Liebe Taminos,
als ich das erste Mal den Freischütz hörte, stieß mich das Ende vor den Kopf. Unentrinnbar schien alles auf ein dramatisches Finale zuzusteuern. Doch dann – plumps – fällt Kaspar getroffen zu Boden und alle danken froh der „Lenkung des Ewigen“, der „Schutz der Unschuld“ ist.
Mit diesem Deus ex machina – das war mir sofort klar – würde ich mich nicht anfreunden können und ich fürchtete schon, mein Genuß der Oper würde unter diesem zu versöhnlichen Schluss leiden. Dann jedoch, und ohne dass ich absichtlich danach gesucht hätte, drang sich mir ein anderer Blickwinkel auf, den ich gerne vor- und zur Diskussion stellen würde. Möglicherweise wiederhole ich nur, was schlauere Exegeten schon lange vorher konstatierten und trage Eulen nach Athen. Sei’s drum. Die Frage lautet:
Ist das Freischütz-Ende ein Deus ex machina oder vielleicht feiner (Glaubens-) Spott?
Folgende Deutung des Geschehens ist Anlass meiner Frage:
Ausgangspunkt ist der nach Rache strebende Kaspar. Nicht ihm sondern Max wurde Agathe als Braut versprochen und somit auch die Erbförsterei. Freilich gilt es dazu noch den Probeschuss zu bestehen und genau das scheint angesichts der plötzlich verlorenen Treffsicherheit Max’ zweifelhaft. Für diese widerrum zeichnet Kaspar verantwortlich, der sogar die Dreistigkeit besitzt, darauf anzuspielen: „Es hat dir jemand einen Waidbann gesetzt...“ und auch mit Ratschlägen zur Aufehbung desselben spart er nicht: „Geh am nächsten Freitag auf einen Kreuzweg...“ Und diese Offenheit kann er sich auch leisten, denn ganz gleich an welchem Tag die Handlung spielt, der Probeschuss findet „Morgen schon“ statt. Kaspar aber gibt sich nicht mit Max’ etwaigen Versagen zufrieden; nein, seine Absichten sind finsterer, denn auch Agathe soll nicht schadlos aus der Angelegenheit herausgehen: Eine Freikugel soll sie aus dem Leben reißen. Dass die Sprache dann ausgerechnet auf diese Geschosse kommt, ist ihm daher gar nicht recht und während er eben noch vom Waidbann sprach, sind Freikugel plötzlich „Alfanzerei[...]Nichts als Naturkräfte!“ Doch als Max und Kaspar allein sind, hat er eine dieser Kugeln zur Hand, mit der Max tatsächlich ein unmöglicher Schuss glückt. Den Wunsch nach weiteren Kugeln muss Kaspar abschlagen, denn „Sie haben gerade ausgereicht.“ – Eine Lüge! Wäre es tatsächlich die letzte Kugel gewesen, so hätte Samiel, nicht Max, über die Bestimmung des Ziels entschieden. Gleichwohl verspricht er, Max Freikugeln beschaffen zu können. Zu diesem Zwecke verabredet man sich in der Wolfsschlucht.
In der Wolfsschlucht handelt Kaspar zunächst allein mit Samiel. Er wünscht Verlängerung einer am nächsten Tag ablaufenden Frist und will ihm als Ersatz durch das Freikugelgießen Max zuführen sowie durch die siebte Kugel – das gibt er vor, obwohl doch Samiel darüber zu entscheiden hat – Agathe. Dass Agathe ungeeignet ist macht Samiel deutlich: „Noch hab’ ich keinen Teil an ihr!“ Ob er sich auch nur mit Max zufrieden geben würde, will Kaspar
wissen. Samiel weicht aus: „Das findet sich!“ (zu deutsch: Mal sehen!Vielleicht!) „Morgen er oder du!“
Einen verhängnisvollen Fehler begeht Kaspar, als Max, der noch nie Samiels dunkles Reich betrat, erscheint, denn Max wird zwar Zeuge des Gießens, die eigentliche Prozedur aber liegt in den Händen Kaspars. Somit aber – das unterstelle ich – betrügt er Samiel, indem er neue Freikugeln gießt, ehe noch die vorherige siebte verschossen wurde.
Der Rest ist schnell erzählt. Als die letzte der mit Max gegossenen Kugeln verschossen wird, lenkt Samiel diese nicht wie von Kaspar gewünscht auf Agathe, sondern gleichsam als Vergeltung für die in betrügerischer Absicht unterschlagene Kugel auf Kaspar selbst. Sich dem Sterbenden zeigend, wird er begrüßt mit den Worten: „So hieltst du dein Versprechen mir?“ Welches Versprechen? Wortbrüchig wurde Samiel nun keineswegs; da hätte Kaspar wohl mal besser zugehört!
Wie das Ganze aber nun seitens des Volkes ausgelegt wird, dürfte Samiel sprachlos machen und gern sehe ich ihn im Geiste kopfschüttelnd vor mir. Denn das versammelte Volk dankt „den Heil’gen“ und auch Kaspar selbst äußert: – bedingt durch den aus seiner Einsiedelei erschienen Klausner? – „Der Himmel siegt!“ Die folgenden Ausführungen des Eremiten selbst widerrrum erscheinen mir ähnlich der Abschlussworte Sarastros, von denen (ich glaube, es war sogar hier im Forum) mal sinngemäß geschrieben wurde, man könne sie in ihrer Gravität und Ernsthaftigkeit kaum anders als (peinlich) übertrieben ansehen.
Die Naivität, mit der das Volk schließlich dem vermeintlich göttlichem Eingreifen dankt, erscheint mir umso erschreckender im Angesicht des mit pausbackiger Dumpfheit vorgetragenen „Er war von je ein Bösewicht! Ihn traf des Himmels Strafgericht!“ Der herzenskalte Frohsinn, mit der hier Leben und Sterben eines Menschen abgehandelt werden, gehört vielleicht zu den gruseligsten Stellen des Freischütz.
In diesem Sinne verstehe ich das Finale inzwischen nicht mehr als Deus ex machina sondern als Spott über Leichtgläubigkeit.
Liest noch jemand mit?
Liebe Taminos, ist diese Interpretation zulässig und gibt es weitere sie untermauernde oder erweiternde Elemente? Oder ist sie unzulässig, da es ihr widersprechende Textstellen gibt?
Auf eine lebhafte Diskussion hofft
Lynkeus