Plaudereien über ... Jean Sibelius, Sinfonie Nr. 4 a-moll op. 63

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    “Sibelius’ 5. Sinfonie verhält sich zur 4. wie der Rosenkavalier zur Elektra.“


    Eigentlich wollte ich etwas zur 5. Sinfonie von Sibelius schreiben. Das ist diejenige von den sieben, die ich am häufigsten in den Player lege. Aber beim Zusammensuchen von Material bin ich über den oben genannten Satz gestolpert. Wie der Rosenkavalier zur Elektra? Also ein Rückschritt, zumindest vordergründig? Was war denn das Neue, das Innovative an der 4. Sinfonie, das in der 5. dann fehlte? Spannende Frage. Sieht man mal umher, was links und rechts von der 4. komponiert wurde, so erhält man in der Tat eine imposante Liste von bedeutenden Werken, nicht wenige davon äußerst innovativ:


    1903-04 Mahler: Sinfonie Nr. 6 a-moll (UA 1906)
    1905-08 Scriabin: Le poème de l’extase
    1905-08 (?) Strauss: Elektra (UA 1909)
    1906 Schönberg: 1. Kammersinfonie op. 9
    1906 Mahler: Sinfonie Nr. 8 Es-Dur (UA 1910)
    1907-11 Sibelius: Sinfonie Nr. 4 a-moll
    1908-10 Mahler: Sinfonie Nr. 9 D-Dur (UA 1912)
    1909 Schönberg: 5 Orchesterstücke op. 16, Erwartung op. 17
    1909-10 (?) Strauss: Rosenkavalier (UA 1911)
    1910 Strawinsky: Feuervogel
    1911 Strawinsky: Petruschka
    1912 Schönberg: Pierrot lunaire op. 21
    1913 Strawinsky: Le Sacre du Printemps


    Beim Hören frage ich mich: Ist die 4. überhaupt eine Sinfonie? Wo ist der Sonatenhauptsatz, wo ist das erste, das zweite Thema? Was ist sinfonisch an der 4. Sinfonie? Ist es nicht eher eine große Fantasie, eine Rhapsodie, stellenweise eine Elegie für Orchester?


    Schon der erste Satz klingt so, als wäre er eine riesige langsame Einleitung. Wie bei Mahlers 1. Sinfonie: „Wie ein Naturlaut“, sozusagen nur ins Nordische transponiert. Melodiefetzen, unvermittelt aneinander gehängt, wechselnde Instrumentierung. Wo ist da ein Thema? Es gärt und brütet, doch es kommt nicht nur Sache. Ab und zu blubbert eine Gasblase aus dem trüben Schlamm, ohne etwas zu hinterlassen. Dann diese lange einstimmige Passage in den Streichern … Der erste Satz ist ein Stück, das nicht anfängt.


    Der zweite Satz soll wohl das Scherzo sein. Hier hört man auch gleich so etwas wie ein Thema, da kommt Musik in Fluss. Doch nach einer guten halben Minute gleich wieder einstimmige Passagen, brütend untermalt von grummelnden Pauken und den grunzenden Fagotten. Bläserakkorde, wie erratische Blöcke, wie Findlinge, die nach der Eiszeit übrig geblieben sind. Das Thema klingt wieder auf – immerhin. Nach zwei Dritteln der Zeit kommt ein neues Thema (Oboen und Klarinetten), das das Stück weiterbringt. Crescendo, so etwas wie sinfonische Verarbeitung beginnt … und da ist der Satz vorbei. Wo war das Trio? Etwa die einstimmigen Passagen??


    Der langsame Satz. Der längste Satz der Sinfonie. Viele interessante Motive, viele gute Instrumentationen, auch gute Themen sind drin … aber wo ist die sinfonische Verarbeitung? Mensch, was hätte das für ein gigantisches sinfonisches Adagio werden können … es klingt stattdessen wie ein uneingelöstes Versprechen. Sibelius kommt nicht zur Sache, hält sich mit „Vorgefühlen“ (so der Titel des ersten der „Fünf Orchesterstücke“ op. 16 von Arnold Schönberg) auf.


    Auch das Finale bietet mehr Rhapsodisches als sinfonisch Kohärentes. Und dann immer wieder dieses Glockenspiel … was hat Sibelius denn da geritten? Es klingt wie in der Grundschule, Musizieren auf Orffschen Instrumenten, alle Plättchen raus bis auf die drei, die man für das Stück braucht. Trotzdem: Der Glockenspieler scheint mit seinem wiederholten Einhämmern seiner vier Töne derjenige zu sein, der das Tohuwabohu um ihn herum zur Ordnung rufen will – ohne Erfolg. Nach einem mühelos erkennbaren Höhepunkt bricht das Stück dann schnell ab. Schluss in a-moll.


    „Barkbröd“-Sinfonie (=Baumrindenbrot-Sinfonie) nannte ein Kritiker das Werk, eine Anspielung auf die Hungerjahre Finnlands im 19. Jhd., als die Bevölkerung gezwungen war, Baumrinden zu essen, um zu überleben. Ich kann es verstehen.


    Was macht die 4. Sinfonie zu einer Sinfonie?

  • Zitat

    Was macht die 4. Sinfonie zu einer Sinfonie?


    Nun, zunächst einmal die Eigenbezeichnung durch den Komponisten als "Symphonie Nr. 4 a-Moll op 63". ;)
    Die Bezeichnung als Symphonie könnte man m. M. n. eher bei seiner Siebenten hinterfragen.


    Ich habe mir vor Jahren sämtliche Sibelius-Symphonien angehört. Bereits beim ersten Hördurchgang stach die Vierte als besonders interessant heraus. Besonders der Kopfsatz faszinierte mich (und das tut er noch heute am meisten vom gesamten Werk). Hier hat Sibelius vielleicht idealtypisch ein Gemälde einer düsteren, kargen finnischen Landschaft gezeichnet. Diesem Satz haftet m. E. etwas Morbides, Jenseitiges an. Wer Verbindungen zur eigenen Biographie des Komponisten sucht, wird sicherlich fündig. Daß sich Sibelius Mahler, Strauss, Schönberg und Co. als Vorbild nahm, ist auch nicht unmöglich. Die Grundstimmung erinnert ein wenig an Mahlers "Tragische". Und doch hat er hier etwas gänzlich Eigenständiges geschaffen. Ich finde die Vierte von Sibelius leichter verdaulich als die Sechste und Siebte von Mahler (was eine persönliche Präferenz sein kann).


    Daß sich die Fünfte von Sibelius zu seiner Vierten wie der "Rosenkavalier" zur "Elektra" (vielleicht auch zur "Salome"?) verhalte, hat sein Wahres. Die Letztfassung der Fünften von 1919 mutet beinahe wie ein "Rückschritt" an, wenn man die Vierte im Ohr hat. Sie wirkt ungleich "geschönter", "spätromantischer". Wenn man zudem die Erstfassung der Fünften von 1915 kennt, dann merkt man, daß Sibelius hier noch viel näher bei der Vierten war. Selbst im berühmten "Schwanenruf"-Satz ist in der 1915er Fassung etwas Bedrohliches, was kurz aufflackert. Das ist 1919 völlig getilgt worden.


    Vielleicht sollten wir an der Stelle auch über empfehlenswerte Aufnahmen sprechen. Welche trifft den Grundtenor der Symphonie denn am besten? Die Frage ist ja: Muß die Vierte unbedingt absolut pechschwarz und düster klingen? Darf auch Hoffnung durchschimmern? Kann es überhaupt eine Idealaufnahme geben?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Joseph II.,


    vielen Dank für Deine Worte! Ich werde ausführlicher dazu antworten, muss jedoch heute mal früh ins Bett ...


    ... die Einspielungen können wir gerne im von Dir eröffneten Thread besprechen - ich meine, dazu wäre er da.


    Sinfonisch - hm. Wo sind denn die Themen und ihre Verarbeitung? Das ist doch das, was wir gemeinhin als sinfonisch bezeichnen, selnbst in Wagners Musikdramen. Themenvorstellung, danach verschiedene Beleuchtung der Themen, Zerstückelung, Neuzusammensetzung.


    Dialektisch gesprochen: 1. Thema = These, 2. Thema = Antithese in anderer Tonart (Dominante, Parallel). Reprise: Synthese - beide Themen in derselben Tonart.


    Wo findet das in Sibelius' 4. statt? Meine Behauptung: Sibelius' 4. ist radikal neu - sie ist keine Sinfonie, wenn man klassische Formen nachzuweisen sucht, hat aber dennoch einen sinfonischen Geist, hat auch ihre durchführungsartigen Abschnitte, hat ihre Thesen und Antithesen, kommt sogar zu überraschenden Synthesen (wenn man diese als solche akzeptiert). Trotzdem ein innovatives Werk!

  • Was soll man nun zu dieser abstrakten Musik sagen? Die Partitur zu beschreiben ist m. E. immer der notwendige erste Schritt, um eine Sprache zu erarbeiten, in der man die Musik besprechen kann. Es ist ja nicht so wie in der Vokalmusik, wo man qua Text einen kompletten semantischen Rahmen frei Haus geliefert bekommt und sofort das Verhältnis von Text und Musik beleuchten kann und fragen mag, ob nun einfache Illustration, detaillierter Kommentar, Ironisierung, sonstige Brechung oder etwas anderes vorliegen mag. – In der Instrumentalmusik muss man oft etwas mehr investieren und kommt in vielen Fällen längst nicht so weit.


    Die CD-Beihefte der Einspielungen von Karajan (DG), Ashkenazy (Decca), Rattle (EMI), Segerstam (Brillant) und Vänskä (BIS) enthalten alle den Hinweis, dass der Tritonus eine zentrale Rolle in der vierten Sinfonie spielt. Der Tritonus, der „diabolus in musica“, das Intervall des Teufels.


    Gleich das erste Thema (Thema A), gespielt von den 1. Celli, von den 1. Kontrabässen und vom 1. Fagott enthält einen solchen Tritonus: C – D – Fis – E, das Rahmenintervall C – Fis ist der erste Tritonus. Da die 2. Celli, die 2. Kontrabässe und das 2. Fagott ein „C“ halten, erklingt der Tritonus nicht nur in der horizontalen Linie, sondern auch vertikal. – Celli und Kontrabässe spielen übrigens nicht wie üblich in Oktaven, sondern beginnen beide auf „klingend C“.


    Um die einzelnen Stellen genauer ansprechen zu können, verwende ich Zeitangaben nach den Aufnahmen von Karajan/Berliner Philharmoniker (Mai + September 1965), Barbirolli/Hallé Orchestra (Mai 1969), Vladimir Ashkenazy/Philharmonia Orchestra (1980-87) und Osmo Vänskä (Januar 1997) – immer in dieser Reihenfolge.


    Mit dem Thema A geht es los (0:00/0:00/0:00/0:00), es pendelt dann auf E/Fis aus, wobei die Kontrabässe vierfach geteilt werden, zwei Gruppen fügen dann die untere Oktave hinzu. E und Fis überlappen übrigens immer leicht, ein verwischter Klang ist offenbar gewünscht.


    Ein Solocello hebt an – Thema B (0:30/0:38/0:39/0:43). Zwei Phrasen im 1. Stollen, zwei Phrasen im 2. Stollen, eine Phrase im Abgesang. Die anderen Celli nehmen dieses Thema auf (1:06/1:17/1:18/1:25), verarbeiten es, führen einen kurzen Dialog mit dem Solocello. Die Musik ist irgendwo zwischen C-Dur und a-moll.


    Mit dem Einsatz der Bratschen kippt die Musik in den Bereich von Ges-Dur/es-moll (d. h. in Tritonusabstand von C-Dur/a-moll), damit einher geht eine Aufhellung der Musik. Das Pendeln zwischen Fis (=Ges) und E in den Bässen unterstützt beide Tonarten zur Not. Schnell geht es mit dem Einsatz der 2. Violinen zurück nach C-Dur/a-moll. Auch die 1. Violinen treten hinzu und beginnen (1:59/2:16/2:11/2:24) schließlich eine aufsteigende Linie: c“ – d“ – e“ – fis“ (länger gehalten) – g“. Das länger gehaltene fis steht wieder im Tritonus-Abstand zum Beginn der Linie, ferner sind wir dort in einem C-Dur-Klangfeld, trotz des Fis in den Bässen. Zwei Ereignisse prägen die Stelle zusätzlich: Ein schmerzlicher Akkord in den gestopften Hörnern aus den Tönen fis – c‘ – e‘ – fis‘, also wieder mit Tritonus fis – c‘ – fis‘, der auch dann noch stehen bleibt, wenn die Violinen auf dem g“ das Ende ihrer Linie erreicht haben. Brutal. Schneidend. Das ist das eine. Das andere ist die Linie der Bässe: Pendelten sie vorher zwischen E und Fis, so haben sie sich unter der Linie der Violinen einmal zum G aufgeschwungen, um über Fis, E und D wieder abzusteigen – nur das erwartete C, der Grundton des erwarteten C-Dur-Akkords, der wird nicht gespielt, die Dissonanz in den Hörnern bleibt mit dem g“ der Violinen stehen. Es ist, als ob der Boden unter den Füßen verschwindet.


    Haben dann die Hörner endlich ihre Dissonanz in einen C-Dur-Akkord aufgelöst, folgt sofort ein störendes Cis (Klarinetten, 1. Fagott, Bratschen, 2:17/2:34/2:28/2:44), gefolgt von einem Fis im 2. Fagott und in den Celli – ein Klangfeld im Fis wird aufgespannt, wiederum also im Tritonusabstand vom mühsam erreichten C-Dur, dessen Fundament schon weggebrochen war.


    Nun folgt ein Themenbereich C. Akkordblöcke der Bläser (2:29/2:45/2:38/2:56), wie Findlinge, die nach der letzten Eiszeit übriggeblieben sind, darüber Thema A, gespielt im Fortissimo von Violinen, Bratschen und Trompeten (2:44/2:58/2:52/3:11). Nochmal Akkordblöcke mit einem Aufschwung der hohen Streicher, dann Hornquinten (3:29/3:33/3:33/4:01), die immer mit einem Naturaffekt, wenn nicht gar Heimataffekt einhergehen. Schließlich ein seltsames Fragment eines Bläserchorals (unisono Fis, E-Dur, B-Dur, Des-Dur, 3:43/3:48/3:48/4:22, E-Dur/B-Dur wieder im Tritonus-Abstand).


    Der folgende Epilog greift zunächst Thema B in den Streicher über Hornakkorden wieder auf (3:52/3:55/3:59/4:32), bevor Thema A in Klarinette und Oboe erklingen darf (4:25/4:28/4:31/5:10) – nun ohne Tritonus: fis“ – gis“ – h“ – ais“ - das ist jetzt das nach Fis transponierte Thema des Finales von Mozarts Jupiter-Sinfonie (dort in C-Dur). Fis und C stehen im Tritonus. – Verstörende Töne in Celli und Kontrabässen bilden die Überleitung zum Mittelteil.


    Mit dem nächsten Einsatz des Solocellos (5:14/5:04/5:16/6:07) beginnt der Mittelteil des Satzes, den ich mit „Lost in Space“ überschreiben möchte. Das ist Musik, die genauso in Stanley Kubricks „2001“ passen würde. Einstimmig beginnt das Solocello, dann übernehmen die 2. Violinen und Bratschen, dann gibt es zweistimmiges Spiel der beiden Violinen, durchaus mit großem Ton, dynamisch zwischen mezzoforte und fortissimo liegend. Leise, flirrende, tremoloartige Partien der Streicher beginnen (6:08/6:09/6:06/7:16), dazu tritonushaltige Einwürfe und Läufe im Holz, eine Flöte blitzt, Paukengegrummel. Würde man diese Musik grafisch darstellen, wäre sie nicht weit von einer grafischen Darstellung mancher Werke Ligetis (Apparitions, Artikulation). Auch die Werke, die Rattle seiner „Planets“-Einspielung mit den Berliner Philharmonikern beigab und andere Himmelskörper vertonen, scheinen nicht weit. Dies ist zukunftsweisende Musik.


    Endlich wieder ein Dur-Dreiklang in den Violinen – dann eröffnet ein Paukenwirbel den dritten und letzten Teil des Satzes (7:12/7:21/7:16/8:45). Wiederum Akkordblöcke im Blech, Hornquinten (Heimkehr!?), das seltsame Fragment eines Bläserchorals. Dann wird wiederum Thema B verarbeitet wie im Epilog des ersten Teils (8:09/8:10/8:11/9:53), gefolgt von Thema A in Oboe und Klarinette (8:42/8:42/8:41/10:26) – nun tritonusfrei! Wiederum verstörende Töne in Celli und Bässen, dann erscheint Thema A in einer letzten Gestalt: e – fis – b – a. Dies verleiht dem Ende des Satzes einen resignierten Charakter.

  • 1. Teil, expositionsartig
    Thema A (Fg, Celli, Kb)
    Thema B (Solocello, dann Weiterverarbeitung in den anderen Streichern)
    Bereich C (Akkordblöcke mit Thema A, Hornquinten, Bläserchoralfragment)
    Thema B
    Thema A ohne Tritonus


    2. Teil, durchführungsartig, sehr frei, „lost in space“


    3. Teil, reprisenartig
    Bereich C (Akkordblöcke mit Thema A, Hornquinten, Bläserchoralfragment)
    Thema B
    Thema A ohne Tritonus, nochmals verändert (kleine Sekunde am Schluss)

  • Lieber Joseph II.,


    nach einem Satz ist es natürlich zu früh, schon etwas Definitives zu sagen. Aber der Rest des Werkes ist uns ja nicht unbekannt ...


    Bereits beim ersten Hördurchgang stach die Vierte als besonders interessant heraus. Besonders der Kopfsatz faszinierte mich (und das tut er noch heute am meisten vom gesamten Werk). Hier hat Sibelius vielleicht idealtypisch ein Gemälde einer düsteren, kargen finnischen Landschaft gezeichnet. Diesem Satz haftet m. E. etwas Morbides, Jenseitiges an.


    Ich bin nicht sicher - der Kopfsatz fasziniert mich auch am meisten, aber der dritte Satz ist wohl das Herzstück.


    Das "Gemälde" der düsteren, kargen finnischen Landschaft - ja, man liest es allenthalben. Wo der der Wald, wo ist der Wasserfall, wo ist die Schnee- und Eisdecke in der Musik? - Fakten: 86% von Finnland sind bewaldet, sog. boreale Nadelwaldzone. Kiefern, Fichten, Birken. Natürlich ist der Sommer kurz, natürlich führt der Winter ein strenges Regiment. Aber düster und karg? Alles voller Wälder. Seen. Moore.


    Es ist eher das Gleichförmige, das Ruhige der Landschaft, das inspirierend gewirkt haben mag, die Extreme, das Bedrohliche, aber auch das Vertraute.


    Wer Verbindungen zur eigenen Biographie des Komponisten sucht, wird sicherlich fündig.


    Sibelius war schwer krank vor der Komposition, hatte eine schwere Kehlkopfoperation überstanden, war verschuldet.


    Daß sich Sibelius Mahler, Strauss, Schönberg und Co. als Vorbild nahm, ist auch nicht unmöglich.


    Eher ex negativo - er nannte die Sinfonie ein Werk des Protestes "gegen die gegenwärtigen Kompositionen. Nichts, absolut nichts von Circus um sie!" (Sibelius)


    Die Grundstimmung erinnert ein wenig an Mahlers "Tragische". Und doch hat er hier etwas gänzlich Eigenständiges geschaffen. Ich finde die Vierte von Sibelius leichter verdaulich als die Sechste und Siebte von Mahler (was eine persönliche Präferenz sein kann).


    Ja. Mahlers 6. endet in der Katastrophe, auch ohne den 3. Hammerschlag. (Aber die 7. endet doch im Jubel ... ?) Bei Sibelius schaun mer mal ...


    Die Frage ist ja: Muß die Vierte unbedingt absolut pechschwarz und düster klingen? Darf auch Hoffnung durchschimmern?


    Nach dem ersten Satz ist es zu früh, etwas zu sagen. Das Thema A hat eine Metamorphose durchlaufen. Die erste Form war tritonushaltig, klang archaisch und ungestüm, am Ende des 1. Teils dann beruhigt, entspannt, zur Ruhe gekommen. Am Ende des Kopfsatzes ... hm, ich will es noch nicht beschreiben, depressiv, ängstlich, abwartend, bedrückt? Jedenfalls nicht positiv.


    Hoffnung darf durchschimmern am Ende des 1. Teils und beim Beginn des 3. Teils, so meine ich (Hornquinten).

  • Muß die Vierte unbedingt absolut pechschwarz und düster klingen? Darf auch Hoffnung durchschimmern? Kann es überhaupt eine Idealaufnahme geben?


    Um die Fragen von Joseph II. zu beantworten, ist der zweite Satz vielleicht nicht sehr hilfreich. Denn er hat (mindestens) zwei Gesichter.


    Er fängt an wie ein richtiges Scherzo, Dreivierteltakt, eine lustige springende Melodie in der Oboe. Besonders ist, dass diese Melodie den Ton „h“ beinhaltet, die lydische Quarte, also den Ton, der nicht zu F-Dur gehört, aber zu F im Tritonusabstand steht. Schon wieder Tritonus. Es kommen noch mehr …


    Hat die Oboe ihre Melodie beendet, setzen die Violinen ein. Ihre ersten vier Töne c‘ – f‘ – g‘ – c“ sind mit doppelten Vorschlägen, quasi Pralltriller, verziert. (Diese Intervallstruktur Quarte – Ganzton – Quarte ist übrigens ganz am Anfang der 5. Sinfonie von Sibelius in den Hörnern zu hören. Zufall?) Nach diesen vier Tönen kommt gleich mal wieder ein Tritonus-h, bevor die Violinen die Oboen-Melodie fortsetzen und dann eine Tritonus-Orgie mit der Oboe beginnen (ab 0:19/0:19/0:19/0:19, Zeitangaben wieder in der Reihenfolge Karajan 1965, Barbirolli, Ashkenazy, Vänskä).


    Schnell ist dieser Teil beendet: Der Takt wechselt in den Zweivierteltakt (0:33/0:34/0:33/0:32), die Pauke grummelt, ein Fagott schaltet sich ein. Das muss das Trio sein. Doch schnell geht es zurück in den Dreivierteltakt, das schwere Blech und die Holzbläser werfen sich über Paukenwirbeln Akkorde zu (ab 0:59/1:03/0:58/0:59). Erst ein lupenreiner Tristanakkord (gis – d‘ – fis‘ – h‘) in Trompeten und Posaunen, dann g-moll im Holz, dann Tristanakkord auf ais im schweren Blech, dann a-moll im Holz, gestört von einem B der Kontrabässe, das eine weitere Tritonus-Kette anwirft.


    Durchführungsartige Reminiszenzen an Teil A erklingen, doch erst bei 2:06/2:10/2:04/2:01 wird dieser fast notengetreu wiederholt.


    Somit ist das, was ab 2:37/2:40/2:35/2:30 zu hören ist, neu – ein neues Thema erscheint dann in Oboe und Klarinetten ab 2:54/2:57/2:51/2:47, interpoliert von Tritoni in den hohen Streichern. Auch ein aufsteigendes Thema gibt es, das ebenfalls in einen Tritonus mündet. Wieder sind Bläserfratzen zu hören, wie im ersten Satz. Bedrohlich klingt diese Musik, alptraumhaft, völlig anders als die vorherigen Teile.


    Völlig überraschend der Schluss: Fünfzehn Takte dominiert der Tritonus f – h das Geschehen (in mehreren Oktaven, zuerst unmerklich in Pauke, Trompeten und Posaunen bei 4:18/4:18/4:08/4:07, dann treten die Hörner dazu, dann die Kontrabässe, bis nur die Hörner und Kontrabässe übrigbleiben und die Pauke mit f – F – f den Satz beschließt. Sehr seltsam …

  • Scherzo
    Trio, im zweiten Teil mit Reminiszenzen an das Scherzo
    Scherzo
    Alptraumhafter Abschnitt, fast so lang wie die vorherigen Teile zusammen


    Scherzo oder doch nicht? Bis vor den alptraumhaften Abschnitt ja ... und dann? Wie der Mittelsatz von Mahlers 7. Sinfonie? "Schattenhaft"?

  • Kann man von einer Form sprechen? Was musikalisch passiert, ist das folgende: Zwei Themen (A und B) werden nacheinander exponiert und dann abwechselnd durchgeführt, so dass man als Ablauf erhält: A – B – A1 – B1 – A2 – B2 – A3 – B3 – A4 – B4 – A5.


    (Zeitangaben wieder in der Reihenfolge Karajan 1965, Barbirolli, Ashkenazy, Vänskä.)


    Thema A wird von den beiden Flöten vorgestellt (0:00/0:00/0:00/0:00). Die ersten fünf Töne, a‘ – h‘ – c“ – e“ – dis“, gespielt von der ersten Flöte, sind die Keimzelle, aus denen sich alle „A“-Abschnitte entwickeln. Der erste Ton (a‘) und der fünfte Ton (dis“) stehen im Tritonusabstand. Tritoni sind im Folgenden zuhauf zu finden. – Man kann dieses Motiv ableiten aus dem Thema A des Kopfsatzes, es ist sozusagen um einen Ton verlängert.


    Nachdem die Flöten es über den geteilten, mit Dämpfer spielenden Celli vorgestellt haben, wird es sogleich von Klarinette und 1. Flöte weitergesponnen. Kontrabässe sind hinzugetreten. Karg und einsam wirkt dies alles. Hergestellt wird diese Empfindung (siehe den „Gänsehaut“-Thread) durch den großen Abstand von Thema und Begleitung (zwei Oktaven und mehr), der große Räume dazwischen tonfrei lässt, und natürlich durch die Geringstimmigkeit. Beides zusammen evoziert das Bild einer klagenden Stimme in der Leere. (Man vergleiche eine ähnliche Stelle im zweiten Satz von Beethovens op. 111.) Dieses Bild wird auch durch einen hohen, fahlen Streicherakkord am Ende dieses Abschnittes nicht geändert.


    Thema B gehört zunächst den Hörnern. Es klingt wie ein Choral, vierstimmiger Satz, jedoch ist die Basslinie chromatisch steigend (1:09/1:09/0:59/1:18'). Charakteristisch sind zwei aufsteigende Quinten zu Beginn des Themas (Oberstimme, 1. Horn) und die aufsteigende Linie am Ende. Es klingt ruhig, gelassen und zuversichtlich – doch es endet auf einer Dissonanz.


    Auf dem letzten Ton von B beginnt schon die weitere Verarbeitung von A (Celli ohne Dämpfer, 1:28/1:23/1:12/1:37). Thema A wird mit einem Quintfall angereichert, das könnte man auch als eigenes Thema ansprechen.


    Nach einer Generalpause beginnt der nächste B-Abschnitt alleine in den Bratschen mit einer aufsteigenden Quinte (nun unbegleitet, 2:52/2:39/2:17/3:15), beantwortet von einer ebensolchen in den Celli. Es erinnert an das Vorspiel zum dritten Aufzug des Parsifal. Auch dieses Erscheinen von Thema B bleibt kurz.


    A2 beginnt nun wiederum in den Bratschen (3:30/3:10/2:51/4:00), aufgenommen in den Holzbläsern.


    Thema B erhält nun seine bisher ausführlichste Verarbeitung. In B2 (4:28/4:00/3:29/5:00) wird das Thema in Umkehrung durchgeführt: fallende Quinten (2. Oboe, 2. Klarinette, 1. Fagott), fallende chromatische Linie (1. Oboe). Die Celli beantworten mit der originalen Gestalt. Im Folgenden wird das Thema simultan in originaler und umgekehrter Gestalt durchgeführt. Einige Takte kurz vor A3 erinnern wiederum an Klangwelten des Parsifal


    Mit dem Einsatz der Solo-Klarinette (7:00/6:17/5:18/8:00) ist A3 erreicht. Über der Oktave gis/gis‘ der zweiten Violinen führen die Holzbläser Thema A durch.


    Der Übergang zu B3 ist fließend: Eingeleitet mit einem Paukenwirbel spielen die Celli Thema B (7:47/7:01/5:58/9:04), die ersten Violinen ergänzen ab dem zweiten Ton mit großer Kraft, bald verstärkt durch die übrigen hohen Streicher, doch wie in der Weite verloren. Der piano-Einsatz der Hörner und Posaunen schließt diesen Abschnitt geradezu feierlich ab.


    Ein gis im zweiten Horn bildet die Brücke zu A4. Wieder eröffnen die Holzbläser mit Thema A (8:32/7:46/6:36/10:01), bevor die Streicher über einem Paukenwirbel übernehmen. Zuversicht und Klage mischen sich in seltsamer Weise. Ein leiser Einsatz von Thema B ist in den Celli eingeflochten.


    B4 führt zum äußeren Höhepunkt des Satzes. Wieder sind es die Celli, denen das Thema anvertraut ist (9:27/8:38/7:16/11:00). Nach einer ganz kurzen Pause spielen Violinen, Bratschen und Celli Thema B in drei Oktaven, erst von den Hörnern akkordisch begleitet, dann vom Themenkopf in Trompeten und Posaunen. Eine fast brucknerartige Apotheose von Thema B, endend auf einer Vorwegnahme des ersten Themas des Finalsatzes in Klarinetten und Fagotten in langsamem Tempo (!! 10:29/9:32/8:03/12:08'). Rasch geht es zurück ins Piano.


    Die Flöte eröffnet den letzten Abschnitt A5 (10:41/9:45/8:13/12:26). Der Orchestersatz ist wieder sehr ausgedünnt. Ein insistierendes cis‘ in den Bratschen bleibt bis zum Schluss. Die letzten drei Einsätze von Thema A (2. Violinen, Celli, Kontrabässe im pizzicato) beginnen auf g/G/G1, d. h. im Tritonusabstand zu cis. Die Ähnlichkeit zum Schluss des ersten Satzes ist frappierend.

  • Hilft nun der dritte Satz weiter bei der Beantwortung von Josephs Frage?


    Muß die Vierte unbedingt absolut pechschwarz und düster klingen? Darf auch Hoffnung durchschimmern? Kann es überhaupt eine Idealaufnahme geben?


    Auffällig ist, dass die A-Teile stets im Piano-Bereich bleiben. Wenn ich nichts übersehen habe, überschreitet die vorgeschriebene Lautstärke nie ein Mezzoforte. Darüber hinaus sind weite Partien der A-Teile ganz geringstimmig gesetzt, einstimmig, zweistimmig, dreistimmig, vielleicht grundiert von einem Paukenwirbel. Da diese Stimmen außerdem häufig einen großen Abstand voneinander haben, klingen die A-Abschnitte über weite Strecken ziemlich verloren.


    Die musikalische Entwicklung vollzieht sich also vor allem in den B-Abschnitten. Die Längen von B/B1/B2/B3/B4 sind 2/6/23/7/10 Takte. Die Grenzwerte der Dynamik sind:


    B: piano dolce – poco crescendo – decrescendo
    B1: piano – crescendo – mezzopiano
    B2: pianissimo – piano – mezzoforte – poco forte
    B3: mezzoforte – forte (fortissimo in den Fagotten)
    B4: mezzoforte – forte – fortissimo (1. Horn) – forte fortissimo (Klarinetten/Fagotte) – fortissimo (Blech) – forte fortissimo (Kontrabässe)


    Die Lautstärke der B-Abschnitte nimmt also von Mal zu Mal zu. Was ist mit den Affekten?


    Für mich klingt B sehr beruhigend. Die Instrumentierung mit den vier Hörnern und die choralartige Stimmführung stellen einen Moment von Ordnung, von „heiler Welt“ in unsicherem Umfeld dar. Bedeutsam jedoch das Ende auf einer Dissonanz!


    B1 hat bereits etwas von einer Reminiszenz. Die Vierstimmigkeit ist zur Einstimmigkeit, Zweistimmigkeit, Dreistimmigkeit reduziert. Immerhin endet der Abschnitt nicht auf einer Dissonanz.


    B2 erklingt wieder im vierstimmigen Satz, nun allerdings von den Rohrblattinstrumenten und in Umkehrung gespielt. Violinen weben einen Trauerschleier darüber. Dann erscheint das Thema in tiefer Lage (Celli) und hat sein Beruhgiendes eigentlich ganz verloren – oder? Es hat etwas vom Pfeifen im Wald … nur die 1. Oboe vermag einen kurzen Moment der Sicherheit herzustellen, allerdings in der Umkehrung.


    B3 kommt mit großer Kraft daher, doch klingt es hohl, die Kraft hat kein Fundament, es ist eher ein Anklageruf eines Einzelnen an sein Schicksal, welches sich in den Bydlo-artigen wiederholten Motiven hörbar macht (Oboen, Klarinetten, Fagotte). Immerhin haben die Akkorde in Hörnern und Posaunen, die ganz am Ende zu hören sind, wieder etwas Zuversichtliches.


    B4 scheint nochmal alles zum Guten zu wenden, es klingt wiederum stark und zuversichtlich, doch das kippt sofort. Immerhin erklingt als Vision das erste Thema das Finales an. Es ist ein wenig wie im langsamen Satz von Bruckners 7. Sinfonie (auch die Tonart cis-moll stimmt überein), dort erklingt nach der Apotheose des Themas das „non confundar“ aus dem „Te Deum“, dort gespielt von den vier Wagnertuben.


    So sehe ich in diesem dritten Satz den Kampf von zwei Kraftfeldern: Das eine gehört zu Thema A und geht mit „Verlorenheit in der Weite“ einher, ist jedenfalls negativ konnotiert (Tritonus). Das andere strahlt in seiner Urform Ruhe und Zuversicht aus (Choral, Hornquartett), ist positiv besetzt. Es wird jedoch Anfechtungen unterworfen, die sein „gut sein“ trüben, zur Trauer und zur Anklage wenden.


    Der Kampf wird nicht entschieden, eine letzte Apotheose erstirbt, doch mündet sie in die Vision des ersten Themas des letzten Satzes.


    Josephs Frage bleibt also immer noch unbeantwortet.

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  • Richard Strauss hat in seiner sinfonischen Dichtung „Till Eulenspiegel“ der Verkündigung des Todesurteils ein sehr charakteristisches Motiv gegeben: Eine fallende große Septime (f – Ges), gespielt von Fagotten, Kontrafagott, Hörnern, Posaunen und Tuba. Dieses Motiv kehrt an drei Stellen des Finales von Sibelius‘ 4. Sinfonie wieder. Das erinnert – neben derselben Tonart a-moll – frappierend an die Hammerschläge im Finale von Mahlers 6. Sinfonie, ebenfalls drei an der Zahl in der Urfassung. (Der dritte, von Mahler als „tödlich“ bezeichnete Hammerschlag wurde in der letzten Fassung von Mahler getilgt.)


    Die Form dieses Finales ist – wie beim Finale von Mahlers 6. Sinfonie – ziemlich verwickelt.


    (Zeitangaben wieder in der Reihenfolge Karajan 1965, Barbirolli, Ashkenazy, Vänskä.)


    Einleitung


    Es geht los mit dem bereits am Ende des dritten Satzes vorwegzitierten Thema: Der Satz wird mit einer aufschwungartigen Akkordbrechung der ersten Violinen über fast zwei Oktaven (0:00/0:00/0:00/0:00) eröffnet, wobei der fünfte Ton der Tritonus dis“ der Haupttonart A-Dur ist und doppelt so lange gehalten wird (halbe Note) wie die vier vorausgehenden Viertel. Also Betonung des Tritonus. – Kurz nachdem das Thema die höchste Note a“ erreicht hat, treten weitere Stimmen hinzu. Ein erster Ruhepunkt wird schnell erreicht, danach geht es mit gesteigerter Bewegung (Begleitstimmen!) weiter. Ein zweites Mal hebt die aufschwungartige Akkordbrechung mit dem betonten Tritonus an (0:16/0:17/0:16/0:17).


    Exposition


    Unmittelbar geht es in die erste Themengruppe über: Die Bratschen (man merkt kaum, dass es die Bratschen und nicht die Violinen sind – am besten in Stereo-Aufnahmen, je nach Sitzordnung, 0:19/0:20/0:19/0:20) nehmen einen raschen Anlauf a‘ – h‘ –cis“ – dis“, halten kurz inne und vollenden die Linie mit dem Sprung a‘ – e“ (im folgenden „Anlaufmotiv“ genannt). Danach der erste Einsatz des Glockenspiels in Vierteln: a‘ – h‘ – cis“ – h‘ („Glockenspielmotiv“). Die Violinen nehmen einen rasanten Aufschwung über eine in Terzen aufwärts gespielte Tonleiter, nach der es in Vierteln wieder abwärts geht. Dann wieder das Anlaufmotiv in den Bratschen. (Die in diesem Absatz beschriebenen Ereignisse finden innerhalb weniger Sekunden statt und bilden eine Einheit!)


    Die Töne des Glockenspiels kann man übrigens als transponierte diatonische Variante des ersten Themas des Kopfsatzes (c – d – fis – e) hören. Es ist auch verwandt mit den Hornquinten im ersten Satz.


    Es folgt eine kurze Episode der Solobratsche (0:32/0:35/0:32/0:33), gefolgt von einer kurzen Episode der Solovioline. Letztere geht in ein oktavweise geführtes Tutti der hohen Streicher über und endet im Anlaufmotiv, welches von den Celli ebenfalls mit dem Anlaufmotiv beantwortet wird. Glockenspielmotiv folgt. Es folgt wieder die rasante Tonleiter in Terzen und das Anlaufmotiv in den Violinen.


    Der symmetrische Ablauf der ersten Themengruppe ist also:


    • Anlaufmotiv (Bratsche)
    • Glockenspielmotiv
    • Tonleiter in Terzen
    • Anlaufmotiv (Bratsche)


    • Solo der Bratsche
    • Solo der Violine, übergehend in oktavweises Tutti


    • Anlaufmotiv (Violine, dann Cello)
    • Glockenspielmotiv
    • Tonleiter in Terzen
    • Anlaufmotiv (Violine)


    In der Überleitung hören wir zunächst viel Streichergemurmel (0:57/1:02/0:58/0:58'). Darin ertönt ein neues zweitöniges Motiv in den hohen Holzbläsern, große Terz aufwärts (lang gehaltenes es“, gefolgt von g“). Zweimal ertönt das Motiv, dann folgt sofort das Todesmotiv (g“ – as‘) (hier noch gut versteckt in Flöten und 1. Oboe), das Glockenspielmotiv und ein geradezu ekstatisches Klarinettensolo – das Lachen des Todes?


    Weiterhin ist Streichergemurmel zu hören, dazu Motive aus der ersten Themengruppe (Glockenspielmotiv, Anlaufmotiv, Terztonleiter, Bratschensolo). Dann folgt eine Stelle, in der Es-Dur-Akkorde der Streicher und Hörner auf A-Dur-Akkorde der Holzbläser prallen (2:17/2:29/2:13/2:18, Es – A ist ein Tritonus.)


    Hier beginnt die zweite Themengruppe mit einem neuen Fünfton-Motiv in den Holzbläsern (2:22/2:35/2:18/2:24), unter dem sofort ein Ostinato in den Streichern anhebt. Wiederholung des Fünfton-Motivs, dann imitieren die Hörner (bei Barbirolli gestopft!?) den Schluss des Motivs und gehen in einen kurzen kadenzierenden Choralsatz über.


    Ein neues, chromatisch fallendes Motiv wird von den Violinen gespielt. Es wird gegen Ende des Satzes nochmal wichtig. Der folgende Abschnitt bringt die zweite Themengruppe zu Ende, er wird vom Fünfton-Motiv und dem Ostinato dominiert.


    Durchführung


    Mit dem Einsatz des Anlaufmotivs ohne Anlaufnoten bei 3:40/4:03/3:30/3:40 beginnt die Durchführung. Pianissimo-Tonleitern mit Tonvorrat aus C-Dur in den Streichern, dazu der Schluss des Anlaufmotivs in den Bläsern und das Glockenspielmotiv. – Es folgt ein Pizzicato-Abschnitt der Streicher (4:00/4:24/3:50/3:59). Sehr interessant bei 4:20/4:47/4:07/4:19: Die erste Oboe spielt ein verlängertes B-A-C-H-Motiv (transponiert als c“-h‘-d“-cis“-e“-dis“), die zweite eine weitere Mutation des ersten Themas der Kopfsatzes (hier: es‘ – fis‘ – b‘ – a), und verlängert dieses um c“ und h‘, wodurch auch sie B-A-C-H spielt – mit den richtigen Tönen. – Pizzicati, Anlaufmotiv ohne Anlaufnoten, B-A-C-H weiter, dazu Fünftonmotiv, Glockenspielmotiv, Anlaufmotiv vollständig.


    Das bekannte ekstatische Klarinettensolo führt in einen e-moll-Akkord in Hörnern und Posaunen (5:33/6:06/5:12/5:29), der ein Streicherunisono einleitet, das den Beginn der


    Reprise (stark verkürzt)


    markiert und den Soloepisoden zu Beginn des Satzes entspricht. Wie dort folgt nun die erste Themengruppe:


    • Anlaufmotiv (Hörner)
    • Glockenspielmotiv (Klarinetten + Glockenspiel)
    • Tonleiter in Terzen (Violinen + Bratschen)
    • Anlaufmotiv (Violinen + Bratschen)


    Wie anfangs ertönt nun Streichergemurmel mit dem Motiv mit der großen Terz in den Holzbläsern, darin Glockenspielmotiv (in den Holzbläsern!) und Anlaufmotiv.


    Zerfall der Musik und Coda


    Das B-A-C-H-Motiv kommt zuerst im 1. Horn hinzu (6:45/7:30/6:20/6:42), spätestens jetzt wirkt die Musik zunehmend unorganisiert, sich selbst zersetzend. Das Glockenspiel hat noch einmal einen Einsatz (7:21/8:12/6:56/7:16), aber nur „Forte“ gegen das „fff“ aller anderen Instrumente! Dies ist auch der äußere Höhepunkt des Satzes. Dann folgt die chromatisch fallende Linie in den Violinen und schließlich das Todesmotiv (7:28/8:20/7:05/7:22) im Fortissimo in Trompeten (Ton cis“) und Posaunen (Ton d).


    In der Folge gibt es nur die chromatisch fallenden Linien und das B-A-C-H-Motiv, kombiniert mit dem Großterzmotiv in den Holzbläsern – welches nun zum Kleinterzmotiv geworden ist. Wir sind endgültig auf der Zielgeraden. Dreimal noch spielt die Solooboe das Todesmotiv (ab 8:42/9:41/8:29/8:28'), interpoliert vom Kleinterzmotiv. Der Rest ist Chromatik und Kadenzieren, endend in a-moll.

  • Jetzt bleibt die Frage, wie ganz Ganze semantisch zu entschlüsseln wäre … Mich interessieren besonders:


    • Was bedeutet es, dass das Großterzmotiv nach dem Todesmotiv im Fortissimo zum Kleinterzmotiv geworden ist und beim letzten, dreifachen Erscheinen des Todesmotivs ebenfalls dreimal erklingt, und zwar abwechselnd mit jenem?


    • Was bedeutet das Großterzmotiv überhaupt? Klingt es klagend? Prophetisch? Warnend? Auch bei seinem ersten Erscheinen folgt sofort das Todesmotiv. Dass beide eng gekoppelt sind, ist kaum zu bestreiten.


    • Welchen Charakter hat das „Anlaufmotiv“? Freudig-optimistisch? Kämpferisch-aggressiv? Ich neige zu ersterem, vor allem wegen der Terz-Tonleiter und ihrer Fortsetzung, die ja gar nichts Kämpferisches hat.


    • Was hat das Glockenspielmotiv zu sagen?
  • Zunächst nochmal zu Josephs Frage:


    Muß die Vierte unbedingt absolut pechschwarz und düster klingen? Darf auch Hoffnung durchschimmern? Kann es überhaupt eine Idealaufnahme geben?


    Für den Schluss des Werkes ist m. E. die Sache klar: Das Ende ist hoffnungslos. Die vor dem zweiten Einsatz des Todesmotivs (im Fortissimo) stattfindende Selbstzersetzung, ja: Selbstzerstörung der Musik ist nicht zu überhören. Der letzte Einsatz des Todesmotivs bestätigt nur das, was schon vorher stattfand. Am Ende gibt es keine Hoffnung. Nicht einen Schimmer.


    Es gibt kein lieto fine, kein „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ wie am Ende von Beethovens Pastorale, Bruckners Vierter oder Mahlers Erster. Der Schluss – die Kette von a-moll-Akkorden – ist ja nicht einmal mit dem Vorangegangenen verbunden. Sibelius hört einfach auf, er bietet keine schlüssige Lösung und schon gar keine einfache Lösung.


    Sibelius schrieb im Jahre 1935 in einem Brief an Sir Thomas Beecham: „Von Buchstabe W bis zum Ende Halbe = 100. Die letzten sechs Takte: mf. So ernst wie möglich und ohne Ritardando (tragisch, ohne Tränen, fest umrissen).“


    Das bedeutet nicht, dass es keine freundlicheren Abschnitte in diesem Werk gäbe.


    Vielleicht noch interessant ist das folgende: Teilungen der Oktave.


    Der Tritonus ist das charakteristische Intervall dieses Werkes schlechthin. Er teilt mit seinen sechs Halbtonschritten die Oktave (zwölf Halbtonschritte) in zwei gleiche Teile.


    Die vier Sätze haben die Tonarten a-moll/F-Dur/cis-moll/A-Dur, stehen also jeweils im Großterzabstand. Die große Terz (vier Halbtonschritte) teilt die Oktave in drei gleiche Teile.

  • Erst ein lupenreiner Tristanakkord (gis – d‘ – fis‘ – h‘) in Trompeten und Posaunen, dann g-moll im Holz, dann Tristanakkord auf ais im schweren Blech


    Lieber Wolfram,


    ich bin sehr beeindruckt und danke auch für die Anregung, mich mit der Partitur des Werks zu beschäftigen. Nur der Vollständigkeit halber: das Baß-Ostinato zu Beginn des ersten Satzes e-fis (halbe Noten mit der auskomponierten Achtel-Überschneidung) bringt in das a-Moll-Thema von Anfang an den Tristan-Akkord ein (fis-a-c-e). - Obwohl der Satzbeginn harmonisch ja gar nicht derart komplex ist, fände ich bereits hier einen Bezug zu Ligeti nicht unangebracht. Wie zu Beginn der 5. scheint die Klangvorstellung die einer extremen Verdichtung zu sein, die auf kürzestem Raum vom Solocello über die vielfach unterteilten Streicher übergreift und in einem dissonanten Akkord kulminiert, der sich nur ephemer nach C-Dur auflöst.


    Das alles klingt überhaupt nicht nach dem üblichen spätromantischen Ringen mit viel Chromatik und Alteration, eher nach einer variablen Klangfläche, in deren alles überlagerndem Anwachsen das thematische Geschehen, etwa die Seufzerketten der Streicher, quasi verschluckt wird.


    Auch wenn man einschlägige Partiturstellen mit geteilten Streichern, etwa den Hinterweltler-Choral aus dem Zarathustra, danebenstellt, fällt ins Auge, wie ungewöhnlich Sibelius hier komponiert. Die aus dem Kopfmotiv hervorgehenden, wie Glockenschläge pendelnden Bässe, das rhapsodische Thema des Cellos mit seiner Zweiundreißigstel-Triole, die klangfarbliche Verdüsterung und das schneidende Licht der C-Dur-Vorausnahme haben doch eine Magie, die schwer in Worte zu fassen ist.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Nur der Vollständigkeit halber: das Baß-Ostinato zu Beginn des ersten Satzes e-fis (halbe Noten mit der auskomponierten Achtel-Überschneidung) bringt in das a-Moll-Thema von Anfang an den Tristan-Akkord ein (fis-a-c-e).


    Lieber Farinelli,


    vielen Dank für Deine Worte - und auch dafür, dass Du mir in diesem Thread Gesellschaft leistest! Einsamkeit scheint ja eines der Themen dieser wunderbaren Sinfonie zu sein, das muss sich natürlich nicht in einem Monolog über das Werk widerspiegeln.


    Den Tristan-Akkord unterscheide ich gerne vom Moll-Akkord mit sixte ajoutée. Formal sind beide gleich - in Wagners Tristan wäre es gis-moll (oder as-moll) mit sixte ajoutée iim zweiten Takt. Also gis-moll in a-moll (wenn man nicht die übliche funktionale Erklärung als hartverminderten Doppeldominantseptakkord mit Vorhalt auf der großen Sext bemüht). Jedenfalls nicht tonikal oder subdomantisch.


    Darum würde ich den Anfang eher als sixte ajoutée bezeichnen. Es ist aber natürlich nur ein Etikett. Bei der späteren Stelle, die ich genannt hatte, taucht der Akkord allerdings auch genau in der Umkehrung und der Lage auf wie im Tristan und wirkt darum eher wie ein Zitat.


    Faszinierend ist aber auch, dass Sibelius diesen schwankenden E/Fis-Grund mal auf C-dur/a-moll, mal auf Ges-Dur/es-moll bezieht (Fis = Ges). Die erste Aufhellung des Werkes kommt durch eine solche Umdeutung von E/Ges als Fundament einer Ges-Klangsphäre zustande. Auch dies ist sicher eine magische Stelle.


    Noch stärker finde ich die Stelle wenige Takte später, wenn die Basslinie G - Fis - E - D ihr erwartetes C nicht erreicht (unter den gestopften Hörnern auf c-e-fis) - die Wirkung ist, als ob man den Boden unter den Füßen verliert. Sibelius hat das Problem gelöst, ein "Loch" zu komponieren. (Das ist wohl die von Dir gemeinte ephemere Auflösung?)

  • Lieber Wolfram,


    nach mehreren partiturbegleiteten Sessions mit der IV. bin ich immer noch nicht schlauer, was das Finale betrifft. Sogar dein Todesmotiv habe ich suchen müssen (und zwar in deiner Analyse, wo ich eher fündig wurde als in der Partitur). Nun gut, ein Nonensprung. Ist das nicht eher eine strukturelle Variante des Tritonus? Eine unüberbietbare Zweckentfremdung des kadenzierenden Halbtonschritts? - (Hierhin gehört auch die Frage nach Groß- und Kleinterz - Materialschau in der Nachfolge von Brahms´ IV., 1)


    Wie dem auch sei - was mir auffiel, war eine Strukturähnlichkeit der Finalpassagen der IV., V. und VII., die etwas zu der von dir untersuchten Todesproblematik beitragen könnte. Es handelt sich um die Verbindung aus zerklüftetem Bläserchoral und hoher Streicher-Unisonolinie in synkopierten, übergebundenen Halben, diatonisch oder chromatisch, oft bloß zwischen zwei Tönen wechselnd, "pulsend".


    Von der "sprechenden" Symbolik der V. aus gesehen, ist das ein aus dem Schwanenmotiv entwickelter Durchbruchsgedanke, der ja etwas von Seelenflug, Überwindung irdischer Schranken und dgl. mehr hat. Am Ende der VII. sieht das schon brüchiger aus, da bricht der Choral ja eher ab, und es endet in einer Art Klage, wehmütig einer unerreichbaren Ferne hinterherwinkend. - Vergleicht man dazu die IV., so sind die Verhältnisse hier am schwärzesten. Es öffnet sich nicht einmal diese metaphysische Dimension. Ich meine die Stelle 14 T nach Part.Zf. P, obwohl die Streicherlinie eigentlich schon Part.Zf. O anfängt, entwickelt aus dem Achtel-Triller über die schwankenden Triolen; das ganze endend genau bei Part.Zf. S. Das ausnotierte Ritardando der Violinen Part.Zf. P und die zerfasernde Struktur dessen, was sich darunter im Blech und im Holz abspielt, halte ich für sehr schwer zu realisierende Musik.


    Wie gesagt, vielleicht ist die übergebundene Streicherlinie ein Schlüssel zum Verständnis, eine Art privater Metaphorik des Meisters fürs Eschatologische. Die unglaublich dissonanten Reibungen im Blechchoral darunter, der kaum ein solcher zu nennen ist, das Implosive dieser gar nicht zur Entfaltung kommenden Stauungen, der falsche, ausgeleierte Höhepunkt beim fff vor Part.Zf. S, wo das Glockenspiel zuletzt erklingt, während die Violinen, statt sich emporzuschwingen, ja unaufhaltsam auf dem absteigenden Ast spielen (erst ging es von fis´´-g´´ immerhin bis zu a´´-b´´ und zurück zu fis´´-e´´, Part.Zf. P; dann - immer zweigestrichen - sogar von as bis zum [dreigestrichenen] dis, und von da unaufhaltsam abwärts bis zum e´´) - all das überzeugt mich mehr in deiner Beschreibung als auf der CD. Übrigens bei Berglund/ Helsinki sehr gelungen (ich würde das nicht nachgebende tempo ganz am Schluß nicht zur Hauptsache erklären, ebensowenig wie die letzten Schläge der V., 3).


    Also die grotesken, spukhaften Farben lassen mich klanglich noch am ehesten an Mahlers V. (Scherzo) und VII. (Scherzo und in gewisser Hinsicht das hohle Finale) denken, keinesfalls an die massive VI. Wenn Sibelius in dieser Art weiter komponiert hätte, wäre er ein eigenartiger Komponist geworden. - Aber auch Mahler kehrte nach der bösen VII. wieder zur Spätromatik zurück; will sagen: zur Erlösung.


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