Walter Felsenstein - Regietheater im Dienste der Werktreue


  • Soweit ich es bisher überblicken konnte, ist in jüngster Vergangenheit noch nichts über Walter Felsenstein geschrieben worden. Das möchte ich mit diesem Thread nachholen, da gerade im Bezug auf die Regietheaterdiskussionen dieser große Regisseur nicht unerwähnt bleiben sollte.
    Ganz unpersönlich ist dieser Thread nicht, denn Felsenstein ist ein Name, der mir, seit ich denken kann, geläufig war, da mein Vater während seines Gesangsstudiums seine Leidenschaft für die Regie entdeckte und sich für seine Regieassistenz mit Felsenstein den besten Lehrer aussuchte, den er sich vorstellen konnte. Was war nun das Besondere an der Felsenstein'schen Regie? Es war meiner Meinung nach die ausgeklügelte und rollenspezifische Personenregie sowie die einzigartige Arbeit mit dem Chor, der regelrecht individualisiert wurde, anstatt zu einer gesichtslosen Masse degradiert zu werden, mit der die meisten Regisseure nichts anfangen konnten und können. Ein Paradestück dieser ausgezeichneten Chorarbeit ist die Eingangsszene des "Otello", bei der der Chor wirklich glaubhaft, aber ohne theatralische Übertreibungen, den Schrecken über die Beinah-Katastrophe der Flotte ausdrückt. Ich kann Interessenten die Sammelbox empfehlen, in der seine wichtigsten Arbeiten dokumentiert sind. Bei JPC gibt es auch alle Filme einzeln.



    Felsenstein hat es meiner Meinung nach meisterhaft verstanden, echte, glaubwürdige Personenregie ohne lächerliche Übertreibungen und Überzeichnungen und ohne gewaltsame Aktualisierungen hinzubekommen, und dies ist in meinen Augen auch die Aufgabe des "Regietheaters", dieses Begriffs, der heute leider zu so einem wunden Punkt geworden ist. Für mich ist das, was heute größtenteils auf den Bühnen abläuft, daher auch kein Regiethater, sondern eine Beleidigung dieses Begriffs.


    Wo Licht ist, da ist natürlich auch Schatten. Felsenstein hatte trotz all seiner Meriten leider kein allzu glückliches Händchen bei der Wahl seiner festen Ensemblemitglieder, und gerade bei den Herren kann man größtenteils nur von stimmlichem Mittelmaß sprechen. Das ist sehr schade, denn eine so bedeutende Regiearbeit hätte ebenso bedeutende Sänger verdient. Aber sechsmonatige Probenphasen, die Forderung, auch bei Proben grundsätzlich alles auszusingen und das Markierverbot schreckten echte "Stars" verständlicherweise ab. Mein Vater berichtete mir von guten Gastsängern, die er während der Probenphase als ausgezeichnet erlebt hatte, die dann aber gerade bei der Premiere versagten oder nur wenig von ihrem eigentlichen Können zeigten, weil sie nach den intensiven Proben schlicht und einfach keine Kraft mehr hatten. Ein anderer Nachteil war die Manie, alles auf deutsch aufführen zu müssen. Ich habe mich lange mit Felsensteins Gründen dafür auseinandergesetzt und kann dies im Sinne seines Gesamtkonzepts auch durchaus nachvollziehen, nur ist diese Vorgabe heute in Zeiten der Globalisierung schon gar nicht mehr aufrechtzuerhalten, wenn man vom ästhetischen Gewinn einmal absieht. Ich halte Deutsch durchaus für eine Opernsprache, aber gerade italienische Opern finde ich auf deutsch sehr gewöhnungsbedürftig, da die italienische Sprache aufgrund der ihr eigenen Syntax und Vokalbehandlung als musikalische Sprache nicht zu toppen ist. Trotzdem sind Felsensteins Übersetzungen die ehrlichsten und werkgetreuesten, und wenn man deutsche Übersetzungen bevorzugt, dann wären seine Arbeiten immer die beste Wahl.


    Gibt es hier im Forum Mitglieder, die die Inszenierungen des Altmeisters noch live erlebt haben oder die noch weiteres über Walter Felsenstein beisteuern können? Ich freue mich auf einen regen Gedankenaustausch, weil mir dies leider nicht vergönnt war.



    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

  • Danke für diese längst fällige Threaderöffnung! Leider sind die Freund deutschsprachiger Opern hier nicht sehr zahlreich vertreten.


    Die oben genannte DVD-Box haben wir hier im Forum bereits ausführlich gewürdigt, einige der darin enthaltenen Werke haben ihren eigenen Thread.


    Die legendären Inszenierungen von Walter Felsenstein endlich auf DVD


    Gibt man "Felsenstein" in der Suchfunktion ein, erhält man über 150 Funde, zuletzt diesen aus Hiddensee:



    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Übrigens ist Morgen um 15.20 Uhr der Opernfilm Fidelio von 1956 in 3 Sat zu sehen.


    Regie: Walter Felsenstein. Das Ganze wird in 85 Min. abgehandert.


    :hello: Herbert

    Tutto nel mondo è burla.

  • Ja, Fidelio in 85 Minuten finde ich auch sehr fragwürdig, obgleich die Regie des Films gelungen ist.

    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

  • Soweit ich mich erinnere, habe ich den Film mal gesehen. Ziemlich düster, mit Kriegsszenen und Pferden....(?)
    Ansonsten Schauspieler, die nur andeutungsweise mit dem Mund wackeln - gedreht in Österreich:

    Dirigent: Fritz Lehmann
    Wiener Symphoniker
    Chor der Wiener Staatsoper
    Inszenierung: Walter Felsenstein
    Ausstattung: Rochus Gliese
    Filmdarsteller:
    Fidelio (Claude Nollier),
    Pizarro (Hans Schiel),
    Fernando (Erwin Gross),
    1. Gefangenerr (Michael Tollering),
    2. Gefangenerr (Harry Payer)


    Sänger:
    Don Fernando: Alfred Poell
    Don Pizarro: Heinz Rehfuss
    Florestan: Richard Holm
    Gefangener (1): Kurt Equiluz
    Gefangener (2): Leo Heppe
    Jaquino: Fritz Berger
    Leonore (Fidelio): Magda László
    Marzelline: Sonja Schöner
    Rocco: Georg Wieter


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Hier muss man auch anmerken, dass ein Film keine Aufführung ist - und düster ist die Atmosphäre des Ganzen ja nun allemal. Im Vorspann wird gezeigt, wie Pizzarro zum Gefängnis fährt - natürlich in einer Pferdekutsche. Ein Film hat diese Möglichkeiten und kann sie auch nutzen. Was mich aber gerade bei Fidelio stört, ist die musikalische Behandlung und Extremkürzung. Von der Sammeledition gefallen mir eigentlich der Othello sowie der Blaubart am besten, wenn man - wie ich schon sagte - von den sängerischen Mängeln gerade beim Otello einmal absieht.

    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)

  • Dazu ist anzumerken, daß die Sängerinnen und Sänger eigentlich das Wichtigste in einer Oper darstellen!


    :hello: Herbert

    Tutto nel mondo è burla.

  • Aber wenn man sich die heutigen Kritiken durchlest oder anhört werden die Sänger kaum erwähnt und es wird nur noch über die Inszenierung diskutiert. Manchmal habe ich den Eindruck das die Sänger nur ein lästiges Beiwerk sind.


  • Dazu ist anzumerken, daß die Sängerinnen und Sänger eigentlich das Wichtigste in einer Oper darstellen!


    :hello: Herbert

    Das ist natürlich richtig, aber wer Felsenstein'sche Arbeiten anschaut, tut dies nicht vorrangig wegen der Sänger. Klar, das ist schade, weil - wie ich oben schon erwähnte - er durchaus bessere Solisten hätte haben können, was aber vorrangig mit seiner Probenpraxis zu tun hatte. Inszenatorisch war er im Gegensatz zu vielen heutigen Regisseuren nicht gegen die Sänger und erst recht nicht gegen die Musik. Da habe ich heute oftmals wirklich den Eindruck, dass die Musik bzw. der Gesang störendes und entbehrliches Beiwerk sind.

    "Tatsachen sind die wilden Bestien im intellektuellen Gelände." (Oliver Wendell Holmes, 1809-94)