Beethovenbilder und Weltbilder

  • Anlass für diesen Thread war eine Bemerkung Alfreds. Der Kontext war, dass andere und meine Wenigkeit ein paar Dinge über die Beethoven-Einspielungen Thielemanns sagten. Wiederum andere wurden davon zu der Frage bewogen, warum man denn einen neuen deutschen Dirigenten gleich zur Schlachtbank führen müsse und Kübel von Dreck über ihn ausschütte. Ich fragte zurück, warum es ausgerechnet bei Thielemann verboten wäre, Kritik zu äußern, und nannte ein paar heilige Kühe der Interpretationsgeschichte, die ich auch nicht so toll finde. Alfred antwortete wie folgt:


    Aber dann muß auch mir erlaubt sein, daß ich die Provinzaufnahmen mit Dirigenten aus der zweiten Reihe als geschmacklose Verhöhnung des Beethovenbilds der letzten 100 Jahre bezeichne......


    Meine erste Reaktion (bei Alfred bin ich zugegebenermaßen vorbelastet): So ein Blödsinn! Ein Bild kann man doch nicht verhöhnen.


    Mir fiel dann noch die Szene aus dem „Wilhelm Tell“ ein, in der der verhasste habsburgische Landvogt Gessler auf dem Marktplatz von Altdorf eine Stange aufpflanzen lässt, dieser Stange seinen Hut aufsetzt und anordnet, dass jeder, der daran vorübergeht, sich davor verneigen müsse. Nicht-verneigen wäre also eine Beleidigung des Gessler-Bildes. Habsburger kommen offenbar auf solche Ideen ...


    Ich hatte zwar Alfred gefragt, wie er das mit dem „Beleidigen eines Bildes“ meinte und wartete auf Antwort (übrigens immer noch). Doch das Thema spukte weiter in meinem Kopf herum. Bis ich an das kopernikanische Weltbild dachte. Galilei. Geozentrisch oder heliozentrisch? War es nicht so mit Beethoven-Interpretation im Wagner-Stil einerseits und den Erkenntnissen der HIP-Bewegung andererseits?


    Blicken wir zurück: Beethoven hat seine Sinfonien mit Tempobezeichnungen versehen. Mit vielen Sforzati. Lebendig war seinerzeit noch die Tradition der „sprechenden“ Artikulation.


    Ich vereinfache jetzt: Dann kam Wagner. Der erzog seine Orchester zu einem endlosen Legato von höchster Dichte. Ein unendlicher Klangstrom schwebte ihm für seine Werke vor. Die feingliedrige, rhetorisch geprägte Artikulation galt für ihn nicht. Stattdessen sollte ein großer Schwall der geistreichen Argumentation der früheren Klangrede ein Ende machen und an deren Stelle die schiere klangliche Überwältigung setzen. Im „Parsifal“ ist er diesem Ziel wohl am nächsten gekommen. Aber auch im „Rheingold“-Vorspiel, im Finale der „Götterdämmerung“, im Liebestod der Isolde ist wohl gut zu erkennen, was ich meine.


    Mit dieser Ästhetik spielte Wagner auch Beethoven-Sinfonien. Auf ihn geht beispielsweise die Tradition zurück, das zweite Thema etwas langsamer zu nehmen.


    Es gab andere, die im 19. Jhd. unter Wagnerschen Klangvorstellungen litten. Bruckners Partituren mit ihren klar umrissenen Klangblöcken wurde von wohlmeinenden Kollegen und Schülern im Sinne des Wagnerschen Mischklangs uminstrumentiert. – Ferner gab es zu dieser Zeit ja auch gewaltige Veränderungen im Orchester. Um große Säle zu füllen, wurden die Streichinstrumente in Richtung größerer Lautstärke umgebaut und mit Metallsaiten versehen, die man viel stärker anspannen konnte als die alten Darmsaiten. Holzbläserfarben wurden entindividualisiert und einander angenähert, damit sich – im Sinne Wagners – alles mit allem mischen könne.


    Im Ergebnis wurde Rhetorik und Intellekt ersetzt durch Farbe, Klangstrom und Gefühl.


    Das spätromantische Orchester kam dann in Werken wie Mahlers 8. Sinfonie, Schönbergs Gurreliedern und Strauss‘ Elektra an seine Peripetie, es gab kein „noch grösser, noch überwältigender, noch mehr Farbkombinationen“. Schon bei den genannten Werken von Mahler und Schönberg gibt es ja aufgrund der Schallgeschwindigkeit (ca. 330 m/s) nicht unerhebliche Probleme der Koordination. Zwei Musiker, die 33m auseinander musizieren, hören voneinander mit 1/10s Verzögerung. Versucht der erste, sich hörend an den zweiten anzupassen, so addieren sich die Differenzen und der zweite hört das Spiel des ersten dann schon mit 1/5s Verzögerung.


    Aber sicher war nicht nur dies der Grund, warum es eine Gegenbewegung gab, die etwa in den Kammersinfonien Schönbergs, in der „Ariadne auf Naxos“ und den „Metamorphosen“ von Richard Strauss, in Weberns Sinfonie op. 21 und Hindemiths Kammermusiken ihren Ausdruck fand. Die kleine Besetzung mit ihrer Durchsichtigkeit war angesagt. - Natürlich wurde weiterhin für das große spätromantische Sinfonieorchester komponiert.


    Wenn man so will, war das spätromantische Beethoven-Bild, das uns durch Dirigenten wie Weingartner und Furtwängler überliefert ist, also eine Modeerscheinung, da seine ästhetischen Grundlagen schon längst aus der Mode gekommen sind!


    Einige hier im Forum und auch ein prominenter Dirigent, der gerade Beethoven-Sinfonien mit einem bekannten Wiener Orchester aufgenommen hat, behaupteten hingegen, HIP sei eine Modeerscheinung. Das ist grundfalsch. Modeerscheinung war die Beethoven-Wiedergabe mit Wagner-Ästhetik, auch wenn sie mehr als hundert Jahre in Geltung war. Ob HIP eine Modeerscheinung ist, wird erst die Zukunft zeigen. Momentan wächst, blüht und gedeiht HIP, und die meisten „konventionellen“ Orchester haben längst von den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis gelernt.


    Niemand wird bestreiten, dass uns die Tradition des 19. Jahrhunderts äußerst überzeugende Beethoven-Interpretationen geliefert hat. Wiederum wären Weingartner, Furtwängler und andere zu nennen. Man hört diese Aufführungen noch heute mit Gewinn, obwohl wir wissen, dass sehr viele – und entscheidende! – Vortragsanweisungen Beethovens dabei nicht beachtet wurden.


    Ich fühle mich erinnert an das geozentrische Weltbild – die Erde in der Mitte, und Sonne, Mond und Planeten kreisen um sie herum. Dann kamen Galilei und Kopernikus – ein völlig neuer Ansatz: Nicht die Erde, sondern die Sonne ist das Zentrum.


    Das durfte natürlich nicht wahr sein. Die Kirche hätte sonst zugeben müssen, dass sei einen Fehler gemacht hatte. Undenkbar - denn die Kirche stand für ewige Wahrheiten. Also wurde Galilei mundtot gemacht. Dabei wäre es so einfach: Man hätte nur durch Galileis Fernrohr sehen müssen, um sich von der Plausibilität seines Weltbildes zu überzeugen. – Wie bei Beethoven-Partituren, in die man nur hineinsehen muss, um die Tempovorschriften zu lesen, um zu sehen, wo Sforzati stehen.


    Wie ist es zu erklären, dass Musiker wie René Leibowitz und andere, die diesen Blick in die Partituren riskierten und es wagten, Beethoven beim Wort zu nehmen, nur mit Orchestern aus der zweiten und dritten Reihe arbeiten konnten? Wie kam es, dass keine der großen Plattenfirmen an Aufnahmen dieser Arbeiten interessiert waren? Fürchteten die Labels, dass ihre Lagerbestände mit Furtwängler, Klemperer, Böhm und anderen wertlos würden, wenn die Fehler der althergebrachten Interpretationen entlarvt würden? Fürchteten die Orchester, dass ihr Status als Hort des Wissens „wie man das spielt“ beschädigt würde, wenn einer käme, der Beethoven so spielt, wie es geschrieben steht?


    Toscanini war vielleicht der prominenteste, der sehr nah an Beethovens Vorgaben musizieren ließ. Doch wie bemüht klang das bisweilen, es hatte etwas Zwanghaftes. Wie gelassen und erhaben klang Beethovens Musik dagegen bei Furtwängler! War das nicht der Beweis, welche Sichtweise die „richtige“ war?


    Nur langsam. Selbst, als man das galileisch-kopernikanische Weltbild akzeptierte, waren die astronomischen Vorhersagen, die man damit traf, weniger genau, als die Vorhersagen, die sich aus den komplizierten Modellen der alten geozentrischen Sicht ergaben. Ganz einfach, weil die Eichparameter des falschen Modells über Jahrhunderte in der Praxis soweit optimiert wurden, dass man die Wirklichkeit damit nachvollziehbar beschreiben und belastbare Vorhersagen treffen konnte. Diese Zeit des Eichens und Nachjustierens hatten die Nachfolger von Galilei und Kopernikus nicht – und warum darum anfangs unterlegen. Das falsche Modell lieferte also vorerst bessere Ergebnisse als das richtige.


    So mag es denn sein, dass die Ergebnisse Furtwänglers und anderer sich zunächst überzeugender anhörten als die Aufnahmen Leibowitz‘ und Gleichgesinnter. Doch spätestens seit HIP haben wir alle mehrere Aufnahmen gehört, die Beethovens Vorgaben umsetzen, spätromantische Zutaten vermeiden und ein überzeugendes Konzept präsentieren. Und dies in spieltechnisch einwandfreier Weise.


    Wenn nun ein Dirigent Beethoven-Sinfonien wieder mit spätromantischen Mitteln spielen ließe – wäre das nicht gleichbedeutend mit dem Versuch, die Welt wieder geozentrisch zu erklären? Wozu sollte das gut sein?

  • Lieber Wolfram,


    Deinem höchst ausführlichen, kompetenten und schalcih formulierten Beitrag gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen.


    Von meiner Seite möchte ich nur ergänzen, daß wir dan HIP und den ersten Einspielungen von Leibowitz etc. Beethoven wieder als das erleben dürfen, was er in seinen Orchesterwerken immer war: höchst drammatisch und revolutionär. Wie du selbst es beschrieben hast vom ersten Akkord der 1. Sinfonie an bis zum Aufbrechen der sinfonischen Form in der Neunten. Ein Anliegen, wie es auch Harnoncourt formuliert hat: Dem heutigen Hörer den revolutionären Geist der Musik hörbar machen. Das Schöne dabei ist: Eigentlich muß dazu nur in die Partitur schauen und Beethoven Ernst und beim Wort nehmen!


    Ich bin mir aber sicher, daß nicht alle Beiträge in diesem Thread auf diesemsachlichen und fundierten Niveau erfolgen werden, geht es doch wieder einm,al um die Rage HIP oder nicht, die bei manchen Reflexe auslösen, die nicht zu erklären sind. Vielleicht auch deshalb weil es für diese Reflexe keine Argumente gibt. Ich sehe jedenfalls den möglichen Beiträgen einiger Mitglieder einerseits mit einem süffisanten Lächeln entgegen andererseits wird es nicht ausbleiben, daß ich wieder über Halbwissen und Ignoranz mich werde echauffieren müssen.


    Danke für deinen Beitrag!

  • Werte Leser,


    zum Einen haben wir es in der Musik nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun, die mathematisch oder durch Beobachtungen und Experimente fundiert sind .


    Die Freiheit der Kunst ist die Grundlage der Musik. Und diese Freiheit ist ein Gut, an dem noch jedes totalitäre System gescheitert ist.


    Musik ist aber immer auch ein Ausdruck von Zeitgeist. Man muss akzeptieren , das eine wagnerianische Aufführungspraxis über einen gewissen Zeitraum einen Erfolg beim Publikum gehabt hat. Und hier ist der wichtige, zweite Aspekt der Musik: Sie muss gehört werden. Ohne Hörer ist die Musik nichts. Viele Hörer bedeuten Erfolg für den Musiker. Er wird bekannt, erreicht ein höheres Ansehen, wird populär.


    Und an diesem Populismus kann eine Musik scheitern. Nämlich wenn sie sich der Masse anbiedert. Wenn der künstlerische Anspruch, der in einer Partitur steckt, zugunsten eines Erfolges bei einer Masse umgedeutet wird.


    Masse in der Musik ist mir suspekt. Egal in welcher Form. Sie saugt auf, macht gleich, verkürzt und hält sich nur rudimentär an die Partitur.


    Gibt es nicht etwas ähnliches im Universum?


    Viele Grüße Thomas

  • Werte Leser!


    zum Einen haben wir es in der Musik nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun, die mathematisch oder durch Beobachtungen und Experimente fundiert sind .


    Da möchte ich schon widersprechen und rufe Joseph Haydn in den Zeugenstand, der folgendes zu Leopold Mozart sagte:


    Ich sage ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und den Nahmen nach kenne: er hat Geschmack, und über das die größte Compositionswissenschaft.


    Keinesfalls möchte meine Worte dahingehend missverstanden wissen, dass ich behaupten würde, Musik würde sich in ihren wissenschaftlichen Anteilen erschöpfen. Dennoch gibt es ja den Berufsstand der Musikwissenschaftler, die sich täglich mit ihrer Kraft darum zu bemühen, diejenigen Anteile der Musik, die dem wissenschaftlichen Geist und dessen Methoden zugänglich sind, mit ihren Mitteln zu bearbeiten und die Ergenisse festzuhalten. Kein kleiner Berufsstand, und erst kein unproduktiver.


    Die Freiheit der Kunst ist die Grundlage der Musik. Und diese Freiheit ist ein Gut, an dem noch jedes totalitäre System gescheitert ist.


    Auch hier möchte ich widersprechen. Wohl ist die künstlerische Freiheit ein hohes Gut! Doch ihr Spielfeld ist begrenzt. In der Musik ist die Freiheit des wiedergebenden, des nachschaffenden Künstlers begrenzt durch die Vorgaben des Komponisten. Wohl mag man im Einzelfall davon abweichen - wir erleben dies im Regietheater wie bei den Beethoven-Wiedergaben Furtwänglers. Doch zu rechtfertigen hat sich nur derjenige durch seine künstlerischen Ergebnisse, der von den Vorgaben abweicht, nur derjenige, der die vom Werk gesteckten Grenzen überschreitet. Ich möchte hinzufügen: Furtwängler ist dies in überwältigender Wiese gelungen!


    Nicht zu rechtfertigen hat sich hingegen derjenige, der die Vorgaben des Werkes respektiert.


    Musik ist aber immer auch ein Ausdruck von Zeitgeist. Man muss akzeptieren , das eine wagnerianische Aufführungspraxis über einen gewissen Zeitraum einen Erfolg beim Publikum gehabt hat. Und hier ist der wichtige, zweite Aspekt der Musik: Sie muss gehört werden. Ohne Hörer ist die Musik nichts. Viele Hörer bedeuten Erfolg für den Musiker. Er wird bekannt, erreicht ein höheres Ansehen, wird populär.


    Nun will ich nicht gleich André Rieu zur Widerlegung anführen. Es wäre durchaus ein Kategorienfehler. Doch: Wenn jahrzehntelang Beethoven gegen die Vorgaben der Partitur aufgeführt wurde - wie hätte denn das Publikum wissen sollen, welche eklatanten Verbiegungen da vorgenommen wurden? Auf dem Programmzettel stand ein berühmtes Orchester, ein berühmter Dirigent - sollte das Publikum nicht davon ausgehen, dass es schon seine Richtigkeit hat, wenn Beethoven von diesen aufgeführt wird?


    Wenn die Kirche sagt, dass sich die Sonne um die Erde drehe - dann muss es doch wohl stimmen, nicht wahr?


    Der Erfolg beim Publikum ist ein fragwürdiges Kriterium zur Beurteilung einer Wiedergabe. Mag sein, dass der Erfolg beim Publikum etwas aussagt über das Charisma eines Künstlers, ja, sogar über seine Fähigkeiten als Demagoge. In wie weit der Erfolg beim Publikum ein Maßstab dafür sein kann, wie gut die Vorgaben der Partitur umgesetzt wurden, das sei doch mal dahingestellt. Wer im Publikum kann Partituren lesen und hat tatsächlich hineingesehen, um kritisch zu prüfen?

  • Ich fühle mich erinnert an das geozentrische Weltbild – die Erde in der Mitte, und Sonne, Mond und Planeten kreisen um sie herum. Dann kamen Galilei und Kopernikus – ein völlig neuer Ansatz: Nicht die Erde, sondern die Sonne ist das Zentrum.


    Zitat von ders.

    Mein Favoriten für die erste wären:


    1. Furtwängler 1952 oder Klemperer 1957 - im Zweifelsfalle Furtwängler
    2. Leonard Bernstein, Wiener Philharmoniker
    3. Nikolaus Harnoncourt


    Zählst Du das geozentrische Weltbild auch nach wie vor zu Deinen favorisierten wissenschaftlichen Theorien? :baeh01:


    Ich glaube, die Kunst kann sich die Freiheit erlauben, zwei an sich widersprüchliche Weltbilder in friedlicher Koexistenz bestehen zu lassen. Dem "Richtig" und "Falsch" im Sinne empirischer oder logischer Beweisbarkeit, das bei einem Erklärungsmodell des Kosmos letzlich endgültig und bindend ist, muss und darf sich die musikalische Interpretation meines Erachtens nicht unterwerfen.
    Selbst wenn das korrekte Einhalten von gewissen Partiturvorgaben erst mal zu objektiver Richtigkeit führen muss, ist dennoch nicht unbedingt gesagt, dass ein Maestro Chailly der Ursprungsintention Beethovens zwangsläufig näher kommt als ein Dr. Furtwängler, der diese Vorgaben sehr frei handhabt, aber -rein hypothetisch- in seiner subjektiven Ausdeutung zufällig genau Beethovens beabsichtigten Ausdruck trifft. Nicht, dass ich das wirklich glaube, aber anders als in der zum Vergleich herangezogenen Astronomie ist der Gegenbeweis eben nicht so ohne Weiters zu erbringen.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Zählst Du das geozentrische Weltbild auch nach wie vor zu Deinen favorisierten wissenschaftlichen Theorien?


    Na ja, die Wissenschaft ist längst über den Gegensatz von "geozentrisch" und "heliozentrisch" hinweg. Man nimmt dasjenige Weltbild (heute nennt man das "Koordinatensystem"), in dem man die Phänomene, die einen gerade interessieren, am einfachsten beschreiben kann.


    Um Luftbewegungen in der Atmosphäre zu beschreiben, ist ein geozentrisches Koordinatensystem perfekt. Der Mittelpunkt der Erde ist der Mittelpunkt des Koordinatensystems (also der Welt), in dem ich die Strömungen beschreibe. Dieses System ist aber ungeeignet, um etwa die Bewegung der Jupitermonde zu beschreiben.


    Um Planetenbewegungen im Sonnensystem zu beschreiben, bietet sich ein heliozentrisches Koordinatensystem an (genauer: ein Koordinatensystem, dessen Ursprung im gemeinsamen Schwerpunkt der beteiligten Massen von Sonnen, Planeten, derer Monde und den Asteroiden ist). Dieses Koordinatensystem (bzw. Weltbild) ist wiederum ungeeignet, um die Bewegung der Galaxien in unserer lokalen Gruppe zu beschreiben. Usw.


    Es ist aber nur eine Frage der Eignung. Natürlich kann man die Bewegungen der Jupitermonde in einem geozentrischen Koordinatensystem beschreiben - die Bewegungsgleichungen werden dann halt nur extrem unhandlich.


    Aber technisch steht dahinter nur eine Koordinatentransformation, wie sie jeder Physikstudent im Grundstudium lernt.


    Dass ich Furtwängler und Klemperer gerne mit Beethoven höre, bedeutet ja nicht, dass ich geozentrische Weltbilder bevorzuge. Ich bewundere ja auch die kunstvollen astronomischen Instrumente des Mittelalters, ohne dass ich sie heute den Astronomen zur Arbeit empfehlen würde. :hello: Von heutigen Astronomen erwarte ich, dass sie nach dem aktuellen Stand der Erkenntnis arbeiten. Und genau dasselbe erwarte ich von Musikern.

  • Lieber Wolfram


    Wenn ich an dieser Stelle "Danke für diesen Thread" sage, dann geschieht das ausnahmsweise ohne ironischen Unterton, denn ich selbst hatte - natürlich unter anderem Vorzeichen - etwas ähnliches im Sinn, war mir aber nicht sicher, ob die Mitleser und Forianer nicht allmählich der "Beethoven-Themen " überdrüssig seien. Ich selbst empfinde es als Manko des Tamino Forums, daß Themen hier oft angerissen, aber nicht weiterverfolgt werden, ein Fehler an dem ich nicht ganz unschuldig bin, wo ich aber versuchen werde mich zu bessern -weil ich ja auch Opernfreunde, jene der alten Musik und andere Musikfreunde zufriedenstellen muß....
    Ich werte Deine Initiative als ungebrochens Interesse am Thema Beethoven, und werde somit einige weitere geplante realisieren. Der Vorteil der Fokussierung auf ein Thema ist ja, daß man beim Hören in EINE Klangwelt eintauchen darf.
    (Ist natürlich schwierig - wenn - wie derzeit bei mir - zahlreiche ungehörte Cds auf einen warten)


    Zitat

    Ein Bild kann man doch nicht verhöhnen.


    Ein Weltbild kann man natürlich sehr wohl verhöhnen, und noch mehr ein Symbol, welches für dieses Weltbild steht.
    Dieses Symbol war oft eine Fahne welche verbrannt wurde, oder aber ein BILD einer verhassten Person, wenn diese real eben nicht verfügbar war.


    Klassische Musik und Symbolik. Allein das würde einen Thread füllen - aber dieser hier deckt das Thema meiner Meinung nach gut ab. Was wird oft in Richard Wagner, Pfitzner oder in das harmlose "Les Preludes " von Liszt hineinprojiziert....


    Dagegen anzukämpfen ist meines Erachtens nach sinnlos - ebenso wie es sinnlos ist das Publikum erziehen zu wollen.


    Zitat

    Einige hier im Forum und auch ein prominenter Dirigent, der gerade Beethoven-Sinfonien mit einem bekannten Wiener Orchester aufgenommen hat, behaupteten hingegen, HIP sei eine Modeerscheinung


    Das hängt davon ab, wie man HIP definiert.
    Heute wird ja meist hip mit einer Wiedergabe auf Originalinstrumenten in Verbindung gebracht, verbunden mit (angeblich) historischer Spieltechnik. (Laut N. Harnoncourt ist dies jedoch falsch)
    Diese Spieltechniken bzw der (angeblich) historische Klang haben sich im Laufe der Zeit gewandelt wie ein Chamäleon, angefangen vom eher gesofteten Klang des "Collegiom aureum" über Harnoncourts falsch klingende Bläser und jaulenden Geigen, bis zum silbrig eleganten "English Concert" (unter Trevor Pinnock) Dann durfte das staunende Publikum hören, es käme gar nicht auf die Originalinstrumente und deren Klang an (das Einzige was mich daran interessierte, nämlich der museale, historische Aspekt) sondern die Spielweise. Plötzlich plärrten "moderne" Instrumente in einer Art los, die schier ans unerträgliche grenzte - und abwohl man uns das alles als HIP verkaufte, klang es doch verdammt nach Musik des 20. Jahrhunderts.
    Ed gab dann natürlich auch gemässigte Formationen, und ich gestehe, daß ich "historische" Interpretationen durchaus schätze, ja bei manchen Komponisten (Bach, Vivaldi, früher Haydn )sogar modernen Lesarten vorziehe, aber diese Mischformen sind mir im allgemeinen eher zuwider.


    Zurück zum "Beethovenbild"
    Er wurde seit langer Zeit als "Titan" gesehen - und auch so interpretiert. Generation von Pultautoritäten haben das so gesehen, da wird es schwierig sein, wenn irgendein Kammerorchester, das eben KEINEN "Weltruf" besitzt zur Autorität hochzustilisieren - weil die meisten Menschen gar nicht bereit sind sich deren Aufnahmen zu kaufen - oder deren Konzerte zu besuchen.


    Beethovenbilder und Weltbilder haben - auch wenn ich es lange nicht wahrhaben wollte - in der Tat sehr viel miteinander zu tun.

    Zitat

    Ich fühle mich erinnert an das geozentrische Weltbild – die Erde in der Mitte, und Sonne, Mond und Planeten kreisen um sie herum. Dann kamen Galilei und Kopernikus – ein völlig neuer Ansatz: Nicht die Erde, sondern die Sonne ist das Zentrum.


    Also - man sollte mir in Hinkunft keine Sophismen und absichtlich verfälschende Vergleiche vorwerfen - nach DIESER Aussage. ZU allem Überfluß werden weiter oben noch Schönberg und Webern als Ursache für das aus der Mode kommen des spätromantischen Orchesters ins Treffen geführt (oder hab ich in meinem Eifer da was mißverstenden ??)
    Aus meiner Sicht stelt sich die Sache so dar, daß beim Großteil des Klassikpublikums Schönberg und Webern erst gar nicht in Mode kamen - von allem Nachfolgenden mal abgesehen....


    Zum "meinem" "Beethovenbild"
    Es ist ehern festgefügt - ich kenne - und besitze aber etliche alternative Einzelaufnahmen - von besonders sperrig klingenden mal abgesehen...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred



    PS:
    Ich habe an diesem Beitrag mehrere Stunden geschrieben, weil ich simultan dazu die Weinachtsbäckerei gebacken habe - Deshalb konnte ich auf zwischenzeitlich geschriebene Beiträge nicht eingehen.....

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Na ja, die Wissenschaft ist längst über den Gegensatz von "geozentrisch" und "heliozentrisch" hinweg. Man nimmt dasjenige Weltbild (heute nennt man das "Koordinatensystem"), in dem man die Phänomene, die einen gerade interessieren, am einfachsten beschreiben kann.


    Kann das in der Musik nicht ähnlich sein? Man nimmt Furtwängler, um am besten den in die Romantik vorausdeutenden emotionalen Beethoven zu erleben, Gardiner hingegen, um sich mit einem Klangbild auseinanderzusetzen, das dem der Aufführungen zu Beethovens Zeiten nahe kommt, Järvi, um herauszufinden, wie schnell man das Adagio der IX. spielen kann bis es einem nicht mehr gefällt.... Ganz ohne aktuell und überholt. Denn genau das, denke ich, gibt es in der Kunst nicht. Furtwänglers Beethoven ist einzig und allein in Sachen Aufnahmetechnik überholt.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Ganz ohne aktuell und überholt. Denn genau das, denke ich, gibt es in der Kunst nicht. Furtwänglers Beethoven ist einzig und allein in Sachen Aufnahmetechnik überholt.


    Leider, leider ... zu Fus Zeiten lagen die Erkenntnisse von HIP noch nicht vor. Dass er sie nicht berücksichtigt, kann man ihm nicht vorwerfen.


    Einen Dirigenten des Jahres 2011 muss man m. E. hingegen durchaus fragen, warum er gesicherte Erkenntnisse leugnet.

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  • Sie lagen noch nicht vor, aber er hätte danach suchen können. Partiturstudien in historischen Dokumentenarchiven waren auch zu Beginn des 20. Jhdts. keineswegs unmöglich. Ich wage aber zu bezweifeln, dass Furtwänglers künstlerische Haltung mit einer objektiven Quellenauswertung so ohne weiteres vereinbar gewesen wäre. Ich denke, die Tatsache, dass man vor der HIP-Bewegung diese Erkenntnisse nicht hatte, liegt nicht in einem naiven Nichtwissen begründet, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil auch in einem bewussten Nichtwissenwollen. Die Wissenschaft lässt für so eine Einstellung natürlich keinen Raum, würde sie sich doch damit ad absurdum führen. Aber die Kunst???

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Zitat

    Selbst wenn das korrekte Einhalten von gewissen Partiturvorgaben erst mal zu objektiver Richtigkeit führen muss, ist dennoch nicht unbedingt gesagt, dass ein Maestro Chailly der Ursprungsintention Beethovens zwangsläufig näher kommt als ein Dr. Furtwängler, der diese Vorgaben sehr frei handhabt, aber -rein hypothetisch- in seiner subjektiven Ausdeutung zufällig genau Beethovens beabsichtigten Ausdruck trifft.


    Nun, die Aussage halte ich für sehr spekulativ. Natürlich könnte man mit falschen Tempi, falschen Artikulationen und falscher Dynamik so etwas wie eine Grundintention des Komponisten treffen. Das würde ich aber sehr allgemein gefasst sehen: es gibt dramatische Largi und drammatische Allegri.
    Ich würde aber nicht behaupten wollen, nur weil Furtwängler einen bestimmten Grundgestus trifft, er deshalb den Intentionen Beethovens nahe käme. Ich schätze durch aus die furtwänglerische Bearbeitung der Sinfonien Beethovens, halte sie aber nur sehr eingeschränkt für Beethoven.


    Grundsätzlich darf man schon davon ausgehen, daß die Komponisten wußten, warum sie ein Allegro vorschrieben und nicht ein Andante, warum sie ein sforzato einzeichneten oder ein piano vorschrieben. Bisweilen gibt es gleiche Themen oder Motive, die in verschiedenen Instrumenten in verschiedenen Artikulationen übereinanderliegen (z.B. Schöpfung)

  • Meine erste Reaktion (bei Alfred bin ich zugegebenermaßen vorbelastet): So ein Blödsinn! Ein Bild kann man doch nicht verhöhnen.


    Natürlich kann man ein Bild verhöhnen. Man kann eine Karikatur davon anfertigen. Mit denen kann man genauso wirkliche Menschen verspotten wie das "Bild" von diesen Menschen. Und man kann natürlich auch ein Weltbild karikieren, bildlich oder schriftlich.


    Zitat


    Ich vereinfache jetzt: Dann kam Wagner. Der erzog seine Orchester zu einem endlosen Legato von höchster Dichte. Ein unendlicher Klangstrom schwebte ihm für seine Werke vor. Die feingliedrige, rhetorisch geprägte Artikulation galt für ihn nicht. Stattdessen sollte ein großer Schwall der geistreichen Argumentation der früheren Klangrede ein Ende machen und an deren Stelle die schiere klangliche Überwältigung setzen. Im „Parsifal“ ist er diesem Ziel wohl am nächsten gekommen. Aber auch im „Rheingold“-Vorspiel, im Finale der „Götterdämmerung“, im Liebestod der Isolde ist wohl gut zu erkennen, was ich meine.


    Das ist eine sehr starke Vereinfachung. Zwar (das wurde zufällig vor einiger Zeit anderswo angesprochen) behauptet Harnoncourt in einem seiner älteren Bücher so etwas ähnliches (Musik des 18. Jhds. "redet", Musik des 19. "malt"). Bei Wagner spricht allein der semantische Gehalt der ominösen "Leitmotive" (über die auch viel Oberflächliches behauptet wird) dafür, dass es nach wie vor gestische Musik ist.


    Zitat


    Mit dieser Ästhetik spielte Wagner auch Beethoven-Sinfonien. Auf ihn geht beispielsweise die Tradition zurück, das zweite Thema etwas langsamer zu nehmen.


    Das dürfte wohl auf das Stück ankommen, oder? Wie genau Wagner Beethoven dirigierte, wissen wir nicht. Der entscheidende Punkt ist aber, dass dieser Zugang niemals der einzige, vermutlich nicht einmal der dominante war. Dirigenten wie Mendelssohn oder Habeneck dirigierten Beethoven in derselben Zeit "klassizistisch", u.a. mit wesentlich zügigeren Tempi als Wagner (sofern sich das aufgrund von meist vagen Beschreibungen überhaupt rekonstruieren lässt)


    Zitat


    Im Ergebnis wurde Rhetorik und Intellekt ersetzt durch Farbe, Klangstrom und Gefühl.


    Naja.. s.o.


    Zitat


    Wenn man so will, war das spätromantische Beethoven-Bild, das uns durch Dirigenten wie Weingartner und Furtwängler überliefert ist, also eine Modeerscheinung, da seine ästhetischen Grundlagen schon längst aus der Mode gekommen sind!


    Und das ist leider einfach falsch. Du hast anscheinend nie eine der Aufnahmen Weingartners gehört. Weingartner ist ungefähr das Gegenteil von Furtwängler, sehr ähnlich Toscanini. Ich habe vor einiger Zeit mal im Thread zur 9. einige Adagios im Vergleich gehört. Weingartner ist hier einer der fließendsten und durchsichtigsten vor HIP.
    Du bist auf Alfreds Vorgabe insofern reingefallen, dass Du die falsche Behauptung übernommen hast, es hätte so etwas wie eine einheitliche Spielweise bei Beethoven gegeben und Furtwängler sei bis etwa zum 2. WK oder so das Leitbild gewesen. Und dann das "Abkratzen" des Firnis der Tradition durch die HIPisten (nur mit unterschiedlicher Bewertung...).
    Das ist einfach nicht richtig.
    Ich weiß nichts über die Zeit bis 1900, aber in der Zwischenkriegszeit war ein romantischer Zugang mit langsamen Grundtempi, starken rubati usw., wie ihn Furtwängler pflegte, einer unter vielen und rein statistisch eher die Ausnahme. Von den 5 Dirigenten auf dem berühmten Photo war er er einzige, der so dirigierte. Bruno Walter wurde später etwas langsamer, er war nie so "frei" (resp. "willkürlich") wie Furtwängler (ähnlich Klemperer; Toscanini und E. Kleiber waren immer tendenziell schnell und schlank. Die MET-Mitschnitte des Fidelio und Don Giovanni (ca. 1940-42) unter Walter sind rasant, teils in meinen Ohren zu schnell. Albert Coates nahm um 1930 eine Eroica auf, die bis Scherchen und Leibowitz vermutlich die schnellste gewesen ist, rasanter als viele HIPisten.
    Es gab einen Pluralismus von Zugangsweisen, vermutlich haben wir erst seit der Flexibilisierung der HIP-Tradition, etwa ab Harnoncourts Zyklus, eine ähnliche Spannweite (wobei natürlich von den seinerzeitigen "romantischen" Spielarten viele verschwunden sind).


    Zitat


    Einige hier im Forum und auch ein prominenter Dirigent, der gerade Beethoven-Sinfonien mit einem bekannten Wiener Orchester aufgenommen hat, behaupteten hingegen, HIP sei eine Modeerscheinung. Das ist grundfalsch. Modeerscheinung war die Beethoven-Wiedergabe mit Wagner-Ästhetik, auch wenn sie mehr als hundert Jahre in Geltung war. Ob HIP eine Modeerscheinung ist, wird erst die Zukunft zeigen. Momentan wächst, blüht und gedeiht HIP, und die meisten „konventionellen“ Orchester haben längst von den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis gelernt.


    Das folgt ja nicht auseinander. Wenn das eine eine Modeerscheinung ist, kann das andere auch eine sein. Oder auch nicht. Außerdem s.o., ist es falsch, dass es 100 Jahre lang einen einheitlichen Stil gegeben hätte, Beethoven zu interpretieren. Toscanini und Walter dirigierten nichtmal Wagner, mit dem, was wir heute unter Wagner-Ästhetik verstehen, erst recht nicht Beethoven.


    Zitat


    Niemand wird bestreiten, dass uns die Tradition des 19. Jahrhunderts äußerst überzeugende Beethoven-Interpretationen geliefert hat. Wiederum wären Weingartner, Furtwängler und andere zu nennen. Man hört diese Aufführungen noch heute mit Gewinn, obwohl wir wissen, dass sehr viele – und entscheidende! – Vortragsanweisungen Beethovens dabei nicht beachtet wurden.


    Das ist ein kruder Positivismus, der den Entscheidungen, die Interpreten immer treffen müssen, nicht gerecht wird und dem ersten Satz des Abschnittes widerspricht Wir haben schlicht keine Ahnung, wie explosiv Beethoven sforzati usw. haben wollte. (Das einzige, was angesichts der wenigen seinerzeitigen Proben ziemlich klar ist, ist, dass er bei der Orchestermusik niemals mit der "Mikrodynamik", mit einem minutiös kontrollierten Klangbild, mit rubati usw. rechnen konnte, wie wir es heute sowohl bei traditionellen wie bei einigen HIP-Aufnahmen finden. Das heißt aber nicht, dass er nicht vielleicht darauf gehofft hätte. Habeneck hat in den 1830ern angeblich in Paris ein halbes Jahr oder so für die 9. Sinfonie geprobt.)
    Das kommt ganz sicher auch auf den Zusammenhang an (in einem langsamen Satz sf vielleicht anders als in einem Scherzo usw.) Ein Interpret muss hier zu seinem Bild des Werkes kommen und sehen, was ingesamt, in der gesamten Dramaturgie am besten funktioniert. Die Rechtfertigung ist am Ende, ob eine überzeugende Beethoveninterpretation herauskommt.
    Und anscheinend sind wird uns doch einig (auch wenn du zwischendurch anders argumentierst), dass ein Pluralismus hier wünschenswert ist.
    Die Werke sind offenbar so reichhaltig, dass eine Interpretation nicht alle Aspekte gleichermaßen zur Geltung bringen kann


    Zitat


    Wie ist es zu erklären, dass Musiker wie René Leibowitz und andere, die diesen Blick in die Partituren riskierten und es wagten, Beethoven beim Wort zu nehmen, nur mit Orchestern aus der zweiten und dritten Reihe arbeiten konnten? Wie kam es, dass keine der großen Plattenfirmen an Aufnahmen dieser Arbeiten interessiert waren? Fürchteten die Labels, dass ihre Lagerbestände mit Furtwängler, Klemperer, Böhm und anderen wertlos würden, wenn die Fehler der althergebrachten Interpretationen entlarvt würden? Fürchteten die Orchester, dass ihr Status als Hort des Wissens „wie man das spielt“ beschädigt würde, wenn einer käme, der Beethoven so spielt, wie es geschrieben steht?


    s.o. Wieder ist es doch kaum zielführend, Furtwängler, Klemperer und Böhm in einem Atemzug zu nennen. Die unterscheiden sich in vielen Hinsichten (ebenso oder eher mehr wie sich Brüggen, Gardiner und Harnoncourt unterscheiden). Leibowitz' Orchester war übrigens Beechams "Royal Philharmonic", also keineswegs ein Provinzorchester.


    Zitat


    Toscanini war vielleicht der prominenteste, der sehr nah an Beethovens Vorgaben musizieren ließ. Doch wie bemüht klang das bisweilen, es hatte etwas Zwanghaftes. Wie gelassen und erhaben klang Beethovens Musik dagegen bei Furtwängler! War das nicht der Beweis, welche Sichtweise die „richtige“ war?


    Das ist jetzt eine persönliche Einschätzung, die wohl kaum verbreitet geteilt wird. Toscaninis Beethoven ist in über 60 Jahren praktisch nie aus dem Katalog verschwunden und wird offenbar von vielen Musikkennern geschätzt. "gelassen" ist außerdem etwas anderes als "erhaben". Ich bin kein großer Furtwängler-Fan, aber "gelassen" ist so ungefähr das letzte, was mir für seine Lesart typisch scheint.


    Zitat


    Wenn nun ein Dirigent Beethoven-Sinfonien wieder mit spätromantischen Mitteln spielen ließe – wäre das nicht gleichbedeutend mit dem Versuch, die Welt wieder geozentrisch zu erklären? Wozu sollte das gut sein?


    Jeder Interpret muss sich neu mit den Werken auseinandersetzen. Es gibt vielleicht einen philologischen Forschungsstand, aber keinen interpretatorischen. Diese Verantwortung kann man nicht abwälzen. Zudem gibt es durchaus Beispiele, dass "Tradition" oder Intuition sich als sinnvoller erwiesen haben als fehlgeleiteter Literalismus. (Wie unlängst an der umstrittenen alla marcia-Passage "Froh wie seine Sonnen fliegen" angesprochen.) Es gibt auch sehr viel mehr Aspekte in der Musik als "korrekte" Tempi und Akzente. Nur lassen die sich halt nicht ganz so einfach beschreiben und in "richtig" und "falsch" einteilen. Kann ja sein, dass "neoromantische" Versuche heute meist scheitern. Aber ohne Ausprobieren kann man das nicht sagen. Ich habe weder Pletnevs (da fiand ich einige Schnipsel allerdings abschreckend) noch Thielemanns Beethoven gehört, aber Barenboims habe ich als durchaus hörenswert in Erinnerung.

    Struck by the sounds before the sun,
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    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Gut gebrüllt, Löwe! :hello:

    Natürlich kann man ein Bild verhöhnen. Man kann eine Karikatur davon anfertigen. Mit denen kann man genauso wirkliche Menschen verspotten wie das "Bild" von diesen Menschen. Und man kann natürlich auch ein Weltbild karikieren, bildlich oder schriftlich.


    Ach, komm, Johannes - verhöhnen kann man nur jemanden, der auch das Gefühl der Verhöhnung empfinden kann. Verhöhnung braucht ein personales Gegenüber. Auf meinem Couchtisch liegen Glasuntersetzer - wenn ich die verhöhne, ist das eine Verhöhnung? Ich meine, nicht. Vielleicht kann ich den Designer der Untersetzer verhöhnen, in dem ich unfreundliche Dinge über seine Werke sage.


    Das ist eine sehr starke Vereinfachung.


    Ja - das habe ich ja gesagt.


    Wagner spricht allein der semantische Gehalt der ominösen "Leitmotive" (über die auch viel Oberflächliches behauptet wird) dafür, dass es nach wie vor gestische Musik ist.


    Nein. Nur, weil die Leitmotive semantischen Inhalt haben, sind sie noch lange nicht rhetorisch formuliert. Sie stehen Bildern, genauer: Piktogrammen näher als Wörtern ("Schwertmotiv", "Schlafmotiv", "Schmiedemotiv", "Vertragsmotiv" usw.).


    Wie genau Wagner Beethoven dirigierte, wissen wir nicht.


    Richtig. Aber die Tradition des langsameren zweiten Themas lässt sich recht eindeutig auf ihn zurückführen.


    Dirigenten wie Mendelssohn oder Habeneck dirigierten Beethoven in derselben Zeit "klassizistisch",


    Wie Mendelssohn und Habeneck dirigierten, wissen wir ungefähr so genau wie bei Wagner.


    Du bist auf Alfreds Vorgabe insofern reingefallen, dass Du die falsche Behauptung übernommen hast, es hätte so etwas wie eine einheitliche Spielweise bei Beethoven gegeben


    Na na ... ich habe beispielsweise zwischen Furtwängler und Toscanini unterschieden ... halten zu Gnaden ...


    Die Rechtfertigung ist am Ende, ob eine überzeugende Beethoveninterpretation herauskommt.


    Da stimme ich Dir zu! Ich lasse Furtwänglers Beethoven ja gelten.


    Und anscheinend sind wird uns doch einig (auch wenn du zwischendurch anders argumentierst), dass ein Pluralismus hier wünschenswert ist.


    Der Primat gebührt den Wünschen des Komponisten. Wer davon abweicht, muss sich rechtfertigen. Idealerweise nicht mit weitschweifigen Worten (wie manche Regisseure des Regietheaters), sondern alleine mit der Schlüssigkeit des künstlerischen Ergebnisses (wie bei Furtwängler).


    Die Werke sind offenbar so reichhaltig, dass eine Interpretation nicht alle Aspekte gleichermaßen zur Geltung bringen kann


    Ich stimme Dir zu - und habe das an anderen Stellen mehrmals betont.


    Zitat von Wolfram

    War das nicht der Beweis, welche Sichtweise die „richtige“ war?


    Das ist jetzt eine persönliche Einschätzung, die wohl kaum verbreitet geteilt wird.


    Mein Satz "War das nicht der Beweis" war natürlich nur eine rhetorische Frage. Andere haben so argumentiert. Meine persönliche Einschätzung ist das nicht.


    Es gibt vielleicht einen philologischen Forschungsstand, aber keinen interpretatorischen.


    Doch, es gibt auch einen interpretatorischen Forschungsstand. -> Nächster Beitrag.

  • Zitat

    Grundsätzlich darf man schon davon ausgehen, daß die Komponisten wußten, warum sie ein Allegro vorschrieben und nicht ein Andante, warum sie ein sforzato einzeichneten oder ein piano vorschrieben. Bisweilen gibt es gleiche Themen oder Motive, die in verschiedenen Instrumenten in verschiedenen Artikulationen übereinanderliegen (z.B. Schöpfung)


    Als Intepret muß ich mich ja tagtäglich der Frage nach dem Umgang mit einer Komposition stellen. Ich halte Angaben des Komponisten (nicht eines Herausgebers)wie Tempo, Vortragsbezeichnung, Artikulation oder Dynamik zunächst einmal für gegeben und nicht verhandelbar. Es ist kein Wunder, daß Musiker meiner Generation und meines musikalsichen Repertoires bevorzugt aus Mikrofilmkopien des Autographes oder Faksimiles spielen. Daß Druckfehler vorhanden sind, sogar in reichöichem Umfang ist keine Frage, meist lassen sie sich aber aufgrund einer Stilanalyse und vor dem Hintergrund der Stimmführungs- und harmonischen Regeln der jeweiligen Zeit entscheiden. Aber schon hier beginnt der Moment, wo ich mich als Interpret und Wissenschafler rechtfertigen muß!
    Die Wahl meines Instrumentariums hängt nun zunächst einmal von der Frage der Realisierbarkeit dieser Vorgang auf dem jeweiligen Instrumentarium ab. Es ist sehr aufschlußreich, daß sich meist schon an der Fakture, besonders der Tessitura einer barocken oder klassischen Sonate erkennen läßt, in welchem regionalen Umfeld sie entstanden ist, weil sie normalerweise die Stärken des dort verwendeten Instrumententypes nutzt und die Schwächen meidet. So sehen etwa Bläserpartien Telemanns anders aus als Bläserpartien Purcells.


    Wenn nun aber die Vorgaben des Komponisten auf einem bestimmten Instrumentarium nicht verwirklichbar sind, dann fällt dieses Instrumentarium zunächst einmal weg. Oder aber ich passe mich dem Instrumentarium an, das allerdings in dem Wissen, mich schon jetzt entscheidend von der Komposition zu entfernen.
    Ich kann natürlich versuchen, mich mit meiner Bearbeitung den originalen Vorstellungen der Partitur zu nähern. Dazu muß ich aber wissen, wie z.B. das originale Tempo mit der originalen Artikulation und der originalen Dynamik und Klangbalance klingt. Vor diesem Hintergrund kann ich dann Anpassungen in Instrumentation, Tempo etc. vornehmen, um der "originalen", der vom Komponisten überleiferten Gestlat nahezukommen.


    Grundsätzlich das Problem sind dabei aber nicht die notierten Angaben (wobei viele schon daran scheitern), sondern die nicht notierten Charakteristika. Hier kann man sich nur auf Anhaltspunkte, die uns in den theoretischen Schriften der Zeit überliefert sind, stützen. Genau hier muß ich mich zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden, hier beginnt meine Arbeit als Interpret, hier liegt der Schlüssel zu meiner persönlichen Sicht der Dinge.
    Natürlich steht es jedem frei, diese Wissen um aufführungspraktische Gegenbenheiten außen vor zu lassen. Nur müßte man dann auch so realistisch zu sein, sich einzugestehen, daß ich mich damit von z.B. Beethoven, Mozart oder Bach sehr weit entferne und eigentlich nur noch eine Bearbeitung dieser Werke für die klanglichen Möglichkeiten und das ästhetische Empfinden einer anderen Zeit vornehme. Das ist letztendlich nichts anderes als die Bachinterpretation mit den stilistishen Merkmalen des Jazz durch Jaques Loussier oder der Fassung der "Bilder einer Ausstellung" von Emerson, Lake & Palmer.
    In diesem Sinne würde ich die Interpretationen von Sinfonien Beethovens durch furtwängler als faszinierende musikalische Erlebnisse bezeichnen, die bestimmte Elemente inb der Musik freilegen, die nur bei ihm zu hören sind. Gleichwohl scheue ich davor zurück, diese Interpretation als im Geiste Beethovens zu bezeichnen, ganz einfach weil diese besagten Elemente nur freigelegt werden, indem die überlieferten Anweisungen des Komponisten in der Partitur z.T. grundlegend leugnen. In meinen Augen ist hier die Schwelle der Interpretation hin zu einer Bearbeitung, zu einer Neudeutung des Werkes, die in entscheidendem Maße auf der subjektiven emotionalen Haltung des Interpreten beruht, bereits überschritten.

  • Bei den Organisten sind die Dinge, die bei Beethoven derzeit im Gange sind, längst klar entschieden.


    Niemand, aber auch niemand spielt die Orgelwerke Bachs so, wie man das etwa bis in die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg tat - mit großen Crescendi und Decrescendi, mit dichtem Legato, mit großen romantischen Maschinenorgeln, mit romantischer Phrasierung und riemannscher Artikulation.


    Die letzte Einspielung dieser Art war mit Käte van Tricht auf einer großen Sauer-Orgel im Dom zu Bremen. Nach der Ausgabe der Bachschen Orgelwerke von Karl Straube. Historisch interessant, aber heute spielt keiner mehr nach der Straube-Ausgabe.


    Ich frage mich, wie lange es bei Mozarts und Beethovens Orchesterwerken noch dauern mag, bis die spätromantischen Zutaten überwunden sind.

  • Hallo Wolfram,


    ach ja, die Musikwissenschaft. Was ist das eigentlich für eine Disziplin? Arbeitet sie auch mit mathematischen Formeln? Werden dort auch für Behauptungen und Theorien rechnerische Gegenbeweise gefordert?


    Oder durch einen immensen technischen Aufwand Beobachtungen gemacht, die dann erbringen, das wir, die doch alles zu Wissen glauben, im Endeffekt nur einen milliardsten Bruchteil sehen, an der Wirklichleit höchstens kratzen in der Erkenntniss, das es immer wieder Neues zu erforschen gilt?


    Um Mißverständnisse vorzubeugen: Ich halte die Musikwissenschaft für eine wichtige Disziplin, wie alle humanistischen Fächer. Aber sie als "Gegenbeweis" zur Astronomie anzuführen für Schwachsinn.




    Zitat

    Auch hier möchte ich widersprechen. Wohl ist die künstlerische Freiheit ein hohes Gut! Doch ihr Spielfeld ist begrenzt. In der Musik ist die Freiheit des wiedergebenden, des nachschaffenden Künstlers begrenzt durch die Vorgaben des Komponisten.


    was ist der Komponist anderes als ein Künstler? Dessen Komposition wieder der künstlerischen Interpretation unterworfen wird.



    Hallo flutedevoix,


    danke für deinen Beitrag. Was du schreibst finde ich immer sehr lesenswert und sind Highlights hier im Forum.


    Viele Grüße Thomas

  • Lieber Thomas Sternberg


    was ist der Komponist anderes als ein Künstler? Dessen Komposition wieder der künstlerischen Interpretation unterworfen wird.


    Diese Aussage, so ich sie denn richtig gedeutet habe, überrascht mich doch sehr. Stammt sie doch von einer Person, die ich eher als Verfechter einer partiturgetreuen Beethovenwiedergabe einschätzen würde. Oder liege ich da falsch?



    An sich entspricht das nämlich genau meiner Sicht der Dinge.


    Dass die Musikwissenschaft eben nicht die bindende Vorgabe an den ausführenden Künstler, sondern eine gewissermaßen parallel laufende Auseinandersetung mit dem selben Gegenstand ist; die jeweiligen Erkenntnisse beider Stränge können sich beeinflussen, müssen dies aber nicht. Denn auch die Musikwissenschaft ist keineswegs in ihren Schlüssen rein objektiv und eindeutig, mithin also einer Naturwissenschaft in idealtypischer Ausprägung nicht vergleichbar.
    Wenn nun der Musikhistoriker zu einem anderen Ergebnis kommt als der Interpret, heißt das demzufolge auch nicht, dass einer der beiden vollkommen im Unrecht ist. Für mich sind das letztlich nur zwei verschiedene Denkanstöße, um mich mit einem bestimmten Kunstwerk zu beschäftigen. Welche Richtung ich dann eher favorisiere, ist dann eher dem subjektiven Empfinden geschuldet als einer objektiven Erkenntnis.



    Deshalb noch mal meine Frage an Thomas Sternberg:


    Siehst Du denn die Sichtweise eines Furtwängler oder eines Klemperer als künstlerisch gleichwertig mit der eines Krivine oder Gardiner?
    Gemäß obigem Zitat, welches eine gewisse Abneigung gegen eine normative Musikwissenschaft anklingen ließ, müsste dies ja der Fall sein. Dennoch beziehst Du ansonsten klar Stellung für Aufnahmen aus dem Bereich der Hip-Bewegung, mithin also pro Partiturtreue. Ist das dann Deine subjektive Präferenz, weiter nichts?


    Und woher kommt das Beharren auf zeitgenössichen Interpretationen?

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Die Frage ist zwar nicht an mich gerichtet, reizt mich dennoch gleichwohl zur Antwort:


    Zitat

    Dass die Musikwissenschaft eben nicht die bindende Vorgabe an den ausführenden Künstler, sondern eine gewissermaßen parallel laufende Auseinandersetung mit dem selben Gegenstand ist;


    Nicht die Musikwissenschaft macht die Vorgaben, sondern der Komponist mit seinem Werk, mit seinen Angaben zum Werk, das natrülich vor dem Hintergrund einer zeitgemössischen Musizierpraxis entstanden ist. Zudem ist dieses Werk primär für eine Aufführung in dieser Zeit entstanden, nicht für die Aufführung in einer Zukunft. Zumal die Realität bis ca.1820 ist, daß geschätzt 90% aller Kompositionen nur inb ihrer Entstehungszeit aufgeführt wurden.
    Aufgabe einer Musikwissenschaft ist es nicht, dem Künstler die interpretatorische Entscheidung abzunehmen, sondern die Grundlagen, die Quellen, die Voraussetzungen für eine Interpretation bereitstellen. Es ist die Entscheidung des Künstlers diese Vorgaben zu berüksichtigen oder nicht. Ich halte es aber für sehr problematisch sdich darüber hinwegzusetzen Eine Diskussion dieser Aussage würde wohl diesen Thread sprengen.


    Zitat

    Wenn nun der Musikhistoriker zu einem anderen Ergebnis kommt als der Interpret, heißt das demzufolge auch nicht, dass einer der beiden vollkommen im Unrecht ist. Für mich sind das letztlich nur zwei verschiedene Denkanstöße, um mich mit einem bestimmten Kunstwerk zu beschäftigen.


    Ja und nein! Es ist ja immer die Frage inwieweit man von Recht sprechen kann. Dennoch bleibt schon die Pflicht des Interpreten, wenn er einen bestimmten Komponisten aufführt, zunächst einmal ihn ernst zu nehmen und seine Vorgaben zu akzeptieren. Wenn er das nicht macht, wenn er es quasi besser weiß als der Komnponist, dann hat er sich zu rechtfertigen. Es ist letztendlich eine Frage der Gewichtung: hält man den Komponisten für wichtiger oder stellt man den Interpreten höher! Insofern sind es in der Tat zwei verschiedene Denkanstöße, die aber auch zu differierenden Ergebnissen kommen. Furtwänglers Aufnahmen der 5. Sinfonie Beethovens sind etwas ganz anderes als Harnoncourts Aufnahmen (wahllose Beispiele). Das macht die Aufnahme Furtwänglers künstlerisch per se nicht schlechter (Orchesterqualität, Zusammenspiel, Intonation, etc.), indem er sich aber über Beethovens Angaben hinweg setzt (t.B.Tempo, aber auch Gewichtung der Klangfarben) wird es zwangsläufig eine Beethoven ferne aufnahmen, gleichwohl faszinierend. Die Intentionen Beethovens werden sich aber zwangsläufig eher und stärker bei Harnoncourt finden, der mit einem modernen Orchester(!) aber einer an die ORchester der Beethovenzeit angelehnte Klangbalance, Artikulation etc. eben auf den zeitgenössischen Vorstellungen fußt. Das ist nicht wie Beethoven zur Beethoven Zeit geklungen hat, aber doch eine Annäherung, die die Wirkung der Sinfonien, wie wir sie auch aus zeitgenössischen Dokumenten kennen, besser trifft.


    Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, daß Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis eine objektiven Ansatz pflegen und einen subjektiven Zugang vermeiden. Abgesehen davon, daß das ja gar nicht möglich ist, setzen sie aber erst einmal die verfügbaren Informationen als gegeben an und nehmen diese als Ausgangspunkt für ihre Interpretation, wie ich es in einem vorigen Beitrag geschrieben habe. Insofern sind wir sicher objektiver als unsere Kollegen, die dieses Wissen nicht interessiert oder dieses bewußt leugnen. Das ist dann kompletter Subjektivismus (genau das übrigens was Gegner des Regietheaters diesem vorwerfen), der hin bis zur bewußten Veränderung desNotenmaterials geht. Daß ich diese Heransgehensweise für mehr als problematisch halte und sie ablehne, ist kein Geheimnis. Daneben gibt es immer noch die Schattierungen zwischen den Positionen.


    Insofern kann ich aber sehr gut Wolframs Frage nachvollziehen, ob heute eine Rückkehr zur Interpretationshaltung einer Furtwängler-Generation (Weltbild mit der Erde als Mittelpunkt) zurückkehren kann, oder nicht doch die Erkenntnisse um den originalen Notentext und die Gegebenheiten der Entstehungszeit so wichtig und einflußreich sind (Wewltbild mit derSonne als Mittelpunkt), daß man sich zwangsläufig mit ihnen auseinandersetzen und gegebenenfalls rechtfertigen muß.


    Entsachuldigt bitte, wenn meine Postings sich scheibchenweise erweitern, mein Browser wirft mich oft aus der Eingabemaske. Daher "speichere" ich öfters zwischen und erweitere dann über "bearbeiten", um das Geschriebene nicht zu verlieren,

  • Selbstredend nehme ich niemanden davon aus, sich zu von mir aufgeworfenen Fragen zu äußern!


    Es ist die Entscheidung des Künstlers diese Vorgaben zu berüksichtigen oder nicht. Ich halte es aber für sehr problematisch, sich darüber hinwegzusetzen.


    Problematisch mir Sicherheit! Aber im Sinne von unpassend, falsch oder eher im Sinne von schwierig, anspruchsvoll? Eine destruktive oder schöpferische Problematik?


    Furtwänglers Beethoven-Interpretationen waren sicher problematisch, viele seiner Ansätze waren eigentlich dazu prädestiniert, zu scheitern. Doch sein beeindruckendes künstlerisches Vermögen machte daraus Großartiges.
    Liegt nicht das Faszinosum einer Interpretation gerade in der souveränen Lösung künstlerischer Fragestellung, in der Varianz der Antworten, so sie denn zu überzeugen, zu begeistern vermögen?

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

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  • Ich muß gleich zu einem Konzert, daher möchtre ich erst mit einer Gegenfrage antworten:


    War nicht Vorstellung der Kirche und der überwiegenden Mehrheit der damaligen Wissenschaft vor dem Wissenstand und vor den herrschenden Grundlagen der Wissenschaft, plausibel, überzeugend und gerechtfertigt, daß die Erde der Mittelpunkt sei?
    Wurde nicht diese Sicht ebenso überzeugend in frage gestellt und widerlegt durch Gallilei?
    Und ist es heute denkbar zur Ansicht zur Vorstellung der Erde als Mittelpunt zurückzukehren, nur weil diese überzeugend und plausibel war, aber dennoch klar Fakten leugnet?

  • Hier drehen wir uns nun im Kreis, die Problematik von Analogieschlüssen basierend auf dem Vergleich von Naturwissenschaft und Kunst wurde ja schon erwähnt.


    Zumal die Musikwissenschaft völlig anders arbeitet wie die Naturwissenschaft. Der Kunstwissenschaftler ist in seiner Argumentationskette ungleich freier und damit aber auch, ohne dem einen negativen Beiklang verleihen zu wollen, unpräziser, beliebiger, als der Mathematiker. Die Ergebnisse trennen in ihrem legitimen Deutungsspielraum Welten.
    Würde man Musik ähnlich betreiben, wie Physik, wäre das das Ende der Kunst! Et vice versa.

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  • Gut gebrüllt, Löwe! :hello:


    Ach, komm, Johannes - verhöhnen kann man nur jemanden, der auch das Gefühl der Verhöhnung empfinden kann. Verhöhnung braucht ein personales Gegenüber. Auf meinem Couchtisch liegen Glasuntersetzer - wenn ich die verhöhne, ist das eine Verhöhnung? Ich meine, nicht. Vielleicht kann ich den Designer der Untersetzer verhöhnen, in dem ich unfreundliche Dinge über seine Werke sage.


    mit einem Weltbild/Künstlerbild verhöhnt man natürlich die Anhänger dieses Bildes. Man könnte sich doch problemlos eine Parodie von "Amadeus" vorstellen oder eben eines Beethovenfilms, in der man die verbreitete Klischeevorstellung verspottet. So mancher könnte die Darstellung Mozarts in Amadeus ohnehin schon als Verspottung und Beleidigung nehmen. So in der Art hat Alfred das wohl gemeint. (Wobei ich zugeben muss, dass ich es bzgl. musikal. Interpretationen auch nicht sehr plausibel finde. Eine Interpretation kann sich von einer anderen kontrastierend absetzen, aber sie verhöhnt sie dadurch nicht. Eine Verhöhnung wäre, an völlig absurden Stellen Beschleunigungen oder rubati einzubauen, um Furtwängler zu verspotten.)


    Zitat


    Nein. Nur, weil die Leitmotive semantischen Inhalt haben, sind sie noch lange nicht rhetorisch formuliert. Sie stehen Bildern, genauer: Piktogrammen näher als Wörtern ("Schwertmotiv", "Schlafmotiv", "Schmiedemotiv", "Vertragsmotiv" usw.).


    Das wäre ein anderes Thema, ich glaube nicht, dass es Piktogramme sind, sondern (meist) eher handlungs- oder bewegungsbezogene Gesten.
    Der Punkt, der neulich in einer anderen Diskussion gemacht wurde, ist, dass vieles der im Barock formulierten Rhetorik keineswegs auf die Barockmusik beschränkt ist, sondern sich verallgemeinern lässt. Fallende kleine Sekunden o.ä., sind oft Seufzer, chromatische Bassgänge haben bestimmte Konnotationen usw. Oder sogar noch stärker semantisches wie Hornrufe, Signalmotive usw. Es gibt eine große Zahl, die sich durch die gesamte Musikgeschichte ziehen. Und das sind ja auch Dinge, die einfach in den Noten stehen und erst einmal nichts mit Interpretation zu tun haben. Der Bass von "Dido's Lament" ist immer ein Lamento-Bass, egal, ob man mit alten oder neuen Instrumenten spielt.


    In jedem Fall sind was "Reden", "Malen", "Zeichnen" betrifft, die Unterschiede zwischen, sagen wir Verdi, Brahms, Bruckner, Wagner wohl auch nicht zu vernachlässigen. Es ist für mich gar nicht klar, dass sich das 19. Jhd. hier einheitlich von früheren Zeiten abgrenzen lässt. (Und warum soll Beethoven bei diesen Unterschieden ohne weiteres auf die Seite des 18. Jhds. fallen?)
    Wie Du im Falle Bruckner ja selbst angeführt hast. Auch wenn klanglich anders als Wagner, kann man ihm wohl kaum einen Hang zur "Überwältigungsästhetik" absprechen. Während man bei Brahms wohl eher vorsichtig sein sollte, ihm solch ein Ziel zu unterstellen.


    Zitat


    Wir wissen zB, dass Wagner ihre Dirigate zu schnell fand... und dass sie als Antipoden zu ihm gesehen wurden.Wie auch immer die Entwicklung gewesen sein mag. Die Dirigenten, die zwischen ca. 1860 und 1890 geboren wurden, wovon ja einiges an Dokumenten vorliegt, zeigen jedenfalls nicht einen einheitlichen Dirigierstil (bei Beethoven oder anderswo) und schon gar nicht den Furtwänglers.


    Zitat


    Na na ... ich habe beispielsweise zwischen Furtwängler und Toscanini unterschieden ... halten zu Gnaden ...


    Es klingt aber teils doch sehr nach der älteren HIP-Rhetorik, s.u. Gerade bei Beethoven ist die Spannweite der Interpretationen, die es in der durch Aufnahmen dokumentierten Zeit gegeben hat, außerordentlich, während das bei Dir so klingt, als klänge das alles wie Messiah a la Beecham, völlig neuinstrumentiert.


    Zitat


    Der Primat gebührt den Wünschen des Komponisten. Wer davon abweicht, muss sich rechtfertigen. Idealerweise nicht mit weitschweifigen Worten (wie manche Regisseure des Regietheaters), sondern alleine mit der Schlüssigkeit des künstlerischen Ergebnisses (wie bei Furtwängler).


    Jeder Interpret muss interpretieren und ich unterstelle erst einmal allen, dass ihnen die "Wünsche" des Komponisten oder vielleicht besser der Gehalt des Werks am Herzen liegen. Aber aus einem bloßen sforzato folgt eben nicht wie genau das zu spielen ist. Von den unzähligen Artikulationsdetails, die ergänzt werden müssen, weil sie schlicht nicht notiert sind. Vereinfachung hin oder her, Dein Text klingt teils wie die ersten HIP-Beitexte der 1960er und 1970er. Endlich wird es richtig gemacht, vorher wurde willkürlich (um nicht zu sagen böswillig) verzerrt und verfälscht.
    Und der HIP-Bach und Händel bietet nun im Gegensatz zu HIP-Beethoven wirklich einen sehr deutlichen Kontrast zu der Art wie sogar noch Karajan diese Musik interpretiert hat. Dagegen reden wir bei Beethoven von Nuancen. Die sind natürlich nicht unwichtig, aber wie gesagt, gibt es eben vor HIP bei Beethoven ein ganz anderes Spektrum als bei Händel.


    Was mich überdies wundert: Warum reden wir hier eigentlich nur von den Sinfonien? Die machen ja nur einen Teil des Oeuvres und damit des "Beethovenbildes" aus. Vielleicht weil bei der Klavier- und Kammermusik noch deutlicher wird, dass es kein einheitliches Beethovenbild gäbe, dass überwunden hätte werden müssen. Vielleicht auch, weil es schon bald ein dutzend HIP- oder entsprechend beeinflusste Gesamt-Aufnahmen der Sinfonien gibt, aber noch keine einzige der Quartette, so weit ich sehe, etwa je zwei der Violinsonaten und Klaviersonaten. Es gibt aber doch eine Reihe von HIPpen Einzelaufnahmen. Daraus scheint aber niemand zu folgern, dass, zB die neu erschienenen Aufnahmen des Tokyo SQ oder des Pianisten Paul Lewis hoffnungslos gestrig wären.


    (Warum wundert sich eigentlich niemand, dass viele Pianisten, Geiger und Cellisten, Bach nach wie vor auf moderenen Instrumenten nicht-HIP spielen? Denn hier hat sich bei der Chor- und Orchestermusik HIP ja auf breiter Front durchgesetzt.)

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  • Werte Leser,


    zunächst herzlichen Dank an flutedevoix für deinen Beitrag zu novecento. Du hast mir viel Schreiberei abgenommen.



    Zitat

    Furtwänglers Beethoven-Interpretationen waren sicher problematisch, viele seiner Ansätze waren eigentlich dazu prädestiniert, zu scheitern. Doch sein beeindruckendes künstlerisches Vermögen machte daraus Großartiges.


    Hallo novecento,


    Du gibst Dir selber die Antwort zur Frage meiner Stellung zu Furtwängler. :thumbup:


    das ich die Musik Klemperer`s und Furtwänglers Musik nicht mag hat nichts mit der künstlerischen Qualität ihrer Interpretationen zu tun. Nur: Wie sie die Partitur "umgestalten", mit welchen Mitteln, was sie "opfern", Johannes nennt es Nuancen, hat bei mir ein großes Gewicht.


    Hallo Johannes,


    Alfred ist doch Meister im Verfassen von reißerischen Thread`s. Vielleicht solten wir so etwas auch mal für die Kammermusik Beethoven`s "veranstalten".


    Sind die Symphonien "übermächtig"?


    Viele Grüße Thomas

  • Lieber Johannes!


    mit einem Weltbild/Künstlerbild verhöhnt man natürlich die Anhänger dieses Bildes.


    Da stimme ich gerne sofort zu. Dasselbe gilt für die von Alfred genannten Verbrennung von Fahnen - man verhöhnt ja nicht die Fahne, sondern die, die diese Fahne zu ihrem Symbol erklärt haben.


    So in der Art hat Alfred das wohl gemeint. (Wobei ich zugeben muss, dass ich es bzgl. musikal. Interpretationen auch nicht sehr plausibel finde. Eine Interpretation kann sich von einer anderen kontrastierend absetzen, aber sie verhöhnt sie dadurch nicht. Eine Verhöhnung wäre, an völlig absurden Stellen Beschleunigungen oder rubati einzubauen, um Furtwängler zu verspotten.)


    Auch hier volle Zustimmung, zumal zum letzten Satz! Eine Verhöhnung wäre vielleicht noch mehr, ein Kinderlied wie "Hänschen klein" à la Furtwängler, Klemperer, Karajan, Bernstein, Harnoncourt, Järvi zu spielen .... das wäre doch mal was!


    Der Punkt, der neulich in einer anderen Diskussion gemacht wurde, ist, dass vieles der im Barock formulierten Rhetorik keineswegs auf die Barockmusik beschränkt ist, sondern sich verallgemeinern lässt. Fallende kleine Sekunden o.ä., sind oft Seufzer, chromatische Bassgänge haben bestimmte Konnotationen usw. Oder sogar noch stärker semantisches wie Hornrufe, Signalmotive usw.


    Beispielsweise die Hornstellen am Anfang der Ouvertüren zu "Freischütz" oder "Hänsel und Gretel" höre ich überhaupt rhetorisch, sondern nehme sie als Bild wahr (Wald, Natur, Heimat, ... ). Die Hornpartie im "Quoniam to solus" aus der h-moll-Messe von Bach oder die Hörner im 1. Brandenburgischen Konzert haben definitiv andere Aufgaben und agieren durchaus rhetorisch. - Beim Trio der "Eroica" wüsste ich ehrlich gesagt aber nicht, wo ich es hinstecken sollte. Allerdings war das dritte Horn die eigentliche Innovation, der eigentliche Gag, da spielte "Wort oder Bild" vermutlich eine geringere Rolle. Beethoven lässt die Hörner im Trio ja auch nur simpelste Akkordbrechungen spielen (auch Naturhörner hätten mit ihren Tönen "mehr" machen können), da vermute ich mal, dass es "nur" um den Klangeffekt dreier Hörner ging.


    Der Bass von "Dido's Lament" ist immer ein Lamento-Bass, egal, ob man mit alten oder neuen Instrumenten spielt.


    Ja. Man höre den Schluss von Puccinis "Bohème" - ein barockes Lamento wie aus dem Lehrbuch.


    Jeder Interpret muss interpretieren und ich unterstelle erst einmal allen, dass ihnen die "Wünsche" des Komponisten oder vielleicht besser der Gehalt des Werks am Herzen liegen. Aber aus einem bloßen sforzato folgt eben nicht wie genau das zu spielen ist. Von den unzähligen Artikulationsdetails, die ergänzt werden müssen, weil sie schlicht nicht notiert sind. Vereinfachung hin oder her, Dein Text klingt teils wie die ersten HIP-Beitexte der 1960er und 1970er. Endlich wird es richtig gemacht, vorher wurde willkürlich (um nicht zu sagen böswillig) verzerrt und verfälscht.


    Na, na, na ... ich gebe Dir recht, dass wir nicht wissen, wie stark ein Sforzato genommen werden soll, wie lange der betonte Teil anhält, wie stark ein Crescendo/Decrescendo sein soll, ob es sich gleichmäßig vollzieht oder sozusagen mit positiver oder negativer zweiter Ableitung nach der Zeit.


    Richtig ist aber auch, dass derjenige, der ein Sforzato so spielen lässt, dass es klingt, als ob kein Sforzato stünde, etwas falsch macht. (Es mag ja sein, dass sich ein gewisser Akzent alleine durch die Position im Takt ergibt.) Die Frage bei Vortragsbezeichnungen ist ja: Wie würde der Musiker spielen, wenn nichts da stünde? Und wie muss er folgerichtig spielen, weil der Komponist die Vortragsbezeichnung angebracht hat?


    Harnoncourt (bin nicht ganz sicher ... ) sagte schon früh, dass wir natürlich nicht wissen, wie es war. Aber wir wissen sehr viel darüber, wie es nicht war.


    Und im Nachgang können wir doch sehr vieles, was uns vertraut erscheint, als Zutat des späten 19. Jhd. entlarven. Da dieser Zugang Jahrzehnte hatte, in denen er reifen konnte, sind auch damit hervorragende Interpretationen entstanden. Nur ist klar, dass dieser Weg Beethoven immer nur über einen Umweg erreicht - wenn überhaupt. Ich meine daher, wer Zutaten des späten 19. Jhds. verwendet, müsste sich um seiner Glaubwürdigkeit willen zunächst mal darüber bewusst sein, und die Anwendung durch das künstlerische Ergebnis rechtfertigen. -


    Würde jemand die Sinfonien Beethoven mit Zutaten aus dem Techno-Bereich "anreichern", wäre der Ausgang der Diskussion völlig klar, oder? Und Alfred wäre der erste, der auf die Barrikaden ginge - und sei es durch grenzenlose Wienerische Herablassung. Wenn wir über Zutaten des späten 19. Jhds. reden, gibt es aber komischerweise viele Befindlichkeiten und nostalgische Gefühle ...


    Dagegen reden wir bei Beethoven von Nuancen. Die sind natürlich nicht unwichtig, aber wie gesagt, gibt es eben vor HIP bei Beethoven ein ganz anderes Spektrum als bei Händel.


    Beides sind rein quantitative Phänomene. Finde ich nicht so von Belang. Mir geht es um "im Widerspruch zur Partitur" und "nicht im Widerspruch zur Partitur", das sehe ich ganz binär.


    Was mich überdies wundert: Warum reden wir hier eigentlich nur von den Sinfonien? Die machen ja nur einen Teil des Oeuvres und damit des "Beethovenbildes" aus. Vielleicht weil bei der Klavier- und Kammermusik noch deutlicher wird, dass es kein einheitliches Beethovenbild gäbe, dass überwunden hätte werden müssen.


    Völlig richtig! Ich warte seit langem auf die erste richtig gute HIP-Einspielung der Streichquartette, gerade der mittleren und späten. Die Kujikens haben op. 59 offenbar betont non-HIP eingespielt, ich habe Ausschnitte im Radio gehört.

  • Ungeachtet einer Diskussion des Begriffes "Wissenschaft" im Zusammenhang mit Kunstwissenschaften - das wäre ein eigener Thread - bleibt aber dennoch festzustellen, daß wir auch in der Musik Fakten haben: Die Werkgestalt, wie sie uns in der vom Komponisten freigegebenen Partitur vorliegt. Daß ein Werk dabei in mehreren Fassungen vorliegen kann, ist unerheblich, diese Fassungen sind als zwei verschiedene Willensäußerungen anzusehen, zumindest solange, wie eine nicht vom Komponisten zurückgezogen und verworfen wurde.


    Diese vom Komponisten autorisierte Werkgestalt ist zunächst einmal zu respektieren, sie allein kann die Ausgangsbasis sein. Wenn ich bedenke, wieviele verschiedene Fassungen des Standardrepertoires, de facto nichts anderes als Bearbeitung hinsichtlich der Instrumentation und Artikulation etc., seit dem letzten Drittel des 19. Jh. in Umlauf sind, muß man diese Tatsache schon einmal explizit herausheben.
    Sobald ich mich von diesem Komponistenwillen entferne, muß ich mich als Interpret rechtfertigen und zwar nicht mit Sätzen wie "ich finde das aber schöner" oder "ich empfinde es anders". Wir sind uns ja wohl vollständig darin einig, daß es z.B. nicht hinnehmbar ist, daß dissonante Akkorde "entschärft" werden, nur weil man den Wohlklang sucht. Ich empfinde es aber als sehr bedenklich, daß viele es in der Musik hinzunehmen bereit sind, daß das Werk, der eigentliche Ausgangspunkt, das Wichtigste, den Vorstellungen des Interpreten angepaßt werden darf und nicht der Interpret seine Vorstellungen dem Werk anpassen muß.


    Bei Furtwänglers Interpretationen der Beethoven-Sinfonien, stellvertretend für viele andere, haben wir es aber genau mit diesem Fall zu tun: bewußtes Hinwegsetzen über Vorgaben des Komponisten. Dabei ist es für mich zunächst einmal unerheblich, daß dabei großartige Musik herauskommt, ich denke, das ist unbestritten. Diese Interpretation sind sehr wohl vor dem Hintergrund der Partitur "falsch", zumal sie wirklich zu anderen Schlüssen und Wirkungen kommen als eine Interpretation, die der Partitur folgt. Als Fazit zu Furtwängler bleibt aus meiner Sicht dann nur zu sagen: eine faszinierende Bearbeitung Beethovens, weit entfernt von dem in der Partitur notierten! Aber Beethoven ist es halt nur noch sehr bedingt. Oder um es mit Wolframs Worten zu sagen:

    Zitat

    Mir geht es um "im Widerspruch zur Partitur" und "nicht im Widerspruch zur Partitur", das sehe ich ganz binär.

  • Natürlich flute, darf ich dich so abkürzen, auch das unterschreibe ich.

    Zitat

    Beim Trio der "Eroica" wüsste ich ehrlich gesagt aber nicht, wo ich es hinstecken sollte. Allerdings war das dritte Horn die eigentliche Innovation, der eigentliche Gag, da spielte "Wort oder Bild" vermutlich eine geringere Rolle.


    Hallo Wolfram,


    Hier empfehle ich die Interpreation Krivine. Wunderbar herausgearbeitet.


    Viele Grüße Thomas

  • Nur: Wie sie die Partitur "umgestalten", mit welchen Mitteln, was sie "opfern", [...] hat bei mir ein großes Gewicht.


    Opfern?


    Ja das mag sein, doch jede Interpretation 'opfert' in gewisser Hinsicht etwas. Ich denke, es gibt keine Aufnahme irgendeines Musikstückes, die jeden einzelnen Aspekt vollkommen in all seinen Nuancen zur Geltung bringt.
    Wenn man Partiturtreue als oberste Maxime ansetzt, opfert Furtwängler natürlich schon ein wenig an gweissen Vorgaben. Doch ebenso opfern sehr partiturnahe Interpretationen etwa im Vergleich zu Furtwängler - iich spreche der Einfachheit halber stellvertretend von ihm, wenn ich den eher romantischen Beethoven meine, man könnte ebenso Klemperer, aber auch Bernstein oder Böhm einfügen, bei allen Unterschieden zueinander, die Liste ließe sich fortsetzen - oft ungemein viel an Ausdruck, an Empfindung.
    Wenn einem das weniger wichtig ist, so mag man das verschmerzen. Ich kann hingegen ganz gut mit einer etwas freieren Partiturauslegung leben...

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Richtig ist aber auch, dass derjenige, der ein Sforzato so spielen lässt, dass es klingt, als ob kein Sforzato stünde, etwas falsch macht. (Es mag ja sein, dass sich ein gewisser Akzent alleine durch die Position im Takt ergibt.) Die Frage bei Vortragsbezeichnungen ist ja: Wie würde der Musiker spielen, wenn nichts da stünde? Und wie muss er folgerichtig spielen, weil der Komponist die Vortragsbezeichnung angebracht hat?


    Ja klar, solche Überlegungen muss man anstellen. Wie Du andeutest, ist aber der Zusammenhang von Akzenten, Gewicht einzelner Töne, Phrasierung, Artikulation usw. ein ziemlich subtiler. Es ist m.E. eine Fehldarstellung, wenn man so tut, als ob alle Interpreten vor HIP hier mit einem breiten, unpassenden Pinsel drübergebürstet hätten. Ebenso könnte man vielen HIPisten gewisse, teils undifferenzierte Manierismen oder Barock-Importe, die in Wiener Klassik fragwürdig sein dürften, vorwerfen.



    Zitat

    Harnoncourt (bin nicht ganz sicher ... ) sagte schon früh, dass wir natürlich nicht wissen, wie es war. Aber wir wissen sehr viel darüber, wie es nicht war.


    Und im Nachgang können wir doch sehr vieles, was uns vertraut erscheint, als Zutat des späten 19. Jhd. entlarven. Da dieser Zugang Jahrzehnte hatte, in denen er reifen konnte, sind auch damit hervorragende Interpretationen entstanden. Nur ist klar, dass dieser Weg Beethoven immer nur über einen Umweg erreicht - wenn überhaupt. Ich meine daher, wer Zutaten des späten 19. Jhds. verwendet, müsste sich um seiner Glaubwürdigkeit willen zunächst mal darüber bewusst sein, und die Anwendung durch das künstlerische Ergebnis rechtfertigen. -


    Man müsste hier mehr ins Detail gehen. Was genau würdest Du als "Zutat des späteren 19. Jhds. sehen"?
    Und was ist am HIP-Zugang nicht vielleicht eher spezifische Sichtweise des späten 20. Jhds. (und keineswegs des frühen 19.)? Und schließlich die Kernfrage: Sollte künstlerische Interpretation eine Rekonstruktion sein oder eine zeitgemäße Deutung? (Warum scheinen wir eine angeblich wissenschaftliche Rekonstruktion angemessen für unsere Zeit zu finden?)
    Harnoncourts Beethoven, viel mehr noch zB seine "Pariser" Sinfonien, unterscheiden sich m.E. mindestens so deutlich vom "HIP-Mainstream" wie Furtwänglers von Toscaninis Beethovendeutungen. Ungeachtet seiner Äußerungen aus den 1970ern ist er daher angesichts seiner "Taten" der letzten 20 Jahre ein sehr fragwürdiger HIP-Kronzeuge. Was zB in den genannten Haydn-Aufnahmen an Rubato, Mikrodynamik, Phrasierung und differenzierter Artikulation zu hören ist, entspricht ganz sicher nicht den seinerzeitigen Aufführungen mit zwei Durchspielproben und Leitung vom Clavier oder ersten Geigenpult.



    Zitat


    Beides sind rein quantitative Phänomene. Finde ich nicht so von Belang. Mir geht es um "im Widerspruch zur Partitur" und "nicht im Widerspruch zur Partitur", das sehe ich ganz binär.


    Das geht m.E. aber nicht so einfach. Man kann gute Gründe dafür anbringen, dass zB die Metronomangaben (u.a., da teils viele Jahre später von einem tauben Komponisten hinzugefügt) nicht in dem vollen Sinne Bestandteil der Partitur sind. Und auch wenn nichts oder wenig über rubato drinsteht, so muss die Abwesenheit von Information nicht bedeuten, dass stur in einem Tempo gespielt wurde. (Wie gesagt ist das allein aufgrund der seinerzeitigen Praxis bei größeren Besetzung recht wahrscheinlich, anders sieht es freilich bei Solo- und Kammermusik aus).
    Es halten sich ja auch lange nicht alle HIPisten zB an die MM-Angaben. Harnoncourt ist häufig einen Tick (in der Pastorale sogar erheblich) langsamer. Brüggen und Hogwood im Kopfsatz der Eroica eher traditionell usw.


    Zitat


    Völlig richtig! Ich warte seit langem auf die erste richtig gute HIP-Einspielung der Streichquartette, gerade der mittleren und späten. Die Kujikens haben op. 59 offenbar betont non-HIP eingespielt, ich habe Ausschnitte im Radio gehört.


    Aha. Ich hatte die als Kandidat im Auge, wusste nicht, dass die un-HIP spielen. Es gibt mindestens 3 HIPpe von op.18 (Smithsonian, Quatuor Turner, Mosaiques) sonst aber nur noch vereinzelte, keine kompletten mittleren
    Ich wollte aber eigentlich auf etwas anderes hinaus: Liegt es wirklich nur an der relativ geringen Anzahl von HIPpen Klavier- und Kammeraufnahmen bei Beethoven, dass hier anscheinend kaum jemand meint, es hätten sich jetzt alle, auch die auf modernen Instrumenten gefälligst nach diesem Paradigma zu richten, um nicht der ewigen Gestrigkeit geziehen zu werden? Oder liegt es daran, dass man hier (noch) weniger als bei den Sinfonien den Eindruck hatte, es habe eine verfestigte und fragwürdige Interpretationshaltung (Beethovenbild) gegeben? Vielleicht gab es gar angemessene werkgerechte Interpretationen der Sonaten und Quartette vor HIP? Oder ist das Budapester Streichquartett einfach kein so saftiger "Gegner" wie Karajan?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • Bei Furtwänglers Interpretationen der Beethoven-Sinfonien, stellvertretend für viele andere, haben wir es aber genau mit diesem Fall zu tun: bewußtes Hinwegsetzen über Vorgaben des Komponisten. Dabei ist es für mich zunächst einmal unerheblich, daß dabei großartige Musik herauskommt, ich denke, das ist unbestritten. Diese Interpretation sind sehr wohl vor dem Hintergrund der Partitur "falsch", zumal sie wirklich zu anderen Schlüssen und Wirkungen kommen als eine Interpretation, die der Partitur folgt. Als Fazit zu Furtwängler bleibt aus meiner Sicht dann nur zu sagen: eine faszinierende Bearbeitung Beethovens, weit entfernt von dem in der Partitur notierten! Aber Beethoven ist es halt nur noch sehr bedingt.


    Ändert Furtwängler irgendwelche Harmonien? Ds wäre mir neu. Anders als bei manchen Händel-Fassungen, die bis in die 1960er gespielt wurden, ist für mich zu jedem Zeitpunkt klar, dass es sich bei Beethovens 5. unter Furtwänglers Stabführung um dieses Werk handelt (selbst wenn ich mit vielen Tempi, rubati usw. keineswegs glücklich bin).


    Die (fast überall, auch bei jemandem wie Leibowitz) üblichen Instrumentationsretuschen sind für Laien nur an sehr wenigen Stellen zu hören, ohne direkt darauf aufmerksam gemacht zu werden. Und mal ganz ehrlich: hängt der Eindruck, den der Kopfsatz der 5. macht hauptsächlich oder auch nur maßgeblich davon ab, ob in der Reprise bei der Fanfare, die das Seitenthema einleitet nun Hörner (wie in der Expo und in der Weingartner.Retusche) oder Fagotte (wie in der Originalpartitur spielen). Selbst wenn ich diese Revision überflüssig finde, hielte ich es für die völlig unproportionale Aufwertung eines Details davon den Eindruck, die Stimmigkeit, Richtigkeit, Angemessenheit einer Interpretation abhängig zu machen. Ähnliches muss ich, obwohl selbst Befürworter fast aller Wdh. gegenüber weggelassenen Wdh. einräumen. Wobei sich hier interessanterweise anscheinend auch bei "Traditionalisten" in den letzten 25 Jahren fast überall die Befolgung der Wdh. "durchgesetzt" haben. Für mich ist es ein deutlicher Wermutstropfen, aber ich verwerfe doch eine packende Deutung der Eroica nicht, weil die Wdh. im Kopfsatz nicht befolgt wird.

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