - Inszenierung von Euch als "zeitgemäß empfungen - ich gehe davon aus, daß der eine oder andere vielleicht die DVD besitzen oder zumindest gesegen haben
    Aber auch anhand der kurzen Ausschnitte kann man sich einen groben optischen Eindruck machen.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    dieser Olympia-Akt wäre für mich durchaus akzeptabel. Wie du schon richtig sagst, erscheint er nicht entstellt. Das spartanische Bühnenbild lässt den Ort der Handlung durchaus erkennen und auch die Kostüme erscheinen für diesen Akt durchaus passend. Was diese beiden Dinge betrifft, habe ich Ähnliches bereits in meinen Schilderungen der Mailänder Tristan und Isolde- Inszenierung von Chereau gesagt Leider kann man an diesen Ausschnitten nicht dieInszenierung der gesamten Oper "Hioffmanns Erzählungen" beurteilen, wenn man nicht auch Ausschnitte aus den anderen Akten gesehen hat. Mich würde vor allem auch die Inszenierung des Giulietta-Aktes interessieren.




    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Werte Mitstreiter,


    schon immer mal wollte ich das RT-Pferd von hinten aufzäumen.


    Vielleicht hat jemand unter uns den Haneke-Film "Das weiße Band" gesehen. Österreicher möchten es mir verzeihen, wenn ich mich daranwage, dieses hochberühmte und -bepreiste Werk zu kritisieren.


    Es handelt sich zunächst um einen Thesenfilm. Es wird versucht, unter den Bedingungen der preußischen Erziehung in einer fiktiven norddeutschen (brandenburgischen oder mecklenburgischen) Dorfgemeinschaft die Brutalisierung einer Generation zu skizzieren, die ihrerseits den deutschen Faschismus ins Werk setzen wird. Die Kindheit der künftigen Täter, sozusagen.


    Der Plot ist angelehnt an eine ganze Klasse von Horrorfilmen, die (wie etwa auch in "The turn of the screw") eine scheinbar unschuldige Kindergruppe mit mysteriösen Verbrechen in Verbindung bringt. Die Adaption dieses abgedroschenen Plots im Film ist dramaturgisch ausgesprochen banal.


    Zudem integriert die Filmhandlung allerlei Dramen der Nebenfiguren - ich denke hier etwa an die Strindbergstudie der Affäre des Arztes mit seiner Helferin (Susanne Lothar in einer ausgesprochen masochistischen Liebeshölle).


    Die im Film vorgenommene Häufung von privaten Katastrophen, Strafritualen, Prügelorgien und Quälereien der Kinder untereinander kontrastiert mit einer Inszenierung, die vom Kostüm bis zur Lichtregie, von der Diktion bis zum Setting ein frühes 19. Jh. auf die Leinwand bringt, wie es atmosphärisch beklemmender kaum je unternommen worden sein dürfte.


    Dennoch wirkt gerade unter den Auspizien eines puristischen, dogma-nahen Realismus die überfrachtete Konstruktion desto brüchiger. Nicht von ungefähr spart der Film die Arbeit, also das soziale Kernmerkmal dörflicher Gemeinschaften, komplett aus (und erinnert auch von daher an die Wirklichkeitsferne der Trivialliteratur). Ich habe, durch familiäre Zusammenhänge, viel Einblick in das ländliche Leben jener Zeit und werfe dem Film daher vor, daß er an der Vereinseitigung seines thesenhaften Drehbuchs vor der behaupteten Kulisse grandios scheitert.


    Ich stelle dies hier zur Diskussion, weil eben das Umgekehrte zum sonst besprochenen Fall eintritt: eine in jeder Hinsicht historisch korrekte Ausstattung wird zu einem rhetorischen Mittel schlechten Regietheaters.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!