Bruno Walter über die Bedeutung von Musik als schöpferischem Akt vs. interpretatorischem Akt.

  • In dem kleinen Bändchen Von der Musik und vom musizieren stellt der Dirigent Bruno Walter in der Vorbemerkung zum Kapitel "Der Dirigent" bereits 1957 fest, dass wir und darüber klar sein müssen, "daß in unserer Epoche die schöpferische Leistung in der Musik zu geringerer, die musikalische Interpretation zu höherer Bedeutung gelangt ist." [B.Walter, Von der Musik und vom Musizieren. Frankfurt am Main 1957].


    Als ich dies gestern abend las, war ich zuerst doch etwas irritiert und dachte bei mir, dass Walter mit dieser These sich und seine Zunft doch etwas zu sehr in den Vordergrund stellt. Tatsächlich jedoch muss ich bei näherer Betrachtung feststellen, dass diese Aussage nicht nur wahrscheinlich schon vor 50 Jahren richtig war, sondern heute immer noch richtig ist und dies auf absehbare Zeit auch bleiben wird! - Jedenfalls, wenn es sich bei dem hier betrachteten Gegenstand um die sog. E-Musik handelt (ich verwende diesen Begriff hier der Einfachheit halber und möchte keine Diskussion um U- und E-Musik lostreten).


    Womit läßt sich Bruno Walters Aussgage stützen? - Nun, konnte man bis zum Ende des 19 Jhdts. noch von einer echten Musikkritik sprechen, welche etwa die neuesten musikalischen Werke zum Gegenstand hatte (z.B. E.Hanslick über die Symphonien Bruckners oder Brahms), hat sich inzwischen nicht nur der Schwerpunkt sondern quasi das Zentrum hin zu einer Interpretationskritik verschoben. Besprochen wird der neueste Beethoven-Zyklus, aber nicht Beethovens Musik. Wobei natürlich Beethovens kompositorische, also schöpferische Bedeutung sicherlich nicht mehr zu hinterfragt werden braucht.
    Trotzdem: Wo finde ich heute noch in nennenswertem Umfang Besprechungen zu neuen musikalischen Werken? Zu Uraufführungen? Und selbst, wenn der Wille da wäre, allein es fehlt die Möglichkeit! Fraglos wären in unserem Forum die intellektuellen Möglichkeiten, das neueste Werk eines Peter Ruzicka zu beurteilen, vorhanden. Aber woher bekäme ich das entsprechende Material in Form einer verfügbaren Einspielung?


    Eventuell läßt sich vor diesem Hintergrund auch die in den vergangenen Jahren immer stärker werdende Hinwendung zu frühen musikalischen Epochen erklärbar. Dort gibt es immerhin noch neues zu entdecken und zumindest zum Teil besteht die Möglichkeit, eine musikalische Bedeutung neu zu beurteilen.


    Für die moderne Musik unserer Zeit hingegen läßt sich in der logischen Fortführung des Walterschen Gedankens nur noch ihre komplette Bedeutungslosigkeit feststellen ...!?

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Lieber MSchenk,


    danke für diesen Thread!


    Ich möchte Bruno Walter zunächst einmal zustimmen: Wir sind besser darüber informiert, ob Järvi, Krivine oder Immerseel den letzten Satz von Beethovens 7. Sinfonie fetziger haben spielen lassen, als über die Sinfonien, die in der Zeit komponiert wurden, als Järvi, Krivine und Immerseel ihre Einspielungen machten.


    Wir diskutieren leidenschaftlich über Einspielungen von Furtwängler, Klemperer, Knappertsbusch und anderen und stöbern im Internet nach verborgenen alten Schätzen und jubeln, wenn wir mal wieder einen ergattert haben und ihn mit den anderen vergleichen können. Ich nehme mich da keineswegs aus - diese Wonnen sind mir beileibe nicht fremd.


    Ich gebe aber auch gerne zu, dass ich diese Hörhaltung, die nur noch danach fragt: "Wie nimmt Dirigent X diese berühmte Stelle?" als völlig degeneriert bezeichnen möchte. Es ist ungefähr so, als ob man bei der Partnerwahl nur daran interessiert wäre, wie der fragliche Mensch in diesen oder jenen Kleidern aussieht und überlegt, welche wohl die besten wären. Nicht das Subjekt an sich, sondern seine Außendarstellung wird zum Gegenstand der Betrachtung und der Beurteilung.


    Es freut mich sehr, dass im Tamino-Klassikforum auch ein Platz für neue Musik ist:


    Steve Reich: WTC 9/11
    Erkki-Sven Tüür: Saxophonquartett 'Lamentatio'
    Reich, Steve: Different Trains (1988')
    John Adams: Harmonielehre (1984)
    Karlheinz Stockhausen
    Kaija Saariaho
    Helena Tulve


    Es steht jedem frei, Walters Behauptung zu widerlegen - beziehungsweise, ihrem Wahrheitsgehalt im eigenen Hörverhalten keinen oder wenig Platz zu geben