Beethoven: Quartett op.135 - Es muß sein!

  • Hallo!
    In diesem thread geht es um Beethovens letztes vollendetes mehrsätziges Werk, nämlich das Streichquartett F-dur op. 135.

    Komponiert wurde es im Oktober 1826. Beethoven fand hier zur alten Viersätzigkeit zurück, und auch von den inneren und äußeren Dimensionen ist es im Vergleich zu den vorangehenden Streichquartetten ein eher unproblematisches, kurzes Werk. Die Rückkehr zu einer gewissen Klassizität macht das Werk aber keineswegs uninteressant und ist um einiges kühner im Ausdruck als ein früherer ebensolcher Rückblick in Beethovens symphonischem Schaffen war, die achte Symphonie.
    Ich habe die drei mir auf CD zur Verfügung stehenden Aufnahmen vergleichend gehört, eine Hör-Disziplin, in der ich noch nicht sonderlich geübt bin, aber dennoch mein Ergebnis hier berichten möchte. Bei den Interpreten handelt sich es um das Emerson String Quartet, das Juilliard String Quartet und das Melos Quartett.


    Im ersten Satz (allegretto) bleiben die expressiven (oder impressiven) Extreme der vorangegangenen Quartette aus, das Melos Quartett liegt hier mit seiner klassisch-ausgewogenen Interpretation genau richtig. Es ist ein Quartettsatz, den man aufs erste Hören erst mal nicht in Beethovens Spätwerk einsortieren würde.


    Den zweiten Satz (vivace), ein kurzes, unruhiges, intensives Scherzo interpretiert das Melos Quartett ebenso klassizistisch „harmlos“ und liegt damit IMO genau falsch. Der unruhige Rhythmus, die schnelle Tempoangabe, die hämmernden Tonrepetitionen und das „offene Ende“ (ähnlich wie im Scherzo von op. 131) verlangen nach einer raschen, extremeren Interpretation, und da ist das Emerson Quartet genau in seinem Element – hervorragend!


    Im dritten Satz (lento assai, cantante e tranquillo) bin ich beim Hören der Interpretation des Juilliard Quartets – das bis dahin im Vergleich unauffällig (aber keinesfalls schlecht!) blieb – wahrlich „dahingeschmolzen“. Das Ensemble wählt ein äußerst langsames Tempo und erreicht einen unvergleichlich weihevoll-erhabenen Ausdruck (fern aller Sentimentalität). Allein dafür hat sich der erst kürzlich erfolgte Kauf dieser CD gelohnt. Das Emerson Quartet spielt diesen Satz erwartungsgemäß um 100 Sekunden schneller, und auch dem Melos Quartett fehlt wohl der Mut zur elementaren Langsamkeit. Es handelt sich übrigens um einen Variationssatz (Thema mit vier Variationen) in Des-dur.


    Der vierte Satz bedarf einer ausführlicheren Erläuterung. Er ist von Beethoven mit der Überschrift „Der schwer gefasste Entschluß“ überschrieben. Er beginnt mit einer Einleitung (grave, ma non troppo), in der ein markantes Dreiton-Motiv in f-moll, überschrieben mit „Muß es sein?“ fünfmal hervortritt. In dieser Einleitung, die als sehr expressive, zäsurenreiche Komposition ein Beispiel für den „ganz späten“ Beethoven ist, wird von Beethoven ein weiteres Mal die „Schicksalsfrage“ gestellt. Darauf folgt (in F-dur) ein Dreiton-Motiv als Antwort auf die gestellte Frage: „Es muß sein!“ Dieses Motiv beherrscht das Finale (allegro), das als durchaus ausgelassen und heiter zu bezeichnen ist, so als wäre eine schwere Last vom Komponisten abgefallen, ein schwerer Konflikt überwunden. In der Durchführung verfinstert sich aber die Stimmung wieder und die Frage aus der Einleitung wird noch hämmernder und eindringlicher gestellt, dafür in der Reprise um so beschwingter und bestimmter wiederum beantwortet. Das Werk endet überaus positiv und optimistisch. Dieser Finalsatz ist ein „per aspera ad astra“ im Kleinformat. Ich weiß nicht, was das genaue Gegenteil von Resignation ist, aber Beethoven beschließt sein großes Gesamtopus mit genau diesem Ausdruck!
    Um auf das Vergleichshören noch einmal zurückzukommen: Die extremen Gefühlswelten dieses Satzes gibt das Emerson Quartet quasi als „Emerson Express“ schnell und grandios wieder. Um es überspitzt zu formulieren: Das Melos Quartett spielt op. 135, als würde es sich um ein Haydn-Quartett handeln. Das liegt im Bereich des Möglichen, ist aber nicht mein bevorzugter Stil in diesem Fall. Insgesamt ziehe ich das Emerson Quartet vor, auch weil die Klangqualität besser ist als in meiner Juilliard Quartet – Aufnahme (etliche Störgeräusche).


    Es gibt sicher noch andere Freunde des späten Beethoven hier im Forum! Eure Meinung zu diesem Werk und seinen Interpreten ist nun gefragt!


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo Pius,


    hatten wir das Thema nicht schon irgendwo? Es kommt mir vertraut vor, weil ich mir auf Anregung von Gerrit Stolte damals das Takacs Quartet zulegte (welches ich sehr empfehlen kann!):



    Beethoven: Streichquartette Nr. 11-16
    Takacs Quartet / Decca


    Ich meine mich zu erinnern, dass er in dem Zuge auch einige andere Aufnahmen dieses Quartetts besprach, habe aber leider gerade keine Zeit, um zu suchen…


    Gruß, Cosima



    Kein Problem Cosima ;)
    Hier ist der gesuchte Thread 8o
    Es ging um Beethovens Strichquartett Nr.7.


    Gruß, Maik
    MOD

  • Hallo, Cosima!


    Zitat


    Hallo Pius,
    hatten wir das Thema nicht schon irgendwo?


    Es gibt keinen allgemeinen thread zu Beethovens Streichquartetten. Ich bin der Ansicht, daß die meisten Quartette einen eigenen thread verdient haben, da sie sehr individuell verschieden und herausragende Kompositionen sind. Zu den späten Quartetten ist dieser hier der bislang erste thread. Es gibt noch von Gerrit threads über die drei Quartette op.18 Nr.1-3 und über op.59 Nr.1 und von mir über op.95.


    Kannst Du näheres über die Aufnahme von op.135 mit dem Takacs Quartet sagen?


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo Pius und Maik, hallo allerseits,


    danke für den Link, meine Ahnung war also nur halb richtig.


    Zitat

    Original von Pius
    Kannst Du näheres über die Aufnahme von op.135 mit dem Takacs Quartet sagen?


    Ja, gerne – habe op. 135 eben noch einmal gehört.


    Vielleicht kurz zu den Takács vorab:


    Das Quartett (1975 in Budapest gegründet) gilt als eines der weltweit führenden Streichquartette. Im Jahre 1988 erhielten sie einen Exklusivvertrag bei Decca und spielten Werke von Haydn, Mozart, Schubert, Brahms, Dvorák, Smetana, Chausson und Bartók ein. Für die Bartók-Aufnahme und die Beethoven-Quartette op. 59 und 74 erhielten sie jeweils den Kammermusikpreis der "Gramophone" und andere renommierte Preise.


    Im Grunde kann ich mich – wie bereits im anderen Thread zitiert – der nachfolgenden Kritik nur anschließen.


    „FonoForum 03 / 05: "Es ist das herausfordernde Espressivo, das mit vollem Risiko gefahrende So- und nicht-anders, das mehr noch als die ungeheure Präzision des Zusammenspiels und die delikate Klangkultur dieses Ensembles fasziniert. Eine phänomenale Einspielung."


    Gerrit hatte den Stil der Takács als „expressiv und forsch“ herausgestellt – und auch dem gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen.


    Vielleicht dies noch: Das Ensemble kostet die Tiefe, den Ernst, aber vor allem auch den subtilen Witz dieses Werkes sehr schön und intensiv aus, der Stil ist außerordentlich fließend, der Klang sehr direkt – soll heißen: man hat das Gefühl, als sei man als Zuhörer direkt im Geschehen eingebunden, man wird gleich mitgerissen und nicht mehr losgelassen.


    Ich bin sehr glücklich über diese Aufnahme, sie gehört zu meinen schönsten Kammermusik-CDs überhaupt, auch was die Werke an sich anbelangt.


    Eine Anmerkung dennoch am Rande: An einigen Stellen hört man ganz leichte Atemgeräusche der Musiker; es gibt ja Leute, die sich von derlei Kleinigkeiten abschrecken lassen, was in diesem Falle aber wirklich schade wäre, denn die Klangqualität ist ansonsten sehr gut. Einfach mal reinhören!


    Zum Vergleich hatte ich seinerzeit die Emersons gehört – ich empfand sie als recht fahl dagegen.


    Gruß, Cosima

  • Tag,


    op. 135 ist mir schon immer das versöhnliche Quartett, so nur als Spätwerk in der Reihe später Werke möglich, vom Anfang bis zum Schluß (die Vor-/Nach-Momente der Stille in die Musik je eingeschlossen). Versöhnlich, da die Entzweiung zuletzt überwunden ist. Von daher auch nicht als das Quartett der Entsagung oder Schwäche zu begreifen. Entspannung, Entlastung ist der Gewinn des Durchganges.


    Zu den Beethoven Quartetten gibt es von 1979 einen anspruchsvollen Führer: Joseph Kerman, The Beethoven Quartets. Igor Strawinsky hatte das (teure) Taschenbuch einst sehr positiv besprochen.


    Meins: YALE-Quartet, ältere LP. Noch älter: Busch Quartett.


    MfG
    Albus

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  • Wenngleich dieses Quartett natürlich ein wunderbares Werk ist, kommt es bei mir nicht ganz an die anderen vier Späten heran. Macht aber nichts, es ist dennoch genial.


    Das Lento in diesem Satz ist fantastisch; es ist wie von einer anderen Welt. Dies wird ganz besonders verdeutlicht vom legendären Busch Quartett:



    Dieser Satz wird und wirkt von diesen Musikern unglaublich gedehnt, der musikalische Verlauf wird zum Zustand.


    Wenngleich ich bei den späten Quartetten Beethovens die Einspielungen des Melos Quartetts sehr bewundere und anderen Einspielung meistens vorziehe (und die Schelte, die es hier im Forum bekommt, nicht teile; dazu komme ich zu späterer Gelegenheit), so gilt dies nicht so uneingeschränkt für das F-Dur-Quartett. Hier muss ich mich Pius anschließen:


    Zitat

    Das Melos Quartett spielt op. 135, als würde es sich um ein Haydn-Quartett handeln. Das liegt im Bereich des Möglichen, ist aber nicht mein bevorzugter Stil in diesem Fall


    Besonders die drei schnelleren Sätze werden auch für meinen Geschmack zu sachlich dahergespielt, was die Stärken dieses Werkes nicht so sehr zur Geltung kommen lässt, ist dieses doch äußerlich etwas emotionaler als die anderen Späten.


    Und genau dies bringt das Busch Quartett sehr stark rüber. Ich finde die Kombination op. 135 und Busch Quartett sehr gut.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hallo, Uwe!


    Zitat

    Wenngleich dieses Quartett natürlich ein wunderbares Werk ist, kommt es bei mir nicht ganz an die anderen vier Späten heran. Macht aber nichts, es ist dennoch genial.


    Nun, ich ziehe es op. 127 und op. 130 vor, aber auf diesem Niveau sollte man sich nicht streiten.
    Durch die Kürze der Formen ist es vielleicht besser als Einstieg in den ganz späten Beethoven geeignet als die anderen Quartette, andererseits bekommt man so vielleicht ein ein wenig falsches Bild.


    Zitat

    Das Lento in diesem Satz ist fantastisch; es ist wie von einer anderen Welt. Dies wird ganz besonders verdeutlicht vom legendären Busch Quartett


    Mich hat - wie geschrieben - das Juilliard Quartett hier absolut überzeugt.



    Albus:


    Zitat

    op. 135 ist mir schon immer das versöhnliche Quartett, so nur als Spätwerk in der Reihe später Werke möglich, vom Anfang bis zum Schluß (die Vor-/Nach-Momente der Stille in die Musik je eingeschlossen). Versöhnlich, da die Entzweiung zuletzt überwunden ist. Von daher auch nicht als das Quartett der Entsagung oder Schwäche zu begreifen. Entspannung, Entlastung ist der Gewinn des Durchganges.


    Ja, so empfinde ich das auch, sehr schön formuliert.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Einzigartig ist, wie die erste Einspielung von Beethoven durch das Hagen Quartett (gekoppelt damals mit einem sehr guten Tod und das Mädchen von Schubert) den lagsamen Satz zu einem Ereignis machte: Stehender, vibratoloser fast clustermäßiger Klang: Phantastisch einzigartig! Auch der zweite Satz hat mich von niemanden bislang mehr überzeugt! Meine Topp-Empfehlung.

    Gruß ab


    ---
    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

  • Der Meinung von a.b. kann ich mich anschließen.
    Und das obwohl mich neuere Aufnahmen des Hagen Quartetts nicht mehr so überzeugen konnten. Sind die schlechter geworden?
    Übrigens ist auch "Der Tod und das Mädchen" nur durchschnittlich gut (woll'n wir mal nicht so sein: durchschnittlich "sehr gut" - aber das reicht trotzdem nicht).


    Ebenfalls sehr gut, was op. 135 betrifft: Guarneri Quartett
    Sehr gut gefallen hat mir seinerzeit das Kreuzberger Streichquartett (meine Referenz bei op. 127), aber lange nicht mehr gehört. Gibt es die Aufnahmen irgendwo auf CD?


    Gruß, Khampan

  • Inzwischen sind diese Aufnahmen der späten Quartette Beethovens des Busch Quartetts auch bei Quadromania wohlfeil für weit unter Eur 10 zu bekommen! Unbedingt kaufen!!!!

    Gruß ab


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    J. Locke

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  • Nein, die Hagens sind nur ganz anders geworden: Es lohnt sich, da hineinzuhören und zu erforschen, was sie nun anders machen! Das op.135 war ja ihre aller erste Beethoven-Aufnahme. Diese ist ja (bis vielleicht auf den Clusterklang des 3. Satzes) eher traditionell gehalten. Heute haben sie sich von dieser Tradition weit entfernt.

    Gruß ab


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    J. Locke

  • Ich habe zwar jetzt das alte op. 135 der Hagens nicht im Ohr, aber sie haben ihren Stil in der Tat verändert. Die frühen Mozart-Aufnahmen (Mitte der 80er) und auch noch Haydns op. 20 sind geradlinig schlanke, technisch sehr saubere, jedoch mitunter fast etwas trocken-distanziert anmutetende Interpretationen.
    Die neuesten Aufnahmen (und das gilt ansatzweise auch schon für einige ab ca. Mitte der 90er) sind extremer, kontrastreicher, manche fänden sie vermutlich etwas manieriert, zB Mozarts "Haydn-Quartette".
    Die neueste Beethoven-CD (opp. 127 & 132) habe ich erst einmal gehört, zu der kann ich nicht viel sagen (außer dass sie die maestoso-abschnitte in op.127, i anders spielen als alle anderen mir bekannten Aufnahmen).
    Aber die mit op. 18,1 und op. 59,1 ist m.E. hervorragend.


    (Das gehört eigentlich in einen thread über Kammermusikensembles u.ä.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Die neueste Beethoven-CD (opp. 127 & 132) habe ich erst einmal gehört, zu der kann ich nicht viel sagen (außer dass sie die maestoso-abschnitte in op.127, i anders spielen als alle anderen mir bekannten Aufnahmen)


    Aber wie? Bitte schreib´s mir doch kurz (vielleicht im betreffenden Thread).


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Kürzlich habe ich das Takacs Quartet mit op 74 (Harfenquartett) gehört und bin schier erschrocken. Bisher konnte ich diesem Werk nicht ganz so viel abgewinnen, das hat sich jetzt gründlich geändert. Und ich traue dem Takacs Quartett jetzt alles zu.
    Sehr angenehm auch das meist vibratoarme Spiel und der (trotzdem) warme Klang, der nicht nur von einer excellenten Aufnahmetechnik herrührt, sondern auch von einer HIPmäßigen (was für ein Wort...) Intonation mit reinen, nicht temperierten Terzen und nicht zu engen Leittönen (wie sonst bei Streichern üblich).


    Auch den Bartok muß ich haben.


    Gruß, Khampan

  • Zur Zeit höre ich mich durch die sechs Aufnahmen von op. 135, die mir zur Verfügung stehen. Es ist ein sehr interessanter Interpretationsvergleich, weil es bei diesem Werk mehr als bei anderen Beethovens oft nur um (allerdings entscheidende) Nuancen geht. Bevor ich das Werk und die Interpretationen Satz für Satz durchgehe, noch ein paar Anmerkungen zum Werk insgesamt (die meisten Erläuterungen zum Quartett selbst sind natürlich nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern Lesefrüchte aus dem von Uwe Schoof und mir in diesem Thread empfohlenen Buch von Gerd Indorf):


    Wie wir aus einer Eintragung in Beethovens Konversationsheften wissen, war op. 135 ursprünglich nur dreisätzig geplant. Wahrscheinlich auf Bitten des Verlegers Maurice Schlesinger komponierte Beethoven einen vierten Satz nach, vermutlich das Vivace. Die für Beethovens späte Quartette erstaunliche Kürze kann aber auch in der viersätzigen Fassung als ein entscheidendes Merkmal des Werks gelten – auch innerhalb der einzelnen Sätze: das Scherzo kehrt von der inzwischen normalen fünfteiligen zur dreiteiligen Form zurück, der langsame Satz begnügt sich mit vier Variationen, das Finale kommt nur durch die vorgeschriebenen Wiederholungen von Exposition und Durchführung/Reprise auf eine adäquate Länge. Nicht nur in dieser Hinsicht wirkt op. 135 gegenüber seinen Schwesterwerken „zurückgenommen“ – oder, wie weiter oben von Uwe charakterisiert: versöhnlich, entspannt, entlastet. Von daher liegt es nahe, hier wie Pius im ersten Beitrag ein Rekurrieren auf Haydn und Mozart zu vermuten. Auch in der musikwissenschaftlichen Forschung findet sich diese Einschätzung immer wieder. Andere Autoren stellen das in Frage. Sieghard Brandenburg: „Es ist eine gängige Ansicht, Beethoven habe mit seinem letzten Quartett auf das klassische Vorbild Haydns Bezug nehmen wollen. […] Aber wo gibt es denn tatsächlich ein Vorbild bei Haydn (oder bei dem jungen Beethoven selbst) auch nur für einen Satz von op. 135?“ Vielleicht ist op. 135 doch ein Werk mit doppeltem Boden, im Ton eines „als ob“ komponiert, eine Art Satyrspiel unter den letzten Quartetten.


    Gerade bei Beethoven sind die Tempi von besonderem Interesse – in diesem Thread sind ja schon entsprechende Äußerungen zu finden. Bei den späten Quartetten ist Beethoven im Gegensatz zu op. 18 bis op. 95 nicht mehr dazu gekommen, die einzelnen Sätze mit Metronomangaben zu versehen. Rudolf Kolisch hat aber in seiner grundlegenden Studie „Tempo und Charakter in Beethovens Musik“ auch für die nicht metronomisierten Werke ungefähre Zahlen postuliert, die auf vergleichbaren Sätzen Beethovens mit gleicher/ähnlicher Tempoangabe und Taktart und vom Komponisten selbst stammenden Metronomangaben beruhen. Ich werde sie in die Interpretationsvergleiche mit einbeziehen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Metronomzahlen sind für mich, selbst wenn sie vom Komponisten stammen, kein starr zu befolgendes Dogma – bei solchen „erschlossenen“ Ziffern erst recht nicht. Aber Anhaltspunkte werden damit durchaus geliefert.


    Ich vergleiche folgende Einspielungen:


    Busch-Quartett. Datum der Aufnahme: 1933. Firma: Dutton
    (historische Klangqualität, aber in diesem Rahmen präsenter, relativ unverfälschter Klang, erträgliche Nebengeräusche)


    Juilliard-Quartett. Datum der Aufnahme: 1969. Firma: CBS/Sony
    (etwas flacher, sehr trockener Klang, insgesamt akzeptabel)


    LaSalle-Quartett. Datum der Aufnahme: 1977. Firma: DG
    (ausgewogenes, klares Klangbild, nicht zuviel Hall)


    Emerson-Quartett. Datum der Aufnahme: 1990. Firma: DG
    (sehr präsenter, „naher“ Klang, ausgewogen, Hall noch im grünen Bereich)


    Hagen-Quartett. Datum der Aufnahme: 1992. Firma: DG
    (etwas „entfernter“ und mit einer Spur weniger Hall als bei den Emersons, insgesamt mustergültig)


    Gewandhaus-Quartett. Datum der Aufnahme: 1998. Firma: New Classical Adventure
    (sehr direkt aufgenommen, ganz leicht verwaschen, minimale Benachteiligung der Bratsche)


    Viele Grüße


    Bernd

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  • Erster Satz: Allegretto (F-dur, 2/4-Takt)


    Sonatensatzform (Exposition T. 1-62, Durchführung T. 62-100, Reprise T. 101-163, Coda T. 163-193)


    Gerade dieser Satz hat immer wieder zu Vergleichen mit Haydn und Beethovens frühen Quartetten, z. B. op. 18 Nr. 2, geführt. Entsprechend ist oft von „Spielfreudigkeit“ und „gelöstem Spiel“ die Rede. Dagegen spricht Friedhelm Krummacher vom „Schein des Heiteren“. Indorf zählt viele Belege für diese Charakterisierung auf: bereits das scheinbar harmlose Anfangsmotiv (T. 1f.) zeichnet sich durch Tritonusspannung der Ecktöne, „Emphase seiner kleinen Sekunde“ und die Mollfärbung des Cello-des aus. Der ganze Satz ist von Adorno exemplarisch für eine zentrale Eigenschaft des Spätwerks Beethovens benannt worden: „[…]eine Tendenz zur Dissoziation, zum Zerfall, zur Auflösung, und zwar nicht im Sinn eines Kompositionsverfahrens, das es nicht mehr zusammenbrächte, sondern Dissoziation und Zerfall werden selber Kunstmittel“. Man hat neun, anscheinend oder scheinbar zusammenhanglose Motive gezählt, die im Verlauf der Exposition aneinandergereiht werden: „Sie verleihen der Exposition episodischen Charakter, der sich einer prozeßorientierten Sonatensatzkontinuität widersetzt“ (Indorf). Es handelt sich gewissermaßen um eine Umkehrung des „normalen“ Verfahrens: nicht motivische Zergliederung eines prägnanten Hauptsatzes, sondern „die Idee einer schrittweisen Verdichtung der Struktur, die von isolierten Elementen ausgeht und an der wachsenden Verbindung der Stimmen zu rhythmischer und harmonischer Kontinuität abzulesen ist“ (Krummacher). Diese Verdichtung ist deutlich schon in der Schlussgruppe der Exposition zu erkennen, noch mehr in den drei Anläufen der Durchführung und am stärksten beim Beginn der Reprise: das Anfangsmotiv erscheint nicht mehr einstimmig, sondern vierstimmig im Forte, außerdem wird es mit den Sechzehnteltriolen des Seitenthemas vermischt. Die Reprise verkürzt da, wo die Exposition am meisten verdichtet war, und verdichtet dort, wo die Exposition noch Motive aufgereiht hatte. Dagegen schließt sich die Coda (am Anfang fast wörtlich) wieder dem zuspitzendem Gestus der Durchführung an. Noch zwei Beispiele für den irritierenden Umgang mit den Hörerwartungen: bereits im zehnten Takt erscheint eine F-dur-Kadenz, mit der das kaum begonnene Werk schon wieder zu Ende sein könnte (und mit der der Satz später dann tatsächlich zu Ende gehen wird). Und das kantable Überleitungsthema zum Seitensatz (T. 25-37) hat viel eher Seitensatzcharakter als das eigentliche (weil in der Dominante stehende) Seitenthema (T. 38ff.), das ja nur aus gebrochenen Dreikängen besteht. Der Tonfall des Satzes ist auch unter Einbeziehung analytischer Überlegungen schwer zu beschreiben: Er ist zweifellos „nüchtern“ und (scheinbar) „affektlos“ (Indorf), aber m.E. nicht „entspannt“ und „gelöst“, sondern (in großen Anführungszeichen) abstrakt und doppelbödig.


    Zeiten: Gewandhaus 6:06; Emerson 6:28; LaSalle 6:32; Juilliard 6:37; Busch 6:46; Hagen 7:13


    Kolisch postuliert für das Allegretto durch Vergleich mit entsprechenden Satzcharakteren (letzter Satz von op. 97, aber auch dem mit Viertelnote = 88 metronomisierten ersten Satz der Neunten Symphonie) ein Tempo von 84-90 Viertelnoten je Minute. Das wäre ein sehr schnelles Tempo, das keines der von mir gehörten Ensembles auch nur annähernd erreicht. Am schnellsten ist das Gewandhaus-Quartett mit ca. 62 Vierteln, am langsamsten das Hagen-Quartett mit ca. 52 Vierteln. Alle anderen Formationen bleiben zwischen ca. 56 und 58 Vierteln. Kolisch hat sicherlich nicht ganz unrecht, wenn er schreibt: „Die reiche rhythmische Gliederung und die motivische Artikulation der kleinen Noten verführen insbesondere bei op. 135 zu der Annahme eines 4/8-Taktes, die aber, wie die Hauptgestalten zeigen, verfehlt wäre.“ Allerdings kann man gerade bei diesem Satz zwischen Haupt- und Nebengestalten nur schwer differenzieren. Und – rein subjektiv – fände ich ein Tempo, das noch schneller wäre als das des Gewandhaus-Quartetts, dem Satzcharakter nicht angemessen.


    In diesem Satz findet man bei den Interpretationen keine krassen Unterschiede. Gerade bei den vier Ensembles, die sich grosso modo im gleichen Tempo fortbewegen, muss man schon sehr genau hinhören. Die Nuancen sind aber schon hörbar: Das LaSalle-Quartett spielt gewissermaßen metronomisiert; es zählt die Pausen genau aus und differenziert stärker als andere Formationen zwischen den Notenwerten (die Achtel und Sechzehntel in T. 80); Temposchwankungen gibt es nicht, selbst die Stauung zur Fermate im drittletzten Takt wird vorschriftsmäßig ohne Ritenuto gespielt. Die dynamischen Anweisungen und Vortragsbezeichnungen werden penibel beachtet. Das alles wirkt für mich aber nicht pedantisch, sondern gewissermaßen „richtig“. Das Emerson-Quartett kommt dem sehr nahe, es differenziert aber noch stärker beim Einsatz des Vibrato (das Unisonomotiv in T. 10ff. spielt man ebenso wie die Hagens fast vibratolos – sehr überzeugend) und setzt gelegentlich zwischen den einzelnen Themengruppen minimale, aber deutlich hörbare Zäsuren. Man artikuliert eine Spur weniger breit als die LaSalles. Zudem empfinde ich die Klanglichkeit bei den Emersons (im Gegensatz zu einigen Äußerungen hier im Forum) als sehr „warm“. Ähnlich, wenn auch klanglich etwas spröder (was auch durch die Aufnahme bedingt ist und außerdem kein Nachteil sein muss) das Juilliard-Quartett, das sich kleinere Eigenwilligkeiten leistet: leichte Temposchwankungen sowie kleinere und größere (drittletzter Takt) Ritenuti, die evtl. die Doppelbödigkeit der Musik unterstreichen sollen. Ebenfalls mit einer „mittleren“ Lesart auf hohem Niveau das Busch-Quartett, das ebenfalls zu minimalen Temposchwankungen und in Einzelfällen zum Überspielen von Pausen neigt (im Gegensatz zu Emerson und Juilliard, die gerne mal einen Moment länger anhalten). Zwei Einspielungen fallen schließlich durch das schnellere bzw. langsamere Tempo etwas heraus: Das Gewandhaus-Quartett spielt den Satz ähnlich wie die LaSalles in einem Tempo durch, nur eben schneller. Vermutlich, weil ich dieses (möglicherweise ja „korrektere“) Tempo nicht gewohnt bin, erscheinen mir hier manche Details überspielt zu werden. Das liegt wohl auch daran, dass im unteren dynamischen Bereich zu wenig differenziert wird (wobei die Spielkultur des Ensembles ansonsten sehr hoch ist). Dagegen wähnt man sich beim Tempo des Hagen-Quartetts manchmal fast in einem langsamen Satz. Dieses Tempo (obwohl eventuell „objektiv“ zu langsam) hat vieles für sich: gerade bei der ungeheuren Spielkultur der Hagens, die die feinsten dynamischen Abstufungen aller Einspielungen erbringt, kommt eine latente Gefährdetheit der Musik zum Tragen. Man höre sich nur die Crescendi auf engstem Raum an! Die Kontraste zwischen sehr versonnen wirkenden leisen und plötzlich und stufenlos hervorschnellenden lauteren Passagen sind beeindruckend. Allerdings spielen ausnahmslos alle Formationen die dynamischen Kontraste sehr stark aus, obwohl kein einziges Fortissimo im ganzen Satz vorgeschrieben ist: ein Zeichen für das Bemühen, die angebliche Harmlosigkeit des Satzes zu widerlegen. Insgesamt scheinen mir für das Allegretto die Einspielungen des LaSalle- und des Emerson-Quartetts am überzeugendsten zu sein, diejenige des Hagen-Quartetts halte ich allerdings für die originellste Interpretation.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    In diesem Satz findet man bei den Interpretationen keine krassen Unterschiede


    Bis vor kurzem war ich ebenfalls dieser Ansicht. Vor einigen Wochen erwarb ich jedoch die Einspielung des "Ungarischen Streichquartetts", was mich zumindest nochmals zum Nachdenken die obige Aussage verleitet.


    Doch vorab: Ich ergänze die Einspielungsdauern des ersten Satzes erst einmal mit vier weiteren Formationen:


    Ungarisches SQ: 05`31
    Hollywood SQ: 06`14
    Melos SQ: 06`16
    Talich SQ: 06`19


    Zitat

    Kolisch postuliert für das Allegretto durch Vergleich mit entsprechenden Satzcharakteren (letzter Satz von op. 97, aber auch dem mit Viertelnote = 88 metronomisierten ersten Satz der Neunten Symphonie) ein Tempo von 84-90 Viertelnoten je Minute. Das wäre ein sehr schnelles Tempo, das keines der von mir gehörten Ensembles auch nur annähernd erreicht


    Die Einspielung des Ungarischen SQ habe ich nicht mit Taktell gehört, weiß also nicht, wieviel Viertel / Minute gespielt werden, allerdings läßt meine Vorstellungskraft kaum ein erheblich schnelleres Tempo zu; vielleicht kommt sie den Vorstellungen von Kolisch ja etwas näher..


    Beim ersten Hören war ich etwas verwirrt, hielt es schon fast für möglich, dass die Aufnahme zu schnell abgespielt sein könnte, was sich aber durch das Feststellen der korrekten Tonhöhe korrigierte. Anfangs kam mir die Einspielung (wie bei allen anderen späten Quartetten auch) gehetzt, oberflächlich und etwas kalt vor. Nun, nach mehrmaligem Hören, scheine ich mich an das Tempo etwas gewöhnt zu haben, und...ich glaube, ich mag diese Einspielung, vielleicht auch das Tempo. Allerdings bin ich mir noch nicht ganz sicher, der Gewöhnungsfaktor ist in der Musik doch sehr beträchtlich.


    (Vielleicht kommt mir das Tempo auch momentan sehr gelegen, da ich gerade wenig Zeit und Ruhe habe.) So bald wie möglich werde ich mich an der Diskussion der verschiedenen Einspielungen gerne beteiligen.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Ohne jetzt vergleichend gehört zu haben, habe ich meines Wissens auch keine Einspielung unter 6 min. Ein (durchschnittliches) Tempo von 80 für Viertel käme auf eine Spieldauer von deutlich unter 5 min heraus (40 Takte/min. und 193 takte), bei 88 knapp 4:30 . Zwar wäre es interessant, das mal so zu hören, aber ich halte es auch für zu schnell. Der Kopfsatz würde sich dann wesentlich schneller "anfühlen" als der schnelle Teil des Finales, das wäre m.E. verfehlt. Das Finale in op.97 ist m.E. ein deutlich lebhafterer Satz, die Ähnlichkeit sehe ich eher nicht, ebenso wie die zum Kopfsatz der 9. (zumal dessen Metronomisierung, obwohl original, ja alles andere als unproblematisch ist) .
    Kolischs Tempo von 88 f. Viertel entspricht dem für Halbe in op.59,1i (Allegro 4/4) bzw. den Achteln in dem 2/4-notierten, aber diesmal wohl wirklich als 4/8 gemeinten allegretto vivace? (scherzando?) in der 8. Sinfonie. Wenn man sich das vorstellt, sollten die 16teltriolen in op.135,i wirklich etwa so schnell sein wie die Achteltriolen in op.59,1i? Meiner Meinung nach gewiß nicht. Es steht ja auch kein "scherzando" oder "vivace" dabei.
    Auch der Kopfsatz von op.18,2 (IIRC mit 92 für Viertel oder so bezeichnet, weiß nicht, ob das gemeinhin so flott gespielt wird), ist schneller, hier ist nämlich klar, dass er in 2, nicht in 4 ist, während das in op.135 jedenfalls nicht offensichtlich ist.
    Natürlich weiß man nicht, was Beethoven hingeschrieben hätte (ich tippe eher auf 66-72, was etwa dem Ungarischen SQ entspricht), aber auch das ist, wie man an op.106, op.125 usw. sieht, ja nicht immer unproblematisch und anders als Kolisch sehe ich keine so deutlichen Parallelen zu anderen Sätzen.


    viele Grüße


    JR

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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • Hochinteressanter Hinweis. Natürlich habe ich mir die Aufnahme der späten Quartette mit den Ungarn gleich bestellt, ist ja bei jpc für einen Spottpreis zu haben.



    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Das Finale in op.97 ist m.E. ein deutlich lebhafterer Satz, die Ähnlichkeit sehe ich eher nicht, ebenso wie die zum Kopfsatz der 9. (zumal dessen Metronomisierung, obwohl original, ja alles andere als unproblematisch ist) .
    Kolischs Tempo von 88 f. Viertel entspricht dem für Halbe in op.59,1i (Allegro 4/4) bzw. den Achteln in dem 2/4-notierten, aber diesmal wohl wirklich als 4/8 gemeinten allegretto vivace? (scherzando?) in der 8. Sinfonie. Wenn man sich das vorstellt, sollten die 16teltriolen in op.135,i wirklich etwa so schnell sein wie die Achteltriolen in op.59,1i? Meiner Meinung nach gewiß nicht. Es steht ja auch kein "scherzando" oder "vivace" dabei.
    Auch der Kopfsatz von op.18,2 (IIRC mit 92 für Viertel oder so bezeichnet, weiß nicht, ob das gemeinhin so flott gespielt wird), ist schneller, hier ist nämlich klar, dass er in 2, nicht in 4 ist, während das in op.135 jedenfalls nicht offensichtlich ist.
    Natürlich weiß man nicht, was Beethoven hingeschrieben hätte (ich tippe eher auf 66-72, was etwa dem Ungarischen SQ entspricht), aber auch das ist, wie man an op.106, op.125 usw. sieht, ja nicht immer unproblematisch und anders als Kolisch sehe ich keine so deutlichen Parallelen zu anderen Sätzen.


    Über Metronomisierungen bei Beethoven müsste man eigentlich einen eigenen Thread eröffnen. Kolischs Ziffern bedeuten oft, aber bei weitem nicht immer, schnelle Tempi. Über die von ihm benannten Vergleichssätze kann man sich streiten - den letzten Satz von op. 97 (Allegro moderato, 2/4 Takt, relativ kleine Notenwerte) finde ich nicht schlecht gewählt. Der erste Satz der Neunten ist letztlich ein völlig anderer Satzcharakter, wenngleich die zentralen Parameter (Bezeichnung des Tempos, Taktart) ähnlich bzw. gleich sind. Ob Viertel = 88 hier problematisch ist? Jedenfalls ist es machbar und ergibt auch ein überzeugendes Ergebnis, wie inzwischen mehrere Dirigenten gezeigt haben. Beim ersten Satz von op. 135 kann ich mir z.Zt. allerdings auch eine Dauer von 5 Minuten oder weniger kaum vorstellen (Viertel oder Achtel als Bezugspunkt ist hier wohl die entscheidende Frage). Allerdings zeigt Uwes allmähliche Gewöhnung an das schnelle Tempo des Ungarischen Streichquartetts, dass es wohl auch um Rezeptionsgewohnheiten und deren Überwindung geht.


    Wirklich kompliziert wird die Tempofrage dann beim dritten Satz von op. 135 :rolleyes: :D.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zweiter Satz: Vivace (F-dur, 3/4-Takt)


    Dreiteilige Scherzoform (Scherzo A-Teil T. 1-66, Trio T. 66-200, Scherzoreprise T. 201-266, Coda T. 266-272)


    Vermutlich der nachträglich komponierte Satz von op. 135. Sehr typisches spätes Beethoven-Scherzo, das aus überaus simplem Material Funken – um nicht zu sagen: ein Feuerwerk – schlägt. Zu Beginn werden „raffiniert polyrhythmische Effekte“ (Indorf) erzielt, indem die beiden Geigen im A-Teil (T. 1-16) immer synkopisch verschoben einsetzen. Die Verwirrung wird noch gesteigert, wenn der B-Teil (T. 16-66) schockartig mit einem synkopisch hereinplatzenden subito forte im Unisono beginnt. Erst bei der dann allmählich einsetzenden rhythmischen Klärung findet sich der Hörer allmählich zurecht. Das Trio setzt den geschäftigen, huschenden Gestus des Scherzos fort und steigert ihn noch. Trotzdem ist es als kontrastierender Teil angelegt: Während im Scherzo der Skalenumfang auf eine Sexte eingeschränkt war, beträgt er im Trio über zwei Oktaven. Zweimal wird moduliert. Dafür ist die rhythmische und motivische Struktur betont einfach: ein „Skalengetrippel“ in Vierteln. Ein zunächst unauffälliges Doppelschlagmotiv verselbstständigt sich schließlich, die Musik scheint durchzudrehen: Über der 48mal (!) unverändert im brüllenden Fortissimo der drei unteren Instrumente wiederholten Doppelschlagfigur vollführt die erste Geige einen wilden Tanz mit extremen Sprüngen von bis zu zwei Oktaven: fast schon Geräuschkunst und eines der frühesten und genialsten Beispiele für eine Musik, die außer Kontrolle zu geraten scheint. Eine Stelle von zugleich komischer und bedrohlicher Wirkung. Nicht nur Riemann beschwerte sich darüber, dass der Primarius hier im Getöse der anderen drei Instrumente unterginge. „Daß es dessen (Beethovens) Absicht gewesen sein könnte, die verrückten Tiraden des Tanzbodengeigers durch die brutale Begleitung der drei Musikantenkollegen niederzumachen, dieser provozierende Realismus kam auch Riemann nicht in den Sinn“ (Indorf). Allerdings hat in allen mir vorliegenden Aufnahmen die erste Geige keine Probleme, sich durchzusetzen – was noch nichts heißen muss. Aber auch aus meinen beiden Konzerterlebnissen mit op. 135 kann ich mich nicht an ein akustisches Ungleichgewicht erinnern. Jedenfalls bindet Beethoven hier in der Tradition Haydns „niedere Musik“ ein, allerdings auf recht unheimliche Art und Weise. Nach kunstvollem Übergang in die unveränderte Scherzoreprise bringen die sechs Codatakte noch einen echten Knalleffekt – ein subito-forte-Schlussakkord als „scherzoartiger Schreckschuß“ (Indorf).


    Zeiten: Emerson 3:00; Busch 3:12; Hagen 3:15; Juilliard 3:21; Gewandhaus 3:21; LaSalle 3:22


    Kolisch postuliert hier 108-112 für die punktierte Halbe (Vergleichssätze: z.B. op. 18 Nr. 1, dritter Satz; erste und sechste Symphonie, jeweils dritter Satz – alle von Beethoven entsprechend metronomisiert). Das macht keine Probleme: Drei Ensembles bewegen sich fast genau in diesem Rahmen oder nur knapp darüber (LaSalle ist mit 110 am langsamsten), Busch- und Hagen-Quartett (118 ) sind etwas schneller, das Emerson-Quartett liegt an der Spitze (124). Dass der Emerson-Express, wie schon Pius bemerkte, als erstes Ensemble die Ziellinie überschreitet, war wohl Ehrensache. Der Tempounterschied etwa zum LaSalle-Quartett ist deutlich spürbar. Ob man die seriösere langsame oder die effektvolle schnellere Variante vorzieht, ist wohl Geschmackssache. Ich bekenne mich hier freimütig zum Effekt, obwohl beim langsameren Tempo die synkopischen Verschiebungen etwas besser nachvollziehbar sind (was aber kein Vorteil sein muss). Interessanterweise sind die drei schnelleren Quartette auch die spieltechnisch (noch) perfekteren: Emerson, Hagen und Busch schaffen es trotz des rasenden Tempos, im Trio genau zwischen den Forte-Akzenten und den Piano-Passagen zu unterscheiden – bei diesen Ensembles sind auch bei der erwähnten „Tanzbodengeiger“-Stelle die tiefen Töne des Primarius deutlich hörbar (die hohen sind keine Kunst). Meiner Meinung nach werden hier bei Juilliard-, Lasalle- und Gewandhaus-Quartett auf höchstem Niveau nicht spieltechnische, aber artikulatorische Grenzen hörbar (obwohl Robert Mann von den Juilliards, der Manierist unter den Primarii, ein begnadeter Tanzbodengeiger ist, der hier mit Vergnügen die Vorschläge verschmiert). Von den drei technisch perfekten Ensembles gelingt m.E. dem Hagen-Quartett der Satz noch um eine Spur besser: hier muss sich die erste Geige im Trio wirklich gegen die drei anderen entfesselten Instrumente durchsetzen.


    Viele Grüße


    Bernd

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  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Über Metronomisierungen bei Beethoven müsste man eigentlich einen eigenen Thread eröffnen. Kolischs Ziffern bedeuten oft, aber bei weitem nicht immer, schnelle Tempi. Über die von ihm benannten Vergleichssätze kann man sich streiten - den letzten Satz von op. 97 (Allegro moderato, 2/4 Takt, relativ kleine Notenwerte) finde ich nicht schlecht gewählt. Der erste


    Ich finde den Unterschied weniger in den Sätzen selbst als in ihrer Rolle im Werk. Das Finale in op.97 ist ein sehr spritziges Stück, der mit Abstand "leichteste" Satz des Werks, während der Kopfsatz von op.135 doch irgendwie zwischen Gemütlichkeit, Verschrobenheit und leichter Groteske oszilliert.


    Zitat


    Satz der Neunten ist letztlich ein völlig anderer Satzcharakter, wenngleich die zentralen Parameter (Bezeichnung des Tempos, Taktart) ähnlich bzw. gleich sind. Ob Viertel = 88 hier problematisch ist? Jedenfalls ist es machbar und ergibt auch ein überzeugendes Ergebnis, wie inzwischen mehrere Dirigenten gezeigt haben. Beim ersten Satz von op. 135 kann ich mir z.Zt. allerdings auch eine Dauer von 5 Minuten oder weniger kaum vorstellen (Viertel oder Achtel als Bezugspunkt ist hier wohl die entscheidende Frage). Allerdings zeigt Uwes allmähliche Gewöhnung an das schnelle Tempo des Ungarischen Streichquartetts, dass es wohl auch um Rezeptionsgewohnheiten und deren Überwindung geht.


    Spielbar dürfte das viel problemloser als im Falle der 9. Sinfonie sein. Ich habe jetzt mal kurz die Aufnahme des Petersen-Quartetts gehört, weil praktischerweise auf derselben CD wie op.18,2. Die liegen in op.135,i auch bei ca. 6:25, also 60 für Viertel oder so (fühlt sich beim Hören eigentlich in 4 an), aber in op.18,2i ca. Viertel = 90 und dort kommen mindestens genausoviele 16teltriolen und auch 32tel vor (allerdings auch als "allegro" bezeichnet).
    Es wäre jedenfalls mal spannend, das Stück in einem solchen Tempo zu hören... (ich kann zwar versuchen, einige Motive schneller vor mich hinzubrummen, aber das gibt keinen rechten Eindruck) Die Unterschiede "üblicher" Tempi zur MM-Ziffer sind ja im Kopfsatz der Eroica und in vielen langsamen Sätzen ähnlich.


    Zitat


    Wirklich kompliziert wird die Tempofrage dann beim dritten Satz von op. 135 :rolleyes: :D.


    Ja? Schlägt Kolisch hier alla siciliano in 2 vor? :D


    Die Idee des "Zurücknehmens" halte ich übrigens für wenig weiterführend. Eine der allgemein bewunderten Eigenschaften Beethovens ist doch gerade die Vielfalt.
    Schon lange vorher findet man eng nebeneinander sehr knappe Stücke wie op.95 und das expansive Trio op.97 usw.
    Man nehme das B-Dur-Quartett in der Version mit dem 2. Finale (also ohne op.133). Sind die Einzelsätze so viel anders als hier in op.135, von der bloßen Länge des Gesamtwerks (und des Kopfsatzes) dort mal abgesehen? Die Cavatina ist simpler als das Lento, die beiden kurzen scherzo-ähnlichen Sätze, das andante/allegretto und das Finale durchaus in ihrer humorigen Art den entsprechenden Sätzen in op.135 vergleichbar. Und parodistische oder doppelbödige Züge zeigen sich schon in Stücken wie op.18,2 oder op.31,1.


    Wei gut belegt ist das Nachkomponieren des Scherzos? Bei Riezler wird es erwähnt, aber der schien mir eher skeptisch zu sein (so am I). Ein dreisätziges Beethoven-Quartett, das wäre wirklich ein Unikum...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Spielbar dürfte das viel problemloser als im Falle der 9. Sinfonie sein. Ich habe jetzt mal kurz die Aufnahme des Petersen-Quartets gehört, weil praktischerweise auf derselben CD wie op.18,2. Die liegen in op.135,i auch bei ca. 6:25, also 60 für Viertel oder so (fühlt sich beim Hören eigentlich in 4 an), aber in op.18,2i ca. Viertel = 90 und dort kommen mindestens genausoviele 16teltriolen und auch 32tel vor (allerdings auch als "allegro" bezeichnet).
    Es wäre jedenfalls mal spannend, das Stück in einem solchen Tempo zu hören... (ich kann zwar versuchen, einige Motive schneller vor mich hinzubrummen, aber das gibt keinen rechten Eindruck) Die Unterschiede "üblicher" Tempi zur MM-Ziffer sind ja im Kopfsatz der Eroica und in vielen langsamen Sätzen ähnlich.


    Ich schätze ja gerade bei den Symphonien Aufnahmen sehr, die die Metronomisierungen ernstnehmen (Leibowitz, Gielen, Norrington, Gardiner etc.). Gielens Eroica Anfang der 80er war für mich fast eine Offenbarung. Insofern würde ich immer dafür plädieren, bei allen Werken mindestens eine entsprechende Aufnahme zur Verfügung zu haben. Trotzdem scheint mir der "Gestus" des Kopfsatzes von op. 135 ein anderer als bei op. 18 Nr. 2 zu sein - er befindet sich gewissermaßen eine Reflektionsebene höher. Dass ich damit auch ein etwas langsameres Tempo verbinde, mag aber falsch sein.



    Zitat

    Ja? Schlägt Kolisch hier alla siciliano in 2 vor? :D


    Abwarten :D. Das Problem liegt hier nicht nur bei Kolisch, sondern auch bei den ausführenden Ensembles.



    Zitat

    Die Idee des "Zurücknehmens" halte ich übrigens für wenig weiterführend. Eine der allgemein bewunderten Eigenschaften Beethovens ist doch gerade die Vielfalt.
    Schon lange vorher findet man eng nebeneinander sehr knappe Stücke wie op.95 und das expansive Trio op.97 usw.
    Man nehme das B-Dur-Quartett in der Version mit dem 2. Finale (also ohne op.133). Sind die Einzelsätze so viel anders als hier in op.135, von der bloßen Länge des Gesamtwerks (und des Kopfsatzes) dort mal abgesehen? Die Cavatina ist simpler als das Lento, die beiden kurzen scherzo-ähnlichen Sätze, das andante/allegretto und das Finale durchaus in ihrer humorigen Art den entsprechenden Sätzen in op.135 vergleichbar. Und parodistische oder doppelbödige Züge zeigen sich schon in Stücken wie op.18,2 oder op.31,1.


    Das „Zurücknehmen“ (selbst im Sinne einer qualitativen Abwertung) haben ja Autoren von Kerman bis Konold für op. 135 postuliert. Ich widerspreche dem auch, sehe aber trotzdem einen Unterschied zwischen op. 135 und den anderen späten Quartetten.
    Es ist das kürzeste und es ist (mit Ausnahme von op. 127) das einzige viersätzige. Die einzelnen Sätze sind ebenfalls ungewöhnlich gerafft: dreiteilige statt fünfteiliger Scherzoform, nur vier Variationen im langsamen Satz, die zudem ziemlich nah am Thema bleiben (sehr im Unterschied zu den Variationensätzen in op. 127 oder op. 131, die einmal den Globus umkreisen, um dann wieder beim Thema anzukommen). Zudem ist das Finale (von der Programmusik-Problematik mal abgesehen) sehr einfach strukturiert.
    Der Vergleich zu op. 130 ist sehr interessant: In der Tat gibt es hier – von der schieren Länge und Anzahl der Sätze mal abgesehen – viele Parallelen. Aber das funktioniert nur, wenn man das Werk mit dem nachkomponierten Finale spielt. Mit der Fuge gehört op. 130 wie op. 131 zu den „Finalquartetten“, in denen Beethoven nochmal die ganz große Lösung des Finalproblems versucht, das ihn seit jeher beschäftigt hat. In diesem Fall gibt es eine Steigerung von den suitenartig aufeinanderfolgenden Sätzen über die Cavatina (die immerhin Beethovens Lieblingsstück war und vor der die ergriffenen Interpreten gleich reihenweise auf die Knie gefallen sind) bis zur geballten Ladung der Großen Fuge. Dagegen ist das nachkomponierte Finale von op. 130 nicht zufällig direkt nach op. 135 entstanden – ein Satz, der sich dem Verlangen nach einer „Steigerung“, „Überwindung“ oder „Lösung“ ostentativ entzieht. Der Schlussatz von op. 135 stellt sich auf der programmatischen Ebene („Der schwer gefasste Entschluss“) noch einmal scheinbar der schwergewichtigen Finalproblematik, nur um rein musikalisch diesen Anspruch wieder ad absurdum zu führen. Eine Schlüsselstellung hat hier (wie Indorf überzeugend ausführt) das Finale von op. 95. Der Versuch eines großen, konfliktgeladenen Finales wird hier einfach abgebrochen; Beethoven führt den Satz rasch, umstands- und auch zusammenhanglos durch das angehängte Allegro zum Ende – auch hier schon eine bewusste „Verweigerungshaltung“.
    Hier sehe ich einen Unterschied von op. 135 etwa zu Werken wie op. 18 Nr. 2 oder op. 31 Nr. 1: Auch dort war schon das ironische Historisieren von alten Formen und Stilen zu beobachten. Aber op. 135 geht diese Problematik nochmal grundsätzlicher an, man könnte sagen: selbstreflexiv.



    Zitat

    Wei gut belegt ist das Nachkomponieren des Scherzos? Bei Riezler wird es erwähnt, aber der schien mir eher skeptisch zu sein (so am I). Ein dreisätziges Beethoven-Quartett, das wäre wirklich ein Unikum...


    Indorf bezieht sich hier auf eine Konversationsheft-Eintragung von Karl Holz, die er leider nicht direkt zitiert. Ich habe mir den entsprechenden Band der Konversationshefte mal aus der Bibliothek bestellt und werde dann berichten. Grundsätzlich könnte ich mir vorstellen, dass die unkonventionelle Dreizahl der Sätze (spiegelverkehrt analog zu der Fünf-, Sechs- oder Siebenzahl anderer Quartette) die Lakonik des Quartetts noch betonen sollte. Wenn ein Satz nachkomponiert sein sollte, kann es eigentlich nur das Vivace sein – alles andere gibt keinen Sinn, außerdem stünden sonst im ursprünglich dreisätzigen Quartett alle Sätze in F-dur.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Ich schätze ja gerade bei den Symphonien Aufnahmen sehr, die die Metronomisierungen ernstnehmen (Leibowitz, Gielen, Norrington, Gardiner etc.). Gielens Eroica Anfang der 80er war für mich fast eine Offenbarung. Insofern würde ich immer dafür plädieren, bei allen Werken mindestens eine entsprechende Aufnahme zur Verfügung zu haben.


    Ich auch. Bzgl. Gielen empfehle übrigens, falls verfügbar, den Zyklus mit dem SWF. Der ist nicht ganz so "trocken" wie die Cincinnati Eroica (wobei ich die zugegeben nur mal vor langer Zeit bei einem Bekannten hören konnte), aber mit ähnlichen Tempi.
    Ich habe tatsächlich doch noch eine etwas flottere bei mir gefunden: das Yale Quartet (Vanguard) braucht 5:37. Finde ich relativ unproblematisch. Unter 5 würde mich definitiv reizen, einfach, um mal zu hören, wie es klingt.


    Zitat


    Trotzdem scheint mir der "Gestus" des Kopfsatzes von op. 135 ein anderer als bei op. 18 Nr. 2 zu sein - er befindet sich gewissermaßen eine Reflektionsebene höher. Dass ich damit auch ein etwas langsameres Tempo verbinde, mag aber falsch sein.


    Allzu nahe würde ich die auch nicht beieinander stellen (und außerdem "allegro" vs. "allegretto"). Aber näher als die von Kolisch angeführten Sätze!


    Zitat

    Das „Zurücknehmen“ (selbst im Sinne einer qualitativen Abwertung) haben ja Autoren von Kerman bis Konold für op. 135 postuliert. Ich widerspreche dem auch, sehe aber trotzdem einen Unterschied zwischen op. 135 und den anderen späten Quartetten.
    Es ist das kürzeste und es ist (mit Ausnahme von op. 127) das einzige viersätzige. Die einzelnen Sätze sind ebenfalls ungewöhnlich gerafft: dreiteilige statt fünfteiliger Scherzoform, nur vier Variationen im langsamen Satz, die zudem ziemlich nah am Thema bleiben (sehr im Unterschied zu den Variationensätzen in op. 127 oder op. 131, die einmal den Globus umkreisen, um dann wieder beim Thema anzukommen).


    Also diese ominöse Fünfteiligkeit des Scherzos scheint ein Steckenpferd oberflächlicher Kommentatoren (nicht Du bist gemeint!) zu sein ;) Zwar war das eine Option für Beethoven, aber sie hat m.E. niemals den Status einer Verbindlichkeit. Beethoven muß sich bewußt gewesen sein, dass so ein Verfahren die äußerlichste, triviale Form der "Aufwertung" von Scherzo-Sätzen war. Die drei längsten und großartigsten späten Scherzo-Sätze, nämlich op.125,ii, op.127,iii und op.132, ii sind alle nicht fünfteilig. In den späten Quartetten ist überhaupt nur ein einziges Scherzo ansatzweise fünfteilig, nämlich op.131,v (Kerman meint sogar 7teilig, weil das "trio" nochmal kurz angespielt wird, aber das gibt es ja auch in den Codas in der 9. und und in op.127). In der mittleren Periode kommt es in der 4. u. 7. Sinfonien, in der Cellosonate op.69 und in den Quartetten op.59,2, op.74 und op. 95 vor (op.59,1ii ist sui generis). Aber in der 5. (hier allerdings umstritten), 6. und 8. Sinfonie und in op.59,3 eben auch wieder nicht, genausowenig in einer späten (oder irgendeiner?) Klaviersonate.


    Der Unterschied zu den vorhergehenden langsamen Sätzen wird von Kerman schön herausgestellt: er weist darauf hin, dass in den späten Quartetten Werke und Sätze extreme Kontraste (etwa die Kopfsätze von op.130 u. 132) neben solchen stehen, wo in Formen, in denen man eigentlich Kontraste erwarte, diese nicht auftauchen, schlagende Beispiele sind dieses lento und der Kopfsatz von op.127


    Natürlich ist (auf triviale und offensichtliche Weise) op.135 in gewissem Sinne eine Rückkehr zu traditionelleren Formen. Aber ähnlich wie in der 8. Sinfonie ist es ebenso selbstverständlich keine naive Rückkehr. Den ungewohnt abwechslungsarmen (aber dennoch sehr feierlichen und beeindruckenden) Variationensatz haben wir ja genannt und noch deutlicher wiederspricht der verstörende Ausbruch im Trio (dem Ort, wo man selbst bei Beethoven so etwas am allerwenigsten erwarten würde) einem bloß retrospektiven Klassizismus. Kerman zitiert hier Riezler (Riezler spricht zunächst über op.133): "Es ist eine andere Art Taumel als der im Finale der siebenten Sinfonie, nicht ein Weiter-und-immer-weiter-Stürmen, mehr ein ekstatisches Stampfen wie in orgiastischen Tänzen der Naturvölker - wie wir es auch an jener seltsamen Stelle im Trio des Scherzosatzes von op.135 erleben, wo der Taumel nicht mehr durch das Gesetz der Fuge gehalten ist, sondern völlig kunstlos und entfesselt dahinrast. Was manche ängstliche Gemüter schon beim Finale der siebenten Sinfonie glaubten: daß Beethoven, als er diese Töne niederschrieb, betrunken oder wahnsinnig war, das wurde vielen Hörern dieser letzten Stücke zur Gewißheit." (Beethoven, Zürich 1951, S. 304)


    Zitat

    Grundsätzlich könnte ich mir vorstellen, dass die unkonventionelle Dreizahl der Sätze (spiegelverkehrt analog zu der Fünf-, Sechs- oder Siebenzahl anderer Quartette) die Lakonik des Quartetts noch betonen sollte. Wenn ein Satz nachkomponiert sein sollte, kann es eigentlich nur das Vivace sein – alles andere gibt keinen Sinn, außerdem stünden sonst im ursprünglich dreisätzigen Quartett alle Sätze in F-dur.


    Ja klar, wenn, dann das Scherzo. Es gibt übrigens tatsächlich ein dreisätziges Quartett, nämlich das eigene Arrangement von op.14,1!


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Also diese ominöse Fünfteiligkeit des Scherzos scheint ein Steckenpferd oberflächlicher Kommentatoren (nicht Du bist gemeint!) zu sein ;) Zwar war das eine Option für Beethoven, aber sie hat m.E. niemals den Status einer Verbindlichkeit. Beethoven muß sich bewußt gewesen sein, dass so ein Verfahren die äußerlichste, triviale Form der "Aufwertung" von Scherzo-Sätzen war. Die drei längsten und großartigsten späten Scherzo-Sätze, nämlich op.125,ii, op.127,iii und op.132, ii sind alle nicht fünfteilig. In den späten Quartetten ist überhaupt nur ein einziges Scherzo ansatzweise fünfteilig, nämlich op.131,v (Kerman meint sogar 7teilig, weil das "trio" nochmal kurz angespielt wird, aber das gibt es ja auch in den Codas in der 9. und und in op.127). In der mittleren Periode kommt es in der 4. u. 7. Sinfonien, in der Cellosonate op.69 und in den Quartetten op.59,2, op.74 und op. 95 vor (op.59,1ii ist sui generis). Aber in der 5. (hier allerdings umstritten), 6. und 8. Sinfonie und in op.59,3 eben auch wieder nicht, genausowenig in einer späten (oder irgendeiner?) Klaviersonate.


    Hm, in der Tat eine interessante Problematik. Vielleicht hätte ich die einzelnen Scherzi nochmal im Geiste repetieren sollen, bevor ich mit den drei- bzw. fünfteiligen Formen argumentiere :D. Trotzdem bringen mich Deine richtigen Einwände zu neuen Überlegungen: Eigentlich haben op. 125 und op. 127 keine fünfteiligen Scherzi, aber die Fünfteiligkeit wird durch das zweite "Anspielen" des Trios trotzdem thematisiert- das ist schon ein gravierender Unterschied zur "normalen" Dreiteiligkeit. Als griffe Beethoven in die fast schon mechanisch weiterlaufende Musik mit einem einmaligen Willensakt ein, um das Ganze zu einem Ende zu bringen. Noch deutlicher bei op. 131, wo man (als Ersthörer) bei der dritten Wiederkehr des "Trios" ja erst recht denkt: Wirklich nochmal? Gibt die thematische Substanz das her? - und dann Beethoven gewissermaßen ein Einsehen hat. Die (pseudo-)siebenteilige Form des Scherzos von op. 131 könnte doch möglicherweise auch eine "interne Spiegelung" der (Pseudo-)Siebensätzigkeit des Werkes sein?!


    Über die "großartigsten" Scherzi des späten Beethoven kann man diskutieren - ich finde die kurzen, pointensicheren Scherzi von op. 130 und op. 135 den längeren ebenbürtig. Wobei das zeitgenössische Publikum bei op. 130 ja auch das Scherzo besonders schätzte und dafür von Beethoven prompt eins auf den Deckel bekam :D.



    Zitat

    Natürlich ist (auf triviale und offensichtliche Weise) op.135 in gewissem Sinne eine Rückkehr zu traditionelleren Formen. Aber ähnlich wie in der 8. Sinfonie ist es ebenso selbstverständlich keine naive Rückkehr.


    D'accord.



    Zitat

    Den ungewohnt abwechslungsarmen (aber dennoch sehr feierlichen und beeindruckenden) Variationensatz haben wir ja genannt und noch deutlicher wiederspricht der verstörende Ausbruch im Trio (dem Ort, wo man selbst bei Beethoven so etwas am allerwenigsten erwarten würde) einem bloß retrospektiven Klassizismus. Kerman zitiert hier Riezler (Riezler spricht zunächst über op.133): "Es ist eine andere Art Taumel als der im Finale der siebenten Sinfonie, nicht ein Weiter-und-immer-weiter-Stürmen, mehr ein ekstatisches Stampfen wie in orgiastischen Tänzen der Naturvölker - wie wir es auch an jener seltsamen Stelle im Trio des Scherzosatzes von op.135 erleben, wo der Taumel nicht mehr durch das Gesetz der Fuge gehalten ist, sondern völlig kunstlos und entfesselt dahinrast. Was manche ängstliche Gemüter schon beim Finale der siebenten Sinfonie glaubten: daß Beethoven, als er diese Töne niederschrieb, betrunken oder wahnsinnig war, das wurde vielen Hörern dieser letzten Stücke zur Gewißheit." (Beethoven, Zürich 1951, S. 304)


    Seitdem ich die späten Quartette Beethovens kenne, hat mich dieser Ausbruch im Trio immer besonders fasziniert. Unter Berücksichtigung des zeitgenössischen Kontextes finde ich Indorfs "Tanzbodenmusikanten" etwas plausibler als Riezlers "orgiastische Tänze der Naturvölker" (wann erschien nochmal die erste Auflage von Riezlers Beethoven-Buch? :D). Andererseits führt Riezler vielleicht doch in die richtige Richtung: Die Stelle im Trio ist ein so eklatanter Verstoß gegen alle musikalischen bzw. künstlerischen Prinzipien der Wiener Klassik, dass sie schon etwas anderes am Horizont aufscheinen lässt: die Wiederentdeckung des Ritus in Strawinskys "Sacre" und Ravels "Bolero".



    Zitat

    Es gibt übrigens tatsächlich ein dreisätziges Quartett, nämlich das eigene Arrangement von op.14,1!


    Stimmt! Das habe ich erst kürzlich kennengelernt, weil es in der Gesamteinspielung des Gewandhaus-Quartetts enthalten ist.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Und hier noch die Quelle zur ursprünglichen Dreisätzigkeit von op. 135. Es handelt sich um eines der Konversationshefte Beethovens, die bekanntlich aufgrund der Taubheit des Komponisten geführt wurden. Erhalten sind (mit ganz wenigen Ausnahmen) natürlich immer nur die Beiträge von Beethovens Gesprächspartnern. In Heft Nr. 120 (Ludwig van Beethovens Konversationshefte, Band 10, Hefte 114-127, hrsg. von Dagmar Beck, Leipzig 1993, S. 185) aus der ersten Septemberhälfte 1826 findet sich ein "Gespräch" Beethovens mit dem zweiten Geiger des Schuppanzigh-Quartetts, Karl Holz (den Beethoven als "Freund" bezeichnet hat). Durch den Gesprächskontext ist gesichert, dass es beim folgenden Passus um den Verleger Maurice Schlesinger und das Quartett op. 135 geht, an dem Beethoven gerade komponierte.



    "HOLZ: Er hat mich gefragt; ich sagte, Sie schreiben es eben.


    [unbekannte Antwort Beethovens]


    HOLZ: Sie strafen ihn nicht, wenn es kurz wird; hat es nur 3 kurze Stücke, so ist es doch ein Quartett von Beethoven, und den Verleger kostet die Auflage nicht so viel."



    Der Quellenwert der Konversationshefte ist sehr hoch einzuschätzen. Quellenkritisch ließen sich m.E. nur zwei Einwände geltend machen: Entweder wollte Beethoven Holz an der Nase herumführen. Oder Holz' Antwort ist als eine Art rhetorischer Volte zu verstehen, etwa so: "Selbst wenn das Quartett nur drei Sätze hätte" usw.
    Beides halte ich für unwahrscheinlich.


    Viele Grüße


    Bernd

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  • Ich hatte Riezler hier falsch in Erinnerung. Er zweifelt die Zuverlässigkeit der Quelle nicht an ("Wir wissen aus einem Gesprächsbuch, dass das Werk ursprünglich nur drei Sätze hatte..."), referiert dann aber die Ansicht einiger Kommentatoren (u.a Rolland), die davon überzeugt waren, dass "largo" sei nachkomponiert worden. Das hält er (wie wir) für unwahrscheinlich und votiert auch für das Scherzo.


    Nochmal zu den Scherzi allgemein:

    Zitat


    Eigentlich haben op. 125 und op. 127 keine fünfteiligen Scherzi, aber die Fünfteiligkeit wird durch das zweite "Anspielen" des Trios trotzdem thematisiert- das ist schon ein gravierender Unterschied zur "normalen" Dreiteiligkeit. Als griffe Beethoven in die fast schon mechanisch weiterlaufende Musik mit einem einmaligen Willensakt ein, um das Ganze zu einem Ende zu bringen. Noch deutlicher bei op. 131, wo man (als Ersthörer) bei der dritten Wiederkehr des "Trios" ja erst recht denkt: Wirklich nochmal? Gibt die thematische Substanz das her? - und dann Beethoven gewissermaßen ein Einsehen hat.



    Es stimmt, dass mit der Idee einer erneuten Wiederkehr gespielt wird und das geht natürlich nur, wenn der Hörer zumindest manchmal mit einem ABABA-Scherzo rechnet.
    Es mag sein, dass Beethoven in der mittleren Periode diese Verlängerung als eine mögliche Aufwertung des Satzes gültig fand; die andere, m.E. interessantere Variante (aber ob man so etwas machen kann, hängt natürlich empfindlich vom gesamten Werk ab) ist der enge Anschluß ans Finale wie in op.59,3 und in der 5. u. 6. Wobei das "lustige Beisammensein" eigentlich auch 5-teilig ist //: Allegro 3/4, allegro 2/4 :// verkürztes allegro 3/4), nur sind alle Teile recht kurz und die Wiederkehr des Hauptteils wird vom Gewitter unterbrochen. Die 7. Sinfonie hat nach ausgeschriebener fünfteiliger Form auch schon die Andeutung einer erneuten Wiederkehr des Trios in der Coda. auch der Gag war also nicht wirklich neu...


    Zitat


    Über die "großartigsten" Scherzi des späten Beethoven kann man diskutieren - ich finde die kurzen, pointensicheren Scherzi von op. 130 und op. 135 den längeren ebenbürtig. Wobei das zeitgenössische Publikum bei op. 130 ja auch das Scherzo besonders schätzte und dafür von Beethoven prompt eins auf den Deckel bekam.


    Mit großartig meinte ich hier in erster Linie Umfang und den Anspruch, die Hauptteile durch Sonaten- oder Fugato-Elemente über die Beschränkung des Scherzos auf Bewegungsenergie, rhythmische und witzige Effekte weiterzuentwickeln.
    Leider hat er das faszinierendste Experiment dieser Art, das allegretto scherzando in op.59,1 nicht im Spätwerk in ähnlicher Form wiederholt.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Es mag sein, dass Beethoven in der mittleren Periode diese Verlängerung als eine mögliche Aufwertung des Satzes gültig fand; die andere, m.E. interessantere Variante (aber ob man so etwas machen kann, hängt natürlich empfindlich vom gesamten Werk ab) ist der enge Anschluß ans Finale wie in op.59,3 und in der 5. u. 6. Wobei das "lustige Beisammensein" eigentlich auch 5-teilig ist //: Allegro 3/4, allegro 2/4 :// verkürztes allegro 3/4), nur sind alle Teile recht kurz und die Wiederkehr des Hauptteils wird vom Gewitter unterbrochen. Die 7. Sinfonie hat nach ausgeschriebener fünfteiliger Form auch schon die Andeutung einer erneuten Wiederkehr des Trios in der Coda. auch der Gag war also nicht wirklich neu...


    ...aber immer wieder gut. Stimmt, das Scherzo der 7. Symphonie ist wohl der erste Vertreter der "angedeuteten" Fünfteiligkeit.


    Dieses ständige Experimentieren mit den scheinbar festgelegten Satzcharakteren ist in der Tat überaus typisch für Beethoven, nicht nur beim "Finalproblem", der Sonatensatzform und den Variationensätzen, sondern auch bei den Scherzi. Wir hätten jetzt schon 1. die dreiteilige, 2. die fünfteilige, 3. die angedeutete fünf- bzw. siebenteilige Form, 4. den Typus mit direktem Übergang ins Finale oder in den langsamen Satz (op. 110), 5. die Sonatensatzform (op. 59/1 - auch wenn Kerman das anders sieht). Außerdem wäre noch 6. nicht als Form-, sondern als Charaktertypus das historisierende Menuett zu nennen (op. 59/3, das natürlich gleichzeitig der Kategorie 4 angehört). Dieser Typus funktioniert in op. 54 auch als Kopfsatz. Schließlich muss man noch einen Blick auf den Sonderfall op. 130 werfen - hier gibt es das eigentliche Scherzo, dazu das "Alla danza tedesca" als weiteren "Tanzsatz" - und selbst das "Andante con moto" bekommt nicht nur durch die Scherzando-Vortragsbezeichnung einen zweideutigen Touch.



    Zitat


    Leider hat er das faszinierendste Experiment dieser Art, das allegretto scherzando in op.59,1 nicht im Spätwerk in ähnlicher Form wiederholt.


    Op. 59/1 steht in seiner Originalität auf jeden Fall gleichberechtigt neben den großen späten Quartetten.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Dritter Satz: Lento assai, cantante e tranquillo (Des-dur, 6/8-Takt)


    Variationensatz (Einleitung T. 1-2, Thema T. 3-12, Variation I T. 13-22, Var. II T. 23-32, Var. III T. 33-42, Var. IV T. 43-52, Coda T. 53-54)


    Das Thema und seine vier Variationen werden symmetrisch von einem zweitaktigen „Klangvorhang“ (ähnlich op. 127 und 106) und einer ebenfalls auf einem sechsstimmigen Des-dur-Akkord endenden, zweitaktigen Coda gerahmt. Wie der einleitende Akkord verbleibt auch das Thema in der tiefen Lage aller Instrumente. Es ist eine relativ einfach strukturierte, sehr kantable Melodie. Wie so oft in den späten Quartetten bezieht sich Beethoven hier auf die menschliche Stimme – schon durch die Vortagsbezeichnung „cantante“; zudem notierte er neben einer Skizze zu diesem Satz die Worte: „Süßer Ruhegesang oder Friedensgesang“. Die erste Variation entwickelt diesen ausdrucksvollen Gesang weiter, die dritte wiederholt ihn fast wortgetreu in imitierender Stimmführung durch Cello und erste Geige, die vierte Variation löst sich in kleinteiligere Figurationen auf, die zu einem emphatischen Höhepunkt gesteigert werden. Etwas aus dem Rahmen fällt die ungeheuer ausdrucksvolle zweite Variation: aus Des-dur wird cis-moll, das Thema ist auf seine harmonische Essenz reduziert und von Pausen durchsetzt. Wie man den Charakter dieser Takte beschreiben soll, hängt auch vom gewählten Tempo ab (s.u.). Der ganze Satz „ist ein Wunder an Abgeklärtheit und Schlichtheit“ (Indorf), um nur ein enthusiastisches Urteil aus der Literatur zu zitieren.



    Zeiten: Gewandhaus 6:34; LaSalle 7:19; Emerson 7:25; Hagen 8:00; Juilliard 8:52; Busch 10:15


    Kolisch erschließt hier ein Tempo von 24-30 punktierten Vierteln pro Minute. Neben dem Largo e mesto aus op. 10 Nr. 3 (und dem allerdings im 12/8-Takt stehenden Adagio aus op. 127) ist vor allem das von Beethoven selbst mit 92 Achteln pro Minute metronomisierte Adagio sostenuto der Hammerklaviersonate maßgeblich. 92 Achtel liegen am oberen Ende der Skala Kolischs, der für seine Verhältnisse großzügig ist, wenn er zur langsamen Seite hin immerhin 24 punktierte Viertel für möglich hält. Das wäre ohne Probleme spielbar. Allerdings haben sich fünf der von mir gehörten Formationen beim Vortrag des Themas auf das wesentlich langsamere Tempo von 16-17 punktierten Vierteln verschworen. Das Busch-Quartett tanzt (bzw. schleicht) mit sage und schreibe 11 pro Minute schon hier aus der Reihe. Dabei bleibt es aber nicht. Die zweite Variation ist mit „Più Lento“ bezeichnet, ab der dritten Variation gilt wieder „a tempo“. Naturgemäß gibt es verschiedene Auffassungen, wie stark in der zweiten Variation verlangsamt werden soll. Erstaunlicher aber ist, wie unterschiedlich es dann weitergeht. Zur Erläuterung hier detailliert die Tempi der einzelnen Ensembles in den Variationen. Die Zahl bezieht sich immer auf punktierte Viertel pro Minute.


    Gewandhaus: Thema: 17, Var. I: 17, Var. II: 15, Var. III: 19, Var. IV: 18
    LaSalle: Thema: 16, Var. I: 16, Var. II: 13, Var. III: 18, Var. IV: 17
    Emerson: Thema: 17, Var. I: 17, Var. II: 13, Var. III: 18, Var. IV: 15
    Hagen: Thema: 17, Var. I: 16, Var. II: 11, Var. III: 16, Var. IV: 15
    Juilliard: Thema: 15, Var. I: 16, Var. II: 11, Var. III: 17, Var. IV: 13
    Busch: Thema: 11, Var. I: 12, Var. II: 10, Var. III: 11, Var. IV: 13


    Der Drang zur Tempomodifikation ist allgemein stark ausgeprägt, extrem z.B. beim Juilliard-Quartett, das es schafft, fünf verschiedene Tempi anzubieten. Das „a tempo“ zur dritten Variation veranlasst hier immerhin vier Quartette, ein schnelleres Zeitmaß als vor dem „più lento“ zu wählen, um dann zur letzten Variation mit ihren kleinen Notenwerten der ersten Violine wieder merklich oder unmerklich langsamer zu werden. Bei diesen Ensembles besteht nicht nur beim Tempo, sondern auch in puncto Dynamik das Bedürfnis, die dritte Variation von der „geheimnisvollen“ zweiten abzusetzen: das Gewandhaus- und Emerson-Quartett tendieren hier in Richtung Mezzoforte statt des vorgeschriebenen Piano (mit sehr sonorem Cello bei den Emersons). Leider werden hier fast immer die Mittelstimmen vernachlässigt (Busch-, aber auch Hagen-Quartett; Ausnahme: die Juilliards). Besonders interessant die Interpretation der zweiten Variation: die langsamen Formationen gestalten hier mit viel (Busch), durchschnittlichem (Juilliard) und sehr wenig (Hagen) Vibrato fast statische Klangflächen, wobei die Hagen-Variante am meisten überzeugt: Ligeti avant la lettre. Dass es auch ganz anders geht, zeigt das Gewandhaus-Quartett mit beträchtlich schnellerem Tempo: auch weil hier die Sechzehntel und Viertel getrennt artikuliert werden, ist ein feierliches, gewissermaßen liturgisches Schreiten zu hören – man könnte auch von einem Trauermarsch sprechen. Insgesamt lassen sich die Interpretationen folgendermaßen charakterisieren: Gewandhaus- und LaSalle-Quartett bevorzugen einen mittleren, sachlichen, vielleicht etwas geheimnislosen Tonfall (Geschmackssache), die Juilliards bieten immer wieder schöne Details (dritte Variation!), allerdings auch eine recht exzentrische Tempodramaturgie und einige romantische Drücker, das Emerson-Quartett überzeugt schon mit dem warm gesungenen Thema am Anfang und insgesamt viel Klangschönheit, weist aber kleine Defizite in puncto dynamische Differenzierung und Durchhörbarkeit auf. Der letzte Punkt gilt leider auch für das Hagen-Quartett mit seiner sonst dramaturgisch wohldurchdachten Einspielung: hervorzuheben die sehr zurückhaltende Dynamik („tranquillo“ und „sotto voce“-Vorschrift!), die nur bei den rinforzati der zweiten Variation und dann bei der Steigerung im viertletzten Takt zugunsten eines emphatischen Höhepunkts aufgegeben wird. An der Interpretation des Satzes durch das Busch-Quartett scheiden sich wohl die Geister. Uwe hat sich oben im Thread sehr positiv geäußert. Für mich liegt hier eine Verfehlung der Intentionen Beethovens vor: das extrem langsame Grundtempo, die pastosen Klangflächen, das Vibrato, die kleinen Portamento-Schluchzer in der vierten Variation und das langandauernde, wie beim Juilliard-Quartett viel zu früh ansetzende Ritardando am Schluss gehören zu einer spätromantischen Tradition, die auf mich im negativen Sinne historisch wirkt. Uneingeschränkt empfehlen kann ich beim Lento aber keine der mir vorliegenden Aufnahmen.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo,


    zuerst möchte ich sagen, dass ich am Verfolgen der Diskussion und Eindrucksschilderung in diesem Thread Freude habe. Einige Anmerkungen und Fragen möchte ich aber hier einwerfen, und zwar erst einmal allgemein:


    Hier wird bei der Frage des Tempos häufig Kolisch zitiert und als Basis für Tempoüberlegungen genommen. Ist damit der Geiger, den ich mit Schönberginterpretationen in Verbindung bringe, gemeint? Ist seine Vorstellung von den Tempi der Beethovenquartette maßgebend oder allgemein anerkannt?


    Nun noch einmal zum ersten Satz, wenngleich es einen großen Sprung bedeutet.


    Zitat

    Bernd schreibt:
    Der Tonfall des Satzes ist auch unter Einbeziehung analytischer Überlegungen schwer zu beschreiben: Er ist zweifellos „nüchtern“ und (scheinbar) „affektlos“ (Indorf), aber m.E. nicht „entspannt“ und „gelöst“, sondern (in großen Anführungszeichen) abstrakt und doppelbödig.


    Das empfinde ich, bei vielen Übereinstimmungen an anderen Stellen, anders. Auf mich wirkt der erste Satz im Gegensatz zu den Eröffnungssätzen der anderen „Späten“ sogar sehr entspannt. Wenngleich, wie oben richtig beschrieben wurde, natürlich einige kleine Durchführungsteile existieren, wirkt der Satz auf mich aber eher wie eine lockere Aneinanderreihung von "harmlosen" Themen, deren Charaktereigenschaften jeweils die Wirkung von Geschlossenheit in sich sind, d.h. die Themen sind in sich rund, und nach dem Verklingen scheinen sie sozusagen „abgehakt“. Von Doppelbödigkeit ist also auch nach meiner Wahrnehmung kaum eine Spur zu erkennen, im Gegensatz zu den drei vorausgegangenen Quartetten, die dafür allerdings eine mehrfache Bodenschicht vorweisen.


    Dies ist auch einer der Gründe, warum das Werk in seiner sphärischen Wirkung mit den Schwesterwerken, die durch „Viertonmotiv“ und andere Mittel auch schwebende Anteile erhalten, nicht ganz mithalten kann. Für jemanden, der von den frühren Klassikern kommend zum ersten Mal in die späten Streichquartette Beethovens hereinschnuppern möchte, ist dieses Quartett aus diesen Gründen möglicherweise am besten geeignet.


    Zitat

    Kolisch hat sicherlich nicht ganz unrecht, wenn er schreibt: „Die reiche rhythmische Gliederung und die motivische Artikulation der kleinen Noten verführen insbesondere bei op. 135 zu der Annahme eines 4/8-Taktes, die aber, wie die Hauptgestalten zeigen, verfehlt wäre.“


    Nun, das kommt wohl auf die Einspielungen an. Während ich bei den mir bekannten schnelleren und „sachlicheren“ Interpretationen ganz eindeutig 2/4 fühle, kann es schon sein, dass bei eher langsameren teilweise 4/4-Eindrücke aufkommen. Vielleicht fühle ich mich auch aus diesem Grund zunehmend mehr bei schnelleren Interpretationen dieses op. 135 wohler.


    Übrigens: Es reizt mich allerdings schon, mir die hier erwähnte mir bisher unbekannte sehr langsame Einspielung des Hagen-Quartetts zuzulegen. Ist aber z.Zt. zu teuer für mich, deshalb vielleicht später einmal.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof
    Hier wird bei der Frage des Tempos häufig Kolisch zitiert und als Basis für Tempoüberlegungen genommen. Ist damit der Geiger, den ich mit Schönberginterpretationen in Verbindung bringe, gemeint? Ist seine Vorstellung von den Tempi der Beethovenquartette maßgebend oder allgemein anerkannt?


    Ja, das ist der Geiger. Nein, seine Tempovorstellungen sind heiß umstritten (sonst würden etwa in diesem Falle vn 135,i hier gewiß nicht fast alle Interpreten sehr viel langsamer spielen.
    Es gibt von Beethoven folgende Originalmetronomziffern: alle Sinfonien, Quartette 1-10, Sonate op.106, Septett und vielleicht noch ein oder zwei kleinere Werke. Von denen sind bekanntlich ziemlich viele sehr schnell, besonders für eigentlich langsame Sätze, wo das Tempo oft als unangemessen für lyrischen Ausdruck aufgefaßt wird, während viele schnelle die Grenzen der spieltechnischen Möglichkeit sprengen (MM=84 für ganze Takte im Finale von op.59,3, 92 für Halbe im Kopfsatz von op.95, d.h. es müssten bei 184 (!) Vierteln pro Minute staccato-16tel artikuliert werden z.B. usw.)


    Daher gibt es seit jeher Versuche, diese Metronomisierungen aufgrund von Beethovens Taubheit und seiner teils widersprüchlichen Aussagen zum Nutzen des Metronoms wegzuerklärren. Kolisch hat jedoch in einem Aufsatz (Anfang der40er) zum einen für diese sehr schnellen tempi plädiert (und sie mit seinem Quartett angeblich auch gespielt), zum andern versucht durch Analogiebetrachtungen von Sätzen mit ähnlichem "Charakter" Tempovorschläge für nicht-metronomisierte Stücke, etwa das Violinkonzert oder anscheinend auch die späten Quartette zu erstellen.


    Leider findet man das Paper nicht online ohne zu zahlen, aber ein ganz interessantes (lang!) Interview mit Felix Khuner (2. Vl. im Kolisch Q.)


    "http://www.khuner.com/history/in01.htm"


    viele Grüße


    JR

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