Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Lieder

  • Ein Thread für die Schwester und keiner für den – kompositorisch sicher gewichtigeren – Bruder, - geht das?


    Es geht nicht. Also denn!


    Felix Mendelssohn-Bartholdy hat nicht halb so viele Lieder hinterlassen wie seine Schwester Fanny Hensel, - um die 120 nämlich, wovon die Veröffentlichung von 79 Liedern von ihm selbst autorisiert ist. Gleichwohl ist er – im Unterschied zu ihr – in der Rezeptionsgeschichte des Kunstliedes ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Nicht nur das: Sein Lied „Auf Flügeln des Gesanges“ wurde im 19. Jahrhundert sogar zum Inbegriff des Liedgesangs überhaupt.


    Hier aber, in eben diesem Lied, lässt sich auch, wie gleichsam musikstrukturell verdichtet, die „Problematik“ fassen, die sich um den Liedkomponisten, ja den Komponisten Felix Mendelssohn überhaupt, rankt: Es ist der Vorwurf einer gefälligen, letztlich aber oberflächlichen musikalischen Eleganz.


    Um es gleich vorweg festzustellen: Er ist unsinnig, weil sachlich unbegründet! Und nicht nur dies: Bei ihm handelt es sich um ein musikgeschichtlich interessantes und höchst bedenkenswertes Phänomen.


    Felix Mendelssohn war zu seinen Lebzeiten nicht nur ein hochgeachteter Musiker, Komponist, und Dirigent, er galt als ein musikalisches Genie, dem Robert Schumann ohne jeglichen Verdacht einer Übertreibung den Beinamen „Mozart des neunzehnten Jahrhunderts“ verleihen konnte. Nach seinem frühen Tod dauerte es nicht lange, und man apostrophierte ihn als einen „schönen Zwischenfall“ in der Musik eben dieses Jahrhunderts.


    Was war geschehen? Die Antwort der Musikwissenschaft auf diese Frage lautet: Die Kritik Richard Wagners („Das Judentum in der Musik“) und ihrer Protagonisten schuf in Kombination mit der allgemeinen Kritik am Viktorianismus eben jenes Bild vom „übersentimentalen“ Komponisten Mendelssohn-Bartholdy, das sich an sein Werk gleichsam von außen anlagerte, ohne eine Entsprechung in dessen kompositorischer Substanz zu haben.


    Dieses historisch bedingte Klischee erstreckte sich auch auf seine Lieder. Auch diese fand man noch weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein als „hübsch“, „melodisch elegant“, aber letzten Endes ohne großes kompositorisches Gewicht und musikalische Aussage. Bei Dietrich Fischer-Dieskau, der wesentlich dazu beigetragen hat (u.a. mit seiner Lp-Kassette mit Mendelssohn-Liedern von 1970), die Aufmerksamkeit auf den Liedkomponisten Mendelssohn zu lenken, liest man:


    „Die Lieder und Duette für die bürgerliche gute Stube lassen auch bei Felix Mendelssohn-Bartholdy die Rhythmik häufig so problemlos erscheinen, daß der Interpret Mühe hat, ihr individuelle Kontur zu geben. Kraft, Originalität oder Kompliziertheit sind nicht spezifische Kennzeichen der Lieder. Und die Schablonen gleichmäßigen Sechsachtel-Flusses in Barcarolen oder punktierter Rhythmen, gleichmäßiger Viertel nicht nur bei ruhiger Seelenlage – sie bieten der Interpretation wenig Anhalt, fordern zum Nur-Schönklang geradezu heraus. Und wenn ringsum progressive Harmonik zum Gradmesser des Romantischen wurde, so ist Mendelssohn auch hierin der simplen Konvention näher. Das Interesse >bahnbrechender Neuerung< fehlt. Kontraste und Stufen der Ausdrucksintensität gibt es wenige.“


    Immerhin gesteht Fischer-Dieskau Mendelssohn zu, dass die Begegnung mit der Lyrik Heines sich positiv auf dessen Lieder ausgewirkt habe, dennoch ist das Urteil insgesamt recht negativ. Es muss zugestanden werden, dass die darin getroffenen liedanalytischen Feststellungen durchaus zutreffend sind. Diese kompositorischen Merkmale des Mendelssohn-Liedes erklären sich daraus, dass dieser Schüler Zelters war und sich an dessen liedkompositorischem Grundmodell orientierte, ohne es freilich einfach zu kopieren.


    Es erklärt sich aber auch aus der kompositorischen Grundhaltung, die Mendelssohn generell einnahm, - nicht nur in seiner Liedkomposition. Sein Biograph R. Larry Todd spricht in diesem Zusammenhang von dem „Versuch, die Dichotomie von Klassik und Romantik zu überbrücken, indem er über seine überaus expressive Musik die klassischen Attribute Haltung, Balance und Klarheit legt“.


    Es ist wohl eine Frage der Kriterien, die man bei dem Versuch anlegt, die Lieder Felix Mendelssohns in ihrer kompositorischen Qualität zu beurteilen. Geht man, wie Fischer-Dieskau, von der „progressiven Harmonik“ des damaligen „romantischen Liedes“ aus, dann muss man zu dem Urteil gelangen, das er in dem obigen Zitat vorgelegt hat. Legt man aber die Kriterien zugrunde, die für Mendelssohn selbst maßgeblich waren und verlässt sich ansonsten auf den unmittelbaren Höreindruck, dann kann man auch zu einem Urteil gelangen, dass sich es bei Mendelssohns Liedern um „beseelte Musik“ handele, „ein unendlich sanftes, sehnsüchtig-seliges Schweben der dem All, dem Ursprung zugewandten Seele“ (Martin Geck).


    Vielleicht, so denke ich, kann ja der Thread einen Beitrag dazu leisten, zu einem einigermaßen fundierten Urteil über die Lieder Felix Mendelssohns zu gelangen.

  • Auf folgende Aufnahmen der Lieder Felix Mendelssohns möchte ich verweisen, ohne dass die Reihenfolge irgendeine Art von Bewertung enthält. Sie sind allesamt bei Amazon oder JPC erhältlich.


    Mendelssohn Lieder, Loewe Ballads. Fischer-Dieskau/ Sawallisch/ Moore. EMI classics (CD-Remastering der LP-Kassette von 1970)


    Mendelssohn- Bartholdy, Lieder. Barbara Bonney, G. Parsons. Teldec


    Felix Mendelssohn-Bartholdy, Auf Flügeln des Gesanges. H.J. Mammel / A. Schoonderwoerd. Carus


    Mendelssohn, On Wings of song. Margaret Price / Gr. Johnson. Helios


    Mendelssohn, Early songs. G. Huber / R. Ziesak / C. Süss. Avi music


    Felix Mendelssohn-Bartholdy, Vergessene Lieder. Klaus Mertens / G. Pirner. Farao classics


    Fanny und Felix Mendelssohn, Das verborgene Band. H. Hallaschka / H. Kommerell. Valve Hearts


    Mendelssohn Lieder. Fischer-Dieskau / Hartmut Höll. Claves (die Aufnahmen entstanden Juni 1989 und März 1991 in Berlin)

  • Der Schlusssatz der Threaderöffnung:


    "Vielleicht, so denke ich, kann ja der Thread einen Beitrag dazu leisten, zu einem einigermaßen fundierten Urteil über die Lieder Felix Mendelssohns zu gelangen. "


    ... beinhaltet natürlich den Wunsch, die Hoffnung und die Bitte, dass möglichst viele sich an diesem Thread beteiligen, in welcher Form und mit welcher Art von Beiträgen auch immer.


    Wie wunderlich - und eigentlich auch betrüblich - , dass ich das zu sagen vergessen habe.

  • Das ist ein wahrlich mitreißendes Lied. Und es ist eines, das durchaus typisch und repräsentativ für Felix Mendelssohns Liedkomposition ist. „Allegro vivace“ lautet die Tempoanweisung. Zugrunde liegt ein Gedicht des mit der Familie Mendelssohn befreundeten Carl Klingemann.


    Es brechen im schallenden Reigen
    Die Frühlingsstimmen los,
    Sie können´s nicht länger verschweigen,
    Sie Wonne ist gar zu groß!
    Wohin, sie ahnen es selber kaum,
    Es rührt sie eine alter, ein süßer Traum!


    Und Frühlingsgeister, sie steigen
    Hinab in der Menschen Brust,
    Und regen da drinnen den Reigen
    Der ew´gen Jugendlust.
    Wohin, wir ahnen es selber kaum,
    Es rührt uns ein alter, ein süßer Traum.


    Schon die Klaviereinleitung beflügelt und reißt mit: Im Klavierbass aufsteigende Achtel und Sechzehntel, über denen sich ein Feuerwerk aus Triolen im Diskant entfaltet, das ebenfalls zunächst eine aufsteigende, dann aber sich wieder zurücknehmende Bewegung vollzieht. Die Grundstruktur der nachfolgenden Vokallinie wird dabei vorausgenommen.


    Jeweils zwei Verse der einzelnen Strophen – es handelt sich um ein Strophenlied! – sind durch eine Melodiezeile zu einer musikalischen Einheit zusammengefasst, wobei die beiden ersten Melodiezeilen ineinandergreifen, obwohl durch eine Viertelpause getrennt. Die dritte ist jedoch nicht nur durch eine beinahe viertaktige Pause in der Vokallinie abgesetzt, sie weist auch eine deutlich andere kompositorische Faktur auf.


    Mitreißend ist die melodische Linie auf den ersten vier Versen deshalb, weil sie gleichsam sprungartig ansteigt und sich danach in kleinen Schritten wieder nach unten bewegt. Dieser Eindruck des „Sprungartigen“ kommt dadurch zustande, dass sie mehrfach einen Schritt zurück macht, um danach einen um so größeren nach oben zu vollziehen (eine Sexte und eine Quinte). Und vor allem empfindet man diese Bewegung nach oben auch deshalb so schwungvoll, weil sie bei der zweiten Melodiezeile einen noch höheren Ton erreicht, - dieses Mal ein hohes „e“.


    Und als wäre das alles nicht genug, bewegt sich die Vokallinie bei den Worten „die Wonne ist gar zu groß“ hinauf zu noch höheren Lagen und wiederholt diese Worte zweimal. Bei „gar“ beschreibt sie dann in der Wiederholung einen großen, mit einer Dehnung versehenen Bogen, um der lyrischen Aussage das angemessene musikalische Gewicht zu verleihen.


    Auf großartige Weise hat Mendelssohn das letzte Verspaar, eigeleitet mit der Frage „Wohin?“, kompositorisch gestaltet. Nach einem viertaktigen Zwischenspiel, in dem die das Lied bislang prägende Grundfigur in der Klavierbegleitung aufklingt, scheint die Vokallinie in all ihrer bisherigen Beweglichkeit innezuhalten. Auf dem Wort „Wohin“ macht sie einen Quartsprung von „a“ nach „d“ und hält dieses hohe „d“ eineinhalb Takte lang, während die Achtel im Klavier sich zwar weiterbewegen, nun aber nicht mehr durch die melodische Figur im Bass rhythmisiert, sondern mit einfachen Akkorden begleitet und zudem in Moll harmonisiert.


    Die Worte „sie ahnen es selber kaum“, die auf einer in Sekunden fallenden melodischen Linie gesungen werden, bekommen auf diese Weise den tonalen Anflug von Ungewissheit, von der der lyrische Text spricht.


    Der Vers “Es rührt sie ein alter, ein süßer Traum“ wird auf einen bogenförmigen melodischen Linie in markanter, gleichwohl im Piano gehaltenen Weise ruhig deklamiert. Das Klavier begleitet jetzt mit einfachen Akkorden und verleiht damit dieser Feststellung, die da lyrisch-musikalisch artikuliert wird, das angemessene Gewicht. Und wie zur Vergewisserung werden die Worte „ein alter, ein süßer Traum“ auf lieblich klingender, fallender melodischer Linie noch einmal wiederholt.

  • Wenn man – wie ich gerade – die Lieder von Felix und Fanny Mendelssohn nebeneinander hört, dann wird man bei einem solchen Lied, wie dem „Frühlingslied“ von Felix, ohne das zu wollen mit dieser Frage konfrontiert:


    Es gibt von Fanny Hensel kein einziges Lied, das in seiner Melodik, Harmonik und Rhythmik von auch nur annähernd vergleichbarer Expressivität und unmittelbarer Eingängigkeit ist. Nirgendwo begegnet man bei ihr dieser zupackenden und zugleich sich unmittelbar einprägenden Melodik , wie sie sich in diesem Lied von Felix Mendelssohn – und nicht nur in diesem – musikalisch artikuliert. Wie aber erklärt sich das?


    Ist das unterschiedliche kompositorische Genie dafür verantwortlich? Oder ist es vielleicht auch – und nicht unwesentlich! – die lebensweltliche Situation, aus der heraus Lieder – wie Musik überhaupt – komponiert wurden? Die eine fürs stille Kämmerlein, die andere für die große weite Welt des Konzertsaals, - und deshalb so nach außen gewandt, so expressiv, nicht verinnerlicht?


    Wie gerne hätte man eine Antwort darauf.

  • Man darf mit gutem Grund feststellen, dass dieses „Frühlingslied“ in der Art seiner kompositorischen Faktur ein typisches „Mendelssohn-Lied“ ist: Eine volksliedhaft einfach phrasierte, diatonisch strukturierte und auf Kantabilität abgestellte Vokallinie und ein Klaviersatz, der nicht auf Interaktion mit der melodischen Linie, sondern auf deren rhythmische und harmonische Stützung und Ausleuchtung angelegt ist. Es ist aber unbedingt hinzuzufügen: Die melodische Linie ist auf bestechende Weise eingängig, und sie trifft in ihrer Einbettung in den Klaviersatz den Geist des lyrischen Textes auf den Punkt.


    In diesem liedkompositorischen Konzept steht Mendelssohn zwar in der Tradition der zweiten Berliner Liedschule und ihres Leiters Zelter, für die ein Lied auf „Leichtigkeit“, „Fasslichkeit“, „Natürlichkeit“ und „Singbarkeit“ hin angelegt und zudem als Strophenlied mit einer Dominanz der Melodie konzipiert sein soll. Es zeigt sich aber schon in diesem Fall, dass Mendelssohn dieses Konzept sowohl durch die musikalische Inspiriertheit der Melodie als auch durch die harmonische Komplexität des Klaviersatzes nicht nur weiterentwickelt, sondern in vielen Fällen auch transzendiert hat.


    Über das für jeden Liedkomponisten zentrale Problem des Verhältnisses von Sprache und Musik findet sich in einem Brief Mendelssohns an Marc-André Souchay (12. Oktober 1842) eine höchst aussagekräftige Stelle:


    „… Die Leute beklagen sich gewöhnlich die Musik sei so vieldeutig, es sei so zweifelhaft, was sie sich dabei zu denken hätten, und die Worte verstände doch ein Jeder. Mir geht es aber umgekehrt. Und nicht bloß mit ganzen Reden, auch mit einzelnen Worten, auch die scheinen mir so vieldeutig, so unbestimmt, so missverständlich im Vergleich zu einer rechten Musik, die einem die Seele erfüllt mit tausend besseren Dingen als Worten.
    Das was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte. So finde ich in allen Versuchen diese Gedanken auszusprechen, etwas Richtiges, aber auch in allen etwas Ungenügendes, nicht allgemeines. (…) Das Wort bleibt vieldeutig, und die Musik verständen wir doch recht.“


    Für die liedkompositorische Grundhaltung Mendelssohns von Bedeutung ist hier insbesondere die Feststellung, dass das Wort „vieldeutig“ sei und bleibe, mit der Musik hingegen eine für alle Menschen verständliche und in ihrer Aussage eindeutige „Sprache“ gegeben sei.


    Daraus ergibt sich ein Verständnis von Liedkomposition, das deutlich abweicht von dem Konzept, dass Musik die lyrische Sprache musikalisch gleichsam zu „illustrieren“ und zu interpretieren habe. Vielmehr wird der lyrische Text als Quelle der musikalischen Inspiration verstanden, womit sich dann ganz folgerichtig eine Art Primat der Musik ergibt. Diese geht beim Akt der Liedkomposition nicht eine Art interaktives Verhältnis mit dem lyrischen Text ein, sondern es wird eine Art Adäquatheit zwischen Musik und Gedicht angestrebt. Die Musik repräsentiert mit ihren Mitteln den Geist des lyrischen Textes.


    Wenn Mendelssohn feststellt: „Ich kann mir nur dann Musik denken, wenn ich mir eine Stimmung denken kann, aus der sie hervorgeht“, dann drückt sich darin genau dieses Verständnis von Liedkomposition aus. Das Gedicht wird nicht in seinen textstrukturellen Gegebenheiten in gleichsam musikalischen Text verwandelt, sondern der Komponist lässt sich durch es „inspirieren“, um aus dieser Inspiration eine textadäquate Musik schaffen zu können.


    Wie ein schöner Belegt für diese liedkompositorische Grundhaltung wirkt der überlieferte Vorgang, dass Mendelssohn einmal einem Verleger über eine Liedkomposition mit der Begründung abgelehnt hat, das ginge nicht, da „das ganze Gedicht gar nicht zu komponieren und ganz unmusikalisch“ sei. Ein „unmusikalisches Gedicht“, - eine solche Formulierung verrät alles!

  • Wer sich näher auf die Lieder Felix Mendelssohns einlässt, der hört, spürt und fühlt alsbald: Diese Lieder leben ganz und gar vom musikalischen Potential des Melos. Die Melodie ist es, mit der sie sich aussprechen. Das Klavier macht im Grunde nichts anderes, als dieses musikalische Potential des Melos mit dem ihm eigenen Mitteln auszuschöpfen und damit die Melodie in dem zu unterstützen und zu verstärken, was sie zu sagen hat.


    Mit diesem Primat der Melodie erweist sich Felix Mendelssohn zwar als in der Tradition der Berliner Schule stehend, in seinem kompositorischen Denken von der Musik her lässt er deren liedkompositorisches Konzept aber weit hinter sich, überwindet es regelrecht. Wenn Zelter von „Melodie“ spricht, dann ist es die melodische Linie, die dem sprachlich-lyrischen Duktus des dichterischen Verses folgt und diesen gleichsam musikalisch untermalt.


    Die Melodie Mendelssohns schöpft hingegen den Geist des lyrischen Textes musikalisch aus. Das ist es, was er meint, wenn er sagt: „Ich kann mir nur dann Musik denken, wenn ich mir eine Stimmung denken kann, aus der sie hervorgeht.“


    Die „Stimmung“, das seelische Gestimmt-Sein, wird durch die Begegnung mit dem lyrischen Text bewirkt. Die Musik versucht dann, mit den ihr eigenen Mitteln dieses „Gestimmt-Sein“ in möglichst adäquater Weise wiederzugeben.


    In dieser Haltung ist Felix Mendelssohn ein durchaus „moderner“ Liedkomponist: Er bewegt sich auf der Linie, die der Prozess der „Musikalisierung des Kunstliedes“ inzwischen eingeschlagen hat. Das Besondere und ganz und gar Spezifische bei ihm ist aber, dass diese Musikalisierung nicht über einen harmonisch und strukturell komplexen Klaviersatz erfolgt, sondern über das Melos der Vokallinie. Das macht seine Lieder in einer gewissen Weise singulär.


    So ist es denn – wie ich denke – eigentlich gar nicht verwunderlich, dass Felix Mendelssohn zum „Erfinder“ der „Lieder ohne Worte“ wurde. Schubertisch und Schumannisch gedacht sind „Lieder ohne Worte“ eigentlich ein Paradoxon: Lyrischer Text wird bei jenem in musikalischen verwandelt, bei diesem wird er musikalisch interpretiert. In beiden Fällen kommt ihm bei der Liedkomposition so etwas wie ein Primat zu. Er ist unverzichtbar!


    Bei einem ganz und gar aus dem Geist des musikalischen Melos Lieder erschaffenden Komponisten wie Felix Mendelssohn kann man den lyrischen Text mal eben auch weglassen. Also so komponieren, als hätte man gerade einen gelesen und sich von ihm inspirieren lassen.


    Hätte!

  • Eine Sache scheint mir im Zusammenhang mit der liedkompositorischen Grundhaltung Felix Mendelssohns doch noch bedeutsam zu sein. Sie zeigt, wie weit sich Mendelssohn von dem Liedverständnis Schumanns entfernt hat, - oder genauer: Dass er von vornherein eine andere Vorstellung vom kompositorischen Umgang mit dem lyrischen Text hatte.


    Schumann konnte sich nicht vorstellen, dass man „Lieder ohne Worte“ tatsächlich komponieren konnte, ohne zuvor einen lyrischen Text gelesen zu haben, den man dann zwar nicht in Musik setzt, der einen aber zumindest wenigstens zur Musik inspiriert haben musste. Bei seiner Auffassung von der Rolle und Funktion des lyrischen Textes bei der Liedkomposition konnte er das ja auch gar nicht. Er vertrat ganz entschieden die Auffassung, Mendelssohn habe seine „Lieder ohne Worte“ jeweils auf der Grundlage eines ganz speziellen Gedichtes komponiert.


    Dem ist aber nicht so. Es gibt von Mendelssohn zwar einige Anmerkungen zu den „Liedern ohne Worte“, die dazu anregen mögen, bei der Rezeption den Schritt von der Musik in die Lyrik zu vollziehen, es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei den „Liedern ohne Worte“ – die übrigens bei der englischen Erstveröffentlichung von Opus 19 b „Original Melodies fort the Pianoforte“ hießen, und erst 1833 in Deutschland mit dem Titel „Lieder ohne Worte“ versehen wurden – um eine musikalische Abstraktion vom Kunstlied handelt.

  • Im folgenden sollen einige Lieder Mendelssohns vorgestellt werde, ohne dass dabei der Anspruch auf einen Überblick über sein ganzes Liedschaffen erhoben werden kann und soll. Es kann eigentlich nur gleichsam exemplarisch verfahren werden. Und dabei ist es vielleicht sinnvoll, Schwerpunkte in Form einer Konzentration auf bestimmte Dichter zu setzen. Hier bieten sich Heinrich Heine, Nikolaus Lenau und vielleicht noch Eichendorff an.


    Dietrich Fischer-Dieskau, der – wie dargestellt – dem Liedschaffen Mendelssohns mit einer gewissen Reserviertheit gegenübersteht - die ich nicht so recht nachvollziehen kann - , meint zu dessen kompositorischer Auseinandersetzung mit Heinrich Heine:


    Aber es fand eine erste Übereinstimmung mit einem befreundeten Dichter statt: Aus Heine filterte Mendelssohn die Welt der Naturgeister heraus, die beide faszinierte. Im Lied „Gruß“ manifestierte sich das Verbindende an ihrem Hang, schlicht und volksliedhaft zu stilisieren. Die Impulsivität beider kommt in „Reiselied“ zum Vorschein. Aber leider hat eine dem Anschein nach ideale Kombination zweier Künstler nur wenig Musik nach sich gezogen.“

    Es soll zunächst versucht werden, die Heine-Vertonungen Mendelssohns ein wenig näher in Augenschein zu nehmen, um zu einem einigermaßen fundierten Urteil über sie gelangen zu können.

  • „Presto“ lautet die Tempoanweisung für dieses Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine. Und der Höreindruck bietet vom ersten Takt an genau dieses Bild: Eine rasch dahineilende Flut von flirrenden Achteln, - ein Elfenritt im Mondenschein, rasch wie wilde Schwäne in der Luft.


    In dem Mondenschein im Walde
    Sah ich jüngst die Elfen reiten,
    Ihre Hörner hört´ ich klingen,
    Ihre Glöcklein hört´ ich läuten.


    Ihre weißen Rößlein trugen
    Gold´nes Hirschgeweih und flogen
    Rasch dahin; wie wilde Schwäne
    Kam es durch die Luft gezogen.


    Lächelnd nickte mir die Kön´gin,
    Lächelnd im Vorüberreiten,
    Galt das meiner neuen Liebe?
    Oder soll es Tod bedeuten?


    Dieser Höreindruck ist maßgeblich auf das klangliche und rhythmische Agieren des Klaviers zurückzuführen. Rhythmische Stakkato-Achtel klingen in den ersten Takten auf. Sie gehen in Akkorde über und münden in einen Wechsel von Sechzehntel-Terzen und Einzeltönen, der wie Glöckchen-Geläute anmutet: Das lyrische Bild von den „Glöcklein“ der im Mondenschein dahinreitenden Elfen ist musikalisch-lautmalerisch auf faszinierende Weise kompositorisch umgesetzt. Mendelssohn in seiner klangschöpferischen Kreativität!


    Auch die melodische Linie der Singstimme bewegt sich zunächst rasch, mit Achteln auf jeder Silbe. Aber dabei bleibt es nicht. Der klangliche Reiz dieses Liedes gründet ganz wesentlich in dem Wechsel von raschen Achtelbewegungen der Vokallinie und langen melodischen Dehnungen, unter denen die hüpfenden Achtelakkorde im Klavier weiter dahintanzen. Das ist kompositorisch ganz ohne Frage großartig gemacht.


    Die erste dieser melodischen Dehnungen tritt bei dem Wort „reiten“ auf: Ein „cis“, das über zwei Takte gehalten wird, wonach die Vokallinie dann einen eindrucksvollen Oktavfall macht. Was derweilen im Klavier zu hören ist, das ist eine durch eine Pause rhythmisierte Abwärtsbewegung von Achteln, die wie leiser Hufschlag klingen. Leise, - denn es wird „pianissimo“ und „sempre staccato“ musiziert. Bei dem Wort „läuten“ folgt dann die nächste Dehnung, dieses Mal auf einem hohen „fis“ und im Sforzato, - ganz dem semantischen Gehalt des zugrundliegenden Wortes gemäß.


    Immer wieder ist zu hören, wie perfekt die Musik klanglich die Aussage des lyrischen Textes aufgreift. So bewegt sich die melodische Linie bei den Worten „Ihre Glöcklein hört´ ich läuten“ in großen Intervallen auf und ab, wobei der erste Ton im Takt jeweils punktiert ist und ein Crescendo-Zeichen trägt, so dass sich tatsächlich der Eindruck des Läutens einstellt. Dieser Vers wird mit der gleichen Grundstruktur in der kompositorischen Faktur noch einmal wiederholt. Ein verspielter Ton kommt auf diese Weise in das lyrische Bild.


    Die zweite Strophe ist in ihrer musikalischen Faktur mit der ersten identisch. Auch auf den ersten beiden Versen der dritten Strophe liegen die melodische Linie und der Klaviersatz, den man von den entsprechenden Versen der beiden anderen Strophen kennt. Nun aber werden die Worte „im Vorüberreiten“ auf einer stark gedehnten, melodisch fallenden Linie wiederholt. Auf jeder Silbe liegt eine den ganzen Takt ausfüllende halbe Note, derweilen im Klavier die rhythmisch akzentuierten fallenden Achtelfiguren erklingen.


    Danach kommt mit einem Mal Ruhe in das Lied. In vier Takten schweigt die Singstimme, die hektischen Achtel im Klavier bewegen sich hinab in tieferen Lagen und münden in vier Viertelnoten. „Ritardando“ wird für die Wiedergabe des letzten Verspaares vorgeschrieben. Der Vers „Galt das meiner neuen Liebe?“ wird ruhig auf zunächst einem Ton (einem „fis“) deklamiert. Und erst bei dem Wort „Liebe“ bewegt sich die melodische Linie um eine Quarte nach. Das Klavier begleitet mit einfachen fallenden Akkorden.


    Beim nächsten Vers „Oder soll es Tod bedeuten?“ steigt die melodische Linie, ganz der lyrisch verstörenden Aussage gemäß, bedeutungsvoll an, verharrt zunächst lange auf einem „h“, um dann bei dem Wort „Tod“ um eine kleine Sekunde anzusteigen. Auf dem Wort „bedeuten“ liegt dann eine lange Dehnung auf einem hohen „cis“, die über fünf Takte gehalten wird. Und überraschenderweise klingen jetzt die hüpfenden Achtelfiguren des Elfenmotivs im Klavier wieder auf.


    Ist das die Antwort auf die am Ende des Gedichts aufgeworfene Frage?

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  • Wird Mendelssohn Heines Lyrik liedkompositorisch gerecht?


    Zunächst ist einmal festzustellen:
    Er hat sich nicht auf jene Gedichte Heines eingelassen, in denen sich die innere Zerrissenheit des Dichters Heine lyrisch niederschlägt, - etwa in Form eines ironischen Einbruchs in die zuvor lyrisch beschworene Idylle. Aber das hat er mit den meisten anderen Komponisten, die Lieder auf Texte Heines geschrieben haben, gemein. Man kann ihm daraus keinen Vorwurf machen.


    Wie ist es nun mit diesem Gedicht Heines, das Mendelssohn seinem Lied zugrundegelegt hat, wobei er den Titel ("Neue Liebe") selbst hinzugefügt und den ersten Vers abgeändert hat (Heine: "Durch den Wald, im Mondenscheine, / Sah ich...")? Heine ergeht sich hier mit unverkennbarer poetischer Lust im lyrischen Entwurf fantastischer Elfenbilder. Die rasche Abfolge sinnlich eindrucksvoller Bilder hat impressionistische Qualität.


    Nun ist unüberhörbar: Mendelssohn hat diese Bilder mit kongenialer Musik ganz zweifellos einzufangen verstanden. Was da zu hören ist, erinnert stark an den fantastischen Zauber der Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtraum (die übrigens schon vorlag, als die Lieder von op.19 entstanden, nämlich in den Jahren 1830-32).


    In dem Lied „Neue Liebe“ ist melodisch, rhythmisch und harmonisch ein wahrer Elfenzauber entfaltet: Glöckchengeläute, Hörnerklang, punktierte Rhythmik, die das leichtfüßige Traben der Elfenpferdchen klanglich andeutet, und das musikalische Auskosten der lyrischen Lautlichkeit: Lange melodische Dehnung auf dem Wort „läuten“ zum Beispiel.


    Aber da ist nun dieser Heine-spezifische Einbruch in die fantastische Idyllik, diese ganz und gar unerwartete Frage: „Oder soll es Tod bedeuten?“ Das Gedicht trägt den Titel „Neue Liebe“. Neue Liebe beflügelt, und das artikuliert sich hier lyrisch-sprachlich in einer Flut fantastischer Bilder. Jedoch: Die Ahnung von Ende und Tod bricht jäh in sie ein.


    Und Mendelssohn: Er reagiert kompositorisch durchaus auf die lyrische Fragehaltung am Schluss des Gedichts. Die hektische Sechzehntel- und Achtel- Aktivität der Klavierbegleitung bricht ab, und über gehaltenen Akkorden deklamiert die Singstimme in langsamem Sekundenaufstieg die beiden Fragen.


    Über der Silbe („be“-) –„deuten“ ein über fünf Takte von der Singstimme gehaltenes „cis“. Und danach? Elfengeläute im Klaviernachspiel, im Pianissimo verklingend.


    Der Komponist nimmt das „Oder“, mit dem die letzte Frage sprachlich eingeleitet wird, musikalisch leicht. Diese ist für ihn nur mehr ein flüchtiger, der schemenhaften Geisterwelt zugehöriger Gedanke, kein existenziell wirklich ernster und gewichtiger.


    Es hat den Anschein, als wolle Mendelssohn nur den heilen Heine in seinen Liedern zu Wort kommen lassen.

  • Etwas mehr als eine halbe Seite nehmen die Noten zu diesem Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine ein: Ein kleines Strophenlied von wahrlich großer und ganz und gar rätselhafter klanglicher Faszination.


    Leise zieht durch mein Gemüt
    Liebliches Geläute;
    Klinge, kleines Frühlingslied,
    Kling´ hinaus in´s Weite.


    Zieh´ hinaus bis an das Haus,
    Wo die Veilchen sprießen;
    Wenn du eine Rose schaust,
    Sag´, ich lass´ sie grüßen.


    Das Lied steht im Zweivierteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Andante“ versehen. Im Klaviervorspiel steigen über Quarten im Bass Sechzehntel-Terzen im Diskant auf, halten kurz inne, setzen diese Bewegung dann weiter fort und beschreiben am Ende einen kleinen Bogen. Etwas Fanfarenhaftes wohnt dieser musikalischen Bewegung inne. Das Klaviervorspiel wirkt wie ein Vorklang auf den Geist des Liedes: Ein melodisch-harmonisches Auskosten des D-Dur-Akkords.


    Wie soll man die klangliche Faszination in Worte fassen, die von der melodischen Linie der Singstimme ausgeht? Sie ist von volksliedhafter Schlichtheit: Zweimal dieselbe Abwärtsbewegung in Terzen auf den ersten vier Silben des ersten Verses, danach eine Aufwärtsbewegung in Sekunden, und dann bei den Worten „liebliches Geläute“ wieder eine melodische Bewegung, die wie ein kleines Spiegelbild des Anfangs wirkt, nur in höherer Lage und mit einmal einem kleineren Intervall.


    Nach einer Achtelpause setzt sich diese Bewegung der Vokallinie dann bei dem zweiten Verspaar in ähnlicher Weise fort. Wieder zunächst zwei Schritte nach unten (zu einem tiefen „dis“), dieses Mal aber mit größeren Intervallen. Und danach ein Emporsteigen zum höchsten Ton des ganzen Liedes (einem „fis“), auf dem ein melodischer Bogen mit Dehnung beschrieben wird, der dann auf der Tonika landet.


    Der klangliche Reiz dieser zweiten Bewegung gründet auch darin, dass bei „Klinge, kleines Frühlingslied“ eine harmonische Modulation vollzogen wird, die diesen Worten eine deutliche klangliche Frische verleiht. Das Klavier begleitet derweilen durchgängig mit im Piano pochenden Sechzehnteln, zum Teil in Form von Einzeltönen im Diskant, zum größeren Teil aber mit Akkorden.


    In diesem Lied kann man die Stärke des Liedkomponisten Mendelssohn sozusagen in klanglicher Reinkultur hörend erfahren und erleben: Er vermag es, den Geist des lyrischen Textes mit einer einfachen Melodie musikalisch einzufangen. So etwas kennt man kennt man auch von Schubert. Dieser geht freilich in der Regel mit dem Klavier anders um als Mendelssohn, der es nicht als eigenständigen Mitspieler der Singstimme einsetzt, sondern als deren musikalischen Unterstützer und Ausleuchter.

  • Die Frage, die mich hier, bei der Betrachtung der Heine-Lieder Mendelssohns, immerzu sozusagen untergründig begleitet, ist diese:


    Gibt es eine ernsthafte kompositorische Auseinandersetzung Felix Mendelssohns mit der Lyrik Heinrich Heines, - vergleichbar derjenigen Robert Schumanns? Nach dem augenblicklichen Stand meiner Erkenntnisse meine ich: Nein. Denn er wählt ja, wie bei diesem gerade vorgestellten Lied „Gruß“ ersichtlich, mit Vorliebe solche Gedichte Heines aus, in denen die für diesen so bezeichnenden und typischen lyrischen Brüche nicht zu finden sind.


    Hier klingt ein „kleines Frühlingslied“, es klingt „hinaus ins Weite“. Und dann gibt es noch das Bild von den „sprießenden Veilchen“ und am Ende den Wunsch, dass eine Rose gegrüßt werden möge. Das alles ist von Mendelssohn mit faszinierender Melodik und Klanglichkeit in Musik gesetzt. Gerade der letzte Vers, dieses „Sag´, ich lass sie grüßen“ ist von geradezu überwältigender melodischer Emphase.


    „Typischer Mendelssohn“ eben. Aber nicht „typischer Heine“. Oder doch? Diese lyrischen Bilder sind ja auch kennzeichnend für den ganz spezifischen Charakter von Heines Lyrik. Und Mendelssohn hat sich wohl das Recht genommen, kompositorisch nach diesen zu greifen, und nicht nach jenen, in denen sich Heines Destruktion romantischer Metaphorik lyrisch-sprachlich ereignet.


    Steckt eine menschliche Grundhaltung dahinter? Eine, die mit der Heines nicht vereinbar ist? Eine, die beide Geschwister Mendelssohn vielleicht sogar gemeinsam haben?


    Es gibt wohl bei ihm, wie auch bei ihr, eine gewisse Scheu – ja vielleicht sogar Abwehrhaltung? - gegenüber der Schroffheit der lyrischen Brüche und der damit einhergehenden deutlich kalten Sprache Heines. Bei der vergleichenden Besprechung der Vertonungen von Heines Gedicht „Warum sind denn die Rosen so blaß“ durch seine Schwester und ihn selbst wurde dieser Gedanke schon einmal erwogen.


    Beide scheuten ganz offensichtlich vor Heines schroffem Bild „Warum steigt denn aus dem Balsamkraut / Hervor ein Leichenduft?“ zurück. Fanny Hensel machte aus Heines „Leichenduft“ „verwelkter Blüthen Duft“ und Heinrich Heine brach seine Komposition an dieser Stelle sogar ab.


    Eines zeigt sich jedenfalls auch hier wieder: Heine ist für alle Liedkomponisten einerseits so etwas wie ein überaus mächtiger sprachlich-lyrischer Magnet, aber er ist zugleich auch ein Problem.

  • Dieser Thread, Felix Mendelssohn betreffend, musste ein wenig ruhen, da das Liedwerk der Schwester mich noch zu sehr in Anspruch nahm. Im Grunde fand ich das nur gerecht, stand sie doch nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch danach im Schatten des großen Bruders und musste sich von ihm sagen lassen, dass sie zwar begabt sei, aber nicht wirklich zu einer Komponistin berufen.


    Nun soll also das Liedwerk von Felix Mendelssohn noch ein wenig näher in Ausgenschein genommen werden. Es geht dabei in erster Linie darum, seine ganz spezifische Liedsprache - und diese gibt es - herauszuarbeiten und sie liedhistorisch einzuordnen. Zunächst soll die Auswahl der Lieder nach den ihnen zugrundeliegenden lyrischen Texten. Es wurde mit Heinrch Heine begonnen, Das soll nun fortgesetzt werden.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht Heinrich Heines galt im 19. Jahrhundert als Inbegriff des Liedgesangs schlechthin. Heute kann man da und dort die kritische Frage lesen, ob die Komposition Mendelssohns der schweifenden Phantastik der lyrischen Bilder Heines gerecht zu werden vermag. Es wird darauf einzugehen sein.


    Auf Flügeln des Gesanges,
    Herzliebchen trag´ ich dich fort,
    Fort nach den Fluren des Ganges,
    Dort weiß ich den schönsten Ort.


    Dort liegt ein rotblühender Garten
    Im stillen Mondenschein;
    Die Lostosblumen erwarten
    Ihr trautes Schwesterlein.


    Die Veilchen kichern und kosen,
    Und schau´n nach den Sternen empor;
    Heimlich erzählen die Rosen
    Sich duftende Märchen ins Ohr.


    Es hüpfen herbei und lauschen
    Die frommen, klugen Gazell´n;
    Und in der Ferne rauschen
    Des heil´gen Stromes Well´n.


    Dort wollen wir niedersinken
    Unter dem Palmenbaum,
    Und Lieb´ und Ruhe trinken
    Und träumen den seligen Traum.


    Das Lied steht im Sechsachteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Andante tranquillo“ versehen. Rhythmisch liegt ihm ein sanft wiegender „Walzertakt“ zugrunde. Schon im eintaktigen Klaviervorspiel, in das die Singstimme mit einem Vorhalt einsteigt, klingt die Struktur der Begleitung auf, die das ganze Lied klanglich prägt: Aufsteigende Sechzehntel-Arpeggien, „sempre e legato“ zu spielen. Das ist – liedanalytisch betrachtet – „typischer Mendelssohn“. Für ihn – und darin ist er Zelter-Schüler – kommt dem Klavier im wesentlichen eine „Begleitungsfunktion“ im Hinblick auf die Singstimme zu.


    Auch das hat man diesem Lied zum Vorwurf gemacht: Dieses durchgängig einfache Fließen von Arpeggien, ohne dass die Möglichkeit genutzt werde, dem Klavier eigene musikalische Ausdrucksmöglichkeiten im Sinne einer Interaktion mit der Singstimme zu erschließen. Hierbei wird aber gleich mehrerlei ignoriert:
    - Erstens wollte Mendelssohn das genau so, und er hätte sicher auch anders gekonnt ( wie man von anderen seiner Lieder weiß);
    - zweitens verkennt diese Kritik die harmonischen Modulationen, die sich in der Aufeinanderfolge der Arpeggien ereignen und dabei eine wesentliche Ausdrucksfunktion erfüllen;
    - und drittens will man wohl nicht wahrhaben, dass auf all dem genau die klangliche Faszination beruht, die von diesem Lied ausgeht.


    Dieses Lied lebt – auch darin ein „typischer Mendelssohn“ – ganz vom Zauber seiner Melodik. Und zur Entfaltung derselben trägt die scheinbar so simple Klavierbegleitung ganz wesentlich bei: Sie wirkt wie ein rhythmisch strukturiertes Klangbett, in dem die melodische Linie der Singstimme ihre ruhigen Bewegungen vollziehen kann, die sich durchgehend als ein melodisches Fließen auf lange gehaltener Tonebene erweisen.


    Auf je zwei Versen der einzelnen Strophen liegt eine Melodiezeile. Zwar sind diese Melodiezeilen durch eine Pause voneinander getrennt, die eine geht aber dennoch nahtlos in die andere über, weil diese den Ton aufgreift, mit dem die erste endet. Womit schon einmal ein wesentlicher Faktor gefunden wäre, der für den Eindruck des harmonischen Fließens verantwortlich zu machen ist.


    Es handelt sich hier um ein variiertes Strophenlied: Erste und zweite Strophe bilden eine musikalische Einheit; dritte und vierte Strophe weisen dann dieselbe Faktur auf; die fünfte Strophe weicht davon ab. Die Quelle des klanglichen Zaubers, der von der melodischen Linie ausgeht, ist mit Worten nicht recht zu fassen. Ein hierfür verantwortliches strukturelles Merkmal dürfte dieses gleichsam wie ein Ausatmen wirkende Ruhen am Ende der Melodiezeile sein. Auf den Silben „fort“ und „Ort“ (und den zugehörigen Silben in der anderen Strophe) liegt eine punktierte Viertelnote. Danach folgt eine Pause.


    Ein weiterer hier relevanter Faktor sind wohl die durch Punktierung rhythmisch verzögerten Fallbewegungen über ein großes Intervall bei den Worten „Gesanges“ und „Ganges“. Man meint tatsächlich in dieser Bewegung zu etwas wie ein klangliches Atmen zu vernehmen.


    Die scheinbare Einfachheit des Liedes täuscht. Schaut man genauer hin, dann erkennt man die kompositorische Raffinesse, die dahintersteckt. Sie zeigt sich vor allem in der Art und Weise, wie die musikalische Faktur die Aussage des lyrischen Textes reflektiert. So nimmt die melodische Linie bei den Worten „Es hüpfen herbei und lauschen…“ einen tänzerischen Charakter an. Bei dem Bild von dem Warten der Lotosblumen auf das „traute Schwesterlein“ kommen ein Diminuendo und eine Dehnung in die melodische Linie, - musikalische Expression des lyrischen Bildes!


    Überaus eindrucksvoll arbeitet Mendelssohn mit dem Mittel der melodischen Dehnung, und zwar auch wieder dort, wo der lyrische Text dies gebietet. Auf dem Wort „erwarten“ („ihr trautes Schwesterlein“) liegt eine solche Dehnung (auf einem hohen „es“) über fast zwei Takte, wobei die kompositorische Raffinesse darin besteht, dass der nachfolgende Sextfall rhythmisch verzögert auf der letzten Silbe des Wortes erfolgt. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Dehnung auf dem Wort „Traum“ am Ende des Liedes.

  • Im obigen Beitrag war die Frage angesprochen worden, ob diese Liedkomposition dem lyrischen Text Heines musikalisch gerecht werde. Das ist insofern ein Problem, weil es schwierig sein dürfte, den Begriff der „Adäquatheit“ auf der Grundlage einschlägiger Kriterien näher zu definieren.


    So viel lässt sich vielleicht feststellen. Heines Gedicht ist durch eine ins Phantastische ausgreifende Metaphorik geprägt, und diese Metaphorik ist zudem inhaltlich vielfältig und komplex. Das in der ersten Strophe angesprochene „Forttragen“ der Geliebten mit den Mitteln der Lyrik ( des „Gesanges“) wird mit eben dieser schweifend phantastischen Metaphorik dichterisch evoziert, und es mündet in die Vision eines „seligen Traums“, in dem „Lieb und Ruhe“ getrunken werden können.


    Was Mendelssohn nun in der Tat nicht gelingt, das ist das kompositorische Aufgreifen der Vielfalt der lyrischen Bilder. Schon allein deshalb ist das nicht möglich, weil das Konzept des Strophenliedes dies gar nicht zulässt. Aber allein die Tatsache, dass Mendelssohn sich für diese musikalische Form des leicht variierten Strophenliedes entschieden hat, lässt erkennen, dass er sich auf eben diese Vielfalt der lyrischen Metaphorik gar nicht einlassen, sondern den Geist, der sich in der Gesamtheit dieser Bilder artikuliert, mit einer diesem adäquaten Musik fassen wollte.


    Und das ist ihm – so meine ich – in vollem Umfang gelungen. Da ist zunächst einmal der wiegende, von den Arpeggien wie beflügelte Sechsachtel-Rhythmus, der der schweifenden Flut der Bilder ganz und gar gemäß ist. Hinzu kommen die harmonischen Modulationen, die man, da sie innerhalb beieinander liegender Tonarten erfolgen, ebenfalls als ein klangliches Fließen empfindet.


    Es ist zum dritten ja auch nicht so, dass die melodische Linie der Singstimme die Bilder nicht reflektierte. Die aufsteigende, mit einem Crescendo versehene und in einen melodischen Bogen mit Septfall versehene Vokallinie, die auf den Worten „Fort nach den Fluren des Ganges“ liegt, sei als Beispiel erwähnt.


    Und schließlich wird auch die große Emphase, die auf dem Schlussbild vom „seligen Traum“ liegt und mit weit ausholenden melodischen Dehnungen generiert wird, dem lyrischen Text in seiner genuinen Aussage voll gerecht.

  • Die „Sechs Gesänge op.34“ wurden zu Beginn des Jahres 1837 für die Veröffentlichung bei Breitkopf & Härtel vorbereitet. Das war die Zeit, in der Felix Mendelssohn um Cécile Jeanrenaud warb, die er dann im März dieses Jahres auch heiratete. Er war verliebt, und dies wirkte sich auch auf die Zusammenstellung der einzelnen Lieder des Opus 34 aus.


    Mindestens vier von ihnen stammen aus der Zeit, in der er Cécile noch nicht kannte. Das hier zuletzt besprochene Lied „Auf Flügeln des Gesanges“ entstand zum Beispiel schon 1834. Nun wählte er für die Veröffentlichung sechs Lieder aus, die thematisch allesamt um Liebe, Sehnsucht und Trennung kreisen. Der Geist, der ihn damals beflügelte, kommt besonders gut in dem hier als erstes Lied besprochenen „Frühlingslied“ auf ein Gedicht von Klingemann zum Ausdruck (op.34 Nr.3).


    Um die angestrebte familiäre Bindung zu betonen, widmete er dieses Opus übrigens der Schwester Céciles, Julie.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht Heinrich Heines steht im Zwölfachteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Presto“ versehen. Und so klingt das auch, was man vom ersten Takt an hört: Man wird in eine rhythmisch flott akzentuierte Klangflut hineingezogen, die einen – obwohl sie phasenweise in ihrer Dynamik reduziert ist – bis zum Ende nicht mehr loslässt. Aber gerade in diesem Nebeneinander von Phasen des klanglichen Voranstürmens und solchen der rhythmischen Dämpfung liegt der eigentümliche Reiz dieses Liedes.


    Der Herbstwind schüttelt die Bäume,
    Die Nacht ist feucht und kalt;
    Gehüllt im grauen Mantel
    Reite ich einsam im Wald.


    Und wie ich reite, so reiten
    Mir die Gedanken voraus,
    Sie tragen mich leicht und luftig
    Nach meiner Liebsten Haus.


    Die Hunde bellen, die Diener
    Erscheinen mit Kerzengeflirr,
    Die Wendeltreppe stürm´ ich
    Hinauf mit Sporengeklirr.


    Im leuchtenden Teppichgemach,
    Da ist es so duftig und warm,
    Da harret meiner die Holde,
    Ich fliege in ihren Arm!


    Es säuselt der Wind in den Blättern,
    Es spricht der Eichenbaum:
    „Was willst du, thörichter Reiter,
    Mit deinem thörichten Traum?“


    Mit Presto-Vehemenz stürmen im Klaviervorspiel die Sechzehntel los. Hier bildet sich eine wellenförmige melodische Linie ab, die im Lied immer wieder auftaucht und es rhythmisch und klanglich sehr stark prägt. Im Gegensatz dazu bewegt sich die Singstimme vergleichsweise gemessen, und dies zunächst auch auf nur einer Tonebene. Einzelnen, für die lyrische Aussage wichtigen Worten wird dabei besonderes musikalisches Gewicht verliehen, so zum Beispiel den Worten „Bäume“, „feucht“ und „Mantel“. Ein weiteres Mittel, bestimmte lyrische Aussagen hervorzuheben, ist die Wiederholung. Bis auf die letzte Strophe erfolgt bei allen anderen eine Wiederholung des Schlussverses (erste Strophe) oder der beiden letzten Verse (zweite bis vierte Strophe).


    Es handelt sich hier um ein durchkomponiertes Lied, obwohl bestimmte melodische Figuren wiederkehren, und zwar in der dritten Strophe solche aus der ersten und in der vierten dann melodische Elemente aus der zweiten. Das verleiht dem Lied einen Anflug von strophischer Komposition und trägt ganz wesentlich zu seiner melodischen Eingängigkeit bei. Vermutlich ist dies der Grund, weshalb Mendelssohn sehr oft zu diesem kompositorischen Prinzip greift.


    Auch bei diesem Lied hat man wieder – wie so oft bei Mendelssohn – das Gefühl, dass die melodische Linie wie naturwüchsig die sprachliche Struktur des lyrischen Textes in sich aufgenommen hat und zugleich seine Semantik adäquat reflektiert. Hat man es ein, zwei Mal gehört, danach längere Zeit nicht mehr, und liest dann zufällig den Text, stellt sich die Musik dazu wie ganz selbstverständlich ein.


    Bei den Worten „Reite ich einsam, einsam im Wald“ kommt eine fallende und zugleich schleppend wirkende Bewegung in die Vokallinie, und zwar wegen der Punktierung einzelner Noten. Bei dem Verspaar „Und wie ich reite, so reiten / Mir die Gedanken voraus“ wirkt die melodische Linie hingegen ausgesprochen munter: Achtel tanzen hintereinander her, und vor dem Wort „reiten“ erklingt ein kleiner Vorhalt.


    Bei dem Bild von „meiner liebsten Haus“ wird mit langen Dehnungen gearbeitet, und die ansonsten bei dieser Strophe im Klavier erklingenden akkordischen Dreier-Achtelgruppen werden durch einzeln angeschlagene und durch Pausen getrennte Achtel-Akkorde ersetzt. Klanglich fast exzessiv „ausgekostet“ wird das Bild „Ich fliege in ihren Arm“. Es wird mehrfach wiederholt, wobei eine musikalische Konzentration auf die Worte „in ihren Arm“ stattfindet. Bei jeder der vier Wiederholungen werden die melodischen Dehnungen länger.


    Bei der letzten Strophe tauchen zunächst wieder die hastig dahineilenden Sechzehntel im Klavier auf, und die melodische Linie setzt ebenfalls mit nervösen Bewegungen ein. Dann aber kommt gewichtige Schwere in das Lied. Die Frage: „Was willst du, törichter Reiter…“ wird auf aufsteigender und dann lange auf einem Ton verharrender melodischer Linie deklamiert. Danach folgt bei der zweiten Silbe von „Reiter“ ein Sekundfall, dem sich eine Pause anschließt.


    Das Klavier begleitet mit tremolierenden Akkorden. Die Worte „Mit deinem törichten Traum“ wirken in ihrer klanglichen Wirkung ausgesprochen lakonisch: Nicht nur durch die stockende melodische Linie, sondern auch durch die drei hart hingesetzten Akkorde im Klavier.

  • Der englische Musikologe Douglass Seaton meinte zu diesem „Reieselied“ Mendelssohns, es handele sich hier um „a pleasant self-delusion taking place within the framework of a continous stormy reality.“


    Das ist durchaus treffend beobachet, denn insbesondere der Klaviersatz der Komposition lässt erkennen, dass Mendelssohn Heines Gedicht so gelesen hat. Das Tremolo, das in der Klaviereinleitung mit rhythmisch bohrender und chromatisch eingefärbter Rasanz einsetzt und das beharrlich weiterläuft, während die Singstimme die melodische Linie deklamiert, ist ja nicht nur als Tonmalerei zu verstehen („Der Herbstwind rüttelt die Bäume…“).


    Die eigentümliche Binnenspannung zwischen der Struktur der Vokallinie und der insistierenden Tremolo-Prägung des Klaviersatzes suggeriert dem Hörer klanglich von vornherein, dass es sich bei den lyrischen Bildern um illusionäre Wunschgebilde des lyrischen Ichs handelt, die von der Realität als ein „thörichter Traum“ enthüllt werden.

  • „Andantino“ steht über diesem Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine. Ein Neunachteltakt liegt ihm zugrunde, und er verleiht ihm einen leicht wiegenden Grundrhythmus, der der lyrischen Situation, um die die Verse kreisen, auf subtile Weise gerecht wird.


    Über die Berge steigt schon die Sonne,
    Die Lämmerherde läutet von fern; (Heine: „läutet fern“)
    Mein Liebchen, mein Lamm, meine Wonne, (Heine: „…meine Sonne und Wonne“)
    Noch einmal säh´ ich dich gar zu gern!


    Ich schaue hinauf mit spähender Miene -
    Leb wohl, mein Kind, ich wandre von hier!
    Vergebens! Es regt sich keine Gardine;
    Sie liegt noch und schläft und träumt von mir. (Heine: „…und schläft – und träumt von mir?“)


    Die Melodiezeile, die auf dem ersten Vers liegt, erklingt im Unisono von Klavierbass, -diskant und Singstimme. Das verleiht ihr eine starke Prägnanz und Eindringlichkeit, und Mendelssohn hat dies ganz sicher kompositorisch höchst bewusst so angelegt.


    Dies ist wieder so ein Fall, bei dem man an der Frage herumrätselt, woran es liegen mag, dass man denkt: Diese Melodie trifft den Geist und den sprachlichen Duktus des lyrischen Textes so genau, dass man sich gar keine andere vorstellen kann.


    Vielleicht liegt es ja daran: Das lyrische Bild von der aufsteigenden Sonne wird mit einer melodischen Linie aufgegriffen, die in silbengetreuer Deklamation ebenfalls emporsteigt, bei dem Wort „Berge“ einen rhythmischen Schwerpunkt aufweist (ein punktiertes „h“), und dann, wenn bei dem Wort „steigt“ der der Höhepunkt des metaphorischen Steigens erreicht ist, wieder langsam abfällt. Das Bild von der in der Ferne „läutenden Lämmerherde“ wird dann mit einer melodischen Linie aufgegriffen, die sich in tiefer Lage auf fast nur einer Tonebene bewegt und klangliche Ruhe und Ferne ausstrahlt.


    Auch die Melodiezeile des nächsten Verses reflektiert die Semantik des lyrischen Textes auf eindrucksvolle Weise. Die melodische Linie steigt steil an und erreicht bei dem Wort „Lamm“ ihren mit einer Dehnung und einem „Sforzato“ versehenen Höhepunkt.


    Großartig gelungen ist Mendelssohn das musikalische Einfangen der lyrisch-situativen Gegebenheit zu Beginn der zweiten Strophe. Die Worte „Ich schaue hinauf“ und „mit spähender Miene“ werden beide auf rasch (Achtel!) aufsteigender und dann auf einem hohen „e“ verharrender Vokallinie gesungen. Der Akt des Hinaufschauens ist auch deshalb kompositorisch so gut umgesetzt, weil die beiden Wortgruppen klanglich isoliert stehen, durch Pausen voneinander getrennt, und weil man durch die lange Dehnung auf der Silbe („hin“-) „-auf“ hörend dem Akt des Hinaufblickens und der damit verbundenen Erwartung folgt.


    Das „Leb wohl, mein Kind“ wird dreimal wiederholt. Es ist – von der musikalischen Faktur her – wie ein Winken angelegt: Die Vokallinie bewegt sich in jeweils kleinen Intervallen bogenförmig auf und ab, von Viertpausen getrennt. Und bei dem letzten „Leb wohl, mein Kind“ steigt die melodische Linie weiter herab und verharrt auf einem langen, mit einer Fermate versehenen „a“.


    Überaus beeindruckend ist die kompositorische Gestaltung der lyrischen Imagination, die der Schlussvers artikuliert. Das Sich-Hineinsteigern in das imaginierte Bild von der schlafenden Geliebten vollzieht sich in einem musikalisch sich steigernden Akt der Wiederholung immer derselben Worte: „Sie liegt noch und schläft und träumt von mir / und träumt von mir / Sie liegt noch und schläft und träumt von mir / sie liegt noch und schläft und träumt von mir.“


    Die musikalische Steigerung besteht dabei darin, dass in die wiederholte Deklamation dieses Verses melodisch immer mehr Bewegung kommt. Das „mir“ wird auf immer höherer Note gesungen, mit einem Sforzato versehen. Und bei der Deklamation der Worte „schläft und träumt“ gerät die Vokallinie schließlich in eine wiegende Bewegung von einem Sekundschritt auf und ab.


    Nach einer Pause von mehr als einem ganzen Takt, während derer im Klavier die Anfangsmelodie wieder aufklingt, wird der Schlussvers noch einmal gesungen, dieses Mal aber in gleichsam konstatierendem musikalischem Gestus: Ein Diminuendo ist vorgegeben, und bei dem Wort „schläft“ verharrt die Vokallinie lange (halbe Note) auf einem „a“, um nach einer kurzen Pause endgültig auf der Tonika zur Ruhe zu kommen.


    Das Fragezeichen, das Heine hinter das letzte Wort gesetzt hat, ist ganz offensichtlich nicht mitkomponiert. Es besteht für den dieses Gedicht lesenden Komponisten kein Zweifel, dass die Geliebte oben von dem träumt, der unten steht und Abschied nehmend hoch zu ihrem Zimmer blickt.

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  • Dieses Gedicht von Heinrich Heine wurde auch von Johann Vesque von Püttlingen (1803-1883), alias Johann Hoven, vertont, der sich ja – in ein wenig wunderlichem Ehrgeiz – zum Ziels gesetzt hatte, den ganzen Gedicht-Zyklus „Die Heimkehr“ von Heinrich Heine zu vertonen, - auf durchaus eindrucksvolle Weise übrigens. Eine Besprechung seiner Vertonung des Gedichts „Über die Berge scheint schon die Sonne“ findet sich im Thread „Johann Hoven. Die Heimkehr“ unter Beitrag Nr.33.


    Dort heißt es, den Schluss des Gedichtes betreffend:
    „Vergebens“ erklingt wieder mit leichtem Klageton, und die Feststellung“ „es regt sich keine Gardine“ wird zögerlich, mit einem leichten Ritardando in mittlerer Lage gesungen. Das „Sie liegt noch und schläft“ kommt zunächst klanglich wie eine schlichte Feststellung. Dieser Vers wird aber drei Mal wiederholt. Und dabei dringen die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs in die melodische Linie ein und verändern ihre anfängliche Nüchternheit.


    Dieses dreifache Wiederholen mutet klanglich so an, als versteige sich das lyrische Ich ganz in das Bild, das da lyrisch artikuliert wird. Bei der letzten Wiederholung liegt eine lange Dehnung auf dem Wort „schläft“, bevor die melodische Linie wieder ansteigt und auf der Terz endet. Ist damit das Fragezeichen, das Heine hinter diesen Vers setzt, kompositorisch aufgegriffen?


    Im Vergleich mit dem Lied von Johann Hoven zeigt sich sehr gut die kompositorische Intention, die Mendelssohn im Unterschied zu jenem verfolgt. Johann Hoven setzt eng am lyrischen Text an. Die melodische Linie, die auf dem ersten Verspaar liegt, weist einen deskriptiven Ton auf. Beim nächsten Verspaar aber, dem ja wörtliche Rede zugrundeliegt, ist der Ton des Ansprechens in dem gleichsam sprunghaften Anstieg der Vokallinie deutlich zu vernehmen. Das „Noch einmal säh ich dich gar zu gern“ wird auf fallender, den Wunschcharakter betonender musikalischer Linie sogar wiederholt. Auch das „Leb wohl“ wird aus diesem Grund mehrfach wiederholt, und zwar mit einer Modifikation der Vokallinie, die das emotionale Potential dieses Abschiedsrufes melodisch ausschöpft.


    Mendelssohn verfolgt in seiner Vertonung dieser Verse einen gänzlich anderen Ansatz: Ihm kommt es auf das melodisch-musikalische Erfassen des „Geistes“ an, der in den Versen Heines lyrisch zum Ausdruck kommt. Und der ist für ihn wesentlich geprägt durch die situative Gegebenheit: Das Abschiednehmen von der schlafenden Geliebten als „Morgengruß“ in einer Szenerie, wie sie in der ersten Strophe lyrisch skizziert wird. Melodische Linie und Klaviersatz sind darauf abgestellt, diese lyrisch-szenische Gegebenheit musikalisch einzufangen. Und sie leisten das auch, wie in der vorangegangenen Liedbesprechung deutlich geworden sein dürfte.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine steht im Zweivierteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Allegro“ versehen. Hat man das bekannte Lied von Robert Schumann im Ohr, dann ist man beim ersten Hören dieser Vertonung von Mendelssohn fast verblüfft über die melodische und rhythmische Bewegtheit der Musik.


    Allnächtlich im Träume seh´ ich dich,
    Und seh´ dich freundlich grüßen,
    Und laut aufweinend stürz´ ich mich
    Zu deinen süßen Füßen.


    Du siehst mich an wehmütiglich,
    Und schüttelst das blonde Köpfchen,
    Aus deinen Augen schleichen sich
    Die Perlentränentröpfchen.


    Du sagst mir heimlich ein leises Wort,
    Und gibst mir den Strauß von Cypressen,
    Ich wache auf, und der Strauß ist fort
    Und´s Wort hab´ ich vergessen.


    Im Klaviervorspiel steigen, wie von den Tönen im Bass angetrieben, Sechzehntel-Akkorde im Diskant auf. Sie münden in eine aus fallenden Sechzehnteln bestehende Klangfigur, die in diesem Lied noch mehrfach auftaucht, maßgeblich zu seiner musikalischen Aussage beiträgt und demgemäß auch ganz konsequent nach Nachspiel beherrscht. Heißt es, etwas in das Lied hineininterpretieren, wenn man darin das musikalische Pendant zum dem lyrischen Bild von dem Sich-Stürzen zu den „süßen Füßen“ hört?


    Die melodische Linie der Singstimme eilt hurtig mit Achteln und Sechzehnteln dahin, verbleibt dabei gerne auf einer Tonebene und meidet große Intervalle. Sie übergreift als Melodiezeile die ersten drei Verse der ersten und zweiten Strophe. Deren Faktur ist identisch. Es handelt sich also um ein variiertes Strophenlied, bei dem nur die dritte Strophe kompositorisch anders angelegt ist.


    Am Ende des dritten Verses (bei „stürz ich mich“ und „schleichen sich“) bricht die Bewegung der melodischen Linie fast überraschend ab. Das geschieht nicht auf dem Grundton, sondern auf der Terz. Eine Pause tritt ein, derweilen im Klavierdiskant wieder die Figur aus fallenden Sechzehnteln aufklingt. Danach wird der Vers „Zu deinen süßen Füßen“ zweimal gesungen: Zunächst mit zwei kleinen Bogenbewegungen aus Sechzehnteln bei den Worten „deinen süßen“, danach bei denselben Worten mit einem weit (bis zum hohen „gis“) ausholenden Bogen, wonach die Vokallinie dann zu ihrem Ruhepunkt findet. Bei all diesen Bewegungen bleibt sie in Moll-Harmonien eingebettet, die in Form von tänzerischen Achtelakkorden aufklingen.


    Vor der dritten Strophe artikuliert das Klavier das komplette Vorspiel noch einmal. Danach setzt die Singstimme mit der gleichen Vokallinie ein, die auch auf den drei ersten Versen der beiden vorangehenden Strophen liegt. Auch das Abreißen der melodischen Linie am Ende wiederholt sich, nur dass dieses Mal der Ton „c“, auf dem sich das ereignet, länger gehalten wird (einen ganzen Takt lang).


    Auch die melodische Linie, die auf dem letzten Vers liegt, ist mit der der vorangehenden Strophen in der Struktur ihrer Bewegung identisch. Aber bei dem Wort „vergessen“ erfolgt nun ein aus einer langen melodischen Dehnung heraus sich vollziehender Quintfall auf der letzten Silbe. Klanglich mutet das wie ein neuerlicher, dieses Mal aber endgültiger Abbruch der Vokallinie an. Das Aufwachen ist mit aller Härte der realen Welt in die nächtlich süßen Träume eingebrochen.

  • Ich möchte es mit dem liedanalytischen Vergleichen hier nicht übertreiben, um der Freude am Hören der – in vielen Fällen wirklich faszinierend schönen – Lieder Mendelssohns nicht zu schaden. Aber mich reizt es nun einmal, einen ganz kurzen Blick auf das Lied Robert Schumanns auf dieses Gedicht von Heine zu werfen. Irgendwie ist das für mich zwingend, und ich bitte um Nachsicht.


    Zwingend warum? Nun, dieses Gedicht Heines weist ja nun durchaus Elemente seiner ganz spezifischen ironischen Verfremdung des lyrischen Bildes auf, - im Sinne einer gleichsam maliziösen Sentimentalität. Da ist das kontrastive Aufeinanderstoßen von „freundlichem Grüßen“ und „lautem Aufweinen“; da ist der überzuckerte Binnenreim „süße Füße“; da ist das übertrieben bombastische Kompositum „Perlentränentröpfchen“; und da ist das am Ende sprachlich verblüffend lakonische, ja fast grobe: „Und´s Wort hab´ ich vergessen.“ Als Heine, so ist überliefert, das Gedicht im Freundeskreis vorlas, kam es zu schallendem Gelächter.


    Mendelssohns Vertonung dieses Gedichts reagiert auf diese Heine-spezifischen Eigenarten des lyrischen Textes allenfalls beim Schlussvers. Aber auch in diesem Fall nicht auf die sprachliche Lakonie des Verses, sondern auf seinen semantischen Gehalt. Heines maliziöse Sentimentalität ignoriert der Komponist Mendelssohn in diesem seinem Lied völlig, - was nichts Neues ist.


    Und Schumann? Hier scheint mir die Sache anders zu liegen. Ich möchte nicht in eine detaillierte Liedanalyse einsteigen, sondern nur auf diesbezüglich relevante Strukturmerkmale hinweisen. Auffällig ist die permanent von Pausen unterbrochene, gleichsam kurzatmige melodische Linie. Sie isoliert die einzelnen lyrischen Bilder, gibt ihnen ein ganz besonderes musikalisches Gewicht und dient damit der Spannungssteigerung auf die musikalische Lakonie des Schlusses hin.


    Ins Ohr fällt das Herabsteigen der melodischen Linie bei den „süßen Füßen“. Das geht hinunter bis zum tiefen „a“ und purzelt melodisch mit einem rhythmisch schroffen Sechzehntel um das tiefe „cis“ herum. Schumann hat dieses Bild mitsamt seiner lyrisch-sprachlichen Überzuckerung sehr wohl musikalisch reflektiert.


    Und dann der Schluss des Liedes bei Schumann. Es wird zweimal auf einer Tonebene mit den Notenwerten von Sechzehnteln deklamiert: „Ich wache auf“, Pause, „und der Strauß ist fort“… Nun erwartet man wieder eine Pause, aber nichts da. Mit Sechzehnteln hüpft die melodische Linie bei „und´s Wort hab ich vergessen“ in vier raschen Schritten von einem hohen „dis“ herunter zu einem „fis“.


    Rhythmisch und melodisch lakonischer geht es kaum mehr. Auch hier hat Schumann – im Unterschied zu Mendelssohn – mit musikalischen Mitteln auf die lyrische Sprache Heines kompositorisch reagiert. Das macht sein Lied nicht besser als das Mendelssohns, es erschließt musikalisch nur eine andere Dimension des lyrischen Textes.

  • Immer wieder von neuem fesselnd ist es, hörend zu erleben, wie Liedkomponisten auf den Lyriker Heine reagieren. Sie sind als Musiker von der Faszination, die von seiner lyrischen Sprache ausgeht, in Bann geschlagen, und seine lyrischen Bilder beflügeln sie musikalisch im wahrsten Sinne des Wortes.


    Aber es ist immer das gleiche: Es ist gleichsam nur die Oberfläche dieser lyrischen Sprache, von der die faszinierende Wirkung auf sie ausgeht, nicht deren poetische Tiefe, in der sie sich als letzten Endes gebrochen erweist, - gebrochen in Form von Ironie, harter metaphorischer Kontrastivität oder einfach nur maliziöser Sentimentalität.


    Mendelssohn ist ein Musterbeispiel für diese Form der kompositorischen Reaktion auf den Lyriker Heine. Ich meine manchmal: Er ist sozusagen die Reinkultur. Heines Ironie weicht er kompositorisch nicht nur aus. Sie ist ihm aus tiefstem Herzen zuwider. Für ihn ist sie ein elementarer Verstoß gegen sein musikalisch-kompositorisches, aber auch gegen sein rein menschliches Weltbild. Hierin unterscheidet er sich wesentlich von Schumann.


    Mendelssohn beschwört – so meine ich immer mehr - musikalisch die heile Welt. Auch liedkompositorisch tut er das. Heine hat ihn mit seiner lyrischen Sprache zwar in Bann geschlagen. Deren Brüche wehrt er aber ab, - mit allen seinen kompositorischen Kräften.

  • Bei einem "Frühlingskonzert" habe ich vor 3 Tagen gerade dieses wunderbare Lied "Gruss" (Leise zieht durch mein Gemüth..) von Mendelssohn aufgeführt. Meine Frau, die ja Sopranistin ist, hat es gesungen.
    Von allen Beiträgen, die da von verschiedenen Leuten gekommen sind, ist dieses kleine Lied aus Deutschland (wohne in Norwegen) bei so manchem am Besten angekommen.
    Es konnte einfach die Leute anrühren...sie haben zwar eine norwegische Textübersetzung vorher gesagt bekommen, aber ich glaube nicht dass sie es alle verstanden haben. Trotzdem waren die Leute sehr angesprochen und viele haben uns anschliessend gerade darauf angesprochen.


    Mir gefällt daran u.a., wie genial das Frühlingsgeläut in der Klavierbegleitung hörbar ist, auch die Modulationen, das an Natur und Weite erinnernde Motiv des Vor- und Nachspiels...uvm.


    In einige Mendelssohn-Liedaufnahmen habe ich hineingehört, u.a. auch Fischer-Dieskau.
    Am habe ich jedoch diese CD hier ins Herz geschlossen, sowohl vom Pianistischen als auch vom Sänger her:



    Schreier scheint mir den Ton dieser Lieder richtig zu treffen.
    Leider scheint es die CD bei JPC überhaupt nicht, und bei amazon nur als mp3-download zu geben.
    Ich habe sie früher als LP gehabt, und sie dann vor einigen Jahren noch als CD bekommen können. Für mich ist sie ein kostbares Kleinod....ursprünglich war das einmal eine DG-Aufnahme, glaube ich.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Glockenton bemerkt zu dem Mendelssohn-Lied "Gruß" (Op.19a, Nr.5), von einer konzertanten Aufführung berichtend: "Es konnte einfach die Leute anrühren..."


    Ich erlaube mir den Hinweis, dass dieses Lied oben in Beitrag 12 vorgestellt und bespochen ist. In dieser Besprechung findet sich die Frage meinerseits: "Wie soll man die klangliche Faszination in Worte fassen, die von der melodischen Linie der Singstimme ausgeht?"


    Es ist in der Tat sehr schwer, das Anrührende, das von diesem Lied ausgeht, in Worte zu fassen. Noch schwerer ist es, die Ursachen dafür in der musikalischen Faktur auszumachen. Ich habe beides versucht, weiß aber jetzt beim nachträglichen Durchlesen meines Beitrages nicht, ob mir das - wenigstens ansatzweise - gelungen ist.


    Ein wesentlicher Faktor dürfte dabei die fast volksliedhafte Schlichtheit der melodischen Linie sein, die - wie das so oft bei Mendelssohn der Fall ist - Aussage und sprachliche Struktur des lyrischen Textes sozusagen direkt und auf Anhieb erfasst. Schaut man genau hin, so stellt man fest, dass sie aus nichts anderem als aus einem Spiel mit den Tönen des D-Dur-Dreiklangs besteht. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass die entsprechende Melodiezeile die ganz Strophe umfasst und so wirkt, als sei sie am Ende klanglich sozusagen zu sich selbst gekommen.

  • Ein wesentlicher Faktor dürfte dabei die fast volksliedhafte Schlichtheit der melodischen Linie sein, die - wie das so oft bei Mendelssohn der Fall ist - Aussage und sprachliche Struktur des lyrischen Textes sozusagen direkt und auf Anhieb erfasst. Schaut man genau hin, so stellt man fest, dass sie aus nichts anderem als aus einem Spiel mit den Tönen des D-Dur-Dreiklangs besteht. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass die entsprechende Melodiezeile die ganz Strophe umfasst und so wirkt, als sei sie am Ende klanglich sozusagen zu sich selbst gekommen.

    Das hast Du aus meiner Sicht gut nachempfunden und verstanden....sehe ich auch so :)


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Danke, lieber Glockenton!


    Du bist der erste Mensch, der - außer mir - in diesem Thread einen Eintrag gemacht hat. Ich freue mich darüber sehr (wenn ich das bekennen darf). Warum, so frage ich mich, ist die Resonanz auf diesen Thread so gering? Da es nicht an Mendelssohns Liedern liegen kann, wofür Du ja eben freundlicherweise gerade einen gleichsam empirischen Beleg geliefert hast, kann es nur so sein, dass ich da was falsch mache.
    Eigentlich liegt ja der Abbruch nahe, - hier, oder vielleicht sogar überhaupt. Das Seltsame dabei ist nur: Man fühlt sich irgendwie dem Komponisten gegenüber verpflichtet.


    Eben lese ich gerade:
    Mendelssohn bewunderte an Franz Liszt "das innerliche musikalische Empfinden, das ihm bis in die Fingerspitzen läuft". Und ich denke: Wie wünschenswert wäre es doch, wenn einem hier das "musikalische Empfinden" für seine Lieder - und für Lieder überhaupt - in ähnlicher Weise zwar nicht in die Fingerspitzen, wohl aber "in die Feder liefe".


    Na ja, genug des sinnigen - und wie immer monologischen - Nachdenkens!

  • Diese Liedkomposition kann man durchaus als eine Art „Beleg“ dafür nehmen, dass Mendelssohn der inneren Gebrochenheit von Heines Lyrik, die sich etwa in seiner spezifischen Ironie oder der schroff- kontrastiven Metaphorik sprachlich-lyrisch niedergeschlagen hat, ausgewichen ist. Sie muss ihm nicht geheuer gewesen sein, - ganz so wie auch seiner Schwester Fanny. Bei ihr wurde das im zugehörigen Thread am Beispiel von „Warum sind denn die Rosen so blass“ aufgezeigt.


    Schon die Eingriffe in den lyrischen Text lassen dies im Falle dieses Liedes, das 1837 entstand und unter den Titeln „Im Kahn“, „Wasserfahrt“ und „Auf dem Wasser“ publiziert wurde, erkennen. Daneben macht das natürlich auch der musikalische „Grundton“ des Liedes, den man generell als idyllisch-heiter, ja lieblich umschreiben kann, recht deutlich. Die Eingriffe Mendelssohns in Heines Text sind aus dem jeweils am Versende angegebenen Orignalwortlaut ersichtlich.


    Mein Liebchen, wir saßen zusammen, (Heine: „beisammen“)
    So traulich im leichten Kahn; (Heine.: „Traulich im leichten…“)
    Die Nacht war still, und wir schwammen
    Auf weiter Wasserbahn.


    Die Geisterinsel, die schöne,
    Lag dämmernd im Mondenglanz; (Heine: „dämmrig“)
    Dort klangen liebe Töne,
    Dort wogte der Nebeltanz.


    Dort klang es lieb und lieber,
    Es ward uns wohl und weh; (Heine: „Und wogt es hin und her“)
    Wir schwammen leise vorüber (Heine: „schwammen vorüber“)
    Allein auf weitem See. (Heine: „Trostlos auf weitem Meer“)


    Es handelt sich um eine Strophenlied-Komposition. Allein schon dieses kompositorische Konzept macht ein adäquates musikalisches Aufgreifen der kontrastiven Divergenz der lyrischen Bilder Heines unmöglich. Mendelssohn musste also in den Text eingreifen, um eben diesen Eindruck einer Inadäquatheit von lyrischem Text und Musik zu vermeiden.


    Das Klaviervorspiel aus aufsteigenden und wieder fallenden Klangfiguren aus akkordisch aufgelösten Achteln suggeriert zauberische Atmosphäre. Es klingt jeweils zwischen den Strophen wieder auf und verbindet damit diese in einer Art musikalischem Rahmen, der zugleich ein Fundament ist. Auch im Nachspiel ist es noch einmal zu hören.


    Die melodische Linie mutet schlicht, fast volksliedhaft einfach an. Von daher wirkt sie, eben weil ihr klanglicher Grundcharakter idyllisch ist, der Untergründigkeit von Heines Metaphorik in elementarer Weise unangemessen. Sie setzt mit einem lyrischen Bogen auf „wir saßen zusammen“ ein und verbleibt beim zweiten Vers weitgehend auf einer Tonhöhe in mittlerer Lage. Bei dritten Vers der ersten Strophe steigt sie in kleinen Schritten an, erreicht bei dem Wort „schwammen“ einen ersten Höhepunkt, steigt aber danach bei den ersten Silben des vierten Verses („auf weiter…) in Form von kleinen Sekunden noch ein wenig höher.


    Dieser vierte Vers wird dann auf einer fallenden, in die Tonika mündenden melodischen Linie wiederholt. Das Wort „weiter“ wird hierbei zweimal deklamiert, beim zweiten Mal, ebenso wie bei dem Wort „Wasserbahn“ mit einem kleinen Melisma versehen.


    Mendelssohn hat sich bei diesem Lied ganz unüberhörbar von der situativen Idyllik der lyrischen Bilder inspirieren lassen. Die Dimension des lyrischen Ichs wurde dabei ausgeklammert. Wenn sich dieses bei Heine artikuliert und damit die innere existenzielle Verlorenheit der deskriptiven Idyllik auf fast schroffe Weise gegenübertritt, blendet Mendelssohn diese ganz bewusst durch radikale Eingriffe in den lyrischen Text aus.


    Bemerkenswert ist ja schon, dass er Heines Wort „beisammen“ durch „zusammen“ ersetzt, obwohl dies unter syllabischem Aspekt gar nicht nötig gewesen wäre. Er will ganz offensichtlich dort trauliche Zweisamkeit und Gemeinsamkeit, wo Heine im Wissen um die existenzielle Vereinsamung des lyrischen Ichs ganz bewusst ein räumliches Nebeneinander („beisammen“) sprachlich artikuliert, das kein inneres „Zusammensein“ beinhaltet.

  • Dieses Gedicht Heines wurde auch von Johannes Brahms vertont. Ein Liedvergleich erübrigt sich hier, da ich mich im Thread „Sprache und Musik im Lied“ bereits darauf eingelassen habe. Ich darf auf die diesbezüglichen Beiträge Nr. 133 (22.11.10), Nr.136 (23.11.10) und Nr.137 (24.11.10) verweisen.


    Dort versuchte ich aufzuzeigen, dass Brahms – im Unterschied zu Mendelssohn – der von Heine intendierten lyrischen Aussage deutlich eher gerecht wird. Das Untergründige dieses Gedichts, das sich in seinen letzten beiden Versen auftut, wird von ihm musikalisch nicht nur nicht ignoriert, sondern sogar zum Zentrum der kompositorischen Aussage gemacht. Hierzu schrieb ich u.a. in „Sprache und Musik im Lied“:


    Schon das Klaviervorspiel lässt hören, dass dieses Lied aus einer gänzlich anderen kompositorischen Grundhaltung kommt. Und man weiß auch sofort, aus welcher Quelle sich diese Haltung speist: Es sind die beiden letzten Verse des Gedichts: "Wir aber schwammen vorüber, // Trostlos auf weitem Meer". Brahms hat sie - im Unterschied zu Mendelssohn - nicht abgeändert und hörbar(!) in das Zentrum seiner Komposition gestellt.


    Die Klavierklänge des Vorspiels weisen einen wiegenden Grundrhythmus auf, aber sie klingen nicht hell, wie bei Mendelssohn, sondern sie bewegen sich in unteren Lagen und sind dunkel geprägt. Die Melodie, die, von der rechten Klavierhand gespielt, in diese wiegenden Klänge einfällt, nimmt einen bohrenden, ja bedrohlichen Charakter an. Man hat sie lautmalerisch mit dem Ruf eines Gondoliere oder eines Fischers in Zusammenhang gebracht. Das überzeugt aber nicht. Sie klingen dafür nicht harmlos genug.


    Hinzufügen möchte ich an dieser Stelle noch, dass auch die eigentümliche Binnenspannung im Tongeschlecht, dieses Ausgreifen der Harmonik in den Dur-Bereich und das nachfolgende Wieder-Zurückfallen ins Moll klanglich hör- und erlebbar macht, dass Brahms die Heine-spezifische Gebrochenheit der Metaphorik kompositorisch voll reflektiert hat.

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