Sibelius: Symphonie Nr. 4 a-Moll op. 63 – Tiefste Resignation und Verzweiflung

  • Wir haben mittlerweile folgende Themen zu Sibelius:


    Jean Sibelius als Sinfoniker
    Jean Sibelius: Symphonien – Welcher Zyklus ist der beste? (2011)
    Sibelius: Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82 – Die mit dem Schwanenruf


    An dieser Stelle aber soll die Rede sein von seiner 4. Symphonie, die ich neben der 5. als sein größtes Werk erachtete. Doch lassen wir an dieser Stelle doch den großen Otto Klemperer zu Wort kommen, der es 1937 so treffend zusammengefaßt hat:


    "Tiefste Resignation liegt über dem ganzen Werk. Stellt man sich die Frage, wie der Komponist in der Mitte seines Lebens, auf dem Höhepunkt seiner Kraft, in so tiefernste Stimmung verfiel, so ließe sich vielleicht antworten, dass er das kommende Böse, die kommende Zerstörung, den kommenden Krieg vorausahnte. Seine 4. Sinfonie bringt den ganzen Schmerz zum Ausdruck, der 1914 über die Welt kam.


    Der erste Satz ist nicht nur voller Resignation. Auch Verzweiflung spricht aus ihm. Er beginnt mit einem wunderschönen Cellosolo über einem Basso ostinato. Sie werden verzweifelte Crescendi der Blechinstrumente hören. Eine summende, unheimliche Passage in der Mitte des Satzes ist für Sibelius besonders bezeichnend. Das folgende Scherzo ist ein zärtliches Stück voller Anmut, aber im zweiten Teil wechselt die Stimmung, hefitge Schreie unterbrechen es. Das Scherzo bricht völlig unerwartet ab, als wollte sich der Komponist selbst unterbrechen. Der dritte Satz ist ein echter Trauermarsch. Sein Beginn kommt aus der Einsamkeit. Eine Stimme erklingt. Später scheinen zwei Stimmen lediglich die Atmosphäre andeuten zu wollen. Das große Lied scheint dem Komponisten den Ausdruck seiner Gefühle zu verwehren, aber dann tritt die Melodie hervor, zuerst setzen die Celli, später sämtliche Streichinstrumente ein. Das Finale ist eine Überraschung, aller Kummer scheint vergessen. Das Leben überwindet den Tod. In diesem Satz liegt eine überraschende Bewegung. Sie hören kleine und große Glocken. Choralmelodien erklingen. Manchmal tönt es wie eine religiöse Prozession, ein wenig später wie ein von Gitarren begleitetes Volkslied. Alles steigert sich einem Höhepunkt entgegen, führt dann plötzlich zu einem gewaltigen Sprung von der Trompete zur Posaune. Der Komponist fällt wieder in seine ursprüngliche Stimmung tiefster Resignation zurück. Das Werk endet in völligem Dunkel.


    Dies ist kein Werk für die Massen, es ist der einsame Gesang eines Mannes, dem nicht an lautem Erfolg gelegen ist. Er möchte an Ihre Seele rühren und nicht Ihrem Geschmack schmeicheln."


    Zweifellos: Dieses Werk ist kein heiteres. Schon die Moll-Tonart läßt dies vermuten. Der drohende Krieg und eine lebensbedrohliche Erkrankung (Krebstumor) des Komponisten erklären die tief triste Stimmung dieser Symphonie. Entstanden ist sie als letzte Vorkriegssymphonie von Sibelius in den Jahren 1910 und 1911. Der große Publikumserfolg blieb ihr damals verwehrt.


    Op. 63 gliedert sich in vier Sätze:


    I. Tempo molto moderato, quasi adagio
    II. Allegro molto vivace
    III. Il tempo largo
    IV. Allegro


    Der langsame Satz steht an dritter Stelle, und auch der Kopfsatz beginnt nicht schnell. Im Gesamten ist die Vierte modernistisch angehaucht, was vermutlich auch auf Anregungen durch Sibelius' Kontakt zu Schönberg und Strawinsky kurz vor der Entstehung zurückzuführen ist.


    Aufnahmen:


    Bedauerlicherweise liegt keine Aufnahme unter Klemperer vor, doch gibt es hochkarätige Alternativen. Stellvertretend will ich erst einmal nur die hervorragende Karajan-Aufnahme für die DG (1965) anführen, die im direkten Vergleich die EMI-Neuauflage m. E. schlägt (auch der Klang ist natürlicher):


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich habe gerde schon zwei Sibelius-Threads "bedient" und auch auf Karajan abgehoben.
    Deshalb jetzt ganz kurz:


    Josef kann ich in seinem Eindrück, dass es sich bei der Karajan - Aufnahme (DG, 1965) der Sinfonie Nr.4 um einen ganz großen und tiefgehenden Wurf handelt, nur bestärken. Er trifft den Ton und die Tiefe dieses Werkes in vorbildlicher Weise.
    Aber Bernstein (SONY), Segerstam (Brillant), Blomstedt (Decca), N.Järvi (DG) können sich hier in dieser Reihenfolge auch hören lassen !



    Hallo Josef,


    Klemperer mit Sibelius kann ich mir ehrlich gesagt nicht so richtig vorstellen ... passt IMO nicht !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Ich habe den Zugang zu Sibelius mit der (leider wenig gespielten) 3. Sinfonie gefunden, die sehr eingängige Themen aufweist und mich immer wieder dabei mit der für Sibelius typischen herb-nordischen Melodik fasziniert. Danach folgten die 2. und 5. Sinfonie, die ja auch recht zugänglich wirken. Und dann hörte ich im Konzert mit dem damaligen Radio-Symphonie-Orchester Berlin die Vierte. Das war ein kleiner Schock, denn diese spröde Musik hatte ich nicht erwartet. Mittlerweile aber, nach mehrmaligem Anhören komme ich dem Verständnis dieses Werkes näher.
    Dazu haben sowohl Karajan als auch die Einspielung mit Lorin Maazel und den Wienern beigetragen (ich habe eine andere Ausgabe, wo nur die 4. und 5. drauf sind, jetzt gibt es für weniger Geld sogar alle Sinfonien im Stück):



    Warum ist dieses Werk nun so völlig anders, so introvertiert, fast kammermusikalisch gehalten mit über weite Strecken geteilten Streichern, verschobenen Takten und einer so ganz und ganz anderen sinfonischen Struktur?
    Die Erklärung des drohenden Krieges und der schweren Erkrankung ist dafür nicht ausreichend. Nach Abschluss von Sibelius' 3. Sinfonie fallen in den Zeitraum von 1907 bis 1911 die Uraufführungen von Mahlers 8. Sinfonie, Regers Klavierkonzert, Skrjabins "Poeme de l'extase" und Strawinskys "Feuervogel". Das sind z.T. für die damalige Zeit revolutionäre Neuerungen in Orchesterbesetzung und Instrumentation. Und so erklärt sich vor diesem Hintergrund der Kommentar, den Sibelius selbst zur 4. Sinfonie abgegeben hat: " Obwohl das Werk kein Konzertstück ist, hat es mir viele Freunde gebracht.... Ich schrieb das Werk als Protest gegen die gegenwärtigen Kompositionen. Nichts, absolut nichts von Circus um sie! " Also Ausdruck einer Verweigerungshaltung zu Entwicklungen, denen der Komponist nicht folgen wollte.


    Mit besten Grüßen


    :hello:


    timmiju

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • In der Vergangenheit wurde von mehreren Klassikhörern die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung der abrupte Schluss der Sinfonie Nr.4 hat und wie er richtig interpretiert klingen sollte.


    Zunächst einmal zwei Anmerkungen von Klassikhörern dazu: (darunter auch unser Frank ( Hüb)):

    Zitat

    Was mir bisher jedenfalls herausragend auffiel ist das Finale, das einen voller Fragezeichen stehenlässt aber doch auch als Abschluß befriedigend ist. Vielleicht steht man zwiegespalten da. Ich kann jedenfalls sicher sagen, dass es eine große Faszination auf mich ausübt, ich es aber noch 1000 Mal hören muß, um endgültig bewerten zu können.


    Frank: Das sehe ich ganz ähnlich. Ich deute den auf mich unfertig wirkenden Schluß aus der lebensbedrohlichen Erkrankung des Komponisten heraus: für mich spricht dort die Angst , möglicherweise nicht alles gesagt zu haben, was gesagt werden sollte. Ein abruptes Ende, ohne das etwas zu Ende gebracht wurde.
    Vielleicht deute ich das Falsch. Kann man diesem Ansatz folgen?


    Die Verwirrung und Enttäuschung des Publikums angesichts dieses grüblerischen, ja depressiven Werks mit seinen wenigen wirklich hellen Momenten kann ich übrigens nachvollziehen. Man hatte Anderes erwartet und war vielleicht gar nicht auf diese Intimität durch den Blick auf eine Seelenlandschaft vorbereitet.


    Interessante fragen die Beide aufwerfen. Wollte Sibelius nicht ein Fragezeichen setzen und den Hörer damit überraschen ?
    Leider interpretieren einige Dirigenten den Schluß der Sinfonie Nr.4 falsch (auch in von mir ansonsten favorisierten Aufnahmen).
    Der Schluß des Werkes muß absolut unerwartet abrupt enden und darf kein Ritardado haben. Ein kleines Ritardando währe hier schon ein Fehler, der allzugerne gemacht wird.


    Im September 2007 hatte ich diesen Schluß der Sinfonie Nr.4 mal bei verschiedenen Aufnahmen genau unter die Lupe genommen:


    Blomstedt (Decca)
    Er nimmt sich für das Allegro Zeit (etwas über 10Min.) und baut erst zum Schluß die Spannung auf. Dadurch wirkt das ganze etwas sachlich-perfekt. Gut gefällt mir, das Blomstedt für das 4Ton-Motiv sonore Rohrenglocken verwendet und nicht ein grelles Glockenspiel, wie in den meisten anderen Aufnahmen.
    Der Schluß ist so gestaltet, das man ihn erahnen kann, die Generalpause ist sehr lang und Blomstedt scheint das Tempo deutlich zurückzunehmen.


    Ashkenazy (Decca)
    Wie Ashkenazy den 4.Satz aufbaut und entwickeln läßt finde ich von allen am schlüssigsten. Er läßt die Musik nirgendwo auseinanderfallen, zieht den Satz in 9 Minuten durch - es ist schließlich ein Allegro. Die Pausen und die Generalpause vor dem Schluß hält Ashkenazy ziemlich kurz. Es klingt modern, ja revoluzionär, denn er läßt den Schluß ziemlich abrubt abreisen, sodaß für den Hörer ein Fragezeichen zurückbleibt und man überrascht ist. Ich meine von Ritardando keine Spur.
    Vielen Hörern wird dieser Schluß nicht gefallen, weil er so überraschend kommt. Es ist aber von Sibelius so gewollt und bei Ashkenazy genau auf den Punkt gebracht.


    Bernstein (SONY)
    Das Bernstein mit diesem Werk etwas anfangen kann steht fest. Er versetzt sich in Sibelius Gefühlswelt und kostet diese in weit über 11Minuten aus.
    In der Mitte scheint mir der zusammenhalt nicht so gewahrt, aber das sind Kleinigkeiten, die der Dirigent anders gefühlt hat, als diese beim Hörer ankommen. Auch Bernstein verwendet die klangschönen Röhrenglocken für das 4Ton-Motiv. Den Schluß gestaltet Bernstein ähnlich wie Blomstedt. Er wird nicht nur langsamer, sondern auch bis zum Schlußakkord leiser. Damit ist ein fast klassischer Schluß gestaltet der den Hörer mehr betroffen und nicht überrascht zurück läßt. Eigendlich falsch ?


    Karajan (EMI)
    Tempomäßig wie Ashkenazy (unter 9Min.) mit perfektem Aufbau der nie an Spannung verliert. Die Berliner in TOP-Form.
    Den Schluß gestaltet Karajan interessant durch Lautstärkeunterschiede (darin war er ohnehin ein Meister). Kurz vor dem Schluß läßt er pp spielen, die beiden letzten Akkorde dann doch mindestens in mf. Dadurch wirkt der Satz abrubt abgebrochen. Man erwartet eigendlich noch etwas.
    Sollte es nicht genau so sein ?


    Ich könnte nun keiner dieser Aufnahmen einen 100% Vorzug geben, weil alle 4Dirigenten auf ihre Art eine Interpretation liefern, die schlüssig wirkt. Mir gefallen diesesmal alle (das kommt selten vor). Dies führe ich auf das Werk zurück, das große Interpretationsspieleräume zuläßt.
    Am besten gefällt mir noch Ashkenazy und trotzdes totalen Gegensatzes vom Gesamteindruck auch Bernstein.


    ;) Mal sehen was Roshdestwensky hier zu sagen hat !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Lieber Teleton,


    vielen Dank für Deinen Vergleich!


    In meiner Taschenpartitur steht zwar auch "Glockenspiel". In einem Buch bei C. H. Beck über Sibelius' Sinfonien steht aber, dass Sibelius in der Tat Röhrenglocken wollte. Ich weiß nicht, ob das stimmt ... sagt das Beiheft der Blomstedt-Einspielung etwas dazu?


    Ich finde die 4. unter Ashkenazy ebenfalls großartig! Ich bin bei diesem Dirigenten immer nur etwas skeptisch, weil ich mich selbst unter den Generalverdacht stelle, der fantastischen Klangtechnik zu erliegen (dito bei Nielsen/Blomstedt, Ravel/Dutoit usw.). Aber die Befürchtungen scheinen nicht angebracht zu sein.


    Wenn Du mal Zugriff drauf hast: Vänskä dirigiert das Werk ebenfalls großartig.


    Mit dem Schluss werde ich mich im anderen Thread ("Plaudereien ... ") auseinander setzen. In der Tat außergewöhnlich.

  • Durch einen Briefwechsel zwischen Walter Legge und Jean Sibelius im Vorfeld der Aufnahme Beechams sind uns die Tempovorstellungen des Komponisten zur 4. Sinfonie bekannt. Sibelius schrieb im Jahre 1935:


    1. Satz
    Anfang: Viertel = 52 - 60 (1937: Viertel = 54, ca. 1942: Viertel = 48 – 54)
    „B“, Adagio: Viertel = 40
    „7 nach C, Tempo I“: Viertel = 60
    „I“, Adagio: Viertel = 40
    Tempo I: Viertel = 60


    2. Satz
    1937: Punktierte Halbe = 96 (ca. 1942: Punktierte Halbe = 96- 104)


    3. Satz
    1937: Viertel = 50 (1942: Achtel = 80 – 92)


    4. Satz
    Anfang: Halbe = 132 (1937: Halbe = 108, ca. 1942: Halbe = 126 – 132)
    „S“: rallentando
    „W“: Halbe = 100
    Schluss: Halbe = 100


    Für den dritten Satz (101 Takte = 404 Viertel = 808 Achtel) würde dies heißen: 1937: 8:05, 1942: 8:47 – 10:06. Es ist interessant zu sehen, dass von 13 mir vorliegenden Aufnahmen fünf in diesem Rahmen bleiben und die anderen nicht nur ein wenig, sondern deutlich davon nach oben abweichen – 11 Minuten und mehr. Offenbar hat dieser Satz die Dirigenten vor die Entscheidung gestellt, Sibelius‘ Vorgaben (notgedrungen?) zu akzeptieren oder gleich einen völlig anderen Ansatz zu wählen, dazwischen scheint es nichts zu geben.


    Dazu ist zu sagen, dass Sibelius laut Jussi Jalas (1988') folgendes ergänzt hat:
    “There is no such thing as tempo as an absolute concept. I have made metronome markings only in order to prevent the grossest mistakes, so that there should not be a repetition of something I heard on the radio some time ago, when the Karelia overture was played at half the correct speed. My metronome markings are generally a load of rubbish.”


    Es mag sein, dass diese Anmerkung sich auch auf die Aufnahme der 4. Sinfonie unter Thomas Schneevoigt beziehen mag, der im Vergleich zu Sibelius‘ Angaben im ersten und im dritten Satz nahezu das halbe Tempo anschlägt.


    Zum Schluss des letzten Satzes schrieb der Komponist an Walter Legge:


    From Letter S on, gradually more calm until „Halbe = 100“. From Letter W until the end „Halbe = 100“. The last six bars: mf. As solemn as possible and without ritardando (tragic, without tears, definite).

  • Die vier frühesten Aufnahmen, die ich hier besprechen möchte, genießen geradezu legendären Status.

    Diejenige mit Sir Thomas Beecham und dem London Philharmonic Orchestra vom 10. Dezember 1937 ist zwar nicht die erste Einspielung des Werkes. Doch die Erstaufnahme unter Leopold Stokowski leidet an einer lächerlich kleinen Streicherbesetzung (8/6/4/4/3), und die zweite unter Georg Schneevoigt fand unter anderem wegen der Tempi nicht den Beifall des Komponisten. Im Jahre 1935 hörte Sibelius eine Aufführung der 4. unter Beecham im Radio und wusste, dass er den Dirigenten gefunden hatte, der den ersten Aufnahmezyklus unter Kajanus, der plötzlich verstorben war, abschließen sollte. Nach der Fürsprache des Komponisten bei Walter Legge kam es dann im Herbst 1937 zu einer ersten Aufnahmeserie. Sibelius erhielt Probepressungen und fand diese ausgezeichnet. Doch Beecham entschied, das Werk am 10. Dezember 1937 noch einmal komplett aufzunehmen. (Zwischen diesen Terminen entstand übrigens die berühmte Beecham-Zauberflöte.) Dabei kamen statt des üblichen Glockenspiels einige kleine Glocken zum Einsatz, die dem letzten Satz eine besondere Farbe verleihen. Das Ergebnis gehört bis heute zu den maßstäblichen Aufnahmen dieser Sinfonie.


    Bekannt ist, dass der Komponist auch Herbert von Karajan lobte als einen, der ihn wirklich verstanden hätte. Um dies nachzuvollziehen, sind natürlich die Aufnahmen der 1950er Jahre mit dem Philharmonia Orchestra am geeignetsten, denn Sibelius starb ja im Jahre 1957. Bei den Vorbereitungen zu dieser Aufnahme hörten Herbert von Karajan und Walter Legge die Aufnahme unter Beecham intensiv und gingen Sibelius‘ Bemerkungen zur Wiedergabe dieses Werkes durch.


    Der Zyklus der sieben Sinfonien unter Anthony Collins ist zwar nicht der erste unter einem einzigen Dirigenten (den hatte Sixtus Ehrling vorgelegt), doch nach wie vor wird dieser Zyklus zum Vergleich immer wieder herangezogen. Mit seinem „full frequency range recording“ klingt er auch heute noch spektakulär. Collins war der letzte, der noch von direkten Hinweisen des Komponisten profitierte.


    Die Aufnahmen der Sinfonien 4, 5, 6 und 7 unter Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern aus den 1960er Jahren werden auch von denen, die diesem Dirigenten ansonsten nicht freundlich gesonnen sind, zu dessen besten Aufnahmen gezählt. Dass dieser Zyklus nicht vollendet wurde, ist eine der größten Unterlassungssünden von Karajan und der Deutschen Grammophon.



    Sir Thomas Beecham, London Philharmonic Orchestra, 10. Dezember 1937



    Im Kopfsatz wird der erste Teil sehr gelassen und doch wuchtig dargestellt. Keine Auffälligkeiten. Die Musik entwickelt sich, als müsse es so sein. Beecham beginnt mit Viertel = 40, um bis zum Einsatz des Solocellos auf Viertel = 36 zurückzugehen. – Die einstimmigen Passagen im Mittelteil klingen ziemlich eckig, damit konnten die Streicher nichts Gescheites anfangen. Aber die Steigerung zum A‘-Teil gelingt Beecham bezwingend – das Wiedererscheinen der erratischen Akkordblöcke im Blech mit der großen Linie in den Violinen – toll!


    Irgendwo zwischen Punktierte Halbe = 100 und 104 beginnt der zweite Satz. Sehr gut ist das atmosphärische Kippen zu den bedrohlichen Abschnitten gelungen. Packend!


    Im dritten Satz beginnt Beecham mit ca. 64 Achteln pro Minute deutlich unter Sibelius‘ Vorgaben, zieht aber bald das Tempo unmerklich an. Er bietet insgesamt eine straffe Lesart des Satzes, wie sie Sibelius offenbar auch vorschwebte, da er selbst einmal Viertel = 50 und einmal Achtel = 80 – 92 vorgab. Sehr stimmig, unsentimental, nüchtern! Beecham ist mit 9:34 für diesen Satz auch eindeutig auf der schnellen Seite, nur Collins und Maazel sind deutlich schneller (Ashkenazy um wenige Sekunden). Ansonsten sind Spielzeiten um 12 Minuten durchaus normal. Vänskä bringt mit einem extremen Zugriff die Musik sogar auf über 14 Minuten.


    Auch das Finale wird von Beecham in wunderbarer Weise entfaltet, trotz oder gerade wegen des flotten Tempos – mit 08:44 ist Beecham eventuell sogar Rekordhalter (zumindest in meiner Sammlung). Einen besonderen Reiz gibt es durch die Glocken, die hier zum Einsatz kommen, die eben doch „tiefer“ und körperreicher als das übliche Glockenspiel klingen. Bei der Stelle vor dem zweiten Todesmotiv, wo sich die Musik geradezu selbst zerstört, fehlte mir ein wenig das chaotische Element in der Darstellung. Das würde ich mir wilder, zerfahrener wünschen. – Ganz am Schluss folgt Beecham nicht dem Wunsch von Sibelius, das Tempo (Halbe = 100) ohne Ritardando durchzuhalten. Er beginnt zwar im gewünschten Tempo, gibt aber in den letzten Takten, in denen nur noch a-moll-Akkorde zu hören sind, bis auf Halbe = 70 nach. Schade! Dies ist für mich der einzige gravierende Kritikpunkt einer ansonsten guten Aufnahme mit diesem so seltenen „kann doch gar nicht anders sein“-Effekt.


    Ich bin überrascht: Alles klingt bei Beecham sehr natürlich, es gibt keine Übertreibungen, nichts, was gewollt wirken würde. Mir ist eigentlich gar nicht viel aufgefallen, wenn ich mal von klangtechnischen Defiziten und dem Kampf der Streicher mit den einstimmigen Stellen im Kopfsatz absehe. Eine tolle Aufnahme ohne falsche Naturmystik. Schade, dass die Piani und Pianissimi (vermutlich wegen der Klangtechnik) zu wünschen übrig lassen. Schade auch, dass der Schluss mit Ritardando genommen wurde.



    Herbert von Karajan, Philharmonia Orchestra, Juli 1953



    Bei Karajan geht es mit Viertel = ca. 56 los. Das wirkt recht zügig, ist aber im Rahmen dessen, was Sibelius vorgegeben hat, zumal Karajan noch leicht nachgibt. Aber das ist nicht entscheidend. Das Besondere ist hier, dass die Musik einen unwiderstehlichen Sog ausübt, eine sanfte Gewalt verspüren lässt. Fulminante Akkorde im Blech, fantastisches Orchesterspiel im Mittelteil, großartige Steigerungen. Unglaublich. – Unglaublich allerdings auch, dass in Takt 40 (3:33/3:34) in der untersten Stimme (3. Posaune) ein „eis“ stehen geblieben ist, wo via Auflösungszeichen ein „e“ in der Partitur steht und der lgeschriebene E-Dur-Akkord im Lautsprecher als verminderter Dreiklang zu hören ist. Dass dies so nicht in Karajans und Legges Absicht lag (etwa durch eine persönliche Bemerkung von Sibelius o. ä.) ist umso evidenter, als in der Reprise die entsprechende Stelle „richtig“ gespielt wird.


    Karajan geht den zweiten Satz ruhiger als Beecham an, irgendwo zwischen 92 und 96 Takten pro Minute. Also gerade noch an der Unterkante der von Sibelius genannten Tempi. Die Ruhe kommt den Bläsercrescendi zugute, die Musik wirkt hier viel brütender als bei Beecham, wo ihr eine gewisse Bukolik eignet. Karajan verweigert der Sinfonie damit diese Insel freundlicherer Farben, lässt auch diesen Satz in der Nähe des düsteren Kopfsatzes.


    Im dritten Satz bleibt Karajan – wie viele andere – deutlich unter dem vom Komponisten gewünschten Tempo (ca. 54 Achtel pro Minute statt 80 – 92). Die Musik vollzieht sich bei Karajan wiederum brütend. Karajan wartet lange, bis er steigert, doch die Apotheose des Thema B ist grandios.


    Der letzte Satz beginnt mit viel Schwung, knapp unter Halbe = 130. Auch hier klingen die Glocken sehr dunkel, das Beiheft sagt leider nichts darüber. Ich mag die Energie, die ich verspüre, wenn ich Karajans Interpretation höre. Nie war Mahlers 6. Sinfonie so nahe wie in diesem Satz unter Karajan 1953. Herrlich klingen die Stellen mit dem Streichergemurmel oder auch die Pizzicato-Stellen. Wild herausfahrend darf das Blech seine Einwürfe spielen. Das Archaische, Unbehauene dieser Musik scheint hier mit Händen greifbar. Ich finde diesen Satz schlichtweg sensationell unter Karajan. Kein Ritardando am Schluss, genau so, wie es Sibelius wollte. Allerdings geht Karajan diesen Schluss deutlich unter Halbe = 100 an.


    Hier liegt eine Referenzaufnahme des Werkes vor, daran ändert auch der falsche Ton in der 3. Posaune in Takt 40 des Kopfsatzes nichts. Sehr gutes Mono.


    Anthony Collins, London Symphony Orchestra, Februar 1954



    Collins lässt das initiale Hauptmotiv mit unglaublicher Wucht spielen und geht mit Viertel = ca. 58 an die Obergrenze der von Sibelius konzedierten Tempi, nimmt jedoch das Tempo mit Einsatz des Solocellos leicht zurück. Insgesamt noch drängender als bei Karajan. Wie Schocks klingen hier die Akkorde im Blech, schroff, gewalttätig. – Die Adagio-Abschnitte werden im Tempo kaum zurückgenommen, was dazu führt, dass Collins in 8:47 mit Abstand die schnellste Version des Kopfsatzes vorlegt, fast eine Minute schneller als der nächste (Ashkenazy, 9:38'). Auch der Mittelteil des Satzes hat viel Zug nach vorne. Toll gespielt, doch hat Karajan die Musik noch sogartiger, zwingender aus der Ruhe heraus dargestellt. („Tempo molto moderato, quasi adagio“ lautet die Vorschrift zum Haupttempo.)


    Knapp oberhalb von 110 Takten pro Minute beginnt der zweite Satz, auch hier wird mit 3:59 eine rekordverdächtige Spielzeit erreicht. Die Akkordblöcke referenzieren in diesem Tempo allerdings noch deutlicher auf den ersten Satz als sonst. Alptraumhaft, weniger brütend als bei Karajan, klingt dann der zweite Teil des Satzes nach der Reprise des Scherzo-Abschnittes.


    Die ersten Takte des langsamen Satzes werden ziemlich genau mit Achtel = 72 genommen, insgesamt ist Collins‘ Version mit 8:48 eine der allerschnellsten. So erklingt die Musik sehr sachlich, einsam, weit, schmerzlich, aber nicht larmoyant. Sie hat bei aller Düsternis etwas Erhabenes. Das mag irritieren, wenn man die meist breiten Tempi heutiger Einspielungen im Ohr hat (Rattle 11:45, Segerstam/DRSO 12:24, Vänskä 14:04), ist aber dichter an Sibelius‘ Vorgabe von 1937 als alle anderen. Sollte man gehört haben, gerade auch wegen des Eindrucks innerer Größe in aller Einsamkeit!


    Im Finale geht es mit ca. 108 Halben pro Minute los, also ungefähr mit Sibelius‘ Vorgabe von 1937. Nach Beecham und Karajan klingt dies etwas gebremst. Das erste Todesmotiv ist hier klar zu hören – bei manchen Dirigenten geht das unter. Dem Klarinettensolo fehlt dafür die Verrücktheit. Auch hier klingen die Glockentöne verdächtig dunkel und nicht nach Glockenspiel. – Wunderbar wird hier der Zerfall der Musik dargestellt, gegen den die Glocken verzweifelt anspielen. Eine großartige Stelle bei Collins! In der Coda (Buchstabe W) beginnt er mit ca. 100 Halbe pro Minute, hält dies auch durch und ritardiert erst auf den letzten Akkorden.


    Schier unglaublich ist die Klangtechnik bei diesen alten „Full Frequency Range Recording“-Aufnahmen. – Wer hören will, wie dieses Werk klingt, wenn man die Angaben Sibelius‘ beachtet, muss hier zugreifen!



    Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker, Mai/September 1965



    Etwas bedächtiger als im Jahre 1953 geht es hier los (Viertel = ca. 52), auch hier wird beim Einsatz des Solocellos nachgegeben. Sehr organisch gelingt die erste Steigerung. Die Bläserakkorde sind weniger schroff als eher wuchtig und prall. (Im Gegensatz zu 1953 spielt die 3. Posaune in Takt 40 richtig.) Der erste Teil des Satzes ist wunderbar „rund“ und stimmig. – Den Mittelteil steigert Karajan in bedrohlicher Weise, so dass der Eintritt der Reprise gar nicht als Höhepunkt wirkt, sondern als Nachklingen. Interessant!


    Im zweiten Satz dann ein ähnliches Tempo wie in 1953, an der Unterkante von Sibelius‘ Vorgaben. Auch hier wird die Musik außerhalb der Scherzo-Abschnitte als brütend und bedrohlich dargestellt.


    Im dritten Satz beginnt Karajan mit den Berlinern marginal zügiger als mit dem Philharmonia Orchestra, kommt in beiden Fällen allerdings auf eine Spielzeit von ziemlich genau 12 Minuten. Er vertritt also ein Konzept, das von den Vorgaben des Komponisten deutlich abweicht (Sibelius 1937: Viertel = 50, Karajan 1953/1965: Achtel = 56 – 60). Gleichwohl gelingt es ihm die Spannung zu halten und dem musikalischen Geschehen einen zufriedenstellenden Fluss zu verleihen. Wiederum sind großartige Bläser zu hören. Die Musik wirkt hier im Vergleich zur älteren Aufnahme, aber auch gerade im Vergleich zu Collins, ästhetisiert und gerundet.


    Im letzten Satz hat Karajan nicht ganz den Schwung wie mit dem Philharmonia Orchestra. Das Glockenspiel ist hier wirklich eines. Die Virtuosität der Streicher ist großartig, etwa in den Tonleiterpassagen nach dem langen Ostinato, d. h. am Beginn der Durchführung. Die Selbstzerstörung der Musik wird wunderbar dargestellt, die folgenden Streichercrescendi wirken geradezu flehend, als solle geschehenes Leid noch abgewendet werden. In der Coda ist er beim Buchstaben „W“ im Tempo Halbe = 100, doch gibt er recht schnell nach bis auf ca. Halbe = 80. Dafür gibt es überhaupt kein Ritardando. Sehr überzeugend!


    Welche der beiden Karajan-Aufnahmen ist die bessere? Die Konzepte beider Aufnahmen sind so dicht beieinander wie die Spielzeiten: EMI: 09:45/05:00/12:03/09:19, DG: 09:58/04:46/12:00/09:26. Keine Frage: die spätere DG-Aufnahme hat die bessere Klangtechnik. Die Breite des Stereo-Klanges haucht dieser Musik sehr wohl entscheidend mehr Leben ein.


    In Berlin wird insgesamt runder und weicher gespielt – und das ist der wesentliche Punkt, der die beiden Aufnahmen voneinander scheidet. Mag man „seinen“ Sibelius so oder so? Ich kann sehr gut damit leben, dass die EMI-Aufnahme nicht so ästhetisiert klingt. Zudem gibt es in der DG-Aufnahme stellenweise Probleme mit der Klangbalance, etwa im Kopfsatz, wo die Töne im 2. Kontrabass T. 28f. (2:25) kaum hörbar sind (man vgl. mit Ashkenazy, dort ist es allerdings zu viel) oder den allzu kräftigen Einsatz von Bratschen und Celli in T. 41 (3:53) – „piano dolce“ ist vorgeschrieben. Dafür gibt es in der EMI-Aufnahme einen katastrophal falschen Ton in der 3. Posaune (Kopfsatz T. 40 3:33/3:34). Ich bin mit der DG-Aufnahme seit über zehn Jahren vertraut, und dennoch bevorzuge ich die EMI-Aufnahme von 1953, die vor wenigen Tagen bei mir ankam. Aber nur 60:40 – das Votum kann auch wieder kippen. Mal sehen. Beide Aufnahmen sind ausgezeichnet.


    Somit würde ich die Aufnahme für Collins für unverzichtbar halten, weil sie den Vorgaben von Sibelius am nächsten kommt, und desweiteren die Aufnahme Karajans mit dem Philharmonia Orchestra. Die spätere mit den Berlinern ist nur kanpp dahinter. Beechams Aufnahme ist eher etwas für Historiker, sehr gelungen, aber letztlich von Karajans 1953er Version klar übertroffen.

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  • Lieber Wolfram,


    vielen Dank für deine hervorragende Gegenüberstellung von weiteren 4 Aufnahmen. Dein Vergleich bestätigt meine Vorliebe für die beiden Karajan-Aufnahmen bei der Sinfonie Nr.4.
    Allerdings ist die zweite EMI-Aufnahme (neben der DG-Aufnahme) die von EMI 1976 in Stereo und auch mit den Berliner PH. Das ist die Aufnahme, die ich auch bei meiner kurzen Gegenüberstellnug in Beitrag 4 zugrundegelegt hatte.


    Im Prinzip klingen alle EMI-Sibelius-Aufnahmen mit Karajan etwas schroffer, unmittelbarer, als die ca ein Jahrzeht vorher entstandenen DG-Sibelius-Aufnahmen. Ich finde das Schroffe rein von meinem Geschmack her angemessener für Sibelius. Bei den DG-Aufnahmen schimmert bei sogar besserem Klang (obwohl sie älter sind als die EMI´s) ein gewisser Perfektionissmus durch - es klingt alles unheimlich sauber und schön.
    Das ist wohl auch der Grund, warum ich instinktiv die EMI 1976er-Aufnahme der Sinfonie Nr.4 in Beitrag 4 verwendet habe. Vom Interpretationskonzept dürften alle drei Aufnahmen auf der gleichen "richtigen" Karajan-Linie 1953 - 1965 - 1976 liegen.
    Es wäre noch interessant deine Meinung zur Karajan-Aufnahme EMI 1976 zu lesen, die Du warscheinlich nicht besitzt ?



    Zu deinem Neukauf:
    :thumbsup: Ich habe diese Tage in "Heute gekauft" gelesen, dass Du jetzt auch die frühe EMI-CD mit Karajan Philharmonia Orchestra von den Sinfonien Nr.2 und 5 erhalten hast, beide im Gegensatz zu 4 und 7 (aus beitrag 7) schon in Stereo. Das ist für die Sinfonie Nr.2 mein Favorit (Ja, lieber Josef, auch noch vor Barbirolli, den ich jetzt auch habe !) und auch die Sinfonie Nr.5 ist mit dem Philharmonia Orchestra ist Leidenschaft pur - für mich steht auch diese vor den späteren Karajan-Aufnahmen bei DG 1965 und EMI 1977 mit den Berliner PH.
    :hello: Bin gespannt auf deine Eindrücke zu diesen fulminantentesten Sibelius-Interpretationen.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Lieber Wolfgang,


    vielen Dank für Dein Feedback!


    Im Prinzip klingen alle EMI-Sibelius-Aufnahmen mit Karajan etwas schroffer, unmittelbarer, als die ca ein Jahrzeht vorher entstandenen DG-Sibelius-Aufnahmen. Ich finde das Schroffe rein von meinem Geschmack her angemessener für Sibelius. Bei den DG-Aufnahmen schimmert bei sogar besserem Klang (obwohl sie älter sind als die EMI´s) ein gewisser Perfektionissmus durch - es klingt alles unheimlich sauber und schön.


    Ich sehe gerade, dass die Sinfonien 1, 4, 5 und 6 mit HvK + Berliner Philharmoniker + EMI für'n Appl un'n Ei zu haben sind. Sollte gerade noch drin sein ...


    Ich habe diese Tage in "Heute gekauft" gelesen, dass Du jetzt auch die frühe EMI-CD mit Karajan Philharmonia Orchestra von den Sinfonien Nr.2 und 5 erhalten hast, beide im Gegensatz zu 4 und 7 (aus beitrag 7) schon in Stereo. Das ist für die Sinfonie Nr.2 mein Favorit (Ja, lieber Josef, auch noch vor Barbirolli, den ich jetzt auch habe !) und auch die Sinfonie Nr.5 ist mit dem Philharmonia Orchestra ist Leidenschaft pur - für mich steht auch diese vor den späteren Karajan-Aufnahmen bei DG 1965 und EMI 1977 mit den Berliner PH.
    Bin gespannt auf deine Eindrücke zu diesen fulminantentesten Sibelius-Interpretationen.


    Das "Ersthören" vollzieht sich bei mir oft im Hintergrund, es geht eher darum, zu prüfen, dass die CD einwandfrei ist. Vor allem bei Schnäppchen. So auch hier - dennoch war mein erster Eindruck hervorragend!


    Intensiveres Hören folgt dann später - kann aber dauern! Ein Vergleichshören zur 2. + 5. Sinf. ist geplant, aber das dauert noch Monate ... Reihenfolge: 4 - 7 - Tapiola - 1 - 3 - 6 - 2 - 5, dazwischen noch Beethoven-Sinfonien und Mahlers 3. ... und da wären noch Streichquartette des 20. Jhds. nebst Liszts "Années de pèlerinage" ... man hat einfach zu wenig Zeit ...


    Im Laufe dieser Woche folgen jetzt erstmal die Aufnahmen der 4. Sinfonie mit Bernstein, Maazel und Barbirolli aus den 1960er Jahren, am Wochenende hoffe ich, ins Digitalzeitalter vorzustoßen (erst noch Roschi und C. Davis/Boston, dann Ashkenazy, Rattle, Blomstedt, Segerstam, Vänskä) .... also: Zeit ist knapp!


    Interessiert wäre ich noch an den Mono-Aufnahmen der 2. + 5. mit dem Philharmonia Orchestra.

  • Die folgenden drei Aufnahmen sind Gesamteinspielungen der Sinfonien von Jean Sibelius entnommen. Alle drei sind in den 1960er Jahren entstanden, alle drei werden immer wieder als empfehlenswerte Zyklen genannt. Die Erwartungen dürfen also hoch sein. Es handelt sich um die Versionen mit Leonard Bernstein (New York Philharmonic), Lorin Maazel (Wiener Philharmoniker) und Sir John Barbirolli (Hallé Orchestra).



    Leonard Bernstein, New York Philharmonic, 1966



    Bernstein beginnt den Kopfsatz mit Viertel = ca. 32. Unglaublich langsam und gewichtig. Die Kontrabässe bleiben sehr präsent nach Einsatz des Solocellos, die in der Partitur vorgesehene Balance (Cello = p, Kb = pp) ist nicht umgesetzt. Natürlich klingt es mit dieser Dynamik sehr erdig und düster. Auf der zweiten Partiturseite erreicht er Viertel = 40. Im Adagio geht er kaum zurück (Viertel = ca. 38'). Da stimmen die Temporelationen nicht, auch wenn es noch so gut klingt … er nimmt den Satz quasi in einem Tempo, als großes sinfonisches Adagio mit sattem Bassfundament. Beeindruckend, aber falsch. Man greife zu Collins, um zu hören, was in der Partitur steht. – Im mittleren Abschnitt des Satzes sind dann die Streicher bei ihren p/pp-Stellen zu laut. Das schafft Dramatik, zerstört aber Atmosphäre. Wer’s mag … Voller Spannung zelebriert Lenny dann den Schluss des Satzes. Interessant! Aber auch hier die Frage: Ist das so auf des Messers Schneide gemeint, oder eher verklingend? Im letzten Takt steht pianissimo in der Partitur …


    Der zweite Satz hebt mit knapp 80 Takten pro Minute an. Ebenfalls deutlich unter Sibelius‘ Vorgaben und der langsamste im Vergleich. Die Musik hat dadurch einen anderen Charakter, ihr fehlt die gewünschte Lebendigkeit, Allegro molto vivace ist vorgeschrieben. Im zweiten Teil des Satzes lässt Bernstein das Bedrohliche sehr direkt spielen, das hat man auch schon als eher latente Gefahr gehört.


    Der langsame Satz (ich meine den dritten :) ) geht mit Achtel = 53 los, deutlich unter Sibelius‘ Vorgabe. Doch hier muss man bedenken, dass Sibelius die Karajan-Aufnahme von 1953 sehr lobte, in der fast genau dasselbe Tempo angeschlagen wird. Bernstein erzielt hier wirklich äußerste Trostlosigkeit, so abgrundtief düster habe ich den Anfang noch nicht gehört. Nach und nach wird es schneller, bei Buchstabe C (4:25) geht es fast ruckartig auf Achtel = 72, dann wenige Takte später auf über 80. Effektvoll, gewiss … aber ist es so komponiert? Bei Buchstabe E sind es schon Achtel = 112, fast das Doppelte das Anfangstempos. Sorry – aber schaue ich in die Partitur, so stelle ich fest, dass Sibelius wohl eher daran dachte, die ungeheure Steigerung mit inneren Mitteln zu erzeugen statt äußerlich über das Tempo. Es klingt natürlich verführerisch gut, man kann super mitgehen, … aber Bernstein kaut letztlich dem Hörer vor, was eher durch aktives Mithören zu ahnen wäre.


    Finale. Ungefähr 102 Halbe pro Minute. Ziemlich gemütlich. Röhrenglocken! Ein neuer Klang. Aber warum so langsam? Na klar: Weil man dann viel effektvoller steigern kann. Beim ersten Todesmotiv (1:37) sind es schon 116 Halbe pro Minute. Beim Einsatz der Soloviola entspannt das Tempo dann leicht (man will ja wieder steigern können). Halbe = 108 beim großen Streicherostinato. Die Pizzicato-Stelle liegt dann schon über 120. Das hat schon etwas von Pacific 231, was Bernstein da macht. – Die letzte Welle hebt dann 12 Takte vor N an (6:12), dreifaches Piano in den Streichern, Halbe = 120. Hier macht Lenny es nun anders herum: Beim Zerfall der Musik wird er nach und nach langsamer bis zu Halbe = 80. Todesmotiv unter 70. Die Stelle bei W, wo Sibelius Halbe = 100 forderte, hat hier weniger als 50. Thema verfehlt.


    Lenny agiert wie ein schlechter Schauspieler: Er verdoppelt den Text einfach durch Gesten (meist durch Tempodramaturgie). Sehr effektvoll. Letztlich aber McJean statt Sibelius: Dem Hörer wird das Mitdenken abgenommen. Ich kann das mal so hören, und ich will keineswegs bestreiten, dass Bernstein eine interessante, diskussionswürdige Interpretation abliefert! Aber Collins und Karajan sind dichter an den Quellen dieser Musik. – Diese Interpretation widerspricht m. E. den Äußerungen von Sibelius, der mit diesem Werk gegen die mitteleuropäische Musik jener Zeit protestieren wollte: „Nichts, absolut nichts vom Circus um sie!“ Und auch die Haltung der Musik am Ende des Werkes hat Sibelius klar beschrieben: „Die letzten sechs Takte: mf. So ernst wie möglich und ohne Ritardando (tragisch, ohne Tränen, fest umrissen).“ Genau das macht Bernstein nicht: Er lässt mit Tränen spielen. Er macht Beschleunigungen und Verlangsamungen, wie sie in Mahlers Sinfonien sehr wohl immer wieder vorkommen, bei Sibelius aber nicht in der Partitur stehen. Diesen Musik gewordenen Protest gegen die Werke dieser Zeit mit den gängigen Mitteln dieser Zeit zu spielen, bedeutet ein eklatantes Missverständnis.



    Lorin Maazel, Wiener Philharmoniker, März/April 1968



    Maazel steigt mit Viertel = ca. 48 ein und hält dieses Tempo im Wesentlichen auch nach Einsatz des Solocellos, zieht sogar eher noch an. Das ist an der Unterkante von Sibelius‘ Wünschen, und mit einer Spielzeit von 10:12 liegt Maazel auch eher im Mittelfeld. Interessant ist, dass Maazel die wiederholten Basstöne Fis/E mit Akzenten spielen lässt.– Gut herausgespielt ist die Stelle, an der der erwartete Basston C nicht erscheint (ca. 2:12) und die Dissonanz in den Hörnern stehen bleibt. Die erratischen Bläserakkorde wirken sehr schroff. - Im Mittelteil des Kopfsatzes fehlt es mir an Atmosphäre, das ist mir zu geradlinig heruntergespielt. Sibelius hat sich da sehr viel Mühe mit der Differenzierung gegeben (Dynamik, mit/ohne Dämpfer, „sulla tastiera“, „quasi niente“), davon müsste mehr zu hören sein. Ganz am Schluss ist leider kein echtes Piano in den Streichern zu hören, geschweige denn ein Pianissimo im letzten Takt. – Fazit: Sehr nüchtern und kühl, ohne die mögliche Wirkung des Satzes zu erreichen.


    Der zweite Satz bekommt mit ca. 104 Takten pro Minute viel Schwung mit. Bei 0:16 haben die Oboe und die 1. Violinen eigentlich denselben Rhythmus notiert (Halbe plus Viertel), spielen ihn aber völlig verschieden. Auch in den folgenden Takten leisten sich die Wiener Philharmoniker manche rhythmische Ungenauigkeit. – Da hat Beecham bei fast identischem Tempo in den Scherzo-Abschnitten einen anderen (und, wie ich meine, treffenderen) Charakter herausgearbeitet – dort lächelt die Musik, nicht aber bei Maazel. Dem Teil nach dem Scherzo fehlt dann das Brüten, wie im Mittelteil des Kopfsatzes ist das zu direkt und zu geheimnislos.


    Zu Beginn des dritten Satzes habe ich zweimal hingehört – ein Wahnsinnstempo, gut 84 Achtel pro Minute. Im Verlauf des kurzen B-Abschnittes gibt Maazel dann nach und bleibt etwas ruhiger als anfangs, ist mit 9:03 allerdings immer noch bei den ganz schnellen für diesen Satz. Beim Einsatz des Ostinatos in den Bläsern (5:39) erreicht er bis zu Achtel = 108, spielt also noch schneller als die gewisse extreme Vorgabe von Sibelius aus dem Jahr 1937. Hier wirkt es auf mich so, als ob Maazel tiefere Emotionen um jeden Preis vermeiden wolle. Buchstabentreue hin oder her - das kann auch nicht gemeint sein. Der Satz hat mich in dieser Aufnahme ziemlich unbeteiligt zurück gelassen.


    Etwa mit Halbe = 120 geht dann das abschließenden Allegro los, sehr stimmig. Hier gibt es ein Glockenspiel zu hören. Das Tempo bleibt weitgehend konstant, beim Beginn des Ostinatos (2:28') sind es immer noch ca. 116 Halbe pro Minute. Der Hörnerchoral vollzieht sich ohne Zauber, insgesamt läuft das musikalische Geschehen ohne die rechte Atmosphäre ab. Sehr gut gelingt Maazel allerdings der Lauf in die Katastrophe, da bleiben die parallel ablaufenden Vorgänge höchst transparent. – Der Schluss insgesamt knapp unter Halbe = 100 mit etwas Ritardando auf den letzten Akkorden.


    Flott und unterkühlt – viel mehr fällt mir zu dieser Aufnahme nicht ein. Bernstein und Maazel sind geradezu antipodal, in ihren Tempi wie im emotionalen Radius. Mir ist es bei Maazel deutlich zu nüchtern. Da waren bei Collins, der ähnliche Tempi anschlug, viel mehr Emotionen und Farben zu hören. Die sehr gute Klangtechnik scheint hier das Schlimmste verhindert zu haben.



    Sir John Barbirolli, Hallé Orchestra, Mai 1969



    Lässt man Collins mal außen vor, so gehört Barbirolli im Kopfsatz zu den Schnelleren, und dies trotz eines Beginns mit ca. 40 Vierteln pro Minute. Nach dem Hören der Maazel-Aufnahme ist der erste Teil geradezu eine Lehrstunde in Sachen Atmosphäre. Die Stimmungswechsel sind außerordentlich gut gelungen – wenn etwa ganz am Anfang plötzlich nur die tiefen Oktaven übrigbleiben, wenn dann das einsame Solocello einsetzt, wenn die hellere Ges-Dur/es-moll-Sphäre betreten wird, wenn die Violinen hinzukommen, der Akkord in den gestopften Hörnern, die nicht erfüllte C-Dur-Erlösung mit ihrem Umkippen nach Fis, die folgenden Bläserakkorde, die hohen Violinen, die Hornquinten – hier ist jeder Takt erfüllt, hier hat jede neue Harmonie, jede neue Instrumentation ihr eigenes Profil und gleichzeitig ihren Sinn als Baustein des Ganzen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn der kurze Bläserchoral nicht höchsten Ansprüchen an Homogenität und Intonation genügt. – Herrliches Streicherflirren im Mittelteil mit bedrohlichen Bläsern und Pauken. – Ein wunderbarer erster Satz.


    Mit knapp unter 100 Takten pro Minute beginnt Barbirolli den zweiten Satz genau im von Sibelius gewünschten Tempo. Nach den Scherzo-Abschnitten wird sehr dramatisch agiert, ohne alles im Klartext auszusprechen. Die Musik behält sozusagen einen Rest ihres Geheimnisses, bleibt in der (Alp-)Traumsphäre, die zu dieser Musik stellenweise gehört.


    Im dritten Satz gehört Barbirolli zu den Schnellen unter den Langsamen – knapp über elf Minuten, das liegt hart an der Grenze vom Niemandsland zwischen zehn und elf Minuten, in dem keine Einspielung existiert – entweder unter zehn Minuten oder über elf. Im Schnitt sind es ziemlich genau 60 Achtel pro Minute in den ersten sechs Takten, aber mit Rubato (unaufdringlich). Es entsteht durchaus das Gefühl von Weite und Verlassenheit, aber nicht von Weinerlichkeit. Der erste Hornchoral bietet mit Wärme, Verbindlichkeit und Festigkeit den notwendigen Gegensatz. Hier bewahrt die Musik allen Widrigkeiten zum Trotz sozusagen die Fassung. Hier würde ich Barbirolli sogar noch den Karajan-Einspielungen vorziehen – da bräuchte ich jetzt einen A/B-Vergleich. In jedem Fall eine hervorragende Version dieses eigentümlichen Satzes!


    Das Finale beginnt eher gemächlich, aber genau im von Sibelius 1937 vorgegebenen Tempo von 108 Halben pro Minute (1935 und 1942 plädierte er jedoch für deutlich raschere Tempi). Hier ist ebenfalls ein Glockenspiel zu hören. – Das Tempo kommt den raschen Streicherfiguren (Anlaufmotiv, Terztonleiter) sehr zugute – wie in Reinschrift erklingt die Musik. - Das Streichergemurmel ist vielleicht etwas zu laut. Das erste Todesmotiv klingt eher harmlos. Leugnung des kommenden Unheils? Der Hörnerchoral ist wiederum nicht sauber intoniert. Im mittleren Teil nimmt Barbirolli das Tempo weiter zurück, hier würde ich etwas zügigere Darstellungen bevorzugen. Gleichwohl hat die Deutung Barbirollis etwas Unerbittliches, etwas Unabwendbares, die Ereignisse brechen langsam, aber unaufhaltsam über dem Hörer herein. Der letzte Abschnitt (ab W, 09:28') ist eher bei 80 denn bei 100 Halben pro Minute, fügt sich so aber ausgezeichnet in die Gesamtanlage des Satzes. Ritardando erst vor dem letzten Akkord.


    Fazit: Der erste und dritte Satz sind sehr überzeugend, den dritten würde ich sogar noch über die beiden Versionen Karajans stellen. Dies ist eine ausgezeichnete Aufnahme dieses Ausnahmewerkes, nur im letzten Satz ist es vielleicht Geschmackssache, ob man dieses Tempo akzeptiert.

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  • Lieber Wolfram,


    das ist wieder eine TOP-Gegenüberstellung von frei Aufnahmen, von denen mich Bernstein (SONY) und Barboirolli (EMI) wirklich interessiert.


    Zu Bernstein (SONY):
    Bernsteins Aufnahme der Sinfonie Nr.4 ist in der Tat keine Referenzaufnahme. :!: Aber das ist in der SONY-Bernstein-Box der Einzelfall ! :angel: Aber - es muss nicht immer Referenz sein um zu gefallen ! Trotz der von Dir korrekt aufgezeigten Mängel schätze ich diese Aufnahme trotzdem. Ich hatte ja schon in Beitrag 4 (in dem ich meine Eindrücke von 2007 postete) meine Zweifel angekündigt, ob der Schluss des Finales nicht falsch ist ? Er ist es !
    Trotzdem gehört diese Bernstein 4 zu den interessantesten Aufnahmen, denn ich finde das Bernstein das Werk durchweg packend gestaltet. Da kommt beim Hörer keine Langeweile auf, als dass dort ein "Hinsichen" in Resignation und Verzweifelung a´la Pettersson statt findet. Überall interessante Momente und als Gipfelpunkt dann im 4.satz die sonoren Röhrenglocken, statt einem schrillen Metallophon.
    8) Ich habe zufällig gestern erst die Sinfonien Nr.4 und 5 gehört und erneut festgestellt, dass zwar meine Käufe von mehreren GA in den letzten Jahren sehr interessante Einblicke gestatteten, aber unterm Strich eigendlich nur Roshdestwensky (mein BestBuy2011) wirklich neue und positiv erhebende Einsichten brachte.
    Inzwischen habe ich 9 GA:
    Bernstein (SONY und DG1,2,5,7), Karajan (alle auf EMI und DG in Stereo), Roshdestwensky (Melodiya), Blomstedt (Decca), Segerstam (Brillant), N.Järvi (DG), Barbirolli (EMI) + Einzelaufnahmen mit Ormandy, C.Davis.



    Zu Maazel / WPO (Decca):
    Ich hatte in der LP-Ära einige Einzelaufnahmen, die ich aber nicht behalten habe. Der Grund war die oft sehr nüchterne Sicht Maazels - gar nicht mein Fall; aber auch das hohe Grundrauschen der Aufnahmen (warscheinlich auf LP noch schlimmer als später auf CD).
    :!: Ich hatte mir wegen erwarteter TOP-Klangtechnik im November 2011 die zweite Maazel-GA / Pittsburgh SO (SONY) gekauft, davon aber bei Tamino nur einmal kurz berichtet, weil die ganze GA ein Ärgernis und mein "WorstBuy 2011" war. Klangqualität war wirklich gut, aber so langweilg und nüchtern habe ich die Sinfonien bisher nie gehört (am "abtörnensten" war die 2, wie ich auch später in Kritiken bestätigt fand !). Diese Maazel-GA habe ich bereits vor Weihnachten dank EBAY wieder abgestossen ! Das VC mit Rachlin in der Box war ebenfalls langatmig wie nie zuvor gehört - zum heulen ... sowas bleibt nicht in meiner Sammlung !



    Zu Barbirolli (EMI):
    Barbirolli und das Hallé SO haben eine unheimliche hohe Affinität und Kenntnis für Sibelius aufgebaut. Da wird nichts dem Zufall überlassen. Das Orchester spielt immer mit voller Hingabe, aber die Perfektion der Spitzenorchester fehlt, was ich keineswegs als Kritikpunkt verstanden wissen möchte - ich finde es angemassen. Die Sinfonie Nr.4 (und Nr.2) finde ich die herausragensten Aufnahmen der GA.
    :thumbup: Zu deinen positiven Worten im Vorbeitrag gibt es somit nichts hinzuzufügen - volle Zustimmung.

    Die Klangqualität der Aufnahmen hat oft starke Defizite und ist nicht so umwerfend, wie es Josef vorab geschrieben hatte; da ist selbst Roshdestwensky trotz der zu dieser Zeit rückständigen Aufnahmetechnik in der UDSSR noch besser. (In der Sinfonie Nr.5 mit Barbirolli sind sogar Verzerrungen enthalten, bei denen ich zunächst dachte, dass meine Hochtöner defekt ist.)
    ;) OK - da bin ich offenbar insgesamt empfindlicher als ihr ! :pfeif:

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Die nächsten drei Aufnahmen wecken ebenfalls hohe Erwartungen: Der Zyklus unter Gennadij Rozhdestwenskij wurde hier im Forum ja schon hoch gelobt, Sir Colin Davis gilt (nicht nur) als Sibelius-Experte und hat mittlerweile bereits drei Zyklen der Sinfonien vorgelegt. Die vierte Sinfonie mit dem Boston Symphony Orchestra bekam im Penguin Guide eine besondere Empfehlung. De ersten beiden Aufnahmen unter Herbert von Karajan werden von vielen zu den besten gezählt – hier nun seine dritte mit den Berliner Philharmonikern bei EMI.



    Gennadij Rozhdestwenskij, Moskauer Radiosinfonieorchester, 197?
    (Die Aufnahmedaten stehen im Booklet leider genau so: 197?)



    Hier hört man endlich mal die Fagotte am Anfang! Achtel = 92, doch mit zunehemder Lautstärke zieht Roshdestwenskij das Tempo an. Die Akkorde im Blech sind nicht sehr knallig, das könnte für „ffz“ etwas mehr sein. Der Satz wird nicht auf äußeren Effekt angelegt. – Im Blechbläserchoral gibt es bei 3:37/3:38 einen deutlichen Wackler: die Posaunen setzen zu früh ein (dritte Triole von „2“). Die Atmosphäre scheint an jeder Stelle gut getroffen, doch war der Gesamteindruck bei Barbirolli stimmiger. Es war stärker differenziert und doch wie aus einem Guss. – Die Streicher im Mittelteil sind zu wenig verschattet, das mindert die Wirkung der Bläsereinsätze. Insgesamt ist die Wiedergabe etwas zu unbeteiligt, überraschend bei diesem Dirigenten.


    Der zweite Satz beginnt mit 84 Takten pro Minute sehr gemächlich, beim Übergang zum Trio im 2/4-Takt zieht Roshdestwenskij jedoch das Tempo an, obwohl die Partitur alte punktierte Halbe = neue Halbe vorschreibt. Da passen die Teile nicht zusammen. Besser gelungen ist der zweite Teil, bedrohlich, ohne zu outrieren. Doch auch da fehlt etwas, es ist zu distanziert.


    Der Beginn des dritten Satzes wird rubato genommen, im Schnitt um Achtel = 70 – 72. Der erste Hörnerchoral erklingt mit Dämpfern – warum? Die Musik kommt hier ohne jeden Trauergestus daher. Auch die bei Barbirolli hörbare Weite und Einsamkeit ist nicht der primär hörbare Ausdruck. Doch oberflächlich wie bei Maazel klingt es nicht, es wird mit Ernst und Konzentration musiziert. Bei Roshdestwenskij klingt die Musik stark und fest, mit Blick nach vorne, sie hat eine unnahbare Größe im (nobel verborgenen) Schmerz. Dieser Zugang fällt mir (noch?) schwer, aber er scheint mir genau auf der Linie von Sibelius zu liegen. Der Höhepunkt wird grandios ausgespielt, ohne jedes falsche Pathos.


    Ca. 120 Halbe pro Minute im letzten Satz. Glockenspiel. Fast beiläufig wird der Anfang genommen, leichtgewichtig. Vorbildliches Pianissimo im Streichgemurmel vor dem ersten Todesmotiv. Scharf und zu laut einsetzend darüber die hohen Holzbläser. Auch beim Streicherostinato ist das Tempo immer noch fast 120. Alles ist noch ruhig, die Kräfte des Satzes schlummern noch im Verborgenen. Dito bei der Pizzicato-Stelle. Das Klarinettensolo bringt den Umschwung (5:28ff). Nicht nur das folgende Fortissimo wird ausgespielt, auch das folgende Streichergemurmel hat mehr Biss als anfangs des Satzes. Jetzt geht es unaufhaltsam in die Katastrophe, auch beim zweiten Todesmotiv (sehr stark!) immer noch Halbe = 120 (wie ungefestigt war da doch Bernstein). Bei Buchstabe W immer noch 120, ganz am Schluss immer noch bei 110, kaum Ritardando. Eine tolle Dramaturgie liegt in dieser Aufnahme über dem letzten Satz!


    Wie gesagt: Sehr nahe bei Sibelius‘ Absicht, und doch nicht so überzeugend wie Collins, Karajan und Barbirolli. Eine sehr hörenswerte Alternative, die ich im Verdacht habe, dass sie sich bei häufigem Hören als eine der allerbesten herausstellen könnte.



    Sir Colin Davis, Boston Symphony Orchestra, November 1976



    Dass Sir Colin Davis im Kopfsatz nicht zu den schnellsten gehören würde, war angesichts der Spielzeit von 11:01 klar. Doch mit Achtel = 92 ist er nur knapp unter Sibelius‘ Vorgabe aus 1942. Sehr organisch entfaltet sich der Anfang unter seinen Händen, die Fagotte sind zumindest zu ahnen. Die Kontrabässe sind mit Einsatz des Solocellos etwas zu laut. Das Ritardando zum vorenthaltenen Höhepunkt in C-Dur ist gut gelungen. Die Akkorde im Blech sind eher weich und wuchtig, das ist mir für „ffz“ etwas zu wenig, zumal die Violinen jeweils Vollgas geben dürfen und nicht so recht ins notierte Pianissimo zurückfinden. Auch danach ist manches zu laut – vielleicht ist das der wesentliche Unterschied etwa zur Barbirolli-Aufnahme, die die Grenzwerte der Partitur stärker ausreizte und trotzdem alles unter einen Bogen zwang (wobei diskussionswürdig wäre, ob die Einheitlichkeit wirklich gewünscht ist). Im Mittelteil ist das Streichergemurmel zu laut, sind die Bläsereinwürfe zu leise. Wiederum fehlt die Offenlegung der Extreme, es bleibt – durchschnittlich.


    Mit ca. 96 Takten pro Minute bleibt Sir Colin Davis auch im zweiten Satz an der Unterkante der Vorgabe, doch hält erfreulicherweise beim Übergang in den 2/4-Takt das Tempo bei. Der zweite Teil hat mir sehr gut gefallen, es wird nicht die letzte Schroffheit der Musik herausgearbeitet (ohne im mindesten langweilig zu sein!), aber gerade dadurch bleibt die Einheit des Satzes gewahrt.


    Achtel = 52-54 bedeutet bisher den langsamsten Beginn dieses Satzes. Aber Sir Colin drückt nicht auf die Tränendrüse, lässt die Musik sozusagen aufrecht stehen. Er hat vor allem den Atem, um die Musik nicht durch Temposteigerungen aufheizen zu müssen (Achtel = ca. 69 werden im Ostinato-Abschnitt (ab 8:12) erreicht. Auch der äußere Höhepunkt bleibt bei Achtel = 60. Ich fand diese Lösung sehr überzeugend, wenngleich sie an Sibelius‘ Wünschen doch vorbei zu gehen scheint.


    Der letzte Satz krönt diese unterm Strich doch mehr als nur gute Aufnahme. Es geht mit Halbe = ca. 126 los. Röhrenglocken und Glockenspiel agieren gemeinsam! Ich hörte manche Basslinie, die mir bis dato trotz Partitur nicht richtig bewusst war. Das Streicherostinato hat das richtige Pianissimo, trotzdem hängt die Musik nicht durch. – Bei der Stelle mit den schnellen Streichertonleitern (ca. ab 3:32) ist das Crescendo im Blech großartig! (Es steht ja auch dreifaches Forte in der Partitur … ) Bis jetzt ein einziger großer Musikfluss, und so geht es auch weiter, alles in einem Tempo, auch bei dem auskomponierten Ritardando (ab 06:20) bleibt das Metrum konstant, das Stück läuft halb optimistisch, halb ahnend in die Katastrophe. Sogar beim Buchstaben „W“ noch Halbe = 123! In diesem Tempo geht es bis zum allerletzten Akkord. Wahnsinn. So steht es in der Partitur!


    Wäre der erste Satz etwas stärker ausdifferenziert, so wäre dies eine der besten Aufnahmen. So bleibt vor allem der letzte Satz in Erinnerung mit dem ohne Verzögerung ausgespielten Schluss. Wobei auch der zweite und dritte Satz mehr als gut gelungen sind.



    Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker, Dezember 1976



    Von Karajan setzt dem auskomponierten Ritardando des Anfangs sein eigenes Accelerando entgegen. Von Achtel = 72 im ersten Takt ausgehend erreicht er mit Einsatz des Solocellos ungefähr Achtel = 100 und ist auf der nächste Partiturseite bei ca. 96. Gut entfaltete Steigerung, schroffe Bläserakkorde – ja, so steht es da! Aber es ist unendlich breit … Die Intonation der Hornquinten genügt nicht höchsten Ansprüchen. Die Streicher nach dem Bläserchoral sind auch hier zu laut. Der Mittelteil ist ganz wunderbar – sage da noch jemand, Karajan verstünde es nicht, polyphone Strukturen transparent zu machen und wäre nur am schönen Klang und an Streicherkantilenen interessiert! Der Beginn der Reprise ist gleichfalls grandios. Mal sehen, was da noch kommt … der erste Satz lässt aufhorchen.


    Im zweiten Satz geht es nur mit etwa 84 Takten pro Musik los. Karajan ist ganz darauf aus, das Brüten der Musik darzustellen und verzichtet auf Scherzo-Bukolik. Es hat etwas Zärtliches, Unwirkliches, wie er diese Musik spielen lässt – Im 2/4-Takt zieht er unmerklich das Tempo auf 90 Halbe pro Minute an. Sehr zurückhaltend die ersten Bläserakkorde – genau so stehen sie in der Partitur. Trotz des von Sibelius nicht gewollten Tempos (Karajan 1976 ist der langsamste in diesem Vergleich, sogar Bernstein war schneller im Ziel) hat dieser Satz hier seine eigene Magie! Im zweiten Teil wird es mir allerdings zu langsam, da fehlt der Zug nach vorne, es bleibt beim Brüten ohne Bewegung – eine Dimension fehlt.


    57 Achtel zu Beginn des dritten Satzes – das ist das Tempo, das Sibelius bei Schneevoigt (1930er Jahre) verworfen hat. Obwohl Karajan hier einen Tick schneller als Colin Davis ist, gönnen sich beide auf die Sekunde genau gleich viel Zeit für diesen Satz. – Selbst beim Höhepunkt ist Karajan noch knapp unter 60, verzichtet auf den äußeren Effekt einer Temposteigerung. Äußerste Würde im klaren Bewusstsein der Geworfenheit der Kreatur – ist es das, was Karajan meint? Und Sibelius? Trotzdem: Ich finde die Versionen von 1953 und 1965 überzeugender.


    Mit irgendwo um Halbe = 116 herum geht es auch der Lautstärke her zurückhaltend los im letzten Satz. Alles bleibt sehr zurückhaltend, auch das Streicherostinato ist sehr weich und mit ca. 110 auch im Tempo nochmals zurückgenommen. In der Reprise dreht Karajan dann auf. Dem Weg in die Katastrophe fehlt allerdings der unerbittliche Zug, wenngleich das zweite Todesmotiv unglaublich gut klingt. Schade. Auch auf der letzten Partiturseite wird dann im Tempo nachgegeben.


    Am besten war noch der erste Satz. Der zweite und der dritte sind hörenswert, aber diskussionswürdig. Am ehesten als Alternativlesart zu verstehen. Beileibe keine schlechte Aufnahme, aber es gibt bessere.



    Fazit: Keine der drei Aufnahmen spielt ganz vorne mit, es bleibt bei Karajan 1953, Collins und Barbirolli. Wobei Rozhdestvenskij eine interessante Alternative bietet und Sir Colin Davis den vielleicht spannendsten vierten Satz.

  • Die Roschdestwenskij-Aufnahme ist von 1977. Das ist schlichtweg ein Druckfehler im Booklet (vgl. u. a. hier und hier).


    P.S.: Geniale Arbeit, lieber Wolfram! Allergrößten Respekt! :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Auch diesen drei Aufnahmen gehen Lobeshymnen voraus. Diejenige mit Vladimir Ashkenazy und dem Philharmonia Orchestra gilt als Standard-Empfehlung für Liebhaber digitaler Aufnahmen. Sir Simon Rattle wird wieder einmal vom Penguin Guide wärmstens empfohlen. Und diejenige mit Blomstedt hat bei ihrem Erscheinen in FonoForum sehr gute Kritken bekommen.


    Vladimir Ashkenazy, Philharmonia Orchestra, 198?



    Knapp unter Achtel = 80 geht es los, mit Einsatz des Solocellos geht es nach und nach auf über 90. Die Stelle mit dem nicht erscheinenden C im Bass klingt nirgends so aufregend wie bei Ashkenazy. Viel Schärfe und Energie in den Bläserakkorden, sofortige Entspannung bei den Hornquinten. Fantastischer Blechbläserchoral danach. Und der folgende Abschnitt ist wirklich piano. Da auch die spezifische Atmosphäre jeder Stelle rüberkommt, ohne dass der Zusammenhang verloren ginge, liegt hier eine der besten Expositionen dieses Vergleichs vor. – Der Mittelteil überzeugt durch hervorragende Balance zwischen den Streichern und den Einwürfen der Bläsern. Überwältigend dann der Beginn der Reprise.


    Um 100 Takte pro Minute dann der zweite Satz, eher ganz leicht darunter. Genau da, wo Sibelius ihn haben wollte. Ashkenazy geht die Scherzo-Stellen als Gegensatz zu den düsteren Sätzen an, schafft hier einen bukolisch-heiteren Raum. – Im zweiten Abschnitt wird es sehr bedrohlich, letztlich macht Ashkenazy aber nicht mehr, als die Angaben der Partitur beim Wort zu nehmen. Das funktioniert – und wie!


    Mit ca. 77 Achteln pro Minute ist Ashkenazy im langsamen Satz anfangs bei den schnellsten – nur Maazel war mit seiner kühlen und flotten Gangart noch schneller. Aber bei Ashkenazy teilt sich trotz des Tempos die Einsamkeit und Weite mit, und die Musik behält ihre Größe und Tiefe. Im späteren Verlauf spielt er die Kanten der Musik schroff aus, zeichnet scharfe Konturen, lässt die Ostinati drängen. Der Höhepunkt hat eher vernichtende Gewalt als strahlenden Glanz. Sogar die Pizzicati am Schluss sind noch bedrohlich.


    126 Halbe pro Minute im Finale, auch hier auf Linie mit Sibelius. Herrlich herausfahrend klingen die Hörner mit ihren Anlaufthema (siehe Thread „Plaudereien über …“). Glockenspiel. Ein unglaublich gutes Klarinettensolo. Das Bratschensolo hat eine herrliche Chuzpe – hier glaubt einer noch nicht an sein Schicksal! In der Reprise zieht Ashkenazy dann noch einmal an. Herrlich transparent nähert sich die Katastrophe. Trotzig die Streicher nach dem zweiten Todesmotiv. – Die Stelle bei „W“ unter 100, danach Ritardando – schade … das war anders gewollt und gemeint. Ende bei ca. 80.


    Mit einem im Tempo durchgespielten Schluss wie bei Sir Colin Davis wäre dies eine absolute Spitzenaufnahme. So gehört sie eben in die Liga von Karajan 1953, Collins und Barbirolli – keine erfüllt in allen Punkten die Wünsche des Komponisten, dennoch ist jede von ihnen großartig.



    Sir Simon Rattle, City of Birmingham Symphony Orchestra, Dezember 1986



    Auch Rattle beginnt mit knapp 80 Achteln pro Minute, behält dann aber dieses Tempo bei und gibt bei der C-Dur-Auflösung noch nach. Die Bläser-Akkorde sind schwach – „ffz“ ist notiert und wird nicht gespielt. Auch dem Bläserchoral fehlt es an Kraft. Die bisherige Tendenz ist also klar: Die Wucht und die Kanten der Musik werden nicht gezeigt, das Geschehen vollzieht sich mit angezogener Handbremse. Eine schlimme Ästhetisierung. Dass das Piano nach den ersten Ausbrüchen sehr gelungen ist, bestätigt leider eher das falsche Konzept, als dass es lobenswert wäre. – Im Mittelteil stimmt die Balance zwischen den Fortissimi der Streicher und den Piano-Einsätzen nicht. Das Stück wirkt immer noch wie im Halbschlaf.


    Mit ca. 90 Takten pro Minute wirkt auch der Beginn des zweiten Satzes lethargisch. Beim Übergang in den 2/4-Takt zieht Rattle auf Halbe = 100 an. Das rettet die Energien der Musik nicht, die hier freizulegen wären.


    Ca. 60 Achtel pro Minute zu Beginn des dritten Satzes zeigen die Richtung bereits an: Alles bleibt traumverloren und nostalgisch-verklärt. Nicht einmal der letzte Höhepunkt hat Wucht und Kraft.


    Irgendwo zwischen Halbe = 120 und 126 hebt der letzte Satz an. Hier werden nun Energien hörbar, die Musik wacht auf. Doch wie gesittet klingt das Klarinettensolo nach dem ersten Todesmotiv! Spätestens im großen Ostinato merkt man, dass dieser Satz eben nur relativ energetisch klingt – eben im Vergleich zu den drei vorangegangen Sätzen. Der Gang in die Katastrophe vollzieht sich stilvoll und geordnet, sogar das zweite und entscheidende Todesmotiv klingt schön und feierlich.


    Offenbar wollte Rattle zeigen, wie (wörtlich:‘) traumhaft schön dieses Werk gespielt werden kann. Es klingt wie eine üble Karajan-Karikatur. Der Ansatz des Briten passt nicht zum Werk, es offenbart seine Qualitäten nicht. Sehr wohl gehört eine Atmosphäre der Dämmerung und des Traumes zu einigen Stellen des Werkes, doch Rattle setzt die ganze Sinfonie unter Sedativa. Eine schwache Aufnahme.



    Herbert Blomstedt, San Francisco Symphony Orchestra, Mai/Juni 1989


    Ca. 80 - 84 Achtel pro Minute hat der Anfang bei Blomstedt. Bis zum ersten Höhepunkt sind es dann über 100, dennoch entfaltet dieser keine rechte Wucht. Auffällig ist, dass das auskomponierte Ritardando der ersten sechs Takte relativ exakt ausmusiziert wird – das habe ich auch schon mit seltsamen Freiheiten (und objektiv falsch) bei größten Taktstockvirtuosen gehört. Wuchtig und schroff erklingen die Blechakkorde – dieser Stelle bleibt Blomstedt m. E. nichts schuldig. Sehr erdig und satt klingen die Kontrabässe. Insgesamt ein sehr ruhiger besonnener Anfang mit großer Amplitude. – Der Mittelteil hat viel Atmosphäre, die Streicher spielen sehr transparent im Hintergrund, Bläser und Pauken machen Blitz und Donner – sehr gut! – Die Reprise bringt nicht die überwältigende Errettung von den Alpträumen des Mittelteils, sondern erklingt halb gebrochen als Reminiszenz an den Anfang. Mit Blick auf die Leere der letzten Takte finde ich das vollkommen stimmig. Ein sehr guter Kopfsatz!


    Knapp unter 100 Takten pro Minute beginnt der zweite Satz, leicht und luftig, durchaus mit Scherzo-Affekt. Dasselbe Tempo dann beim Übergang zum 2/4-Takt. Bedrohlich darin Bläser und Pauken. Im zweiten Teil lässt es Blomstedt bei geschlossenem Deckel kochen, hält die Dynamik in den unteren Stärkegraden und sorgt lediglich dort, wo es die Partitur fordert, für deutliche Akzente. Wenn ich in die Noten sehe, so stelle ich fest: Ja, so war es wohl gemeint – warum geben dann so viele andere hier Vollgas?


    Wie Barbirolli ist Blomstedt mit fast genau elf Minuten ein Schneller unter den Langsamen im dritten Satz. Wie jener beginnt er mit fast genau 60 Achteln pro Minute, allerdings mit wenig Rubato. Die Musik trägt bei Blomstedt keinen Trauerflor, bleibt beherrscht und gefasst. Dennoch bleibt der beabsichtigte Eindruck der Weite und Einsamkeit erhalten. (Nach mittlerweile über zwölf gehörten Aufnahmen halte ich genau dies für die größte Herausforderung des Satzes: Sich nicht in Weinerlichkeit zu verlieren, aber die Geworfenheit des Individuums darzustellen samt der Annahme dieses Schicksals. Sibelius selbst hat sehr flotte Tempi für diesen Satz gefordert, die zwar keiner so spielt, die dennoch die geforderte aufrechte und geradlinige Grundhaltung unmissverständlich aufzeigen.) Zuversichtlich erklingt der Hörnerchoral. Der erste Höhepunkt wird mit unerbittlichem Schritt aus dem Ostinato heraus erreicht, der zweite Höhepunkt hat Größe und Kraft. Sehr gut!


    Irgendwo um Halbe = 112 – 116 beginnt der letzte Satz. Blomstedt lässt Röhrenglocken spielen. Beim Streicherostinato wird dann Dampf herausgenommen, und zwar gefühlt viel mehr, als es das Tempo (knapp unter 110) belegt, jedoch geht es dann mit magischem Sog in die Katastrophe. Ca. Halbe = 63 bei „W“, unter 60 dann der Schluss – schade!


    Eine sehr gute Aufnahme! In ihrer Natürlichkeit finde ich sie frappierend nahe bei Beecham 1937, oft ist da dieses „so und nicht anders“-Gefühl. Sie ist völlig frei von irgendwelchen Mätzchenm wenn man vom Schluss des letzten Satzes absieht. Dazu kommt eine sehr gute Klangqualität. Zum Kennenlernen des Werkes sehr gut geeignet! Ich kann mir einiges noch schroffer vorstellen, komme mit der Sichtweise Blomstedts jedoch sehr gut zurecht. – Ich fand allerdings nicht alle Sinfonien des Blomstedt-Zyklus‘ so gelungen.


    Von der Aussteuerung ist die Aufnahme problematisch. Ich muss recht weit aufdrehen, um die leisen Stellen noch gut zu hören, dann sind die lauten Stellen allerdings richtig brachial. Der Klang hat nicht die anspringende Qualität wie bei Ashkenazy, vermutlich werden viele das angenehmer finden.


    Fazit: Die Aufnahme mit Ashkenazy macht das Trio Karajan (1953) - Collins - Barbirolli zum Quartett - mit hervorragendem Klang!

  • Leif Segerstam, Danish National Symphony Orchestra, 1990-1992



    Knapp 76 Achtel pro Minute auf der ersten Partiturseite (mit langsamer genommenem ersten Takt), auch danach kaum Beschleunigung, sehr gleichförmiger Klangeindruck – der Anfang klingt ziemlich depressiv unter Segerstams Händen. Umso mehr dürfen die Blechbläser crescendieren, ohne dabei kantige Abgründe zu öffnen, Kraft ohne Schärfe. Überwältigend dann der Höhepunkt dieses Anfangs. Sehr schön ist das Piano der Streicher nach dem kurzen Choral im schweren Blech. – Perfekte Klangbalance im Mittelteil, vielleicht nicht ganz so transparent wie bei Ashkenazy und Blomstedt. – Die Reprise erscheint hier als logische Fortsetzung der Durchführung. Sehr stimmig. – Wie eine gewaltige dunkle Macht klingt der erste Satz. Furchteinflößend.


    Der zweite Satz beginnt zwar mit 100 Takten pro Minute, nähert sich mit Einsatz der Violinen jedoch 90 an und erholt sich weder nach dem kurzen Ritardando noch beim Übergang in den 2/4-Takt davon. Das ist wenig plausibel. – Die mit „tranquillo“ bezeichneten Stellen mit den paarigen Flöten (etwa bei 1:50) werden von niemandem so zurückgenommen wie von Segerstam. Aber auch niemand schafft im zweiten Teil eine solche Alptraumsphäre, was diese Aufnahme des Satzes eben doch einzigartig macht


    Geradezu unwirklich beginnt der dritte Satz. Sehe ich in die Partitur, so stelle ich fest, dass alles minutiös umgesetzt wurde – außer dem Tempo, das hier nur 48 Achtel pro Minute beträgt – die Hälfte von Sibelius‘ Angaben. Und bis zum Höhepunkt wird es nicht viel mehr. Doch welche Vielfalt ist da in der unheimlichen Ruhe zu hören. Wie tektonische Schichten überlagern sich Stimmen verschiedener Instrumente in verschiedenen Stärkegraden. Nicht Verschmelzung, sondern Parallelität unabhängiger Ereignisse wird hier vorgeführt, und dies unter Hinzuziehung aller musikalischen Parameter. Alleine die erste Minute öffnet dem aufmerksamen Hörer Welten in der Simultanität der Prozesse in Oberstimme und Basslinie, durch Verschiedenheit von Lage, Dynamik und Instrumentation. Welcher Reichtum in der Geringstimmigkeit! Diese Musik wendet niemals Gewalt an, nichts wird erzwungen. Alles geschieht, weil es geschehen muss. Mit einem anderen als dem vom Komponisten gewünschten Tempo scheint mir diese Version seine Idee dieser Musik doch greifbar zu machen.


    Um Halbe = 126 dann der Beginn des Finales. Glockenspiel. Hier dürfen die Bläser wieder loslegen. Vor dem ersten Todesmotiv ist wiederum eine perfekte Schichtung der Klänge zu hören, dazu ein schier aberwitziges Klarinettensolo. Das Aufeinanderprallen von Es-Dur-Akkorden in Streichern und Hörnern mit A-Dur-Akkorden im Holz (ab 2:13) höre ich hier zum ersten Mal so wie notiert: Eben nicht von beiden Gruppen gleichartig gespielt, sondern „fz“ in Streichern und Hörnern, also mit Akzent, und „mezzoforte“ im Holz. Hat das vorher niemand erkannt? Im Ostinato-Teil nimmt Segerstam das Tempo ein wenig raus. Großartig der Beginn der Reprise. Der Gang in die Katastrophe hat geradezu apokalyptische Dimensionen, hier kommt Segerstams Fähigkeit zur Schichtung der Prozesse besonders zur Geltung. Todesmotiv … unglaublich. Ca. 40 Halbe pro Minute beim Buchstaben „W“ (9:16), mein elektronisches Metronom zum „Mitklopfen“ zur Tempoerkennung streikt unterhalb von 40. Sibelius wollte Halbe = 100 … Bei Segerstam klingt es bezwingend.


    Dieser Tage wird viel geschrieben über Wiedergaben von Beethoven-Sinfonien durch moderne Dirigenten, die an die Errungenschaften alter Halbgötter anknüpfen, den Angaben der Partitur zum Trotz. Hier in dieser Aufnahme kann man erleben, wie sich zu unseren Lebzeiten ein Dirigent ein Werk anverwandelt, es stark abweichend von den Tempo- und Ausdrucksabsichten des Komponisten wiedergibt und damit nicht nur vollkommen überzeugt, sondern Schichten und Dimensionen der Musik freilegt, die vorher nur zu ahnen waren – und bei denen, die den Vorgaben von Sibelius‘ fast wörtlich folgten, nicht zu hören waren.


    Es wäre ein Leichtes, diese Aufnahme mit ein paar Bemerkungen zu Sibelius‘ Tempowünschen als großes Missverständnis zu erklären – gerade bezüglich des dritten Satzes. Doch sie hat etwas Außergewöhnliches. Es ist eine gültige Einspielung, und ihre Rechtfertigung liegt in ihr selbst: In ihrer Akribie, in ihrem behutsamen Umgang mit allen Partiturangaben, in ihrer künstlerischen Aufrichtigkeit, die nichts um des äußeren Effektes willen tut, und in ihrer außergewöhnlichen Stimmigkeit. Sagte ich „Celibidache“?



    Osmo Vänskä, Lahti Symphony Orchestra, Januar 1997



    Dass die Einspielung Vänskäs extrem ist, zeigen bereits die Spielzeiten. 11:36 für den Kopfsatz und 14:04 für den dritten sind die Maxima dieses Vergleichs. Beim dritten Satz ist es über eine Minute mehr als bei den beiden nächstlangsamen (Karajan und Colin Davis, 1970er Jahre). Collins brauchte nur 8:48 für den langsamen Satz … Aber Vänskä ist nicht insgesamt langsam, also in allen vier Sätzen, wie etwa Bernstein oder Segerstam, nein: im zweiten und vierten Satz ist er bei den Schnellsten. – Diese Aufnahme wurde auf der Webseite des „Spiegel“ mal sehr gelobt, sie stand in einer Liste von 100 empfehlenswerten Aufnahmen von Musik des 20. Jahrhunderts. Seien wir gespannt.


    Mit ca. 69 Achteln pro Minute geht es los, übrigens sehr exakt im Metrum – das tun nicht alle. So kommt Sibelius‘ auskomponiertes und wohlkalkuliertes Ritardando richtig zur Geltung. – Das Cellosolo ist hier eher philosophisch-nachdenklich als depressiv oder einsam. Vänskä legt keinen Trauerflor um diese Musik, alles klingt leicht und einfach, selbst der erste Höhepunkt (um 2:37 – 2:43) ist nicht bedrohlich. Erst die Akkorde im Blech bringen etwas Dunkles herein – aber auch dies geschieht ohne Schroffheit. Eine sehr ruhige Exposition, fast schon langweilig. Reden wir nicht drumherum: Sibelius wollte es deutlich schneller, und wer es anders macht, hat die Beweislast gegen sich. Segerstam hat den Beweis erbracht, dass es anders geht; Vänskä bleibt diesen Beweis schuldig. – Sehr transparent und leicht ist der Mittelteil, dieser Abschnitt gefällt mir im ersten Satz noch am besten. Auch hier ist der Beginn der Reprise kein Durchbruch bzw. Beginn von etwas Neuem, sondern Fortsetzung von dem, was vorausging. Anders formuliert: Dem Mittelteil fehlt das Extraterritoriale. – Dieser Kopfsatz ist mir zu leichtgewichtig und zu beiläufig.


    Ca. 100 Takte pro Minute hat der zweite Satz anfangs – tempo giusto. Un poco più vivace beim Übergang zu 2/4 – sehr gut dosiert! Was soll ich sagen: Der zweite Teil war schlicht langweilig.


    Il tempo largo. Der dritte Satz. Knapp 54 Achtel pro Minute auf der ersten Seite – Sibelius hat Schneevoigts Aufnahme wegen eines leicht schnelleren Tempos verworfen. – Was bei Segerstam gelungen ist, nämlich bei diesem Tempo durch Offenlegung der Mikrostrukturen die Musik hochinteressant zu entfalten, bleibt hier blass und langweilig. Der Satz schleppt sich dahin, mühsam wird die Musik durchbuchstabiert. Auch der Aufbau zum letzten Höhepunkt schafft keine Spannung. Dort angekommen, ist dann nichts, was sich entladen könnte.


    Mit ca. 120 Halben pro Minute beginnt der letzte Satz. Glockenspiel. Wie harmlos das Todesmotiv hier doch klingt! Und so geht es weiter … das Beste, was man sagen kann, ist, dass Vänskä den Schluss mit Halbe = 100 spielen lässt und bis vor den letzten Akkord in diesem Tempo bleibt. Das rettet den Satz aber nicht – diese Spielweise hat erst dann ihre volle Wirkung, wenn das „Vorher“ stimmt. Man höre Colin Davis.


    Klanglich ist dies eine durchaus spektakuläre Aufnahme. Ich muss den Lautstärkeregler recht weit aufdrehen, damit die Piano-Passagen hörbar werden, aber dann geht die Post ab. Ansonsten ist dies eine langweilige Aufnahme und definitiv eine der schlechten dieses Zyklus‘, der mir eigentlich in guter Erinnerung ist.

  • Tja – das war’s. Mehr gibt das CD-Regal gerade nicht her. Vielleicht bestelle ich mir noch die Aufnahme mit Pietari Inkinen. Zum Naxos-Preis ist das gerade noch drin. Sehr interessieren würde mich auch noch der zweite Zyklus mit Segerstam, der ist gerade wohlfeil am Urwaldfluss zu haben. Sakari Oramo wurde noch sehr gelobt, habe hier im Forum noch nichts von ihm gehört ...


    In Erinnerung geblieben sind Karajan (1953), Collins, Karajan (1965), Barbirolli, Rozhdestvenskij, Ashkenazy, Blomstedt und Segerstam (1990-92). Dazu der letzte Satz mit Sir Colin Davis. Wobei Segerstam einen Exotenstatus hat: Sozusagen „die etwas andere Aufnahme“.


    Das ist ja eine ganze Menge, die Ausbeute guter Aufnahmen ist hoch. Das war zu erwarten – ich habe mir eigentlich nur Zyklen und Einzelaufnahmen ins Regal gestellt, die irgendwo mal sehr gelobt wurden. Es fehlen allerdings (unter anderen – für Hinweise bin ich dankbar):

    • die beiden frühesten Aufnahmen unter Stokowski und Schneevoigt,
    • die erste Gesamtaufnahme der Sinfonien unter Sixten Ehrling,
    • die Gesamtaufnahme mit Kurt Sanderling,
    • die Gesamtaufnahmen von Paavo Berglund,
    • von den Gesamtaufnahmen unter Sir Colin Davis, Lorin Maazel und Leif Segerstam habe ich jeweils nur die erste,
    • unter den Aufnahmen jüngeren Datums fehlen diejenigen mit Sakari Oramo und Pietari Inkinen.


    Die oben genannten Favoriten will ich nochmal gesondert hören. Es scheint bei schärfster Auswahl auf Karajan (1953) und Collins hinauszulaufen, mit Segerstam als Alternativversion. Aber wer weiß.


    :hello:


  • Lieber Wolfram, ich antworte mal hier (obwohl es auch die anderen gibt und der Zyklus also im entsprechenden Thread gut untergebracht wäre, hätte ich so viel Geld).


    Kaufentscheidend waren verschiedene Gesichtspunkte. Einmal war Segerstam bei Saturn in Köln nicht zu haben, und unter einem auch nicht besonders audiophilen Abhörapparat, die dort benutzt werden können, hörte ich in all den verschiedenen von dir und anderen hier besprochenen Versionen (Blomstedt, Järvi, Karajan) nur diejenigen Eigenschaften, die mich vom Kauf abhielten (zu langsam, nicht kraftvoll genug, langweilig, klanglich flau, keine Gänsehaut).


    Ashkenazy gefällt mir einesteils, von der 79er Nr. II bei Decca, recht gut, weil er die "Naturtöne" so schön rüberbringt, auch klanglich sehr gut ist. Dann ist eine SACD oft ein audiophiles Vergnügen (und, wenn man sie nicht selbst behalten will, ein gutes cadeau d´occasion).


    Der Klang ist wirklich toll, insoweit macht man gar nix falsch. Opulentes Blech, wunderbare Niedrigpegel-Stellen!


    Ich fang mal mit den Tempi an:


    Nr. IV


    1 - 08:56
    2 - 05:03
    3 - 08:48
    4 - 09:30


    Nr. V


    1 - 13:14
    2 - 08:32
    3 - 09:18


    Finnlandia


    07:95



    Ich bin kein Laufzeitfanatiker; aber es ist deutlich, daß Ashkenazy sich viel Zeit nimmt (was sich eh nicht an der Uhr messen läßt). In Nr. IV, 2 etwa überwiegt das Bedrohliche und Düstere, die scherzosen Anläufe dagegen haben eigentlich keine Chance. Profitieren tun überall die leisen, übergänglichen Stellen, die Ashkenazy (in der Art von Karajan im "Ring") zum Reden bringt.


    Das Orchester spielt sehr beherzt und kraftvoll, weswegen die Musik niemals zerfällt oder zerdehnt wirkt. Solche zerfaserten Stellen wie der Beginn von IV., 3 klingen ungemein ausdrucksvoll und schön. Der Grundcharakter einer düsteren Klage ist überall gewahrt, und vieles hört sich überdies geheimnisvoll, mythisch, archaisch an; aber nie dick und zäh, sondern durchweg transparent und von großer farblicher Differenzierung. Gerade die Holzbläser, die für Sibelius so wichtig sind (deine "Lost-in-space"-Stellen). Die Streicher können wunderbar aufgerauht spielen, und die Brucknerblechpassagen sind eine Pracht.


    Wenn man solche Bögen bauen kann wie Ashkenazy mit den Stockholmern, erkennt man, was mit einem sehr ruhigen Puls für Sibelius gewonnen wird, vom organischen Standpunkt aus. Und nirgends klingt es nach Effekthascherei oder falschem Tschaikowsy.


    Was, zumal in der V., mir manchmal fehlt, ist Maazels zupackendes Tempo (wir erinnern uns an den Solti-Thread, Stichwort Hektik) und seine Tempo-Flexibilität. Im Direktvergleich etwa nimmt Ashkenazy die große, aus schwirrenden Streichermotiven und tastenden Fagotten gesetzte Klangfläche im ersten Satz der V. viel undifferenzierter - ich habe mir eigens den Streicherteppich sehr genau angehört; bei Maazel ist es ein irritierend sausender anschwellender Wind, unglaublich toll gespielt, bei Ashkenazy mehr ein stetiges Geräusch. - Das sind aber sicher Auslegungsfragen.


    V., 2 hat bei Maazel mehr Leichtigkeit und Tempo, bei Ashkenazy mehr Trance und Gewicht. Ein hypnotischer Satz (fast à la Ravels Bolero) ist es ja sowieso. Und in V., 3 ist der Beginn bei Maazel voller Erregung, vielleicht eine Spur zu nervös, während die dreiteilge Exposition bei Ashkenazy großartig gestaffelt wird: Erst die flirrend sich steigernde Bewegung der Streicher, aus der sich der glockenartige Blechchoral entspinnt, über den dann das große Hozbläserthema hinwegzieht.


    Wolfram ist schuld: Man steht anfangs in einem großen Vogelschwarm, inmitten von Flattern, Schnattern und Aufbruch, bis plötzlich alles ein Rhythmus wird, ruhevoll und stark, und allmählich eine große Formation am Himmel zieht. Suggestivste Musik. Und die hymnische Steigerung zum Schluß ist in Brucknerscher Zeitlupe mit entsprechend auftürmender Dynamik wirklich zum Abheben ...


    Die Finnlandia profitiert natürlich auch. Also eine Empfehlung, wenn man die Entdeckung der Langsamkeit mag. Und die zum Kauf der VII. verlockt ...


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Pietari Inkinen, New Sealand Symphony Orchestra, September 2009



    Mit knapp unter 66 Achtel pro Minute geht es los. Gut hörbare Fagotte, deutliche Klangänderung nach ihrem Verschwinden. Über die zweite Partiturseite zieht das Tempo dann an, bis knapp unter 90 vor dem ersten Höhepunkt. Sehr brav erklingen die Bläserakkorde. Auch der Bläserchoral bleibt in der Sphäre des Beiläufigen, Nebensächlichen. Die Streicher danach sind dann zu laut. Auffällig bisher das stets gute Bassfundament. – Ziemlich kantig spielen die Violinen ihre einstimmige Passage zu Beginn des mittleren Abschnitts, da fehlt technischer Feinschliff. Die Klangbalance zwischen den Streichern einerseits und Bläsern/Pauken andererseits ist sehr gut, aber die Atmosphäre, die dieser Teil in den besten Aufnahmen hat, stellt sich nicht ein.


    Der zweite Satz bleibt mit 96 Takten pro Minute an der Unterkante von Sibelius‘ Vorgabe. Es klingt wie mit angezogener Handbremse, was nicht nur am Tempo liegt. Der zweite Teil entfaltet keine Bedrohung, er zieht einfach vorüber, ohne dass das Spukhafte dieser Musik erfahrbar würde.


    Die erste Flöte artikuliert die erste Phrase im dritten Satz, als wäre es eine barocke Triosonate … gut, dass es nicht so weitergeht. (Wollte Herreweghe nicht mal Sibelius aufnehmen?) Ca. 50 Achtel pro Minute. Sehr gut gelingt die Vermittlung von Weite und Einsamkeit, die unglaubliche Binnendifferenzierung Segerstams ist Inkinens Sache nicht, das Geschehen bleibt flacher. – Bei Steigerungen geht es bis auf ca. 90 Achtel pro Minute, was der Sache für meine Begriffe etwas Äußerliches gibt. Das alles ist sicher nicht schlecht gespielt, aber was Barbirolli und Segerstam hier gezaubert haben, setzt andere Maßstäbe. Zugute halten möchte ich aber, dass der Musik kein unerwünschter Trauergestus ein interpretiert wird.


    Knapp oberhalb von Halbe = 120 beginnt das Finale. Glockenspiel. – Die Bläsereinwürfe über dem Streichergemurmel (ab 1:10) klingen sehr harmlos, Crescendo von piano bis Forte wäre gefordert, das Todesmotiv ist schwach, das Klarinettensolo ohne Ekstase. – Schluss knapp unter 60.


    Das ist eine gute Aufnahme! Die meisten meiner Kritikpunkte beziehen sich auf Einzeldefizite. Das „große Ganze“ ist besser getroffen als in mancher Aufnahme mit großem Namen. Am ehesten würde ich bemängeln, dass es zu oft an dunklen Farben und Schroffheit fehlt, bei den Bläserakkorden im ersten Satz wie im Todesmotiv des Finales. Die Extremwerte der Partitur werden nicht ausgereizt. Das ist eine geführte Gletscherwanderung vom Pauschalreiseveranstalter mit Abendessen im Hotel.

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  • Paavo Berglund, Helsinki Philharmonic Orchestra, Februar 1984



    Der erste Teil des Kopfsatzes, bis zur ersten Steigerung (ca. 2:12), spielt sich mit Viertel = 48 recht zügig ab. Wuchtig ist der Anfang, aber nicht brutal. Sehr organisch gelingt das Decrescendo mit Übergang zum Solocello, welches nicht übermäßig auf die Tränendrüse drücken muss, um die Verlorenheit des Anfangs auszudrücken. Eher weich kommen die Bläserakkorde daher, das hat man schon schroffer gehört. – Im Mittelteil bleiben die flirrenden Streicher transparent, die Pauken grummeln bedrohlich, sehr sorgfältig sind die dynamischen Schweller in den Streichern herausgearbeitet, sehr dringlich dann die Überleitung zur Reprise – absolut schlüssig. Ebenso gelungen ist das große Decrescendo am Ende des Satzes.


    Mit einem anfänglichen Tempo von 84 bis 88 Takten pro Minute ist der zweite Satz zu entspannt – das ist kein „Allegro molto vivace“. Umso mehr überzeugen wieder die Cresendi und Decrescendi – eine Wucht. Die pianissimo-Stellen haben viel Atmosphäre, sehr duftig! Insgesamt dynamisch sehr profiliert, aber ohne den notwendigen Zug nach vorne.


    Mit einer Spielzeit von 09:55 liegt Berglund beim langsamen Satz bei den eher schnelleren, ohne Sibelius‘ Vorgabe auch nur annähernd zu erreichen (1. Partiturseite in Achtel = 48 statt 80 bis 92). Herrlich wird das Verlorene und Brütende entfaltet, der Satz wird hier zur Musik der Einsamkeit und Weite. Großartig der spannende Aufbau zum Höhepunkt und die sanfte Gewalt, wenn er erreicht ist.


    Im Finale geht es an der Unterkante der von Sibelius gewünschten 126-132 Halben pro Minute los, durchaus schwungvoll. Wiederum sind die pianissimo-Stellen in der Streichern wunderbar transparent, da wabert kein Bedeutungsnebel, trotzdem ist es atmosphärisch. Die Klarinettenläufe hatten anderswo schon mehr Biss und Chuzpe. Vor dem Ostinato (ab ca. 2:15) legt Berglund eine nicht notierte Vollbremsung hin – arrrgh … schade. Dadurch fehlt der Zug nach vorne, der dem Satz die notwendige schicksalhafte Wirkung gibt. Der Gang in die Katastrophe entbehrt der Unerbittlichkeit, auch erklingt mir das hier komponierte Chaos etwas zu geordnet. Das Schicksalsmotiv hat aber unglaubliche Wucht – so noch nicht gehört.


    Vom Klang her ist diese Aufnahme eher schlank, doch die Blechbläser dürfen an ihren Stellen durchaus glänzen. Dynamisch legt Berglund eine sehr ausgefeilte und effektvolle Interpretation hin. Schade, dass der zweite Satz so verhalten gespielt wird. Schade auch für die Vollbremsung im Finale, die dem Satz sein Schicksalhaftes nimmt. Insgesamt eine gute Aufnahme mit einem tollen ersten und dritten Satz, die in vielem idiomatisch wirkt, doch ihre Schwächen vor allem im Finale hat.

  • Nach den interessanten Gegenüberstellungen die Wolfram von verschiedensten Aufnahmen der Sinfonie Nr.4 gemacht hat nun auch kurz meine Eindrücke zu der Berglund - Aufnahme mit dem Bournemouth SO (EMI, 1977 (Sinf.Nr.4), ADD).


    Das passt besonders gut, weil die letzte Analyse im Vorbeitrag mit Berglunds späterer Helsinki-Aufnahme (EMI, 1984) erfolgte.


    Die Sinfonie Nr.4 fand ich ja bereits in Berglunds Helsinki-Aufnahme sehr gelungen. ;) Auch hier in Bournemouth wieder eine Steigerung.
    Berglunds Ambitionen (später) in Helsinki alles detailreicher abzubilden gehen nicht auf. Die Durchsichtigkeit ist frapierend - die gebotene Spannung und dramaturische Umsetzung gelingt ihm fabelhaft - kein Takt der langatmig wäre - die Pauken (zum Teil an vorher bei andern Aufnahmen nie gehörten Stellen) sind immer präsent - viel mehr Kontraste zwischen leisen stellen und absolutem Aufbäumen - für mich eine der besten 4ten unbändig kraftvoll gespielt. Im Final-Allegro kann ich das Glockenspiel verknausen - Röhrenglocken wären mir lieber. Unerbittlichkeit beim Gang in die Katastrophe. :thumbup: Gänsehäute (ja Mehrzahl) pur.
    Spielzeit: 10:52 - 4:47 - 11:17 - 10:26


    :!: Sehr wichtig und interessant wie Berglund den Finalschluss interpretiert. *** Wie es richtig sein muss und von Sibelius eigendlich vorgesehen war, hatte Wolfram in Beitrag 6 genau beschrieben - nämlich am Schluss ohne Ritardando:
    Ja, leider imacht Berglund auch hier das Gleiche wie in Helsinki mit einem nicht sehr stark ausgeprägten Ritardando. Und ist nicht so straff durchgezogen wie Roshdestwensky dies beispielhaft vorführt, indem er das Tempo bis zum Schluss unverändert durchhält !



    EMI, 1972-1978, ADD

    Gruß aus Bonn, Wolfgang