Welche Anforderungen stellt "klassische Musik" an die Hörer ?

  • OH - Schon wieder so ein schwammiger - allgemein gehaltener Threadtitel - der alles und nichts bedeuten kann. Schon der Begriff "Klassische Musik ist diffus - und die Frage noch viel mehr....
    Ich gestehe, daß hier Absicht dahintersteht. Schließlich will ich keine definitive Antwort auf eine präzise Frage, sondern Eure Assoziationen zu einem bestimten Thema. Je nach persönlichem Standpunkt, je nac musikalischer Vorliebe, je nach eigenen musiktheoretischen Kenntnissen oder Nichtkenntnissen wird die Frage anders ausfallen.
    Mancher wird meinen, erst wenn man das Notenbild beurteilen kann, sollte man über die Interpretation eines Werkes urteilen dürfen, andere werden sagen, dies sei nicht notwendig, andere Kriterien seien ausschlaggebend...
    Mancher wird sich weigern die Struktur eines Werkes zu analysieren- dies sei nicht Sache des Publikums - Andere werden gerade daran Gefallen finden.
    Schrecke ich Klassikeinsteiger ab - wenn ich sie mit einem "Forderungskatalog" von "Mindestansprüchen" konfrontiere ?
    Ein weites Feld für viele heisse Diskussionen - so Interesse besteht....


    Man könnte bereits hier viele schreiben - aber ich möchte nicht vorgreifen.


    mfg aus Wien
    Alfred Schmidt

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • "Schließlich will ich keine definitive Antwort auf eine präzise Frage, sondern Eure Assoziationen zu einem bestimten Thema."
    Warum eigentlich nicht? Warum gibt sich der Administrator des Tamino-Forums mit "Assoziationen" zufrieden, wo doch auf eine präzise Frage präzise Antworten möglich wären?
    Was kann man in einem wirklich diskursiven Prozess schon mit "Assoziationen" anfangen. Nichts! ,- um es präzise zu sagen.
    Ich erachte eine derartige Bescheidenheit, das Anspruchsniveau dieses Forums betreffend, für nicht besonders förderlich.
    Oder geht es bei diesem - wie auch bei so manch anderem Thread hier - nur um schlichte Betriebsamkeit?

  • Ich erachte eine derartige Bescheidenheit, das Anspruchsniveau dieses Forums betreffend, für nicht besonders förderlich.
    Oder geht es bei diesem - wie auch bei so manch anderem Thread hier - nur um schlichte Betriebsamkeit?

    Und wenn es so wäre, was wäre daran falsch. Es handelt sich hier um eine sicherlich absichtlich allgemein gehaltene Threadübershrift, zu der jeder, der möchte, etwas beitragen kann. Und das kann doch nicht falsch sein. Beim Lied-Forum mit überragendem Niveau haben einige wenige gepostet. Das hatte sicherlich nichts mit wenig Interesse zu tun, sondern vielmehr mit dem hohen Niveau. Aber es handelt sich doch hier um ein forum mit über 800 Mitgliedern und unterschiedlichem Background.


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Warum eigentlich nicht? Warum gibt sich der Administrator des Tamino-Forums mit "Assoziationen" zufrieden, wo doch auf eine präzise Frage präzise Antworten möglich wären?


    Ich wäre da auf die "präzisen Antworten" durchaus gespannt. Vor allem vor dem Hintergrund der Kenntnis, wie divergent sich namhafte Komponisten und Interpreten dazu äußerten.


    Aber wenn "Assoziationen" als nicht "besonders förderlich" für das "Anspruchsniveau des Forums" (was ist das eigentlich und wer legt fest, welche Beiträge diesem imaginären Niveau Genüge tun?) erachtet werden, dann ist es doch naheliegend, im Sinne dieses Anspruchsniveaus die präzise Antwort selbst zu geben, nicht wahr?

  • Na ja, da haben wir wieder das übliche forumsspezifische Spektakel:


    Wolfram meint: "...Vor allem vor dem Hintergrund der Kenntnis, wie divergent sich namhafte Komponisten und Interpreten dazu äußerten."


    Na wie wär´s denn, lieber Wolfram? Bring diese Deine Kenntnisse hier im Forum doch mal ein. Und dann können wir darüber reden. Das ist doch viel nützlicher und förderlicher, als sich über das, was andere hier schreiben, in gewohnt kritischer Art zu ereifern.


    Ich meinerseits stelle mal eine schlichte These hier einfach so hin:


    Das Hören - präziser ausgedrückt: die adäquate Rezeption - von klassischer Musik ist immer ein bewusster, reflektierter Prozess. Einfaches in sich Hineinrieseln-Lassen von klassischer Musik wird deren komplexer Struktur nicht gerecht.


    Wer nun darf überhaupt einen derartigen Anspruch an den Hörer klassischer Musik stellen?


    Zwei sind es: Der Komponist und der Interpret. Beide haben etwas zu sagen. Und sie dürfen erwarten, dass der Rezipient das, was sie zu sagen haben, bewusst wahrnimmt.


    Wenn Beethoven die Klaviersonate op. 11o schreibt, dann erwartet her, dass ich als Hörer wahrnehme, was er mit dem Thema des ersten Satzes kompositorisch macht. Das ist nur möglich über das, was ich reflektiertes, also bewusstes Hören nenne. Ud wenn Schubert Gretchen am Spinnrade" schreibt, dann erwartet er von mir, dass ich höre, wie dieses Spinnrad im Klavier die melodische Linie der Singstimme vor sich hertreibt, - und an einer bestimmten Stelle plötzlich innehält, zögert und dann neu zu schnurren beginnt. Und Schubert möchte, dass ich höre, was an dieser Stelle im Lied passiert.


    Also hat Schubert ein Recht, von mir als Hörer ein bestimmtes Rezeptionsverhalten zu erwarten, - das eben, was ich reflektiertes oder bewusstes Hören nenne. Und die Interpretin, die dieses Lied singt, erwartet von mir, dass ich ihr mit höchster Aufmerksamkeit lausche und wahrnehme, wie sie das "Meine Ruh ist hin" singt. Leise, nach innen gewendet, oder expressiv, als Klageruf nach außen hin gerichtet.


    Jede andere Form der Rezeption, also beispielswiese das schlichte In-sich-Aufnehmen von klassischer Musik, möglicherweise begleitet von angenehmen und wohligen Gefühlen, wird dem Anspruch nicht gerecht, den diese an uns als Rezipienten stellt. Darin unterscheidet sie sich ganz wesentlich von dem, was man mit dem Begriff "Unterhaltungsmusik" im weitesten Sinne umschreibt. Pop gehört aus meiner Sicht auch dazu.

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  • Vor allen anderen Dingen stellt (nicht nur) klassische Musik die Anforderungen Aufgeschlossenheit, Geduld und Konzentrationsfähigkeit. Darüberhinaus stellt sie mitunter beliebig hohe Anforderungen. Schließlich geht es um Stücke, mit denen nicht einmal professionelle Musiker und Musikwissenschaftler je ganz "fertig" werden. Aber natürlich wäre es absurd, vom Hörer so viel zu verlangen wie vom Musizierenden oder gar von einem Profi.
    Die Praxis zeigt ja, dass Musik von Hörern mit keinen oder geringen Kenntnissen ebenso geschätzt wird wie von solchen, die selbst musizieren usw. Da Menschen unterschiedlich musikalisch begabt sind, würde es auch Unterschiede in der Sensibilität geben, wenn alle gewisse Grundkenntnisse besäßen usw.


    Andererseits ist kaum von der Hand zu weisen, dass in aller Regel jemand, der ein Stück musizieren und/oder es analysieren kann tatsächlich "mehr versteht", insbesondere mehr Nachvollziehbares dazu sagen kann. Der, dem fast alle Kenntnisse fehlen, fehlt auch das Vokabular über etwas so Flüchtiges wie Eindrücke von Musikstücken zu sprechen oder zu schreiben. (Damit ist freilich immer noch verträglich, dass das wesentliche beim Musikerleben ohnehin nicht oder jedenfalls sehr schwierig ausdrückbar ist, sondern nur erlebbar.)


    Ein wenig Singen, Musizieren und Musiktheorie kann man im Grunde auch jederzeit lernen, wenn man denn will.
    Viel abschreckender für den Anfänger dürfte die gerade in Internetforen (aber auch teils in den Zeitschriften) absurde Überbetonung der angeblichen Notwendigkeit, möglichst viele Interpreten und Interpretationen gehört zu haben und darüber auch noch scheinbar kompetent urteilen zu können, sein. Das ist nämlich etwas, was man nur mit ziemlich viel Zeit (und Geld) erreichen kann.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Das Hören - präziser ausgedrückt: die adäquate Rezeption - von klassischer Musik ist immer ein bewusster, reflektierter Prozess. Einfaches in sich Hineinrieseln-Lassen von klassischer Musik wird deren komplexer Struktur nicht gerecht.


    Zwei sind es: Der Komponist und der Interpret. Beide haben etwas zu sagen. Und sie dürfen erwarten, dass der Rezipient das, was sie zu sagen haben, bewusst wahrnimmt.


    Lieber Helmut,


    gerne stimme ich beiden Zitaten zu, denn ich fühle mich mit einem analytisch-reflektierenden Zugang zur Musik eher wohl als mit einem "Hineinrieseln-Lassen". Feststellen möchte ich aber, dass unser übliches Konzertverhalten unter dieser Voraussetzung der klassischen Musik nicht gerecht wird - wer hat mit einmaligen Hören (ohne Partitur) eine Beethoven-Sinfonie, ein spätes Schubert-Quartett, einen Schumann-Liedzyklus, eine Wagner-Oper bewusst-reflektierend erfasst? Keiner.


    Man kann aber die Wahrheit folgender Worte sicher nicht leugnen:

    Es ist billig, über Hermann Prey [ ... ] mit abfälligen Bemerkungen herzuziehen. Er ist natürlich kein analytisch agierender Intellektueller. Aber erstens weiß er das auch, und zweitens ist Intellektualität im Bereich von Musik nicht zwingende Voraussetzung für tief in ihr Wesen vordringende Einsichten. Und schon gar nicht ist sie Bedingung für schöpferische Originalität. Und auch keine für nachschöpferische Interpretationskunst!


    Ich sagte, er (Prey) wisse das auch. Hier der Beleg dafür:
    "Man bedenke jedoch, daß ich nicht Musikwissenschaftler, sondern Interpret bin, daß ich nicht kompositorische Analysen erörtern, sondern meine persönliche Gedanken wiedergeben und zeigen will, wie ich den Zugang zu meinen Liedern gewonnen habe."


    So mancher Künstler ist, das habe ich inzwischen begriffen, viel gescheiter als unsereiner, der sich hier im Forum aus der Attitüde souveräner Urteilskompetenz anmaßt, über ihn und das, was er sagt und in schöpferischer Weise gestaltet, das Verdikt: "Mangelnder geistiger Tiefgang" zu fällen.


    Ich stimme hier zu, wenn damit gesagt sein soll, dass nicht nur der analytisch-reflektierende Zugang adäquat und legitim ist.


    Und Schubert möchte, dass ich höre, was an dieser Stelle im Lied passiert.


    Also hat Schubert ein Recht, von mir als Hörer ein bestimmtes Rezeptionsverhalten zu erwarten, - das eben, was ich reflektiertes oder bewusstes Hören nenne.


    Was Schubert möchte, ist natürlich unklar - vielleicht wollte er uns ja nicht auf einer analytisch-intellektuellen Ebene "abholen", jedenfalls nicht in jedem Lied. - Schubert hat nicht mehr Recht, als wir ihm geben.


    Jede andere Form der Rezeption, also beispielswiese das schlichte In-sich-Aufnehmen von klassischer Musik, möglicherweise begleitet von angenehmen und wohligen Gefühlen, wird dem Anspruch nicht gerecht, den diese an uns als Rezipienten stellt.


    Nun, es gibt eben verschiedenste Arten von Musik in der klassischen Musik. Ich könnte mir vorstellen, dass für ein Mozartsches Divertimento, für das Schubertsche "Ave Maria", für eine Bellini-Oper, für eine Puccini-Oper das schlichte In-sich-Aufnehmen durchaus als legitim angesehen werden könnte.

  • Vor allen anderen Dingen stellt (nicht nur) klassische Musik die Anforderungen Aufgeschlossenheit, Geduld und Konzentrationsfähigkeit. Darüberhinaus stellt sie mitunter beliebig hohe Anforderungen. Schließlich geht es um Stücke, mit denen nicht einmal professionelle Musiker und Musikwissenschaftler je ganz "fertig" werden. Aber natürlich wäre es absurd, vom Hörer so viel zu verlangen wie vom Musizierenden oder gar von einem Profi.


    Hier möchte ich ohne Abstriche zustimmen. Zunächst geht es um Aufgeschlossenheit und Geduld - genau das! Gerade, wenn eine bestimmte Musik meinen Geschack oder meine Ansprüche nicht auf Anhieb trifft. Dann brauche ich beides. Übrigens brauche ich dann Geduld mit dem Werk - und Geduld mit mir.


    Adorno hat das Thema übrigens von der umgekehrten Seite begonnen: Er hat nicht moralisierend gefragt, welche Haltung ein Hörer haben sollte, um irgendwelchen Ansprüchen gerecht zu werden, sondern er hat gefragt, welche Hörer-Typen es realiter gibt: Hörertypen nach Adorno .

  • Es ist eine vielschichtige Frage, die es hier zu beantworten gilt - Ich würde sagen, die eigentliche herausforderung liegt darin, daß sie gar nicht beantwortbar ist.
    Wenn man Kritiken schreibt, oder in einem Internetforum auf höchstem Level mithalten will, dann sind musiktheoretische Kenntnisse sicher von Vorteil. Für absolut notwendig halte ich sie hingegen nicht.


    Ich will diese etwas eigenartig anmutende Behauptung gerne zu untermauern versuchen:


    Man kann auch auf anderem Weg - beispielsweise durch vergleichendes Hören - sein Urteilsvermögen schärfen - wobei man sich die Frage stellen muß - Urteilsvermögen-wozu und worüber.


    Dann gibt es noch einige weitere Eigenschaften, die für ein Mitglied im Klassikforum von Nutzen sind, und die wären Eloquenz und die Fähigkeit subjektive Eindrücke plastisch zu schildern. (Ein Konzerthörer braucht letzteres natürlich nicht)
    Sie sind meiner Meinung nach fast wichtiger als musiktheorthische Kenntnisse.


    Es gibt Leute, die interessiert eigentlch gar nciht, was der Komponist beabsichtigt hat - sie lassen die Musik auf sich einwirken - und ich behaupte das sind 80 Prozent aller Klassikhörer. Wenn ich ein exklusives Parfüm kaufe, wenn ich ein Gericht vom Haubenkoch verzehre, dann interessiert mich in der Regel nicht welche Zusammensetzung das Parfüm hat, bzw wie das Rezept für das Gericht ist (MICH interessiert es schon - da Amateurkoch - aber das ist eher selten)


    Der Musikhörer möchte -unterhalten werden (ich höre schon den Aufschrei), das war all die Jahrhunderte so. Oder glaubt jemand ernstlich Herr Colloredo hätte sich mit Mozarts Seelenleben befasst, oder Fürst Esterhazy wäre an jenen Gedanken interessier, die Haydn durch den Kopf gegangen sind als er seine Streichquartette schrieb ?


    Irgendwann hat sich das gewnadelt. Komponist und Interpret waren nicht mehr "Diener des Publikums" sondern sie stellten den Anspruch ihrer absoluten Freiheit und sprachen dem Publikum das Recht auf Kritik ab.


    Es nützt dem Publikum wenig, wenn es erklärt bekommt wie komplex ein Werk konzipiert ist - und wie raffiniert die Struktur ist, welche Innovation mit diesem oder jenem Stück verbunden ist - wenn man nach den ersten Takten schleunigst das Weite suchen will (Das gilt für Musik ALLER Jahrhunderte)


    Ähnlich ist es mit dem Vollblutkritiker: Er erklärt mit Worten, die nur Insider verstehen eine Interpretation, Leuten, die sowieso schon alles wissen. Die breite Masse (der Klassikhörer) nicht wissen - und versteht nicht ein Wort.


    Man sollte meinen, wenn jemand Noten lesen kann, dann komme er schnell zu einem richtigen Urteil -sei es über die Beschaffenheit des Werkes - sei es über eine existierende Tonaufnahme - aber das ist nicht so. Sonst würden ja alle Interpretationen gleich oder zumindest ähnlich klingen -nicht wahr ? Tun sie aber nicht.


    Also kann ich durch vergleichendes Hören allmählich die Qualität einer Interpretation beurteilen.
    Oder doch nicht ? - Oder doch nicht !
    Denn es gibt Aufführungen (Aufnahmen) von Werken, die werden deshalb gelobt, weil sie so "werksgetreu" und "uneitel" sind - manche meinen der Interpret sei einfach farblos und fad. Eine akademische Wiedergabe eben.
    Andere Aufführungen werden gelobt, weil sie sich von Konventionen lösen und das Werk "vom Staub der Jahrhunderte" befreien.
    Wir sind hier im sehr subjektiven Bereich angelangt - und hier helfen keine "Fachkenntnisse
    Die Kritiker der sechziger Jahre waren mehrheitlich von Karajans Schallplattenaufnahemn begeistert - Heute gibt es viel (IMO gehässige) Kritik, die von anderen kritiklos nachgeplappert wird.


    Ich würde also sagen, daß klassische Musik an sich KEINE spezifischen Anforderungen an den Hörer stellt - und auch nicht stellen darf. Daß der passionierte Dauerhörer jedoch mit der Zeit urteilssicherer wird - ist ein zu erwartende natürlicher Prozess....selbst wenn er es seöbst gar ncht will....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred Schmidt

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Werte Leser,


    ich möchte zunächst den Begriff "Wirkung der Musik auf den Hörer " einwerfen. Um sich übrhaupt mit Musik bewusst zu beschäftigen, muss ein Interesse vorhanden sein. Musik hat dann einen Stellenwert im Leben eines Menschen.


    Mir geht es hier nicht über Musik mit einer direkten politischen Aussage oder einer bewusst gewollten Manipulation des Hörers (Werbemusik!)


    Wenn jetzt Wirkung erzielt wird, reflektiert der Hörer, vergleicht, bewertet die Musik. Wo sind die Grenzen, wann kann ich eine Art von Musik nicht mehr ertragen, welche Nuancen sprechen mich besonders an? Wie oft kann ich ein Musikstück hören, ohne das es mir langweilig wird?


    Über die Langeweile kommt der Frust: Man hat ein Musikstück zu oft gehört, es nervt, entweder hat es keine Substanz oder Effekte, die eingesetzt wurden, nutzen sich ab. Ein normaler Vorgang in der Rock-und Popmusik, hier kommt noch hinzu, das die Substanz der Musik zu wenig bietet.


    Hier kommt die "Klassik" in´s Spiel. Hier ist die Substanz vorhanden, "Tiefe" ,"Körper", komplexe Strukturen fordern den Hörer. Natürlich kann ich mir die Mondscheinsonate unter dem verklärenden, oberflächlichen Begriff der "Romatik" anhören, quasi die Sequenzen in der Sonate heraussuchen, die dem romantischen Aspekt der Sonate unterstreichen, so wie der Hörer meint, gespielt werden zu müssen.


    Hier kommt dann aber schnell das "Oberflächliche", das "POP-uläre" in`s Spiel. Wann nutzt sich die Sonate ab?


    Oder man setzt die Sonate in Zusammenhang mit dem Gesamtwerk der Klaviersonaten oder auch dem Gesamtwerk Beethoven`s. Oder nimmt verschiedene Interpretationen, hört, wo Nuancen anders betont werden, erlebt eine Vielfalt, die verschiedene Musiker bieten, erlebt eine Wirkung der Musik, die jenseits des Oberflächlichen liegt, erlebt wie die Substanz der Musik in all seinen Facetten dargestellt wird. Verzerrendes entlarvt sich dabei sofort, purer Effekthascherei wird die Tarnung heruntergerissen.


    Oder man verbindet alles, das Gesamtwerk Beethoven`s erscheint mir grenzenlos, eine Beschäftigung , die Generationen überdauert.


    Die Voraussetzung ist natürlich die geistige Bereitschaft so zu handeln.


    Viele Grüße Thomas

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  • Alfred Schmidts Beitrag enthält eine Fülle divergenter Feststellungen. Man kann dazu nur Stellung nehmen, wenn man sich mit ihnen im einzelnen auseinandersetzt. Das wiederum kann nur in Kürze geschehen. Also denn, - der Reihe nach:


    1. "Wenn ich ein exklusives Parfüm kaufe, wenn ich ein Gericht vom Haubenkoch verzehre, dann interessiert mich in der Regel nicht welche Zusammensetzung das Parfüm hat, bzw wie das Rezept für das Gericht ist (MICH interessiert es schon - da Amateurkoch - aber das ist eher selten)"


    Der Vergleich zwischen einem Gericht eines Meisterkochs und einem musikalischen Kunstwerk ist sachlich unzulässig. Bei letzterem handelt es sich - informationstheoretisch gesehen - um ein System von Zeichen, die nach einem bestimmten System codiert sind. Die Information, die in diesem Zeichensystem steckt, ist lesbar. Für ein Gericht trifft das alles nicht zu. Im übrigen: Selbst bei einem von einem Meisterkoch zubereiteten Menu ist der Genuss ein größerer, wenn er sich bewusst ereignet. Wenn ich also - wenigstens in Ansätzen - die Meisterschaft der Zubereitung bewusst wahrnehme und zum Beispiel das Zusammenspiel der gewürze oder die Kombination verschiedener Elemente erfasse. Jeder Koch würde mir recht geben: Ein bewusster Esser ist ihm lieber als ein Fresser. Auch hier gilt also: Der Produzent einer Sache stellt - bewusst oder unbewusst - Anforderungen an den Rezipienten. (Alfred Schmidt möge mal bitte die Artikel von Jürgen Dollase in der FAZ lesen!)


    2. "Der Musikhörer möchte -unterhalten werden (ich höre schon den Aufschrei), das war all die Jahrhunderte so."


    Diese Feststellung ist zutreffend, erfasst aber nicht alle Elemente der Haltung, die ein Hörer klassischer oder E-Musik beim Akt der Rezeption einnimmt. Will er ausschließlich unterhalten werden, dann kann die Musik dieses Bedürfnis natürlich erfüllen, sie wird aber dann vom Rezipienten benutzt wie jedes andere Medium der Unterhaltung und unterscheidet sich in der Art dieser Benutzung nicht von Barmusik oder dem, was im Komödiantenstadel zu vernehmen ist. Gemessen an dem, was klassische oder E-Musik an - wiederum rein informationstheoretisch betrachtet - Informationen enthält, wird eine solche Haltung dem Medium nicht gerecht.


    3. "Es nützt dem Publikum wenig, wenn es erklärt bekommt wie komplex ein Werk konzipiert ist - und wie raffiniert die Struktur ist, welche Innovation mit diesem oder jenem Stück verbunden ist -"


    Jeder Musiklehrer kann diese Feststellung als unzutreffend nachweisen. Ein großer Musiker wie Leonard Bernstein hat sich beinahe krumm gelegt, dem amerikanischen Publikum eine Einführung in kassische Musik zu geben. Warum wohl? Natürlich hat er dabei nicht die pessimistische Haltung von Alfred Schmidt eingenommen. Wer einmal eine seiner Fernsehsendundungen gesehen hat, weiß, welche Wirkungen dergleichen Aufklärung über Musik hat. Musikhören ist lernbar. Ein Mensch, der weiß, wie eine klassische Sonate aufgebaut ist, kann richtig zuhören und verstehen, was da vorne erklingt, wenn Alfred Brendel die Waldstein-Sonate spielt. Und nicht nur das: Das erhellende Einführen in klassische Musik vermag Interesse an ihr zu wecken.


    4. "Oder glaubt jemand ernstlich Herr Colloredo hätte sich mit Mozarts Seelenleben befasst, oder Fürst Esterhazy wäre an jenen Gedanken interessier, die Haydn durch den Kopf gegangen sind als er seine Streichquartette schrieb ?"


    Darum geht es doch gar nicht: Es geht nicht um das Seelenleben Mozarts und auch nicht um das, was Haydn zu einem bestimmten Zeitpunkt durch den Kopf ging. Es geht um das, was hinten herauskam, als Haydn etwas durch den Kopf ging. Und an dem war Fürst Esterhazy sehr wohl interessiert, und er vermocht sehr wohl zu erfassen, ob das etwas taugte, was da hinten herauskam. Entscheidend bei all dem ist die Fähigkeit zu einer adäquaten Rezeption des musikalischen Kunstwerks. Und diese kommt durch Bildung zustande. Und zwar nur durch Bildung! Esterhazy war in diesem Sinne ein gebildeter Mensch.


    5. "Also kann ich durch vergleichendes Hören allmählich die Qualität einer Interpretation beurteilen."


    Selbstverständlich kann ich das. Es geht dabei wieder um die Heranbildung des Hörens. Je stärker ich mich dieser Heranbildung durch vergleichendes - und damit analytisches! - Hören widme, desto schärfer und diferenzierter wird mein musikalisches Rezeptionsvermögen. Genauer: Ich verfüge über ein größeres Kompendium von Kategorien, auf die sich mein Urteil über diese oder jene Interpretaions stützen kann. Das heiß nicht, dass bei diesem Urteil nicht auch ganz subjektive Faktoren ins Spiel kämen. Das ist unvermeidlich, ist aber kein Gegenargument gegen die Möglichkeit vergleichender Rezeption eines musikalischen Werks und seiner Interpretation. Im übrigen ist dabei auch noch der Faktor "historische Zeit" und der darin sich vollziehende Wandel des Geschmacks und der Beurteilungskategorien zu bedenken. Dem gegenüber steht aber die Polyvalenz des Gehalts eines musikalischen Kunstwerks. Sie ermöglicht es, dass jede Zeit und jede neue Form subjektiver Rezeption neue objektive Dimensionen des Werks zu erschließen vermag. Ich betone: objektive Dimensionen!


    6. "Ich würde also sagen, daß klassische Musik an sich KEINE spezifischen Anforderungen an den Hörer stellt -"


    Selbstverständlich stellt klassische Musik "Anforderungen" an den Hörer. Wäre es nicht so, dann könnte alle Menschen in gleicher Weise klassische Musik a priori gleichermaßen gut hören und verstehen. Die Anforderung, die klassische Musik stellt, ist natürlich keine appellative. Sie er gibt sich daraus, dass sie - ich wiederhole - ein Zeichensystem darstellt, das eine bestimmte Botschaft an den Rezipienten enthält. Jede Botschaft will per se entschlüsselt und verstanden werden. Darin besteht ihr Wesen. Und die "Anorderung", die sie an den Rezipienten stellt ist, dass er das jeweiligeZeichensystem und den Code seiner Strukturierung beherrscht. Er muss es lernen, - darin besteht die Anforderung. Bei Musik heißt das nicht, dass er Noten lesen können muss - obwohl das neue Dimensionen des Höens zu erschließen vermag. Er muss lernen, die innere Organisation der Töne in der Absicht zu verstehen, mit der diese Organisation vom Komponisten aus erfolgt ist. Wenn Beethoven eine Klaversonate geschrieben und veröffentlich hat, dann wollte er natürlich dass sie von einem möglichst breiten Publikum gehört wird. Und mehr noch: Er wollte dass sie adäquat gehört wird, das heißt in der musikalischen Botschaft, die er in sie hineingelegt hat.


    Genau das ist die "Anforderung", die sich - aus der Sicht jedes Komponsiten - an den Hörer seines Werkes daraus ergibt, dass er es veröffentlicht. Wir als Hörer sind dazu aufgefordert, dieser Anforderung so gut wie möglich gerecht zu werden. Natürlich können wir und auch von dieser Sonate klanglich berieseln lassen, sprich "unterhalten". Aber dann missbrauchen wir dieses musikalische Kunstwerk. Wir verhalten uns im Prinzip dabei nicht anders als jener Bauer, der mit den Werken van Goghs die Wände seines Hühnerstalls auskleidete. (Ist wirklich passiert!)

  • Wenn klassische Musik Geduld und Konzentrationsfähigkeit erforderte, wär´s Arbeit.


    Ich lasse lieber rieseln, wobei es nicht unbedingt unkomplex sein muß. Eine bestimmte, mir anscheinend affine Art der Komplexität empfinde ich als sehr angenehm, zum Beispiel Fugen. Es darf aber auch eine wilde Toccata sein.


    Manchmal interessiere ich mich für die Geschichten hinter der Musik (das begeisterte Herumexperimentieren mit Polyphonie in der Renaissance), meist aber nicht. Musiktheorie ist in weiten Strecken erschütternd langweilig.


    Wenn ich ein Stück unreflektiert nicht mag, werde ich es höchstwahrscheinlich nie mögen, auch wenn man es mir sorgfältig erklärt. Letztens habe ich bei Tamino gelesen, wenn man die Sonatenhauptsatzform bei Beethoven verstünde, könne man auch die (einige) Kompositionen Schönbergs genießen. Das wäre so ein Anspruch ganz im Sinne des Threadtitels - verinnerliche eine Struktur und erkennen sie quer durch die Jahrhunderte, egal, wie sehr Dir die Ohren dabei abgesägt werden. In der Pädagogik würde man das wohl "Transferleistung" nennen.


    Ich konzentriere mich da lieber auf den Genuß. Und daß "Experten" mehr oder intensiver genießen als ich, wage ich nach wie vor füglich zu bezweifeln.


    Tumbe Grüße

  • 5. "Zitat Alfred Schmidt: Also kann ich durch vergleichendes Hören allmählich die Qualität einer Interpretation beurteilen."


    Selbstverständlich kann ich das. Es geht dabei wieder um die Heranbildung des Hörens. Je stärker ich mich dieser Heranbildung durch vergleichendes - und damit analytisches! - Hören widme, desto schärfer und diferenzierter wird mein musikalisches Rezeptionsvermögen. Genauer: Ich verfüge über ein größeres Kompendium von Kategorien, auf die sich mein Urteil über diese oder jene Interpretaions stützen kann.


    Selbstverständlich stellt klassische Musik "Anforderungen" an den Hörer. Wäre es nicht so, dann könnte alle Menschen in gleicher Weise klassische Musik a priori gleichermaßen gut hören und verstehen. Die Anforderung, die klassische Musik stellt, ist natürlich keine appellative. Sie er gibt sich daraus, dass sie - ich wiederhole - ein Zeichensystem darstellt, das eine bestimmte Botschaft an den Rezipienten enthält. Jede Botschaft will per se entschlüsselt und verstanden werden. Darin besteht ihr Wesen. Und die "Anorderung", die sie an den Rezipienten stellt ist, dass er das jeweiligeZeichensystem und den Code seiner Strukturierung beherrscht. Er muss es lernen, - darin besteht die Anforderung. Bei Musik heißt das nicht, dass er Noten lesen können muss - obwohl das neue Dimensionen des Höens zu erschließen vermag. Er muss lernen, die innere Organisation der Töne in der Absicht zu verstehen, mit der diese Organisation vom Komponisten aus erfolgt ist.


    Nun ja. Ich behaupte, Beethoven hat - etwa mit seiner 5. Sinfonie und ihrer per-aspera-ad-astra-Dramaturgie - durchaus eine appellative Anforderung an den Hörer gestellt. Beethoven wollte die Ideale der Französischen Revolution propagieren: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wenn es nun wahr wäre, dass einzig das Verstehen der Botschaft des Komponisten für uns Hörer die Aufgabe wäre - dann würden wir die 5. Beethovens nicht mehr hören müssen. Freiheit und Gleichheit haben wir.


    Zumindest da, wo außermusikalische Inhalte transportiert werden, etwa bei geistlicher Musik, wäre doch zu fragen, ob es wirklich darum geht, die "innere Organisation der Töne zu verstehen". Ich würde wagen, zu widersprechen.


    Ich lasse lieber rieseln, wobei es nicht unbedingt unkomplex sein muß. Eine bestimmte, mir anscheinend affine Art der Komplexität empfinde ich als sehr angenehm, zum Beispiel Fugen. Es darf aber auch eine wilde Toccata sein.


    Wenn ich ein Stück unreflektiert nicht mag, werde ich es höchstwahrscheinlich nie mögen, auch wenn man es mir sorgfältig erklärt.


    Ich konzentriere mich da lieber auf den Genuß. Und daß "Experten" mehr oder intensiver genießen als ich, wage ich nach wie vor füglich zu bezweifeln.


    Das klingt für mich authentischer und sympathischer als alle moralischen Hürden, die hier vor einem Hörer klassischer Musik aufgebaut werden. Wir alle - so wir denn nicht mit Musik unser täglich Brot verdienen -, hören Musik zur Unterhaltung. Gerne konzediere ich, dass es verschiedene Formen der Unterhaltung gibt - solche, die unser Weltbild zementieren und uns in der Weiterentwicklung hemmen, und solche, mit denen wir uns weiterentwickeln. Aber Unterhaltung bleibt es, so oder so.


    Der hier bereits angeführte Leonard Bernstein war übrigens ein Genussmensch par excellence, daran ändern auch seine seelischen Probleme nichts.

  • Musik, heißt es bei Schopenhauer, sei eine universale Sprache. Der in dieser Esperanto-These versteckte soziale Mythos beruft sich auf die Unmittelbarkeit der Wirkung: "Von Herzen! Möge es wieder zu Herzen gehen" - so das vereinfachte Rezeptionsmodell einer emotionalen Dechiffrierung noch der komplexesten Strukturen.


    Kernstück dieser musikalischen Kommunikation ist zunächst die Melodie. Denn als Melodie überlebt die Klassik, ungefragt ihrer Urheberschaft und Herkunft, ja ihres Zusammenhangs, bis in die Plattenschränke der Wunschkonzerte. Ohne Melodik hätte die Klassik keinen Wiedererkennungswert, oder nur ausgeflaggte Schlachtschiffe wie Beethovens V.1, der Eingangschor der Orffischen Carmina burana usw. stünden als Monumente eines Kunstwollens, das uns überrumpelt und überwältigt, ohne melodisch besonders eingängig zu sein.


    Die sangliche Melodie verbindet das Volkslied, die höchsten Gebilde klassischer Musik und den Schlager, wobei aller behaupteten Schematik zum Trotz die Melodie sich behauptet kraft einer Eigenschaft, die in der musikalischen Struktur gar nicht begründbar ist. Erst gestaltpsychologisch wird sie als Phänomen faßbar, von einer Einheit, Unergründlichkeit und Faszination wie ein schönes Gesicht.


    Tschaikowsky tituliert Verdis Musik abschätzig als "Drehorgelweisen" und ist doch selbst ein großer, ein verschwenderischer Melodiker. Was wäre sein 1. Klavierkonzert ohne die siegreiche Eröffnungsfanfare und das herrliche Thema der Introduktion, das im ganzen Stück nicht mehr erklingen wird und auch von daher wie das Eintrittsbillett in die Unsterblichkeit wirkt?


    Melodische Architekturen, die die großen sanglichen Bögen ihrer Thematik ausweiten, überhöhen und zu intensivster Leuchtkaft entfalten, egal ob Chopin, Bruckner oder Rachmaninoff, führen bloß in extremis vor, was schon für das schlichte Volkslied gilt: daß nämlich die Zeitgestalt der Melodie von ganz besonderer Beschaffenheit ist. Denn sie wiederholt sich nicht einfach, sondern löst im Hörer dabei eine Indentifikation aus, die das Dazwischenliegende in sich aufnimmt und die Melodie gleichsam auflädt oder läutert. Entsprechend emanzipiert sich parallel zum literarisch-pädagogischen Entwicklungsgedanken die entwickelnde Variation, mithin die Auflösung von Identitäten, an deren Stelle mehr und mehr bewußt gesetzte plastische Formulierungen und Strukturen, die sogenannten Leitmotive treten. Diese erklingen, z.B. bei Wagner oder Debussy, wie Signale und ihre Echos aus dem raunenden Urfluß der Musik; aber sie sind nicht mehr thematisch tragend. Wer das Siegfried-Motiv vor sich hin pfeifen kann, verrät dadurch noch keine besondere Musikalität.


    Wer die melodisch gesättigte Partitur der Carmen im Ohr hat, wird bei Wagner eine gewisse Neigung zur Simplifikation der motivischen Formulierung wahrnehmen, die zur Kompliziertheit der musikalischen Faktur in einem (dialektischen) Widerspruch steht. Doch auch Brahms mißtraut der allein von ihrer Melodie getragenen Phrase. Aber läßt sich auch sagen, daß Wagner und Brahms sich in gewisser Weise der süffigen Melodik versagen, so wissen sie doch an vielen Stellen ihrer Partituren konventionelle melodische Wirkungen zu erzielen. Ob nun Sieglindes Ausruf "Oh hehrstes Wunder!" oder die Apotheose im Brahmsschen Violinkonzert-Adagio, jenem über einen verminderten sowie einen übermäßigen Akkord hingespannten hohen c des Solisten (ab T 24 vor Schluß d.S.) - in beiden Fällen wird ein melodramatischer Höhepunkt in den musikalischen Verlauf hineinmontiert, der eine weit gespannte Wirkung evoziert, die in Wahrheit in jene wenigen Takte gedrängt ist. Es werden keine Melodien ausgesungen, sondern knappste melodische Gipfelpunkte erzeugt. Diese gleichsam zurückgepreßten, wie aus einem Hochdruckventil ins Melos schießenden Momente sind von hoher Strahlkraft, bestechender satztechnischer Ökonomie, fast ohne Erfindung formuliert und partizipieren dennoch an der Meisterschaft melodischer Architekturen, wie man sie in den großen Ensembles Bellinis, Donizettis und Verdis vorgebildet findet.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Der Vergleich zwischen einem Gericht eines Meisterkochs und einem musikalischen Kunstwerk ist sachlich unzulässig. Bei letzterem handelt es sich - informationstheoretisch gesehen - um ein System von Zeichen, die nach einem bestimmten System codiert sind. Die Information, die in diesem Zeichensystem steckt, ist lesbar. Für ein Gericht trifft das alles nicht zu. Im übrigen:...


    Und was jetzt folgt, widerlegt inhaltlich deine eigene Aussage! ;)


    Im übrigen ist ein Gericht "informationstheoretisch" die Umsetzung eines Rezepts - "ein System von Zeichen...." ;)


    Tatsächlich bestehen einige Ähnlichkeiten zwischen der Zubereitung eines Gerichts und der Wiedergabe eines Musikstücks. Das Rezept ist für den Koch eine ähnliche Arbeitsvorschrift wie die Partitur für den Musiker, der eine ist Meister im Umgang mit Messern und Zutaten, der andere in Fingerfertigkeit. Man kann Rezept und Partitur schlicht nach Vorschrift umsetzen oder durch Kunstfertigkeit veredeln. Und der Empfänger kann in beiden Fällen aus der höheren Kunst der "Zubereitung" vermehrten Gewinn ziehen...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Zitat Wolfram: "Das klingt für mich authentischer und sympathischer als alle moralischen Hürden, die hier vor einem Hörer klassischer Musik aufgebaut werden."


    Sollte Wolfram mich damit meinen, dann hat er schlecht gelesen. Von Moral war bei mir nicht die Rede, sondern von einer der klassischen Musik gegenüber angemessenen Rezeptionshaltung. Für mich, es tut mir leid, besteht nun einmal, was diese Haltung betrifft, ein Unterschied, ob die die Wanderer-Fantasie oder einen Song von Janis Joplin höre (die ich im übrigen überaus schätze!).


    Wenn jemand sich gerne von Klassischer Musik berieseln lassen möchte, dann ist das natürlich sein gutes Recht. Ich erlaube mir nur den kleinen, aber durchaus gewichtigen Einwand, dass er über diese Form des Umgangs mit ihr den gewaltigen Reichtum an künstlerischer Erfahrung, der in ihr steckt , nicht mitbekommt.


    Ich kann in einem Konzert sitzen, in dem Brendel die Wanderer-Fantasie spielt und mich bei den dort zu hörenden Klängen wohlfühlen, weil sich dieses Werk Schuberts liebe und weil es mir vertraut ist, - das ganze also als "gehobene Unterhaltung" verstehen. Nun passiert da doch aber weitaus mehr, was ich hören könnte, wenn ich denn wollte und wenn ich es nicht als Zumutung empfinde, mich zu konzentrieren und genau hinzuhören. Zum Beispiel dieses:


    "Miit ungeheurem Impuls beginnt er den Kopsatz im Fortissimo. Doch bei Schubert wird, gleich nach 16 Takten, der Anfang in leisem Piano wiederholt. Die Fermate vor diesem Piano dehnt Brendel zu einer Brucknerschen Generalpause aus. Wenn dann das C-Dur wiederkommt: verhalten, in anderem, dunklerem milderem Licht - dann fand bereits etwas statt. Nämlich der Zusammenbruch eines >élan vital<, einer aufrumpfenden Lebendigkeit. So geht es weiter. Ach der pp-Seitensatz wirkt wie ein beklemmendes Urteil über die vorherigen Fortissmo-Läufe. Die Finsternis des cis-Moll-Adagio-Themas empfindet man nicht einfach als zweiten Satz, der unvermeidlich dem ersten folgt, sondern wiederum als Konsequenz: Darauf mußte der grelle >fuoco<-Jubel hinauslaufen."


    So hat einer eine Brendel-Interpretation der "Wanderer-Fantasie" erlebt. Den Namen muss ich leider hier weglassen, weil ich schon mehrfach erlebt habe, dass bestimmte Namen reflexartige Reaktionen hier im Forum auslösen.


    Tut ja auch nichts zur Sache. Was ich sagen wollte ist dies: All das - und noch viel mehr- kann bei einer Haltung hören, die ich "bewusstes, weil reflektiertes Hören" nannte. Und was ich nicht begreife, ist, dass man hier ein Preislied auf das stumpfe Sich-berieseln-Lassen zu singen scheint. Dies anscheinend nach dem Prinzip: Bloß keine Hürden aufbauen. Es könnte ja mit Mühe verbunden sein, ein Werk der E-Musik hörend verstehen zu wollen.


    ANMERKUNG zu dem Beitrag von Theophilus:


    Den Einwand von Theophilus verstehe ich nicht. Ich sagte: Bei einem musikalischen kunstwerk handelt es sich - informationstheoretisch gesehen - um ein System von Zeichen, die nach einem bestimmten System codiert sind. Die Information, die in diesem Zeichensystem steckt, ist lesbar. Für ein Gericht trifft das alles nicht zu.


    Natürlich operiert auch ein Koch mit einer Art Partitur. Aber seit wann ist ein verminderter Septimakkord mit einer Mohrrübe vergleichbar? Es wird mir hier doch keiner weismachen wollen, dass es sich auch bei dieser um ein "Zeichen" im Sinne der Informationtheorie handelt, - etwa weil sie, während ich sie kunstvoll zubereitet verspeise, mir etwas zu sagen hat. ???

  • Tut ja auch nichts zur Sache. Was ich sagen wollte ist dies: All das - und noch viel mehr- kann bei einer Haltung hören, die ich "bewusstes, weil reflektiertes Hören" nannte. Und was ich nicht begreife, ist, dass man hier ein Preislied auf das stumpfe Sich-berieseln-Lassen zu singen scheint. Dies anscheinend nach dem Prinzip: Bloß keine Hürden aufbauen. Es könnte ja mit Mühe verbunden sein, ein Werk der E-Musik hörend verstehen zu wollen.


    Ich höre entgegen aller Beteuerungen einen moralisierenden Unterton heraus.


    Ferner: Gegenüber einem, der sich berieseln lässt, mag jemand, der sich die Liebesmüh macht, bewusst und reflektierend zu hören, der Meinung sein, dem Werk und dem Komponisten viel gerechter zu werden als jener. Nun ja, Selbstgerechtigkeit kann ja ein durchaus liebenswerter Zug sein. Man möge nur beachten, dass es jemand mit noch höherer Erkenntnis von der "inneren Organisation der Töne" geben könnte, der genauso selbstgerecht von oben auf den hinabblickt, der da meint, bereits bewusst und reflektierend zu hören.


    Darum meine ich, dass diese Attitüden alle nichts bringen, wenn sie nur dazu dienen, die eigene Haltung zu sanktifizieren.

  • Es sind sehr kluge und interessante Gedanken aufgeschrieben worden als Versuch einer Antwort auf Alfreds Frage, welche Anforderungen denn klassische Musik an die Hörer stelle. Alfred ist sich ja selbst im Klaren darüber, dass dies eine sehr theoretische, künstliche Frage ist. Ich würde sie gar nicht erst gestellt haben. Dennoch bringt sie auch mich zum Nachdenken. Die Frage als solche übersieht, dass der Zugang zu dem, was wir hier klassische Musik nennen, zunächst einmal ein emotionaler ist. Mann kann noch so Bescheid wissen und Partituren lesen können, wenn einem das, was man da zur Kenntnis nimmt, nicht innerlich bewegt. Liebe zur Musik kann man nicht lernen wie die Liebe selbst. Man hat sie oder man hat sie nicht. Anstöße von außen, wozu ich auch Musikunterricht in der Schule zählen würde oder mehr ganz zufällige Erlebnisse, können nur wecken was vorhanden ist. Mit zwölf Jahren habe ich die Ouvertüre zum "Fliegenden Holländer" im Radio gehört, einfach so. Und ich wusste auf Anhieb, das ist meine Musik, obwohl ich zuvor nie so etwas gehört hatte, keine Nachtmusik, kein Händel und Gretel, keinen Nussknacker. Er war der Holländer, der mir die Ohren öffnete, und ich machte mich auf die Suche nach mehr. Später habe ich viele Menschen getroffen, die mir neue Räume eröffneten. Immer vollzog sich mein Zugang zur Musik auf dieser emotionalen Schiene. So ist das bis heute geblieben. Den Wagner kann ich auswendig, er ist mein Zentrales Interesse geblieben. Keine Note im Auszug oder in der Partitur, die ich selbst deuten kann oder erklärt bekam, vermögen das unmittelbare Hörerlebnis ersetzen. Insofern würde ich, sollte ich doch eine Antwort wagen wollen auf Alfreds Frage, sagen: "Es braucht keine Anforderungen."


    Niemand sollte von sich sagen, er habe aus diesen und jenen Gründen, durchaus objektiven Gründen, einen besseren Zugang zur Musik als andere. Eine solche Sicht wäre schlicht elitär und durch nichts begründet. Sie hätte auch nichts zu tun mit Musik. Notenkenntnis, musikwissenschaftliche Bildung, die Beherrschung von Instrumenten schaffen nicht zwangsläufig einen tiefen Zugang zu einer bestimmten musikalischen Figur, zu einem Thema, zur Musik ganz allgemein. Nicht jeder fühlt sich von aller Musik gleichermaßen ergriffen und angesprochen. Mir hat nie so richtig eingeleuchtet, warum der eine Wagner liebt, der andere aber Busoni, wieder andere Pfitzner nicht ausstehen können obwohl sie Busoni verehren. Nicht alle mögen Mozart, was ich nun gar nicht begreifen kann.


    Nichts entzieht sich für mich so sehr einem Regelwerk wie das Hören von Musik.


    Grüße von Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Die Frage des Threads ist ja nicht schlecht gestellt: Welche Ansprüche stellt die Musik, das jeweilige Werk, an den Hörer? D.h. es geht nicht primär darum, was die Bedürfnisse des Rezipienten sind, sondern ob er bereit ist, sich einem Anspruch zu stellen, der damit zu tun hat, daß bestimmte Musik als "Kunst" ernst genommen und nicht bloß konsumiert werden will. Selbstverständlich kann man so Musik hören wie man will, nur hat das dann nichts mit einem ästhetischen Erleben eines "Kunstschönen" zu tun, um es philosophisch auszudrücken. Ästhetische Anforderungen sind zwar durchaus anstrengend und nicht bequem, aber sie bieten auch die Chance, den eigenen Horizont zu erweitern, sich eine neue Erfahrungswelt zu erschließen, die eben nicht die gewöhnliche ist. Wenn man die Sprache dieser Welt erlernt hat, dann kann man sich in ihr auch annähernd mühelos bewegen. Und zum Umgang mt der Kunst gehört selbstverständlich ein Lernprozeß, der naive Zugang, die Begeisterung der ersten Entdeckung und das sich allmählich entwickelnde Bedürfnis, tiefer in die Dinge einzudringen, besser zu verstehen, warum einen bestimmte Musik immer wieder phasziniert. Ein gutes Buch liest man auch mehr als nur einmal und man schaut sich ein bedeutendes Gemälde ebenfalls mehrfach an. Merkwürdiger Weise meinen viele, Musik müßte man immer gleich unmittelbar verstehen. Warum eigentlich? Es ist doch viel spannender, immer wieder neue Seiten zu entdecken und vielleicht mit den Jahren dasselbe anders zu hören. Die Kultivierung des Hörens gehört zum Hören mit dazu.


    Beste Grüße
    Holger

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  • Eigentlich habe ich alles gesagt, was aus meiner Sicht zu diesem Thread zu sagen ist. Eine Äußerung von Rheingold regt mich aber zu einer neuerlichen (letzten!) Stellungnahme an. Sie lautet:


    „Niemand sollte von sich sagen, er habe aus diesen und jenen Gründen, durchaus objektiven Gründen, einen besseren Zugang zur Musik als andere. Eine solche Sicht wäre schlicht elitär und durch nichts begründet.“

    Ich habe mich gefragt, ob diese Feststellung für mich übernehmbar wäre. Sie ist es nicht! Und das aus einem ganz simplen Grund. Ich habe bei meinen unzähligen Versuchen, dieses oder jenes musikalische Werk wirklich zu verstehen und zu begreifen, immer wieder zu musikwissenschaftlicher Literatur oder zu den Äußerungen von Menschen gegriffen, die sich als Interpreten mit diesem Werk auseinandergesetzt haben.


    Und dabei ging mir auf: Es gibt sehr wohl diesen Sachverhalt, den Rheingold hier mit Vehemenz von sich weist. Es gibt Menschen, die zu der Art von Musik, mit der ich mich seit nun fünfzig Jahren beschäftige, dem Kunstlied nämlich, immer noch einen besseren Zugang haben als ich. Nicht etwa aus einer gleichsam naturgegebenen Intuition, sondern aus dem Grund, um den es hier in diesem Thread geht: Diese Menschen haben sich noch intensiver als ich auf diese musikalische Gattung eingelassen und dabei das Sensorium der Rezeption und die Kategorien des analytischen Verstehens zu einem Höchstmaß entwickelt.


    Ein Beispiel. Ich lese gerade bei Alfred Brendel:
    „Weder das Manuskript noch der Erstdruck des Liedes „Wasserfluth“ aus der „Winterreise“ erlauben auch nur den leisesten Zweifel daran, daß der brahmsische Polyrhythmus, der hier üblicherweise dem Publikum vorgesetzt wird, falsch ist; der punktierte Rhythmus des Liedes ist übrigens nicht nur dort anzugleichen, wo er mit Triolen zusammen auftritt, (…) sondern höchstwahrscheinlich auch dort, wo er allein steht, der Kontinuität zuliebe.“
    Obwohl ich dieses Lied von vorne und hinten betrachtet, gehört und analysiert habe, ist mir das hier entgangen.


    Ich würde also sehr wohl – Rheingold darin widersprechend – sagen: Es gibt Menschen, die von sich „aus durchaus objektiven Gründen“ sagen dürfen, dass sie „einen besseren Zugang zur Musik als andere“ haben. Der Grund: Sie haben einen längeren und intensiveren Bildungsprozess in der Entwicklung einschlägiger Fähigkeiten in der Rezeption und im analytischen Durchdringen der Faktur eines musikalischen Kunstwerkes entwickelt.


    Aber ich füge gleich hinzu: Mit „elitär“, wie Rheingold meint, hat das nichts zu tun. Denn – und damit bin ich bei meinem eigentlichen Anliegen – solche Fähigkeiten sind erlernbar. Nicht für alle in gleicher Weise, aber doch in Ansätzen für jeden. Ich kann lernen, klassische Musik zu hören und sie in ihrer ganz spezifischen Struktur und ihrer kompositorischen Aussage zu erfassen.


    Mit genussvollem und wohligem Berieseln-Lassen geht das freilich nicht. Das erfordert Mühe. Und man verschone mich bitte in diesem Zusammenhang mit dem Vorwurf des Moralisierens. Der ist gedankenlos und deshalb albern! Was gibt es denn Schöneres, als den Lohn für solche Mühe am Ende einzuheimsen: Dann, wenn ich die Großartigkeit und musikhistorische Singularität von Schuberts „Gretchen am Spinnrade“ zum Beispiel endlich wirklich begriffen habe.

  • Seltsam: Die Frage des Threads lautet: "Welche Anforderungen stellt klassische Musik an den Hörer?", aber viele Antworten beantworten eine andere Frage, nämlich: "Welche Anforderungen stelle ich an einen Hörer klassischer Musik?".


    Die Musik fordert nichts. Sie ist. Sie existiert. Sie ist einfach da.


    Fordern tun nur Menschen. Da werden dann Begriffe bemüht wie "der Musik gerecht werden", "dem Komponisten gerecht werden".


    Und wer meint, etwas abschließend begriffen zu haben, der hat vermutlich gar nichts begriffen (wie wir alle). Aber man könnte sich bemühen, zu begreifen, dass alles unser Begreifen immer nur vorläufig ist. Unser heutiges "Heureka" ist das, was wir morgen belächeln. Und das ist gut so.


    Das gilt es einzusehen, denn es hilft, bescheiden zu werden. Wenn man es denn angesichts der Musik nicht schon geworden ist. Die Musik könnte es uns lehren. Aber dazu müsste man vielleicht begreifen ...

  • Eine Vorbemerkung:
    Ich würden nicht sagen, daß Helmut "moralisiert" das ist etwas anderes.
    Aus meiner Sicht versucht er, Erkenntnisse, die er persönlich erworben hat, weiterzuvermitteln - und muß dabei die bittere Erfahrung machen, daß nicht alle diese Erkennnisse annehmen wollen. Das ist meiner Meinung nach ein ganz normaler Vorgang, mit dem man fertig werden muß. Denn auf einen gewissen Kreis sind diese Erkenntnisse ja anzuwenden - und daher gültig. Aber es sind keine allgemeinen unabänderlichen Wahrheiten.
    Und ich hoffe, den Bogen zu finden, wenn ich auf Papageno in der Zauberflöte verweise, der auf die Worte des Tempelpriesters :
    "Dafür aber wirst du das himmlische Vergnügen der Eingeweihten nie fühlen."
    lakonisch antwortet:
    "Je nun, es giebt ja noch mehr Leute meines Gleichen" (in einer Inszenierung, die ich gesehen habe, zeigt er dabei mit dem Finger aufs Publikum) – "Mir wäre jetzt ein gut Glas Wein das größte Vergnügen."


    Wir wollen es nicht so weit treiben - es gibt ja nicht nur schwarz und weiß. Ich bin der festen Überzeugung, daß der sogenannte "Genusshörer" (Welch ein Wort !) - wenn es ihn interessiert - allmählich auch bescheiden Grundkennnisse erwirbt - autodidaktisch.
    Das Wort "Genusshörer" als Negativbegriff ist ja abschreckend für jeden Apiranten, der sich der "klassischen Musik" zuneigen will. Wenn man den Leuten vermittelt, das Hören von "klassischer Musik" wäre "Arbeit" oder ein "mühseliger Prozess" - dann werden sie zum (meiner Meinung nach falschen) Schluß kommen: "Wie gut daß ich nur Pop- oder Volksmusik, Easi-Listening, Schlager oder dergleichen höre."
    Ich habe einmal irgendwo geschrieben, die Liebe zur klassischen Musik wäre genetisch bedingt - und habe mir dafür "Prügel" eingehandelt. Dennoch glaube ich, daß hier viel Wahrheit drin steckt. Allerdings muß der so "veranlagte" die entsprechende Musik erst einmal hören. Es ist wie Sender und Empfänger, die Wattstärke des Senders ist irrelevant, solange kein Empfänger auf seine Frequenz eingestellt ist.


    Ich komme nun zu einem Randbereich dieses Threads:
    "Welche Anforderungen stellt das Tamino Klassikforum an seine Mitglieder?"
    Ich würde sagen: minimale
    Ichj weiß aus "Leserbriefen", daß da draussen etliche mitlesen - und gern mitmachen würden - aber sich nicht getrauen, weil sie der Meinung sind - hier nicht mithalten zu können - speziell dann, wenn in einem Thread wie diesem "Forderungen an den Klassikhörer" gestellt werden
    Dazu ist zu sagen, daß das jedes Mitglied anders sieht.
    Ich persönlich würde meinen, daß es sinnvoll wäre hier mitzumachen, wenn man das Forum vom Lesen her kennt, und man sich oft über einen Beitrag gefreut oder geärgert hat, wenn man gerne jemandem widersprochen hätte, oder einen Fehler korrigiert, eine Cd vorgestellt hätte....
    Man muß selber spüren ob man sich hier wohlfühlt.
    Das "Anfangsinterview", das ich seit einigen Jahren mit fast jedem Neuanmelder führe ist keine- wie oft bösartigerweise behauptet wird - "Aufnahmeprüfung" - sondern versucht festzustellen ob man zueinander passt..


    aber das ist nur ein Seitenpfad dieses Threads -kehren wie auf den Hauptweg zurück...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred Schmidt

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Nun ja. Ich behaupte, Beethoven hat - etwa mit seiner 5. Sinfonie und ihrer per-aspera-ad-astra-Dramaturgie - durchaus eine appellative Anforderung an den Hörer gestellt. Beethoven wollte die Ideale der Französischen Revolution propagieren: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wenn es nun wahr wäre, dass einzig das Verstehen der Botschaft des Komponisten für uns Hörer die Aufgabe wäre - dann würden wir die 5. Beethovens nicht mehr hören müssen.


    Der Punkt ist m.E. eher, dass dann nicht so recht klar wäre, warum es etwas völlig anderes ist, Beethovens 5. zu hören als einen Vortrag zur Begründung der Freiheits- und Gleichheitsideale. Daher ist klar, dass sich die "Botschaft" der 5. Sinfonie nicht darin erschöpfen kann. Auch wenn selbst ich der Ansicht von Helmut zuneige, ist es keineswegs offensichtlich, dass Musik ein Zeichensystem mit einer (gar einer eindeutigen) Botschaft ist, sondern es ist ziemlich schwierig zu verstehen, wie das funktionieren soll. Sie kann nämlich nicht ohne erhebliche Verluste übersetzt werden wie gewöhnliche kodierte Botschaften. Musik wirkt offenbar auf einer Reihe von durchaus unterschiedlichen Ebenen.



    Zitat

    (Wolfram)
    Freiheit und Gleichheit haben wir.


    Tun wir das? Auf dem Papier vielleicht. In Westeuropa. Anderswo nicht einmal das.



    Zitat

    (Wolfram)
    Zumindest da, wo außermusikalische Inhalte transportiert werden, etwa bei geistlicher Musik, wäre doch zu fragen, ob es wirklich darum geht, die "innere Organisation der Töne zu verstehen". Ich würde wagen, zu widersprechen.


    Naja, dann kann man versuchen zu verstehen, ob und wie die Musik den außermusikalischen Inhalt unterstützt.



    Wenn ich ein Stück unreflektiert nicht mag, werde ich es höchstwahrscheinlich nie mögen, auch wenn man es mir sorgfältig erklärt.


    Das habe ich persönlich aber schon sehr oft anders erlebt. Wobei ich die Stücke unreflektiert meist nicht ablehnte, sondern einfach langweilig oder nichtssagend fand. Und es war auch keine "Erklärung" der Auslöser für das Mögen, sondern eher wiederholtes Hören/"Gewöhnen", vielleicht auch insgesamt mehr Hörerfahrung und Aufgeschlossenheit.


    Als ich zum ersten Mal den Kopfsatz von Mahlers 9. hörte, fand ich die Klänge (zB das gestopfte Horn gleich am Anfang) stellenweise schlicht häßlich, den Satz wirr und chaotisch. Ich will nicht behaupten, dass ich den Satz heute verstehe (dazu habe ich mich viel zuwenig damit befasst). Aber er ist für mich nun jedenfalls eines der ergreifendsten Musikstücke, die ich kenne (und das war es auch schon ca. zwei Jahre nach dem besagten Erstkontakt). Wenn ich danach gegangen wäre, wie ich beim ersten Hören auf ein Stück reagiere, wäre ich nie dazu gekommen, Bachs Klavierwerke, Debussy, Wagner, Bruckner u.v.a zu hören.


    Ohne Zweifel ist fast alle Musik nicht zum Analysieren komponiert, sondern zum Musizieren und zum Hören. Oft wird jedoch ein ziemlich kundiges Publikum vorausgesetzt (Haydns Arbeitgeber, Fürst Eszterhazy, spielte mehrere Instrumente, u.a. das berüchtigte Baryton"), das überdies keine historische Distanz zu überwinden hatte.


    Man kann sicher allein durch Hörerfahrung Musik sehr viel besser "verstehen" und intensiver erfahren. M.E. kann man solche "Lernprozesse" jedoch durch ein Minimum an Hintergrundwissen, Notenlesen, Theorie, ggf. eigenem Musizieren stark beschleunigen.


    Ich werde nie verstehen, warum jedermann im Kunst-Museum gerne an einer Führung teilnimmt, aber gar nicht so wenige Musikfreunde eine erhebliche Scheu davor haben zu scheinen, sie könnten Gefahr laufen, zu viel Musiktheorie abzukriegen. Warum wird in einem Fall ein intensiveres Kunsterleben (oder was?) selbstverständlich angenommen und im andren Fall das bezweifelt oder gar bestritten? Auch wenn ich natürlich nicht die Erlebnisse eines anderen haben kann, so halte ich es für unbestreitbar, dass in aller Regel ein professioneller Musiker Musik beim "bloßen" Hören in gewisser Hinsicht "intensiver" erlebt als ich, einfach weil er viel "mehr" hört: an Zusammenhängen, Nuancen usw.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat Wolfram: "... aber viele Antworten beantworten eine andere Frage, nämlich: "Welche Anforderungen stelle ich an einen Hörer klassischer Musik?".

    Immer wieder wünsche ich mir, dass hier im Forum genauer gelesen und nicht einfach mal eben so flott verbal aus der Hüfte geschossen wird, wenn man auf die sorgfältig reflektierten Beiträge eines anderen reagiert.


    Scheint vergeblich zu sein, dieser Wunsch. Und aus diesem Grund verlässt man solche Threads dann eben. Fluchtartig.

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  • Ich werde nie verstehen, warum jedermann im Kunst-Museum gerne an einer Führung teilnimmt, aber gar nicht so wenige Musikfreunde eine erhebliche Scheu davor haben zu scheinen, sie könnten Gefahr laufen, zu viel Musiktheorie abzukriegen. Warum wird in einem Fall ein intensiveres Kunsterleben (oder was?) selbstverständlich angenommen und im andren Fall das bezweifelt oder gar bestritten? Auch wenn ich natürlich nicht die Erlebnisse eines anderen haben kann, so halte ich es für unbestreitbar, dass in aller Regel ein professioneller Musiker Musik beim "bloßen" Hören in gewisser Hinsicht "intensiver" erlebt als ich, einfach weil er viel "mehr" hört: an Zusammenhängen, Nuancen usw.


    Da stimme ich sofort zu!


    Nur bei Formulierungen wie "der Musik gerecht werden", "dem Komponisten gerecht werden", "der Komponist hat ein Recht darauf" stellen sich mir die Nackenhaare. Wer entscheidet denn da über gerecht und ungerecht? Und mit wessen Mandat für diese Vertretung in Rechtsangelegenheiten?

  • Lieber Farinelli,


    ich gestehe, daß ich mal wieder die Mehrzahl Deiner Sätze nicht verstanden habe. Und mir ist auch nicht ganz klar, welche Bezüge es zu "Ansprüchen" gibt.


    Und schon sind wir mitten im Thema. Um es etwas schärfer zu formulieren, als ich es bisher getan habe: Ich lehne es ab, Musik "verstehen" zu wollen. Es ist mir egal, welche verborgene Bedeutung ein Komponist in den Noten vergraben haben mag.


    Das heißt aber nicht, daß ich ein Musikstück nur einmal höre, oder oberflächlich - oder durch die Schönheit der Musik nicht berührt werde. Ganz im Gegenteil. Manche Stücke, die ich neu entdecke (Empfehlungen aus Tamino, gehört bei youtube - geniale Kombination !!!!!), höre ich 10, 20-mal hintereinander und kann mich ganz in sie versenken. Ich höre selbstverständlich alternative Interpretationen und kristallisiere einen Favoriten heraus. Und der wird dann gekauft und auf einer ordentlichen Anlage gehört. Ich hätte nicht 2000 CDs und mehr sowie 800 Schallplatten und diverse andere Tonträger, wenn Musik für mich etwas Nebensächliches wäre.


    Aber ich höre Musik ausschließlich mit den Ohren, nicht mit dem Verstand. Selbst meinen Hausgott Bach, der ja nun ein großer Zahlenmystiker war, mag ich weder verstehen noch seine Zahlenmystik überhaupt zur Kenntnis nehmen. Ich freue mich nur über die tollen Werke, die er geschaffen hat.


    Diese Art der Rezeptionshaltung als minderwertig abzuqualifizieren, qualifiziert meiner Meinung nach den Abqualifizierer zu einem Möchtegern. Aber natürlich mag er sich weit über mich erheben - selbst das ist mir egal. Ich wollte nur meine fehlende Büßerhaltung zu Protokoll geben.


    Erneut mit tumben Grüßen


    Michael

  • Zitat JR


    ...dass in aller Regel ein professioneller Musiker Musik beim "bloßen" Hören in gewisser Hinsicht "intensiver" erlebt als ich, einfach weil er viel "mehr" hört: an Zusammenhängen, Nuancen usw


    Ende Zitat


    Doch, das bestreite ich. Ein professioneller Musiker wird es sicherlich anders erleben als der Amateur (der, der den Gegenstand liebt)
    - vielleicht ist er ein abgestumpfter Zyniker, wie viele Profis, die sich in ihrer Freizeit mit allem anderen als dem Gegenstand ihres Broterwerbs beschäftigen
    - vielleicht will er nur eine Interpretation hinlegen, die für ihn eine Marke bildet, etwas, das ihn vor allen anderen auszeichnet, da er den heißen Atem der Interpretationskonkurrenz im Nacken spürt (siehe dazu z.B. http://www.berliner-zeitung.de…ch,10917074,10484666.html)


    Nein, ein Profi ist gefangen in seinen eigenen Zwängen, und vermutlich sind es mehr Zwänge, als es der verwertungsbezugsneutrale Aficionado verspürt. Vielleicht hört der Profi mehr Unterschiede, mehr Nuancen, aber daß das intensiver ist als das reine, pure Empfinden der Musik, das glaube ich nicht.

  • Lieber M-Mueller,


    ein Anforderung ist nicht ganz dasselbe wie ein Anspruch, weswegen man ein wenig dünkelhaft von der in Rede stehend Musik gern als der "anspruchsvollen" spricht (und nicht, was treffender wäre, als von der anforderungsvollen).


    Ich bedanke mich für dein Fazit der Unverständlichkeit meiner Formulierungen, da ich über die Maßen die Ehrlichkeit schätze.


    Ein Teil meiner Thesen besteht in einer großen Lanze für die Melodie als dasjenige Element der Musik, das einen intuitiven Zugang ermöglicht, fern der musikalischen Spezialkenntnisse.


    Daß ein Seitenthema aus der Umkehrung des Kopfmotivs im Hauptgedanken gebildet ist, spielt für die spontane Rezeption keine Rolle. Daß, gemessen am Hauptthema des Adagio in Bruckners 7., die meisten Brahmsschen Themen kurzatmig wirken, kann man an der Periodik nachweisen; aber man kann es auch hören.


    Daraus versuche ich nun ansatzweise eine Strukturbeschreibung von musikalischen Verläufen zu skizzieren, die mehr intuitiv als analytisch verfährt.


    Schöne, einprägsame, ausdrucksvolle Melodik hat vielen Werken klassischer Musik weltweite andauernde Popularität eingetragen. Ich persönlich glaube nicht, daß eingehende musikalische Bildung solche Melodien besser verstehen hilft, im Gegenteil. Wagner und Brahms haben uns daran gewöhnt, Musik auch dort zu vernehmen, wo kaum noch welche erklingt. Nietzsche hat das die Verhäßlichung der Musik genannt, nicht ohne Grund.


    Überdies glaube ich, unsere Positionen liegen nahe beisammen. Musikalische Wirkungsfülle entzieht sich weitgehend der begrifflichen Darstellung. Rezeptionserlebnisse liegen daher meist seitab des Sonatenschemas.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Der Vergleich zwischen einem Gericht eines Meisterkochs und einem musikalischen Kunstwerk ist sachlich unzulässig. Bei letzterem handelt es sich - informationstheoretisch gesehen - um ein System von Zeichen, die nach einem bestimmten System codiert sind. Die Information, die in diesem Zeichensystem steckt, ist lesbar. Für ein Gericht trifft das alles nicht zu.


    Werter Helmut,


    Auch bei einem Gericht eines Meisterkoches oder einem Parfüm handelt es sich um eine Sytem von Informationen. Ich nehme diese Codes nur mit anderen Sinnesorganen war. Die Entschlüsselung dieser Codes sind, genau wie in der Musik, immer vom Empfänger abhängig. Der eine hält z.B. Fisch für das Höchste der Genüsse, dem anderen wird übel.


    Interessant an dem Vergleich ist außerdem, das nachgewiesen wurde, das bei Menschen, die sich größtenteils von Fastfood ernähren, sich das Geschmachsempfinden quasi zurückbildet. Kann das bei Musik auch passieren?


    Wichtig erscheint mir der Einwand von Johannes zur 5. von Beethoven. Sehe ich genau so.


    Ich habe außerdem keinerlei Bedenken, das m-müller als , nenne ihn mal verkürzend "Genusshörer", was auf keinen Fall abwertend gedeutet sein soll, sich ein Wissen über Musik angeeignet hat, das hier im Forum gewürdigt wird. Es ist sein persönlicher Umgang mit der Klassik und es gibt überhaupt keinen Grund, diesen Umgang mit der Klassik herabzustufen.


    Vielleicht noch etwas zu Helmut`s Brendel Zitat: Hier hilft es vielleicht, mal die Person Brendel`s näher zu beleuchten. Er hat durchaus eine ziemlich "scharfen" Humor und vielleicht kann man ja diese "Analyse" als Bonmont über jene deuten, die Musik "zerlesen". Ich kann mir sehr gut vorstellen, das er an so etwas Spass hat.
    Zuhause sitzt und sich über die Leute amüsiert, die diese Stelle suchen. :stumm:


    Wunderbar ist der Beitrag farinelli´s Beitrag zur Melodie. Auch wenn ich die einzelnen Stellen nicht kenne, die er beschreibt, ist es mir schlüssig was er meint. Dieses Gespür für Musik und die Gabe, es in schriftlicher Form wiederzugeben, die Begeisterung für die Musik schriftlich auszudrücken, nötigt mir großen Respekt ab.


    Toll.


    Vielleicht zum Schluss ein persönliches Wort an Helmut Hoffmann.


    Bitte nicht beleidigt sein!!! Indem du hier schreibst, stellst du deine Beiträge zur öffentlichen Diskursion. Wenn jemand nicht deiner Meinung ist, muss es ihm erlaubt sein, Stellung zu deinem Beitrag zu sehen. Natürlich habe ich vollsten Respekt für deinen Umgang mit der Klassik.


    Aber ein Beitrag im Tamino-Klassikforum ist kein Dogma.


    Viele Grüße Thomas

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