Wir haben mittlerweile folgende Themen zu Sibelius:
Jean Sibelius als Sinfoniker
Jean Sibelius: Symphonien – Welcher Zyklus ist der beste? (2011)
Sibelius: Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82 – Die mit dem Schwanenruf
An dieser Stelle aber soll die Rede sein von seiner 4. Symphonie, die ich neben der 5. als sein größtes Werk erachtete. Doch lassen wir an dieser Stelle doch den großen Otto Klemperer zu Wort kommen, der es 1937 so treffend zusammengefaßt hat:
"Tiefste Resignation liegt über dem ganzen Werk. Stellt man sich die Frage, wie der Komponist in der Mitte seines Lebens, auf dem Höhepunkt seiner Kraft, in so tiefernste Stimmung verfiel, so ließe sich vielleicht antworten, dass er das kommende Böse, die kommende Zerstörung, den kommenden Krieg vorausahnte. Seine 4. Sinfonie bringt den ganzen Schmerz zum Ausdruck, der 1914 über die Welt kam.
Der erste Satz ist nicht nur voller Resignation. Auch Verzweiflung spricht aus ihm. Er beginnt mit einem wunderschönen Cellosolo über einem Basso ostinato. Sie werden verzweifelte Crescendi der Blechinstrumente hören. Eine summende, unheimliche Passage in der Mitte des Satzes ist für Sibelius besonders bezeichnend. Das folgende Scherzo ist ein zärtliches Stück voller Anmut, aber im zweiten Teil wechselt die Stimmung, hefitge Schreie unterbrechen es. Das Scherzo bricht völlig unerwartet ab, als wollte sich der Komponist selbst unterbrechen. Der dritte Satz ist ein echter Trauermarsch. Sein Beginn kommt aus der Einsamkeit. Eine Stimme erklingt. Später scheinen zwei Stimmen lediglich die Atmosphäre andeuten zu wollen. Das große Lied scheint dem Komponisten den Ausdruck seiner Gefühle zu verwehren, aber dann tritt die Melodie hervor, zuerst setzen die Celli, später sämtliche Streichinstrumente ein. Das Finale ist eine Überraschung, aller Kummer scheint vergessen. Das Leben überwindet den Tod. In diesem Satz liegt eine überraschende Bewegung. Sie hören kleine und große Glocken. Choralmelodien erklingen. Manchmal tönt es wie eine religiöse Prozession, ein wenig später wie ein von Gitarren begleitetes Volkslied. Alles steigert sich einem Höhepunkt entgegen, führt dann plötzlich zu einem gewaltigen Sprung von der Trompete zur Posaune. Der Komponist fällt wieder in seine ursprüngliche Stimmung tiefster Resignation zurück. Das Werk endet in völligem Dunkel.
Dies ist kein Werk für die Massen, es ist der einsame Gesang eines Mannes, dem nicht an lautem Erfolg gelegen ist. Er möchte an Ihre Seele rühren und nicht Ihrem Geschmack schmeicheln."
Zweifellos: Dieses Werk ist kein heiteres. Schon die Moll-Tonart läßt dies vermuten. Der drohende Krieg und eine lebensbedrohliche Erkrankung (Krebstumor) des Komponisten erklären die tief triste Stimmung dieser Symphonie. Entstanden ist sie als letzte Vorkriegssymphonie von Sibelius in den Jahren 1910 und 1911. Der große Publikumserfolg blieb ihr damals verwehrt.
Op. 63 gliedert sich in vier Sätze:
I. Tempo molto moderato, quasi adagio
II. Allegro molto vivace
III. Il tempo largo
IV. Allegro
Der langsame Satz steht an dritter Stelle, und auch der Kopfsatz beginnt nicht schnell. Im Gesamten ist die Vierte modernistisch angehaucht, was vermutlich auch auf Anregungen durch Sibelius' Kontakt zu Schönberg und Strawinsky kurz vor der Entstehung zurückzuführen ist.
Aufnahmen:
Bedauerlicherweise liegt keine Aufnahme unter Klemperer vor, doch gibt es hochkarätige Alternativen. Stellvertretend will ich erst einmal nur die hervorragende Karajan-Aufnahme für die DG (1965) anführen, die im direkten Vergleich die EMI-Neuauflage m. E. schlägt (auch der Klang ist natürlicher):