Goethe Lieder von Tomaschek interpretiert von Ildikò Raimondi

  • „Sie haben das Gedicht verstanden [...] dankbar zu freundlichem Erinnern genußreicher Stunden“ Johann Wolfgang von Goethe zu Wenzel Johann Tomaschek in Cheb, 6. August 1822)


    Dieses einzig belegte und äußerst gut dokumentierte Zusammentreffen zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Johann Wenzel Tomaschek
    in Cheb und die überlieferte mehr als wohlwollende Kritik des
    Dichterfürsten über das Liedschaffen dieses zu Unrecht vergessenen
    Komponisten, machen die vorliegende CD von paladino music,
    die zahlreiche Lieder als Ersteinspielung enthält und weitere Lieder
    erstmals in Originaltonart diskographisch festhält, zu einer spannenden
    Wiederentdeckung Tomascheks.


    Ildikó Raimondi
    ist nicht nur eine gefeierte Opernsängerin, sondern auch eine gesuchte
    Liedinterpretin und Konzertsängerin. Seit 1991 gehört sie der Wiener Staatsoper:
    an, wo sie bisher mehr als vierzig Rollen verkörperte. Dort war sie in
    jüngster Zeit als Dame (Cardillac), Donna Elvira (Don Giovanni),
    Rosalinde (Die Fledermaus), Pamina (Die Zauberflöte) und als Alice
    (Falstaff) zu hören. Sie ist aber gleichermaßen international im Opern-
    und Konzertbetrieb und bei den bekanntesten Festspielen gefragt.


    Leopold Hager,
    in Salzburg geboren, studierte an der Hochschule Mozarteum Dirigieren,
    Orgel, Klavier, Cembalo und Komposition. Nach ersten Engagements in
    Mainz, Linz und Köln war er Generalmusikdirektor in Freiburg/Breisgau,
    Chefdirigent des Mozarteum Orchester Salzburg, musikalischer Direktor
    des RTL- Sinfonieorchesters Luxemburg sowie Chefdirigent der Wiener
    Volksoper. Zahlreiche Konzertreisen führten ihn durch Europa und
    Amerika.


    1 An Linna
    2 Wanderers Nachtlied
    3 An den Mond
    4 Auf dem see
    5 Erlkönig
    6 Der König von Thule
    7 Der Fischer
    8 Heidenröslein
    9 An die Entferne
    10 Nähe des Geliebten
    11 Die Spröde
    12 Die Bekehrte
    13 Vorschlag zu Güte
    14 Die Spinnerin
    15 Das Veilchen
    16 Erster Verlust
    17 Schäfers Klagelied
    18 Sorge
    19 Frühzeitiger Frühling
    20 Mignons Sehnsucht
    21 Das Geheimnis
    22 Rastlose Liebe
    CD Präsentation: https://www.gramola.at/de/Konzertipps/Ildiko-Raimondi

  • Auf der Homepage von Ildiko Raimondi kann man in einige der Tomaschek-Lieder hineinhören!


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Paladino music ist ein (eher kleines aber feines) Klassiklabel aus Wien
    Entgegen meiner sonstigen Grundhaltung habe ich einer Grundhaltung zugestimmt unter der Voraussetzung, daß hier interessantes gepostet wird - und nicht nur reine Werbung, wobei letzteres nicht ausgeschlossen wurde. Es sind ja oft gerade die kleinen Labels die - oft unbeachtet von den Medien - die interessantesten Aufnahmen auf den Markt bringen.
    Der Einstand mit Wenzel Tomaschek kann als besonders geglückt betrachtet werden, da hier auf eine Rarität hingewiesen wird, noch dazu interpretiert von einer prominenten Sängerin, was an sich noch keine Garantie für eine ideale Interpretation ist - in diesem Fall würde ich aber von einem Idealfall sprechen......

    Das Mitglied "Paladino music" hat hier einen Thread eröffnet welcher - auf lange Sicht - interessant werden könnte.
    Ich habe bisher nur in jene Samples hineinhören können, die auf der Homepage von Ildiko Raimondi zur Verfügung gestellt wurden, da unsere Werbepartne sie derzeit (noch?) nicht anbieten - und ich muß sagen, daß sie mich überzeugten.
    Völlig anders in der Stimmung und im Gesamteindruck als andere Vertonungen habe ich hier einige Lieder nach Gedichten von Goethe hören können - und es erscheint unverständlich warum sie erst jetzt wiederentdeckt wurden. Die Wiederentdeckung eines Komponisten, bzw seiner Werke, ist zumeist einem Kleinlabel zu verdanken - nicht dem Tamino Wunderwuzzi Alfred (der aber gerne GUTE CD-Tipps weitergibt - egal woher sie kommen)


    mit freundlichen Grüßen


    Alfred


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ...vergessenen Komponisten


    Als ich - wie empfohlen - diese Hörproben anklickte, hatte ich mich auf eine völlig unbekannte, noch nie gehörte Musik eingestellt ..


    Bin dann aber bei den ersten Klaviertakten fast vom Stuhl gefallen ... ja das war doch was ganz bekanntes! Dieses Stück "An Linna" wurde von Hermann Prey (Michael Krist, Klavier) 1974 aufgenommen
    Nun bin ich natürlich auf die anderen 21 Goethe-Lieder in der Interpretation von Ildikó Raimondi gespannt.

  • Von 63 Liedkompositionen des Johann Wenzel Tomaschek hat man für diese CD 22 Lieder nach Texten von Goethe ausgesucht (siehe Liste im vorigen Beitrag). Es ist nicht bekannt, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte.
    Für mich waren die meisten Lieder eine Bereicherung, aber man ist natürlich durch die Kenntnis der Schubert-Kompositionen ganz erheblich vorbelastet und hat Schubert schon seit Jahrzehnten im Kopf.
    Diese Tomaschek-Lieder werden sehr textverständlich dargeboten, Frau Raimondi ist eine ausgezeichnete Interpretin dieser Lieder, es ist eine Freude zuzuhören.


    Musikalisch ist es schon interessant „Wanderers Nachtlied“ mit so einem langen einleitenden Vorspiel zu hören. Ebenso den schönen Ausklang nach den neun Strophen des Liedes „An den Mond“. Wenn ich diese Lieder noch einige Male angehört habe, werde ich über diese Eindrücke nochmals berichten.


    Rätselhaftes tut sich im Booklet unter der Liedüberschrift Erster Verlust – unter der acht Strophen gedruckt sind. Da geht nämlich die letzte Strophe des Liedes „Erster Verlust“ einfach in die zweite Strophe von „Schäfers Klagelied“ über; auf den Abdruck der ersten Strophe des berühmten Textes:


    Da droben auf jenem Berge,
    Da steh ich tausendmal,
    An meinem Stabe hingebogen,
    Und schaue hinab in das Tal.


    sucht der Liedfreund vergebens. Aber Ildikó Raimondi singt natürlich „Schäfers Klagelied“ mit allen Strophen und tauscht im Text nur das ansonsten übliche „fortgezogen“ in „weggezogen“.
    Schade, dass man bei der Erstellung des Begleitbüchleins nicht sorgfältiger zu Werke ging. Bezüglich der künstlerischen Darbietung, ist diese Aufnahme empfehlenswert!

  • Zit. hart: "Musikalisch ist es schon interessant „Wanderers Nachtlied“ mit so einem langen einleitenden Vorspiel zu hören."


    Es ist nicht nur "interessant", es ist aufschlussreich, wenn man mal der Frage nachgeht, welche Funktion diese Klaviereinleitung in Tomascheks Lied hat.


    Sie erschließt sich am Schluss des Liedes. Dort wird hörbar, mit welcher kompositorischen Intention Tomaschek diese Verse Goethes vertont hat: Die Verse "Süßer Friede, / Komm, ach komm in meine Brust" werden wiederholt. Bei der Wiederholung wird die Eindringlichkeit dieser Bitte musikalisch durch die Linienführung der melodischen Linie der Singstimme noch gesteigert, - unter anderem dadurch, dass über das Wort "Friede" ein Melisma gelegt wird.


    Das "lange einleitende Vorspiel" ist deshalb so lang, weil es den am Ende des Liedes kompositorisch herbeigerufenen "Frieden" sozusagen klanglich antizipiert. Dahinter steht ein Verständnis von Liedkomposition, dem nachzugehen interessant wäre, - vor allem unter dem Aspekt, dass Goethe Tomascheks Kompositionen seiner Gedichte schätzte, die Schuberts aber überhaupt nicht.


    Warum wohl?

  • Ja, lieber Helmut Hofmann,
    Der Herr Geheimrat fürchtete wohl die Dominanz der Musik. Deshalb fühlte er sich auch mehr zu den Herren Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter hinhezogen, denke ich mal so ...


    Das Goethe-Lob bezüglich der Tomaschek-Lieder ist ja dokumentiert und ich schließe mich diesem Lob an (wenn´s nicht vermessen ist) ; ich war überrascht, dass mich diese Kompositionen so beeindruckt haben - der "Erlkönig" muss es nicht unbedingt sein ...

  • Zit. hart: "Der Herr Geheimrat fürchtete wohl die Dominanz der Musik."


    Nicht die Dominanz, sondern die Vereinnahmung seiner Lyrik durch die Musik. Er war der Meinung, seine Lyrik genüge sich selbst. Und deshalb akzeptierte er allenfalls solche Vertonungen, die dieser Lyrik musikalisch nichts an eigenem Ausdruck durch den Komponisten hinzufügten.


    Es ist, wenn man mal in diesem Wortspiel bleiben möchte, vielleicht so auszudrücken:


    Herr Geheimrat von Goethe akzeptierten, wenn überhaupt, dann allenfalls eine Liedkomposition von syllabischer Dienstbarkeit.

  • Zitat

    syllabischer Dienstbarkeit.

    Das ist vielleicht doch etwas hart geurteilt, denn Tomaschek geht weit über "Al-le mei-ne Ent-chen" hinaus, wie noch zu beleuchten sein wird. Tomaschek war zu seiner Zeit schließlich ein bedeutender Klaviervirtuose und deshalb hat er wohl auch etwas für "sein" Instrument getan.

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  • Na, da scheint aber ein gehöriges Missverständnis des Begriffes "syllabische Dienstbarkeit" vorzuliegen. Damit ist eine bestimmte Art und Weise gemeint, lyrischen Text in Musik zu setzen. Eine Wertung im Sinne von "Da komponiert einer Lieder im Sinne von >Alle meine Entchen<" ist damit nicht verbunden, - obwohl - das ist einzuräumen - der Begriff einen leicht polemischen Beigeschmack trägt.


    Der Begriff stammt nicht von mir, sondern von dem Musikologen Manfred Wagner. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Beitrag vom 11. Nov. 2010 im Thread "Sprache und Musik im Lied". Es ist erwiesen, dass Goethe Lieder schätzte, die mit dieser kompositorischen Intention geschrieben wurden. Ob auch Tomaschek nach diesem Prinzip seine Lieder komponiert hat, wäre nachzuprüfen und nachzuweisen.

  • Das Lob, das Goethe Tomschek bei der Begegnung in Cheb am 6. August 1822 spendete, bezog sich auf dessen Lied „Mignons Sehnsucht“ („Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“). Goethe soll gesagt haben: „Sie haben das Gedicht verstanden“, und hinzugefügt haben: „Ich kann nicht begreifen, wie Beethoven und Spohr das Lied gänzlich missverstehen konnten, als sie es durchcomponirten; … sollte ich glauben, für den Tondichter hinreichend, ihm anzuzeigen, daß ich von ihm bloß ein Lied erwarte. Mignon kann wohl ihrem Wesen nach Lied, aber keine Arie singen.“


    Das ist ein Urteil, das ganz und gar dem Grundverständnis Goethes von Liedkomposition entspricht. Für Goethe genügten seine Gedichte sich selbst, ruhten vollendet in sich und bedurften keiner ihnen beigefügten zusätzlichen Aussage, was nach seiner Auffassung dann geschieht, wenn der Komponist mehr tut, als die Verse in der ihnen eigenen sprachlichen Struktur in eine Musik zu setzen, die diese unter Beibehaltung dieser Struktur gleichsam zu transportieren vermag. Er soll das, was der lyrische Text sagt, mit musikalischen Mitteln zu Ausdruck bringen. Er soll ihn nicht mit musikalischen Mitteln interpretieren.


    Goethe hat sich mehrfach und in vierlerlei Weise über Lieder und die Art und Weise, wie sie Lyrik musikalisch aufgreifen sollen, geäußert. In unserem Zusammenhang ist von Belang, was aus Briefen an Zelter hervorgeht. Sie sollen hier nicht im einzelnen zitiert werden, - nur der Kern der Äußerung soll wiedergegeben werden. Für Goethe soll ein Lied folgendes leisten. Es soll
    - das Gedicht „auf den Fittichen der Musik tragen“;
    - „den Hörer in die Stimmung versetzen, welche das Gedicht angibt“.
    Das Gedicht soll also – unter Beibehaltung seiner sprachlichen Struktur und seiner dichterischen Aussage – lediglich durch die Musik „getragen“ werden. Auf keinen Fall soll Musik also den lyrischen Text „benutzen“, um auf ihm als Grundlage und mit ihm als Medium eine kompositorisch eigene Aussage zu treffen.


    Erfüllt Tomascheks Lied „Mignons Sehnsucht“ diese Bedingungen? Ich meine ja. Es ist in seiner kompositorischen Struktur keine Interpretation von Goethes Gedicht, sondern sein musikalischer „Träger“.


    Grundsätzlich gilt: Das Lied ist nicht „durchcomponirt“, sondern ein Strophenlied. Es ist in seiner musikalischen Struktur einfach angelegt: Mit eingängigen Melodiezeilen, die in ihrer Harmonisierung nicht in weitab liegende Tonarten ausgreifen und von einer aus gebrochenen, zwischen Bass und Diskant rhythmisch pendelnden Klavierbegleitung getragen sind.


    Auf dem ersten Vers liegt eine bogenförmig angelegte Vokallinie. Sie steigt aber nicht gradlinig auf, sondern ist bei den Worten „du“ und „Zitronen“ mit einem kleinen Melisma versehen. Im folgenden geht das nach diesem kompositorischen Prinzip weiter: Jeder Vers trägt eine eigene Melodiezeile, die eingängig und liedhaft schlicht klingt und keine großen Intervallsprünge aufweist. In die jeweils steigende und fallende Bewegung der melodischen Linie sind immer wieder einmal kleine bogenförmige Verzierungen eingelagert, mit denen bestimmte lyrische Worte musikalisch besonders hervorgehoben werden: „Goldorangen“, „blauen Himmel“, „Lorbeer“ zum Beispiel.


    Die Frage „Kennst du es wohl?“ wird aus aufsteigender melodischer Linie gesungen und höherer Lage noch einmal wiederholt, um der Aussage des lyrischen Textes Nachdruck zu verleihen. Eindrucksvoll ist dabei, dass die melodische Linie jeweils in einen nachklingenden hohen Akkord im Klavierdiskant mündet.


    Bei „Dahin, dahin“ fällt die Vokallinie zunächst ab, um beim zweiten „Dahin“ wieder anzusteigen und damit dieses Wort musikalisch zu akzentuieren. Bei letzten Vers arbeitet Tomaschek wieder mit dem Einsatz eines Melismas auf dem Wort „dir“ und zusätzlich mit einer Dehnung auf der aufsteigenden Vokallinie bei dem Wort „mein“. Diese endet dann bei dem Wort „ziehn“ auf dem Grundton.


    Wenn man dieses Lied in der Gefälligkeit der Vokallinie und der bewusst auf Einfachheit abgestellten Klanglichkeit seiner Klavierbegleitung hört, dann kann man sehr wohl verstehen und nachvollziehen, dass es Goethe gefallen haben muss. Hätte er die Möglichkeit gehabt, die Vertonungen von Schumann oder gar von Hugo Wolf zu hören (der wohl gelungesten aller Vertonungen dieses Gedichts), - er hätte sich mit Grausen abgewendet.


    Sein Argument, diese „Mignon“ könne eigentlich nur ein (einfaches) Lied, aber keine „Arie“ singen, ist ja wohl nicht von der Hand zu weisen. „Mit den Wesen der Natur erwacht sie und geht sie zur Ruhe“, heißt es von ihr in Goethes Roman. Und das, was Tomaschek sie singen lässt, passt durchaus zu diesem Aspekt dieser literarischen Gestalt.


    Auf der anderen Seite setzen Liedkomponisten bei der Vertonung von Lyrik aber nicht nur am Wesen einer literarischen Figur an, sofern sie es mit einer lyrischen Äußerung derselben zu tun haben, sondern sie fühlen sich dem lyrischen Text und seiner ganz spezifischen Gestalt und dichterischen Aussage verpflichtet.


    Und hier nun ist zu fragen, ob die kompositorische Form des Strophenliedes einem Gedicht, das in den einzelnen Strophen divergente lyrische Bilder und unterschiedliche dichterische Aussagen aufweist, gerecht zu werden vermag. Diese Frage ist schwer zu beantworten, und vielleicht ist sie ja letzten Endes irrelevant. Robert Schumann hat sich auf sibyllinische Weise vor einer klaren Antwort gedrückt und auf Beethoven verwiesen.


    Nachdenklich macht aber dieses: Schubert, der ursprünglich wohl ein Strophenlied komponieren wollte, sah sich aus diesem Grund genötigt, zumindest bei der dritten Strophe eine Modifikation vorzunehmen. Die lyrischen Bilder nötigten ihn zum Ausweichen von A-Dur nach a-Moll und zu einer Veränderung in der Führung der melodischen Linie der Singstimme.


    Auf einen Vergleich mit Schuberts Komposition soll hier verzichtet werden. Von den übrigen Vertonungen dieses Gedichts gleich gar nicht zu reden. Nur eine kleine Anmerkung sei erlaubt, die Eigenart der Vertonung von Tomaschek betreffend, - verglichen mit der von Schubert: Der Verlauf und die Struktur der melodischen Linie der Singstimme ist bei Schubert deutlich komplexer, von der deutlich differenzierteren Faktur des Klaviersatzes einmal ganz abgesehen.


    Das soll keine Kritik an der klanglichen Schönheit des Liedes von Tomaschek sein. Diese ist unbestreitbar. Es ist lediglich ein Hinweis auf den Unterschied im Umgang der beiden Komponisten mit dem lyrischen Text. Und dieser ist bei Schubert hörbar musikalisch reflektierter, - heißt: Der sprachlichen Struktur und der dichterischen Aussage eher gerecht werdend.


    Goethe, der Schuberts Lied wohl nicht kannte, obwohl es längst vorlag, musste das anders sehen. Aber für Dichter ist ihr poetisches Werk der Gipfel dessen, was sie zu sagen haben. Da gibt es keinen leeren Raum, der mit zusätzlichen künstlerischen Botschaften ausgefüllt werden könnte.

  • Beim neuerlichen Hören dieses Liedes denke ich: Die stark analytisch ausgerichtete Liedbetrachtung birgt die Gefahr in sich, dass man dem ästhetischen Aspekt nicht in angemessener Weise gerecht wird. „Mignons Sehnsucht“ ist – wie viele Lieder Tomascheks – melodisch und harmonisch überaus wohlklingend und eingängig. Zudem wird es von Ildiko Raimondi und Leopold Hager in einer seiner musikalischen Faktur voll gerecht werdenden Weise interpretiert.


    Beeindruckt hat mich insbesondere die Bewusstheit des Stimmeinsatzes bei Ildiko Raimondi: Die Worte am Versende („blühn“, „glühn“, „weht“ usw.) werden sehr behutsam artikuliert, so dass sich ihre seelische Dimension erschließt. Hervorragend gelingt den beiden das jeweils letzte Verspaar: „Dahin! Dahin! …“. Die Stimme entfaltet klangliche Größe und Leopold Hager arbeitet die ansteigende und in einem Abschlussakkord gipfelnde melodische Linie der Klavierbegleitung höchst markant heraus.


    Diese Tomaschek-Lied-Edition ist ohnehin eine verdienstvolle Sache, wie mir scheint. Ich kannte von diesem Komponisten nur die acht Lieder, die 1971 auf der DG Archiv-Produktions-LP „Das Wiener Lied um Schubert“ (Hermann Prey / Leonard Hokanson) erschienen waren. Diese CD von paladino music bietet mir nun die Möglichkeit Goethe-Vertonungen von Tomaschek zu hören, die mir bislang völlig unbekannt waren, und auf diese Weise den Komponisten noch besser kennenzulernen. Darüber kann sich der Liedfreund eigentlich nur freuen!

  • Dieser Beurteilung ist eigentlich nichts hinzuzufügen und ich schreibe nur, um deutlich zu machen, dass das nicht ungelesen hier steht. Aber im Hofmannschen Beitrag vom 21. Januar war ich über die in Klammern gesetzte Aussage:

    Zitat

    (der wohl gelungensten aller Vertonungen dieses Gedichts),

    etwas überrascht. Bis dahin hatte ich noch nicht zur Kenntnis genommen, dass praktisch jede Sängerin von Format dieses Hugo Wolf-Lied singt.
    Bei Hugo Wolf geht es ja in den ersten vier Gedichtszeilen recht verhalten zu, das Klavier als ganz dezente „Hintergrundmusik“ zur Singstimme. Aber dann entwickelt sich daraus eine fast dramatische „Kleinoper“. Eindeutig hat man hier eine größere musikalische Bandbreite und Wolf hat dann ja auch noch Orchesterfassungen hinzugetan, weil ihm das Klavier nicht ausreichend schien.
    Wie Helmut Hofmann wohl zutreffend vermutet, wäre Meister Goethe ob dieser musikalischen Interpretation von Hugo Wolf nicht begeistert gewesen, aber wo macht man diese superlative Aussage ("gelungensten") fest? So ganz neu ist es ja nicht, dass Gedichte sehr unterschiedlich gelesen und vertont werden. Warum lässt es Wolf in der Drachenhöhle so mächtig krachen? Kommt da der (fast) verhinderte Opernkomponist durch? In der Fassung von Tomaschek wird dagegen ohne übersteigernde Dramatik von Drachen und stürzenden Felsen berichtet, was auch seine Qualität hat.

  • Lieber hart,


    (ich hoffe, ich darf mir diese Anrede erlauben. Vom "hartschen Beitrag" zu sprechen, ist mir sprachlich zu holprig und zu steif.) Also denn:


    Dein Einwand ist berechtigt, was diese Anmerkung in Klammer anbelangt, - die Vertonung des Gedichts durch Hugo Wolf betreffend. Das war meine ganz subjektive Beurteilung dieser Vertonung, und eben deshalb habe ich sie im Klammer gesetzt. Vielleicht hätte ich das an dieser Stelle draußenlassen sollen.


    Ich könnte mein Urteil über das Lied von Hugo Wolf sogar begründen, halte das hier aber für den falschen Ort. Dass ich das Lied von Tomaschek ebenfalls für höchst eindrucksvoll halte - und dem lyrischen Text durchaus auf seine(!) Weise gerecht werdend - habe ich ja wohl deutlich genug gesagt.


    Ich meine im übrigen, dass wir Elemente des subjektiven Urteilens nicht gänzlich aus der Liedbetrachtung ausklammern sollten. Das macht die Sache für Leser interessanter.

  • Zitat

    Ich meine im übrigen, dass wir Elemente des subjektiven Urteilens nicht gänzlich aus der Liedbetrachtung ausklammern sollten.


    Nein, das sollten wir nicht - und das gilt wohl nicht alleine für Liedbetrachtungen, sondern für Kunstbetrachtungen jeglicher Art. So wie sich bei "Mignons Sehnsucht" der Vergleich mit der Komposition von Hugo Wolf aufgedrängt hat, kommt man bei der Betrachtung von Tomascheks "Schäfers Klagelied" nicht an Schubert vorbei. Hier sind sich die beiden Komponisten jedoch zeitlich näher.


    Tomaschek beginnt dieses Lied mit einem weit gefassten trillernden und einstimmenden Klavierspiel. Auch zwischen den Strophen wird ein kleines Klavier-Zwischenspiel geboten, jedoch nicht zwischen der vierten und fünften Strophe, denn diese fasst der Komponist zusammen. Zwischen der fünften und sechsten Strophe und zum Ausklang kommt der Pianist dann wieder zur Geltung. Goethe wäre vermutlich mit beiden Kompositionen zufrieden gewesen. Zum besseren Verständnis füge ich den Liedtext ein (so wie er auf der CD gesungen wird)


    Schäfers Klagelied

    Da droben auf jenem Berge,
    Da steh ich tausendmal,
    An meinem Stabe gebogen
    Und schaue hinab in das Tal.


    Dann folg ich der weidenden Herde,
    Mein Hündchen bewahret mir sie.
    Ich bin heruntergekommen
    Und weiß doch selber nicht wie.


    Da stehet von schönen Blumen
    Die ganze Wiese so voll.
    Ich breche sie, ohne zu wissen
    Wem ich sie geben soll.


    Und Regen, Sturm und Gewitter
    Verpass ich unter dem Baum.
    Die Türe dort bleibet verschlossen
    Denn alles ist leider ein Traum.


    Es stehet ein Regenbogen
    Wohl über jenem Haus!
    Sie aber ist weggezogen,
    Und weit in das Land hinaus.


    Hinaus in das Land und weiter,
    Vielleicht gar über die See.
    Vorüber, ihr Schafe, vorüber!
    Dem Schäfer ist gar so weh.


    Johann Wolfgang von Goethe

  • "Goethe wäre vermutlich mit beiden Kompositionen zufrieden gewesen. "


    Diese kühne These ist interessant. Denn damit provoziert hart - ich vermute: ungewollt - einen Liedvergleich Tomaschek - Schubert unter der Vorgabe von Goethes Verständnis von Liedkomposition.


    Hatte ich an sich nicht vor, reizt mich aber!


    Insofern: Danke!

  • Zit. hart: ......." Halb zog er ihn, halb sank er hin ... "


    Ich dachte es mir! Gleichwohl: Das mit dem "Danke" ist durchaus ernst gemeint. Die Frage, ob Goethe mit Schuberts Vertonung seines Gedichts "Schäfers Klagelied" zufriedengewesen wäre und sie begrüßt hätte, hat mich wirklich dazu angespornt, ihr nachtzugehen.


    Natürlich geht es dabei sowohl um eine hypothetische Frage als auch um eine hypothetische Antwort. Goethe hat Schuberts Komposition mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gekannt, obwohl sie - wenn ich das im Augenblick richtig in Erinnerung habe - 1821 im Druck erschien. Aber in Wien, - und nicht in Weimar. Damals waren solche räumlichen Distanzen von erheblicher Bedeutung. Heine wusste auch nur vom Hörensagen, dass ein gewisser "Schubert" in Wien Gedichte von ihm vertont haben solle. Und welches Verhältnis Goethe zu Schuberts Liedkompositionen hatte, ist ja nun auch auf für ihn unrühmliche Weise dokumentiert.


    Gleich vorweg kann ich schon mal sagen: Mit Tomascheks Lied wäre er ganz sicher zufrieden und kompositorisch einverstanden gewesen. Was Schuberts Lied anbelangt, habe ich so meine Zweifel, werde das aber noch genauer nachprüfen. Das soll in zwei Schritten geschehen, - schön nacheinander: Erst Tomaschek, dann Schubert.

  • Goethes Gedicht spielt mit Motiven aus der Schäferpoesie des Rokoko und der Anakreontik. Hört man unter diesem Aspekt das Klaviervorspiel, dann fällt einem sofort auf, dass Tomaschek Goethes Gedicht in dem Sinne in Musik gesetzt hat, wie dieser es verstanden haben wollte: Über ruhigen Bewegungen im Klavierbass erheben sich im Diskant barocke Klangfiguren aus Sechzehnteln.


    Das Lied ist rhythmisch geprägt von einem ruhig sich entfaltenden Dreivierteltakt und klanglich von der Dominanz einer Moll-Harmonik, die allerdings an bestimmten Stellen in den Dur-Bereich ausgreift. Offensichtlich arbeitet Tomaschek ganz bewusst mit dem Tongeschlecht als Ausdrucksmittel, und die Dominanz der Moll-Harmonik erklärt sich aus der Überschrift und dem dichterischen Gehalt des lyrischen Textes: „Ein „Klagelied“.


    Melodisch ist das Lied relativ einfach angelegt. Auf jedem Vers liegt eine Melodiezeile, die bogenförmig angelegt ist. Ihren Höhepunkt hat sie jeweils auf der zweiten Vershälfte, und sie fällt zum Ende des Verses hin leicht ab. Dort endet sie aber nicht auf dem Grundton, sondern auf der Terz oder der Quart, damit ein Anschluss für die nachfolgende Zeile besteht. Erst am Strophenende wird der Grundton erreicht.


    Bei den ersten drei Strophen ist die melodische Struktur – wie beschrieben - identisch, nicht aber die Klavierbegleitung. In der zweiten Strophe erklingen dort punktuelle Einzeltöne, die dem Klanggeschehen einen starken rhythmischen Akzent im Sinne des zugrundliegenden Dreiviertelaktes verleihen. Bei dem Wort „herunter gekommen“ steigen diese Einzeltöne aus dem tiefen Bassbereich in den Diskant auf und reflektieren auf diese Weise den semantischen Gehalt des Wortes.


    Die melodische Linie der vierten Strophe weist eine für das Lied neue Struktur auf, - es handelt sich bei ihm also um ein modifiziertes Strophenlied: Sie ist jetzt nicht mehr bogenförmig angelegt, sondern weist Sprünge mit zum Teil größeren Intervallen auf. Eine leichte Dramatik kommt in das Lied, - auch in der jetzt dynamischer wirkenden Klavierbegleitung. Auf diese Weise wird die Aussage der lyrischen Bilder musikalisch aufgegriffen: „Und Regen, Sturm und Gewitter…“.


    Das setzt sich in der fünften Strophe so fort, die – im Unterschied von den drei vorangegangenen Strophen - nicht durch ein Klavierzwischenspiel abgetrennt ist, sondern mit der vierten eine klangliche Einheit bildet. Die Vokallinie, die schon in der vierten sich in höhere Lagen bewegte, steigt jetzt noch höher auf. Beim Vers „Und weit in das Land hinaus“ kommt aber wieder Ruhe in die heftige Bewegung der Vokallinie und in die Dynamik der Klavierbegleitung.


    Mit der letzten Strophe kehrt die melodische Linie, die die drei ersten Strophen prägte, wieder in das Lied zurück. Bei dem Wort „weh“, dem letzten des Liedes, tritt jedoch eine Verzögerung in ihren klanglichen Verlauf: Sie verharrt mit einer Dehnung auf der Quarte und setzt danach mit einer Wiederholung des letzte Verses erneut ein. Nun beschreibt sie bei dem Wort „Schäfer“ aber ein weit ausgreifenden melodischen Bogen und noch einem einen kleineren bei den Worten „gar so weh“. Dem emotionalen Gehalt dieses letzten Verses wird auf diese Weise musikalischer Nachdruck verliehen.


    Zur Frage, ob Goethe, hätte er dieses Lied gehört, mit der Art und Weise einverstanden gewesen wäre, wie der Komponist Tomaschek seine Lyrik in Musik gesetzt hat, darf man auf der Grundlage dieser liedanalytischen Betrachtung ein ziemlich sicheres „JA“ wagen.


    Goethe lehnte jegliche Art von Eingriff in seiner Lyrik ab. Tomaschek hat am Text nichts verändert, - mit Ausnahme der Wiederholung des letzten Verses. Das aber war auch für Goethe ein legitimes kompositorisches Mittel. Ein interpretierender „Eingriff“ in den lyrischen Text, in dem Sinne, dass der Komponist, dass der Komponist ihn in „eigensinniger“ Weise gelesen und ihm dementsprechende musikalische Akzente verliehen hätte, liegt auch nicht vor.


    Goethe hätte vermutlich geurteilt: Die Musik ist in diesem Lied „Träger“ des lyrischen Textes und stellt sich in dessen Dienst, ohne sich als Medium einer eigenen musikalischen Aussage in den Vordergrund zu drängen.

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  • Um es gleich vorweg klarzustellen: Goethe wäre mit Schuberts Vertonung seines Gedichts „Schäfers Klagelied“ mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einverstanden gewesen. Warum?


    Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die man für diese Vermutung ins Feld führen kann, - immer von Goethes quellenmäßig gut belegtem Verständnis von Liedkomposition ausgehend. Der erste Grund: Eingriffe in den lyrischen Text durch den Komponisten akzeptierte er auf keinen Fall (was man gut verstehen kann). Schubert nimmt aber in seiner Komposition gleich mehrere solcher Eingriffe vor. Ich setze sie einmal listenmäßig untereinander. Bezugspunkt ist dabei der oben von hart eingestellte lyrische Text.


    „An meinem Stabe hingebogen“
    „Da stehet von schönen Blumen / da stehet die ganze Wiese so voll“
    Doch alles ist leider ein Traum“
    Sie aber ist fortgezogen“
    „Vorüber ihr Schafen nur vorüber“
    „Dem Schäfer ist gar so weh“ (wiederholt)


    Die im folgenden angeführten Gründe sind musikalischer Art und sollen bei der Beschreibung des Liedes im einzelnen aufgezeigt werden, wobei nur wichtige strukturelle Elemente Berücksichtigung finden.


    Zunächst ist generell festzustellen: Auch Schubert schreibt ein modifiziertes Strophenlied. Aber der Grad der Modifikation ist bei ungleich stärker ausgeprägt als bei Tomaschek. Wenn man ein Schema erstellt, bei dem die Strophen gemäß ihrer Faktur mit Buchstaben versehen sind, dann lautet das


    bei Tomaschek: A A A B B A ;
    bei Schubert: A B C D B A.


    Interessant ist nun, dass beide Komponisten mit der Wiederkehr der melodischen Linie des Anfangs bei der Schlussstrophe eine Art zyklische Grundstruktur gewählt haben. Jedoch ist bei Schubert der Binnenteil wesentlich stärker differenziert, und auch die kompositorische Gestaltung der letzten Strophe ist nicht einfach eine Wiederkehr der musikalischen Faktur der ersten. Das gilt nur für die ersten beiden Verse der letzten Strophe. Was danach sich musikalisch ereignet, weicht von der ersten Strophe in deutlicher Wiese ab und hüllt die Aussage der Bilder der ersten Strophe in das Licht schmerzlicher Hoffungslosigkeit (siehe unten!).


    Womit ich beim zentralen Punkt von Schuberts Komposition wäre: Schubert leuchtet musikalisch die dichterische Aussage des lyrischen Textes ungleich stärker aus als Tomaschek, und zwar dadurch, dass er aus dem Sich-Hineinversetzen in die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs heraus komponiert. Diese ausgeprägt subjektiv-kompositorische Leseweise des Gedichts wäre mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Einspruch Goethes gestoßen.


    An einigen relevanten Stellen soll das kurz aufgezeigt werden. Die melodische Linie der ersten Strophe ist ganz und gar von Moll-Harmonik geprägt. Sie ist so angelegt, dass die Ausgangssituation der Empfindungen des lyrischen Ichs musikalisch deutlich hervorgehoben wird: Der Höhepunkt ihres Verlaufs liegt bei dem Vers „Da steh ich tausendmal“. Danach fällt sie in einem Wechsel von Viertel-, Achtel- und Sechzehntelnoten, der den Ton der Klage verstärkt, langsam ab auf ihren tiefsten Ton bei dem Wort „Klage“ am Ende der Strophe.


    Deutlich abgesetzt davon ist die zweite Strophe. Die lyrischen Bilder, die Schäferidylle evozieren, werden jetzt mit Dur-Harmonik und Arpeggien im Klavierdiskant musikalisch aufgegriffen und in ihrer Aussage wiedergegeben. Wieder anders ist der Klangcharakter der dritten Strophe. Das lyrische Bild von der mit „schönen Blumen“ bedeckten Wiese greift Schubert mit lebhaften Sechzehnteln im Klavierdiskant und mit einer von größeren Intervallen geprägten melodischen Linie auf, die wegen des Wechsels von Vierteln und Achteln einen fast tänzerischen Charakter trägt.


    Wie stark Schubert mit seiner Komposition die seelischen Regungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, ist sehr schön an der Stelle „ohne zu wissen, wem ich sie geben soll“ zu hören und zu erkennen. Durchweg verharrt die melodische Linie bei silbengetreuer Deklamation auf einem Ton, einem hohen „es“, und macht dann bei der zweitletzten Silbe einen ausdrucksstarken Sextfall. Auf diese Weise artikuliert Schubert musikalisch die schmerzlichen Empfindungen des lyrischen Ichs an dieser Stelle.


    Mit der vierten Strophe kommt starke Expressivität und Dramatik in das Lied: Sechzehntel-Akkorde drängen im Klavierdiskant voran, und die Singstimme bewegt sich über große Intervalle auf und ab. Die Verse „Und Regen, Sturm und Gewitter / Verpaß ich unter dem Baum“ ragen in infolge ihrer klanglichen Expressivität viel stärker aus dem musikalischen Kontext heraus, als die bei Tomaschek der Fall ist.


    Nach einer fermatierten Pause tritt eine wiederum genauso expressive, weil durch den Kontrast hervorgehobene, Ruhe in das Lied: Pro Takt nur ein Akkord in der Klavierbegleitung, und darüber eine Vokallinie, die sich nur um eine Sekunde und eine Terz nach oben und nach unten ausweichend um eine tonale Eben herum bewegt. Schubert reflektiert damit die Aussage des lyrischen Textes: Die Tür ist verschlossen, alles leider ein Traum.


    Die letzte Strophe zeigt noch einmal deutlich, dass Schubert lyrischen Text in musikalischen verwandelt und ersterem damit in gewisser Weise sein Eigensein nimmt, - ein Sachverhalt, der Goethe gar nicht gefallen konnte. Nachdem zunächst die melodische Linie der ersten Strophe beim ersten Verspaar der letzten wiederholt wird, ändert Schubert dann aber die Vokallinie so ab, dass sie die Aussage des lyrischen Textes unter Betonung der Perspektive des lyrischen Ichs in expressiver Weise wiedergibt.


    Die beiden letzten Verse werden wiederholt, weil der seelische Schmerz („dem Schäfer ist gar so weh“) in besonders intensiver Weise zum Ausdruck gebracht werden soll. Das geschieht über eine melodische Linie, die zunächst bei den Worten „Vorüber, ihr Schafe…“ auf einer Höhe verbleibt, um das Drängen, das in diesen Worten liegt, zum Ausdruck zu bringen. Das Klavier gibt dem mit mezzoforte angeschlagenen Akkorden Nachdruck. Dann aber fällt die melodische Linie im Klageton ab.


    Eben weil es um den musikalischen Ausdruck des Seelenschmerzes geht, hat Schubert in Goethes Text an dieser Stelle ein „nur“ eingefügt, wobei er diesem dadurch eine besondere Expressivität verleiht, dass er bei der Wiederholung nicht, wie beim ersten Mal eine ansteigende Bewegung der Vokallinie, sondern nun einen hohen Bogen darauf legt.


    Ich denke, es dürfte deutlich geworden sein, dass diese Art der Liedkomposition, wie sie typisch für Schubert ist, weil hier lyrischer Text konsequent in musikalischen umgewandelt wird, Goethe nicht gefallen haben konnte. Musik ist hier nicht mehr Träger des lyrischen Textes, sondern sie nimmt ihn in sich auf.

  • Danke!


    Mal wieder eine Riesenarbeit, die ich nicht bekritteln sollte. Dennoch stelle ich mir die Frage, wo der wesentliche Unterschied bei Veränderungen ist, denn sobald ein Komponist mit seiner Arbeit beginnt verändert er den Text. Nun hat Schubert beim gebogenen Stab ein "hin" voran geschoben, aber Tomaschek macht aus dem Wort "hinab" ein gesungenes "hihinab" und aus sechs Strophen praktisch fünf. Natürlich würde unsereiner auch sauer reagieren, wenn Alfred aus einem Forenbeitrag Wörter herausstreichen und Zusätze einfügen würde. So gesehen muss man Goethe verstehen, aber - wie bereits gesagt - jede Komposition verändert in irgendeiner Form den Text. Aus dem Umfeld Schuberts stammt die Formulierung: „Der Ton ist die lebende Seele des Wortes, selbst Leben und Wesen; was wäre ein Wort ohne Ton …“


    Ich habe die letzten Tage diese beiden Stücke unzählige Male gehört und stelle erfreut fest, dass mir beide Versionen immer noch gut gefallen - Herz was willst du mehr?

  • Du sagst, lieber hart: "Dennoch stelle ich mir die Frage, wo der wesentliche Unterschied bei Veränderungen ist, denn sobald ein Komponist mit seiner Arbeit beginnt verändert er den Text."


    ... und damit hast Du natürlich recht, Denn in dem Augenblick, wo der Text in Musik gesetzt wird, werden bestimmten Wörtern oder Versteilen musikalische Akzente verliehen. Das kann durch den Verlauf der Melodie geschehen oder durch die Harmonik bzw. die Faktur der Klavierbegleitung usw. Insofern greift jeder Komponist in einem gewissen Maße in den literarischen Text ein.


    Die Frage allerdings ist, ob der Komponist sich nur - oder primär - als "Reproduzent" der Gestalt und der Aussage des lyrischen Textes versteht oder ob er darüber hinausgeht und sich als "Interpreten" des lyrischen Textes sieht. Davon hängt dann ab, wie massiv und tiefgreifend dieser Eingriff ist. Für die "Qualität" des Liedes, das dabei herauskommt, d.h. die Frage seiner musikalischen Schönheit und Aussagekraft, muss diese Alternative noch nichts besagen. Sowohl im einen wie im anderen Fall können dabei schöne und gefällige Lieder zustandekommen, - wie Du ja gerade bestätigst, wenn Du erfreut bekennst:


    "Ich habe die letzten Tage diese beiden Stücke unzählige Male gehört und stelle erfreut fest, dass mir beide Versionen immer noch gut gefallen - Herz was willst du mehr? "


    Ich möchte dem übrigens ausdrücklich zustimmen. Das Lied von Tomaschek ist ohne Frage sehr hörenswert und gefällig, und - es weist eine beachtliche kompositorische Qualität auf. ich habe nämlich zum Vergleich auch einmal die Vertonung dieses Gedichts durch Zelter herangezogen. Und dabei wird einem das schlagartig bewusst. Ich werde noch davon berichten.

  • Auch wenn es hier eigentlich um Tomaschek geht, ist es durchaus sinnvoll, einen Blick auf eine weitere Vertonung von Goethes „Schäfers Klagelied“ zu werfen, die von Carl Friedrich Zelter nämlich. Man kann durch einen solchen Vergleich nämlich die Eigenart der Lieder Tomascheks und das ihnen zugrundeliegende kompositorische Konzept besser erfassen.


    Das Lied Zelters ist ganz konsequent als reines Strophenlied komponiert. Selbst das lyrische Bild der vierten Strophe („Und Regen, Sturm und Gewitter…“) bewegte ihn nicht dazu, eine Modifikation der Faktur des Liedes vorzunehmen. Lediglich die Dynamik erfährt eine leichte Steigerung.


    Die Struktur der melodischen Linie ist von fast volkliedhafter Einfachheit. Auf den Verspaaren der Strophe liegt jeweils eine Melodiezeile. Die erste steigt mit einem Vorhalt und kleinen bogenförmigen Gliederungen zu ihrem höchsten Ton auf der letzten Silbe des zweiten Verses an, und danach bewegt sich die zweite, wiederum in kleinen Schritten, die diese Fallbewegung kurzfristig verzögern, hinunter zum Grundton auf dem letzten Wort der Strophe.


    Die Deklamation erfolgt dabei durchweg in syllabisch exakter Form. Das Klavier begleitet, ohne von dieser Struktur abzuweichen, mit gebrochenen Akkorden. Das Lied ist in Moll gehalten und die Harmonik bewegt sich zwischen Tonika, Dominante und Subdominante.


    Hört man Tomascheks Vertonung dieses Gedichts im Vergleich mit der Zelters, dann ist die ungleich größere kompositorische Komplexität des Liedes von Tomaschek unverkennbar. Auch wenn dieser die musikalische Ausleuchtung des lyrischen Textes nicht in dem Maß erreicht, wie Schubert dies gelingt, so ist er weit entfernt von der volksliedhaften Schlichtheit der Komposition Zelters, die der Vielfalt der lyrischen Bilder nicht gerecht wird und schon gar nicht in der Lage ist, die Seelenlage des lyrischen Ichs mit musikalischen Mitteln zu reflektieren.


    Tomaschek wird dem dichterischen Gehalt des lyrischen Textes weitaus besser gerecht, als Zelter dies gelingt. Allein schon die Klavierbegleitung und die Zwischenspiele zwischen den einzelnen Strophen bringen das, was die lyrischen Bilder zu sagen haben und was das lyrische Ich empfindet, sehr eindringlich zum Ausdruck. Und die Schmerzlichkeit der Empfindung, die sich in dem Vers artikuliert: „Dem Schäfer ist gar so weh“ vermag Tomaschek mit der Melodik und Harmonik, die er diesem Vers und seiner Wiederholung unterlegt, in voll angemessener Weise musikalisch einzufangen.

  • An sich meinte ich, zum Thema „Liedkunst Tomascheks“ das aus meiner Sicht wesentliche gesagt zu haben, Nun aber stieß ich in der FAZ vom 21. April auf eine Kritik der Aufnahme der Tomaschek-Lieder, die Gegenstand dieses Threads ist. Ich gebe sie hier einmal in ihren wesentlichen Passagen wieder, weil sie mir diskussionswürdig erscheint. Einerseits wird die Interpretation selbst gelobt, andererseits aber an Tomascheks Liedern reichlich Kritik geübt.


    Die Verfasserin Christiane Tewinkel meint:
    Wer heute diese Tomaschek-Lieder hört, versteht wiederum schnell, dass diese Musik Goethe ansprechen musste. Denn so vornehm Ildikó Raimondi auch intoniert, so ernst Leopold Hager sie dabei begleitet, nie in Versuchung geratend, diese Kompositionsart vorzuführen: Wo Tomaschek sich nicht ins Idiom der Oper flüchtet, da erscheint er über weite Strecken als Ahnvater des an Musikhochschulen unterrichteten Faches >schulpraktisches Klavierspiel< in seiner einfachsten Ausprägung: hie und da darf das Instrument aufmucken, es bleibt der Stimme aber ganz zu Diensten.“

    Zuweilen komme es allerdings durchaus „zu Tempo und Akkordbrechungen“ so etwa in „Rastlose Liebe“. Hervorgehoben werden die Mignon-Vertonungen. Sie seien „im Vergleich mit den anderen außergewöhnlich empfindsam gestaltet“. Sehr kritisch sieht sie Vertonung von „Und frische Nahrung, neues Blut“. Tomaschek kleide das Gedicht in eine Art „Ausflugsmusik, die eher nach Frühtau und Berg klingt als nach der Selbstfindung eines Dichters, der über Vergangenheit und Zukunft nachsinnt.“

    "Beim „Veilchen“ scheint Tomaschek ganz besonders intensiv an Mozart gedacht zu haben, und der „Erlkönig“ wirkt, als habe er sich bereits nach Schuberts Vertonung erkundigen können, so sehr erinnert der Duktus der Ballade, zumal die säuselnden Pianissimo-Einwürfe an dessen Komposition von 1815. Es nimmt nicht wunder, dass die zurückhaltende Vertonung des kleinen Merkspruchs „Sorge“ zu den besonders geglückten Lied-Werken aus seiner Hand zählen darf.“


    Nun finde ich es einerseits lobenswert, dass in der FAZ auf die Existenz dieser CD hingewiesen wird, handelt es sich doch hierbei um eine äußerst verdienstvolle Edition, die erstmals einen größere Anzahl von Tomaschek-Liedern einem breiten Publikum zugänglich macht.


    Ich hätte mir aber eine etwas differenziertere Kritik gewünscht. Sie ist mir, zum Beispiel was den „Erlkönig“ anbelangt, teilweise etwas zu plakativ. Es gelingt Tomaschek in diesem Lied nämlich durchaus, den narrativen Kern der Ballade und die unterschiedlichen Sprechhaltungen der Protagonisten in angemessener Weise musikalisch einzufangen. Dass „Mignons Sehnsucht“ ein durchaus gelungenes und dem Gedicht Goethes auf seine Weise gerecht werdendes Lied ist, meine ich aufgezeigt zu haben. Vielleicht aber sollte man sich doch noch einmal ein wenig näher auf die Liedkunst Tomascheks einlassen.

  • Es ist, wie ich gestern beim Blättern im an Material so reichen Liedforum bemerkte, ein wenig her, dass ich mir in der Auseinandersetzung mit der Kritik von Christiane Tewinkel (FAZ, 21.April) an Tomaschek vornahm, mich noch einmal auf diesen Liedkomponisten einzulassen, um die Berechtigung des Urteils von Tewinkel zu überprüfen. Einen Augenblick lang erwog ich, die Sache auf sich beruhen zu lassen, aber ich finde, dass man in solchen Dingen nicht nachlässig sein sollte.


    Ich hole hiermit nach, was ich gleich hätte tun sollen.

  • Man kann die ganz spezifische Eigenart, in der ein Liedkomponist mit dem lyrischen Text umgeht und ihn in Musik setzt, am besten dadurch erfassen, dass man einen Vergleich mit einem anderen Komponisten, anstellt, der seiner Zeit angehört und dasselbe Gedicht vertont hat.
    Das Gedicht „Rastlose Liebe“ von Goethe wurde – außer von Tomaschek – u.a. auch von Reichardt, Zelter und Schubert vertont. Der Vergleich mit Schubert liegt nahe, weil dieser ein Konzept von Liedkomposition vertrat, das sich deutlich von dem Reichardts und Zelters abhob. Ein derartiger Vergleich soll – das wird ausdrücklich betont – nicht auf ein Qualitätsurteil abzielen. Es geht ausschließlich um das liedkompositorische Konzept. Zunächst soll das Lied von Tomaschek beschrieben werden, danach das von Schubert, wobei der vergleichende Aspekt in diese zweite Darstellung einbezogen ist.


    Dem Schnee, dem Regen,
    Dem Wind entgegen,
    Im Dampf der Klüfte,
    Durch Nebeldüfte,
    Immerzu! Immerzu!
    Ohne Rast und Ruh!


    Lieber durch Leiden
    Wollt´ ich mich schlagen,
    Als so viel Freuden
    Des Lebens ertragen.
    Alle das Neigen
    Von Herzen zu Herzen,
    Ach, wie so eigen
    Schaffet es Schmerzen!


    Wie, soll ich fliehen?
    Wälderwärts ziehen?
    Alles vergebens!
    Krone des Lebens,
    Glück ohne Ruh,
    Liebe bist du!


    Das Lied Tomascheks ist klanglich und rhythmisch von den durch Einzeltöne im Klavierbass geführten, rasch dahineilenden Sechzehnteln im Diskant geprägt. Die Singstimme deklamiert, ganz und gar in diesem Rhythmus verbleibend, syllabisch durchgehend exakt, wobei ihre melodische Linie so angelegt ist, dass die für die lyrische Aussage wesentlichen Worte einen Akzent erhalten. Dieser besteht zumeist aus einer Anhebung der Vokallinie, bei dem Komponisten besonders wichtigen Worten auch aus einer melodischen Dehnung.


    So bewegt sich die Vokallinie beim ersten Vers zunächst nach unten, steigt aber dann auf zu ihrem höchsten Ton bei dem Wort „Wind“, weil dieses sozusagen der lyrische Angelpunkt in der Aussage des ersten Verspaares ist. Es geht dem Komponisten, und das wird hier schon deutlich, darum, den lyrischen Text mit musikalischen Mitteln gleichsam zu transportieren und zu unterstützen. Um die musikalische Artikulation einer ganz spezifischen Interpretation des Textes geht es ihm nicht.


    Sehr schön kann man das an den Worten „Immerzu! Immerzu!“ hören und erkennen. Bei Goethe nehmen sie einen eigenen Vers ein. Sie haben also lyrisches Gewicht, - die Aussage betreffend, die sie machen. Auch metrisch-rhythmisch macht Goethe dieses Gewicht deutlich: Beide Worte stoßen rhythmisch hart aneinander. Bei Tomaschek aber werden sie sehr rasch, fast flüchtig deklamiert. Lediglich das zweite „Immerzu“ erhält einen leichten Akzent, indem es in höherer Lage gesungen wird. Tomaschek geht es, das zeigt sich hier wieder, nicht um die semantische Tiefenschicht des lyrischen Textes, sondern um die Einbettung seiner sprachlichen Gestalt in Musik.


    Wenn er das Wort „Rast“ mittels einer Dehnung musikalisch besonders hervorhebt, dann deshalb, weil es in der ersten Schicht seines semantischen Gehalts ein „Ausruhen“ beinhaltet. Also muss an dieser Stelle auch melodisch vorübergehend „Ruhe“ eintreten.


    Die zweite Strophe des Liedes unterscheidet sich in der rhythmischen Bewegung der melodischen Linie der Singstimme nicht von der ersten. Allerdings ist die Struktur ihrer Bewegung eine andere: Die einzelnen Melodiezeilen sind zumeist fallend angelegt. Um dem Wort „Schmerzen“ musikalisch gerecht zu werden, legt Tomaschek wieder eine Dehnung auf dieses, versehen zusätzlich mit einem Bogen.


    Auch die dritte Strophe weist die gleiche rhythmische Struktur auf: In silbengetreuer Deklamation beschreiben die Melodiezeilen nun aber wieder eine aufwärts gerichtete Bewegung. Bei dem Vers „Glück ohne Ruh“ kommt erstmals eine Verzögerung in den raschen rhythmischen Fluss: Auf dem Wort „Ruh“ hält die melodische Linie in Form einer Dehnung mit nachfolgender Pause kurz inne. Auch hier wird also wieder der semantische Gehalt eines lyrischen Wortes musikalisch gleichsam abgebildet.


    Die Worte „Liebe bist du“ werden danach mit drei Tonschritten in Form eines Quartsprungs und einem nachfolgenden Abstieg auf die Tonika deklamiert. Sie erhalten auf diese Weise besonderes musikalisches Gewicht. Das Klaviernachspiel ist in seiner klanglichen und rhythmischen Struktur angelegt wie das Vorspiel und variiert dessen musikalisches Motiv.

  • Auch Schuberts Lied ist rhythmisch von gleichsam rastlos dahineilenden Sechzehnteln im Klavierdiskant geprägt. Der wesentliche Unterschied zu Tomaschek besteht aber darin, dass die melodische Linie der Singstimme nicht einfach in die Klavierbegleitung eingelagert ist, sondern dass Singstimme und Klavier wie eigenständige Partner zusammen musikalisch agieren.


    Man kann das schon an den ersten Takten des Liedes hören (und erkennen). In die vom Bass aufsteigend geführten Sechzehntel fügt sich die Singstimme ein, jedoch deckt sich – im Unterschied zu Tomaschek – hier deren rhythmische Struktur nicht mit derjenigen der Klavierbegleitung. Man hat das Gefühl, als mache die Singstimme eine Art raschen Hindernislauf.


    Auf den Worten „Schnee“, „Regen“, Wind“ und „entgegen“ liegt jeweils ein rhythmischer Akzent, der dadurch zustandekommt, dass die Notenwerte jeweils ein ganzes oder ein punktiertes Viertel betragen. Diese Divergenz in der rhythmischen Struktur setzt sich fort bis zum fünften Vers. Hier nun werden die Worte „Immerzu!, Immerzu!“ mit einer langen Dehnung in Form von halben Noten markant hervorgehoben, wobei dieser Effekt noch dadurch gesteigert wird, dass die Vokallinie in fast penetranter Weise auf einem Ton, einem hohen „e“, verharrt. Das nachfolgende „Ohne Rasr und Ruh“ wirkt durch die fallenden Intervalle der Vokallinie wie gemeißelt.


    Dass bei Schubert – anders als bei Tomaschek – die musikalische Struktur die Struktur des lyrischen Textes reflektiert, ist besonders gut an der zweiten Strophe zu erkennen. Weil im lyrischen Text jetzt ein mehr besinnlicher Ton herrscht, tritt zwischen Singstimme und Klavierbegleitung jetzt eine Art Harmonie ein. Die rhythmische Divergenz der ersten Strophe gibt es nicht mehr, und die melodische Linie der Singstimme vollzieht nun zunächst eine fallende Bewegung. Bei dem Wort „Freuden“ bewegt sie sich jedoch nach oben, um dem semantischen Gehalt des Wortes gerecht zu werden.


    Lieblich, von kleinschrittigen Abwärtsbewegungen geprägt und jetzt von Achteln im Klavier getragen, erklingen die nächsten beiden Verse: „Alle das Neigen…“. Das „Wie, soll ich fliehen?“ wird jedoch dann explizit musikalisch als Frage artikuliert: Sowohl auf dem Wort „fliehen“ als auch auf dem zugehören Wort „ziehen“ liegt ein hoher Ton im Wert von einer halben Note. Wieder mit einer großen Dehnung versehen und auf diese Weise musikalisch akzentuiert wird das „Alles, alles“.


    Dass Schubert Goethes Gedicht in ganz eigener Weise gelesen, also interpretiert, und nicht einfach nur in eine der sprachlichen Struktur adäquate Musik gesetzt hat, wird bei den letzten drei Versen besonders sinnfällig. Das „Liebe bist du“ ist für ihn offensichtlich das eigentliche Zentrum des Gedichts, - im Sinne einer Sinnstiftung alles dessen, was zuvor lyrisch zum Ausdruck gebracht wurde. Er wird dem dadurch gerecht, dass er zum kompositorischen Mittel der Wiederholung greift.


    Die letzten Verse lauten bei ihm:
    „Krone des Lebens / Glück ohne Ruh / Liebe bist du, o liebe bist du / Glück ohne Ruh / Liebe bist du / Krone des Lebens / Glück ohne Ruh / Liebe bist du / o Liebe, Liebe bist du“. Auf dem zweitletzten „Liebe“ liegt dabei eine Dehnung, die vier Takte übergreift. Und dieses hohe „e“ wird fortissimo gesungen, bevor sich die melodische Linie in Terzfällen und mit einem Sextfall hinab zum Grundton bewegt.


    Es dürfte deutlich geworden sein, dass Schuberts Lied eine ungleich größere musikalische Binnendifferenzierung aufweist als das von Tomaschek. Der Grund dafür liegt darin, dass Schubert lyrische Struktur in musikalische verwandelt, Tomaschek hingegen dem lyrischen Text ein der sprachlichen Gestalt der einzelnen Verse angemessenes – und durchaus wohlklingendes - musikalisches Gewand verleiht.

  • Tomascheks Vertonung dieses Goethe-Gedichts wirkt im - nun einmal naheliegenden! - Vergleich mit der von Schubert vom klanglichen Eindruck her deutlich komplexer. Dies allein schon deshalb weil es sich um ein variiertes Strophenlied handelt: Die erste und die zweite Strophe ähneln sich in der Faktur, die dritte ist in markanter Weise davon abgesetzt. Ein Sechsachteltakt liegt zugrunde, den das Klavier bei den ersten beiden Strophen in Akkordrepetitionen vernehmen lässt. Sie geben dem Lied rhythmisch einen leicht tänzerischen Anflug. In der vierten Strophe, die einen eher dramatischen Grundton aufweist, besteht der Klaviersatz aus aufgelösten Akkorden.


    Aber die Struktur der Vokallinie scheint mir der hier entscheidende Aspekt zu sein. Auf jedem Vers liegt eine Melodiezeile. Im Unterschied zu Schubert gibt es jedoch weder eine gewisse Ähnlichkeit in der Struktur der Melodiezeilen, noch ist ihre Harmonisierung ausschließlich auf den Raum von Tonika, Dominante du Subdominante beschränkt. Die erste und die zweite Melodiezeile greifen – wie bei Schubert – ineinander, Dann aber erfolgt eine harmonische Rückung, und die dritte und vierte – wiederum ineinandergreifende – entfalten eine sich steigernde Aufwärtsbewegung, die bei den Worten „es nah zu sehn“ in hoher Lage aufgipfelt. Beim letzten Vers vor dem Refrain („Sahs mit vielen Freuden“) reflektiert die melodische Linie in markanter Form die Aussage des lyrischen Textes, indem sie sie bei dem Wort „vielen“ einen Sprung in große Höhe macht.


    Die melodische Linie der Singstimme ist in ihrer Binnenstruktur ungleich komplexer, als dies bei Schubert der Fall ist. Lediglich beim Refrain kann man von einer Annäherung an den Volksliedton sprechen. Ansonsten aber wird das kompositorische Grundmodell des Volksliedes in keiner Weise angestrebt. Bei dem Vers „Und ich wills nicht leiden“ erfolgt zum Beispiel im unmittelbaren Anschluss an die vorangehende Melodiezeile eine deutliche Steigerung der melodischen Emphase, wie sie absolut untypisch für das Volkslied ist. Und erst recht gilt dies für die dritte Strophe. Hier bewegt sich die melodische Linie deutlich lebhafter, steigt in tiefere Lage ab und ist sogar in Moll harmonisiert. Und bei den Worten „kein Weh und Ach“ erfolgt eine mit einer harmonischen Rückung verbundene und recht expressiv wirkende Aufgipfelung der Vokallinie in hoher Lage.