Brahms, Johannes: Streichquintett Nr. 2 G-Dur op. 111

  • Wann das 2. Streichquintett G-Dur op. 111 entstand, ist nicht ganz klar. Im Frühjahr 1890 war Johannes Brahms zum Wandern in Oberitalien, den Sommer verbrachte er wie im Vorjahr in Bad Ischl. Dort überarbeitete er sein Klaviertrio H-Dur op. 8 und schuf damit die Fassung, in der dieses Werk heute meist gespielt wird. Ferner schrieb er sein zweites Streichquintett in G-Dur nieder. – Eventuell war es bereits vorher in Teilen komponiert, eventuell enthält dieses Werk Gedanken, die einer ursprünglich geplanten 5. Sinfonie zugedacht waren.


    In den beiden vorangegangen Jahren hatte er einige sehr nachdenkliche Werke komponiert, die teilweise Todesgedanken formulieren. So etwa in den 1888 fertiggestellten Liedern op. 105, insbesondere in den beiden recht bekannten „Immer leiser wird mein Schlummer“ (Nr. 2) und „Auf dem Kirchhofe“ (Nr. 5), aber auch in den „Drei Motetten“ op. 110 für gemischten Chor. Auch die Violinsonate d-moll op. 108 sowie die „Fest- und Gedenksprüche“ op. 109 für gemischten Chor zeigen noch einmal Brahms in seiner ganzen Strenge, in seinem Ernst, in der klaren Herbheit seiner Tonsprache.


    Mit dem Quintett in G-Dur wollte Brahms sein kompositorisches Schaffen beenden. An seinen Verleger Simrock schrieb er im Dezember 1890: „Sie können mit diesem Zettel Abschied nehmen von meinen Noten – weil es überhaupt Zeit ist, aufzuhören [ … ]“. Um so erstaunlicher mag es vor dem Hintergrund der oben genannten Werke sein, dass op. 111 so lebendig, so jugendlich, so klangschwelgerisch, geradezu optimistisch und freundlich daherkommt.


    Kalbeck, der erste Biograph von Johannes Brahms, berichtet eine Anekdote: Nach einer Probe des Werkes habe er den Komponisten gefragt, ob es nicht die geheime Überschrift „Brahms im Prater“ habe. Dieser soll vergnügt schmunzelnd erwidert haben: „Getroffen“ und soll mit schelmischem Augenblinzeln hinzugefügt haben: „Nicht wahr? Und die vielen hübschen Mädchen drin.“ Die an Walzer erinnernden Abschnitte mögen ein Indiz dafür sein, dass der Bericht zutreffen könnte.


    Das zweite Quintett ist im Vergleich zum früheren Johannes BRAHMS: Streichquintett F-Dur op.88]Streichquintett in F-Dur op. 88[/url] klanglich opulenter, bisweilen geradezu orchestral angelegt, mit Akkorden in weiten Lagen, Doppelgriffen und Tremoli.


    Das Werk ist viersätzig:


    I. Allegro non troppo, ma con brio (G-Dur, 9/8')
    II. Adagio (d-moll, 2/4)
    III. Un poco Allegretto (g-moll, 3/4)
    IV. Vivace ma non troppo presto (G-Dur, 2/4)


    Die Besetzung ist wie im ersten Streichquintett dieselbe wie bei Mozart, Beethoven und Mendelssohn: Zur Besetzung eines Streichquartetts mit 1. Violine, 2. Violine, Bratsche und Violoncello tritt eine 2. Bratsche.


    Folgende drei Aufnahmen des Werkes liegen mir vor (die des Amadeus-Quartetts habe ich in der links abgebildeten, älteren Box; diese Aufnahme ist heute in der rechten Box verfügbar):


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    Das Amadeus-Quartett wurde verstärkt durch den Bratscher Cecil Aronowitz. Das Raphael Ensemble ist eigentlich ein Streichsextett und hat seinem 2. Cellisten Timothy Gill bei dieser Aufnahme eine Pause gegönnt. Das Leipziger Streichquartett hat den Bratschisten Hartmut Rohde hinzugezogen. – Beide „2. Bratscher“ waren bzw. sind gesuchte Kammermusiker und haben regelmäßig mit den Ensembles zusammen gearbeitet, mit denen auch diese Aufnahmen entstanden.

  • Formanalyse


    Die Zeitangaben beziehen sich auf die obigen Aufnahmen in der Reihenfolge Amadeus-Quartett/Raphael Ensemble/Leipziger Streichquartett.


    Im ersten Satz sind eine Menge walzerartige Abschnitte zu hören. – Er beginnt mit einer breiten Klangfläche der beiden Violinen und der beiden Bratschen, zu der das erste Thema im Cello zu hören ist (0:00/0:00/0:00). Ein zweiter Einsatz des Kopfmotivs des Themas in der 1. Violine (0:51/0:49/0:46) führt zu einer kleinen Sequenz, die in die Dominante D-Dur moduliert. Kräftige Akkorde münden in die Überleitung zum zweiten Thema (ab 1:16/1:15/1:12). Diese Überleitung – der erste deutliche Walzercharakter - ist so prägnant, dass sie als eigenes Thema durchgehen könnte (führende Stimme in der 1. Bratsche, dann in der 1. Violine). – Das zweite Thema – ebenfalls walzerartig - wird zunächst von der 2. Violine vorgestellt (1:59/1:53/1:47) und sogleich von der 1. Violine wiederholt. – Es folgt die Schlussgruppe (ab 2:25/2:19/2:12). Die Überleitung zur Wiederholung erhält ein paar eigene Takte Musik, die das erste Thema andeuten und nur in der ersten Wiederholung zu hören sind (-/2:51/2:47). Nicht nur darum ist es schade, dass das Amadeus-Quartett die Wiederholung nicht spielt und diese Takte daher überspringt!


    Die Durchführung kann man in fünf Abschnitte gliedern. Der erste (ab 2:59/5:47/5:37) wird mit einem unerwarteten Tonartwechsel nach B-Dur eröffnet. Nach dem A7-Akkord am Ende der Exposition ist das ein herrlicher Trugschluss, der das Unwirkliche, Träumerische der nun folgenden ätherischen Klänge zusätzlich hervorhebt. Der Kopf des zweiten Themas erklingt zart in Verbreiterung. – Im zweiten Abschnitt (ab 3:42/6:28/6:20, er beginnt im Forte) wird der Kopf des ersten Themas durchgeführt und von Akkordbrechungen (auch über mehrere Oktaven) in allen Streichern begleitet. Dies mündet in eine herrliche Sequenz (3:59/6:45/6:37), wonach der dritte Abschnitt erreicht wird (ab 4:09/6:55/6:47), der mit dem ersten äußeren Höhepunkt der Durchführung beginnt: Rasche Oktavsprünge in den oberen drei Stimmen begleiten das erste Thema im Cello, die zweite Bratsche sekundiert ihrem tiefen Partner mit Doppel- und Dreifachgriffen. Die mächtige Klangentfaltung ist nur von kurzer Dauer, zunächst wird ein piano dolce erreicht, dann ein Pianissimo (4:32/7:18/7:09) – vierter Abschnitt. Gewagte Modulationen folgen, über As-Dur und H-Dur geht es nach g-moll, d-moll, f-moll, c-moll, bis die Musik im fünften Abschnitt ab 5:01/7:48/7:44 wieder zupackender wird („ben marcato“, dann „pesante“). Ähnliche Klangflächen wie eingangs des Satzes (5:20/8:07/8:04) bilden einen zweiten (eher inneren) Höhepunkt und bereiten den Einsatzes des ersten Themas zu Beginn der Reprise (5:36/8:25/8:21) vor. Die Rückmodulation in die Tonika G-Dur geschieht ziemlich überaschend – auf dem ersten Ton des Themas (G im Cello) sind wir noch in Es-Dur … schlagartiger Beleuchtungswechsel. Hier liegt also ein Satz in Sonatenhauptsatzform vor, bei dem die Exposition und die Reprise in G-dur stehen, die Durchführung aber in B-Dur/g-moll. (Die in manchen Konzertführern behaupteten Steigerungswellen der Durchführung sind aus der Partitur nicht nachvollziehbar, denn die Dynamik ist fast durchweg in Terrassen geordnet. Natürlich sind Höhepunkte erkennbar.)


    Wiederum ist das Thema zunächst dem Cello zugeteilt, wird jedoch sogleich von der 1. Violine übernommen, was in der Exposition erst viel später geschah. Dieses Verfahren rafft die erste Themengruppe kräftig zusammen, es geht gleich zu den kräftigen Akkorden und dann in die Überleitung (ab 6:22/9:13/9:07). – Das zweite Thema ist dann in der Tonika G-Dur ab 7:06/9:51/9:42 von der 1. Violine zu hören. Der Schlussgruppe folgt eine ausgedehntere Coda (ab 7:51/10:39/10:28'), in der Ätherisches ebenso zu hören ist wie Sequenzen, bis das Stück in einer Generalpause zum Stillstand kommt (9:13/12:03/11:47). Danach scheint Brahms noch einmal das erste Thema durchführen zu wollen, doch er ist in Tat und Wahrheit auf der Zielgeraden zum vollgriffigen Ende des Satzes.


    Vergleichende Wertungen gehen mir bei Werken ein wenig gegen den Strich, aber bei diesem Satz muss ich sagen, dass er dem Komponisten sogar für dessen Verhältnisse in außergewöhnlicher Weise gelungen ist – in allen Teilen.


    Der zweite Satz wird manchmal als Variationensatz bezeichnet, doch dies greift fast zu kurz. Wenn überhaupt, dann im Sinne von Charaktervariationen wie im Kopfsatz von Beethovens Klaviersonate As-Dur op. 26, nicht etwa im Sinne von Variationen wie im Kopfsatz von Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331. – Das Thema und die einzelnen Variationen haben verschiedene Längen, verschiedene harmonische Verläufe, verschiedene Phrasenlängen und Binnenstrukturen … eher schon sind die einzelnen Variationen (nennen wir sie der Einfachheit halber so) Durchführungen des Themas.


    Das Thema wird von den beiden Bratschen vorgestellt, das Cello grundiert mit Pizzicati. Vorgeschrieben ist Forte. Zwei Takte später treten die beiden Violinen begleitend hinzu, „Forte, ma dolce“. Der erste Teil ist regulär achttaktig, endend mit einem Tremolo. Dann (0:35/0:38/0:38') übernimmt die erste Violine mit einem kleinen Quasi-Rezitativ, sogleich gesellt sich die zweite Violine dazu, bevor die erste Bratsche zur ersten Variation überleitet (0:50/0:57/0:57).


    Die erste Variation beginnt bei 0:58/1:07/1:07. Der erste Teil ist auf zehn Takte ausgedehnt, der zweite Teil von sechs auf acht Takte. Der Anfang ist nun im Piano und um eine Oktave nach oben transponiert, gespielt von den beiden Violinen und der 2. Bratsche (Pizzicato). Nach zwei Takten wiederum Tutti, aber Pianissimo.


    Die zweite Variation steht in g-moll und beginnt bei 2:08/2:32/2:36. Gesteigerte Bewegung, Pizzicati im durchbrochenen Satz zwischen Cello und 1. Bratsche, dann vollgriffiges Spiel bis zur Achtstimmigkeit. Der rezitativische Teil findet keine Entsprechung, an dessen Stelle steht ein choralartiger Abschnitt, piano, dann pianissimo, perdendosi. Die Überleitung zur nächsten Variation wird aus dem Schlussmotiv des ersten Teils des Themas gebildet.


    Die dritte Variation (3:24/3:52/4:01) steht in D-Dur, die Bewegung in den Begleitstimmen ist abermals gesteigert: Sechzehntel-Triolen in den Bratschen, Sechzehntel-Pizzicati im Cello. Eine weitere Steigerung der Bewegung führt zum Höhepunkt des Satzes (3:57/4:32/4:40).


    Der nächste Einsatz des Themas, instrumentiert wie zu Anfang des Satzes, leitet keine weitere Variation ein, sondern die Coda (4:25/5:00/5:09).


    Der dritte Satz ist mit seiner A-B-A‘-Coda-Form zwar wie ein Scherzo aufgebaut, hat aber den Charakter eines Intermezzos – etwa wie in Brahms‘ 3. Sinfonie. Durch den durchgehenden ¾-Takt sind wir hier trotz zahlreicher Hemiolen dem Walzer am nächsten.


    Der A-Teil ist seinerseits in einer zweiteiligen Form geschrieben: aa’bb. Die variierte Wiederholung a‘ beginnt bei 0:17/0:19/0:18, der Abschnitt b bei 0:31/0:35/0:35 (wunderbare Außenstimmenparallelen ab 0:41/0:47/0:46) und dessen Wiederholung bei 1:16/1:25/1:26.


    Im B-Teil wechselt das Tongeschlecht: wir sind in G-Dur (ab 2:02/2:15/2:17). Die Form ist ccdc‘. Die Wiederholung von c (die beiden Bratschen sind den beiden Violinen dialogisch gegenüber gestellt) beginnt bei 2:18/2:32/2:34, Abschnitt d dann ab 2:31/2:49/2:51, zurück in c‘ ab 2:54/3:13/3:16.


    Bei 3:20/3:42/3:44 sind wir dann im Teil A‘ angekommen, der bis auf wenige Töne in der Überleitung zur Coda mit A völlig übereinstimmt. Die Coda steht wiederum in G-Dur und beginnt bei 4:36/5:04/5:08.


    Der vierte Satz wird in Kammermusikführern und in CD-Beiheften gerne als Csárdás beschrieben. Hm – also die typische zweiteilige Form des Csárdás mit einem langsamen und einem schnellen Teil liegt schon mal nicht vor. Aber die ungarischen Elemente sind natürlich unüberhörbar. Der Witz liegt eher darin, dass Brahms die folkloristischen Anteile mit einer Sonatenhauptsatzform überbaut.


    Es geht los mit einer Spielfigur in der 1. Bratsche, von der zunächst nicht klar ist, ob sie Thema oder Begleitung sein soll (ähnlich wie beim Beginn von Smetanas Moldau). Übrigens in h-moll – also nicht in der Tonart des Satzes. – Die 1. Violine nimmt die Spielfigur auf, variiert diese, moduliert nach G-Dur und leitet sofort über in das, was vor dem Hintergrund des Restes des Satzes als Hauptbestandteil der ersten Themengruppe bezeichnet werden muss: ein Thema, dass seine Herkunft vom Csárdás sicher nicht verleugnet (0:13/0:14/0:14). – Sogleich wird dieses Thema zu einer Synthese mit der Spielfigur des Anfangs geführt, es wird variiert unter Verwendung eben dieser Figur. Der letzte Abschnitt der ersten Themengruppe ist akkordisch (0:21/0:23/0:22) gebaut. Bei 0:29/0:31/0:31 erwächst aus diesen Akkorden die Überleitung zum zweiten Thema, welches regelkonform in der Dominante D-Dur steht und ab 0:38/0:41/0:40 in der 1. Violine zu hören ist. Es erfährt eine kurze weiterentwickelnde Wiederholung, dann hebt bei 0:50/0:54/0:53 schon die Schlussgruppe mit ihrem triolischen Rhythmus an.


    Die Durchführung beginnt bei 1:16/1:23/1:23 mit der Spielfigur des Anfangs, wiederum in h-moll. Man könnte zunächst meinen, die Exposition würde wiederholt – was nicht der Fall ist. Hier liegt einer der Stellen vor, in denen ganz sicher bestätigt werden kann, dass der Satz kein Csárdás ist: Spielfigur und eigentliches Thema werden nach allen Regeln der Kunst durchgeführt, wobei chromatische Steigerungen eine wichtige Rolle spielen (etwa bei 1:52/2:02/2:01). – Nach etlichen Verwicklungen findet das Stück bei 2:22/2:36/2:34 auf Fis-Dur, der Dominante von h-moll, einen relativen harmonischen Ruhepunkt; diese Tonart war kurz vorher bereits enharmonisch verwechselt als Ges-Dur erreicht. Brahms scheint h-moll für eine Reprise ansteuern zu wollen, bleibt lange über Fis, doch bei 2:35/2:52/2:48 kippt die Harmonik nach D-Dur, der Dominante der Tonart des Satzes.


    Die initiale Spielfigur wird im Piano weitergesponnen, bis bei 2:41/2:59/2:54 unmerklich die Reprise anhebt – mit der variierten Form des eigentlichen Hauptgedanken der ersten Themengruppe. Direkt danach ist der Hauptgedanke in seiner ursprünglich Form im Pizzicato in der ersten Violine (kaum) zu hören. Wiederum folgt die akkordische Überleitung zum zweiten Thema, welches bei 3:02/3:22/3:17 beginnt und schnell in die Schlussgruppe führt (3:14/3:34/3:29). – Die Coda beginnt bei 3:38/4:03/3:59 mit der Spielfigur in H-Dur und bleibt in dieser Tonart, bis bei 3:54/4:20/4:16 ein „animato“ überschriebener Teil in G-Dur anhebt, der den Satz und das Werk zum mitreißenden Ende bringt.

  • Aufnahmen


    Das Amadeus-Quartett spielt mit üppigem Ton, der die Grenze zur Süßlichkeit mitunter nicht nur streift (insbesondere bei Norbert Brainin). Die Charaktere des Werkes scheinen mir oft ausgezeichnet getroffen, wenngleich ein echtes Piano kaum erreicht wird – demzufolge bleiben einige „piano dolce“- und „pianissimo“-Vorschriften unberücksichtigt. Bezüglich Dynamik hat die Interpretation daher etwas Pauschales. Schade, dass im ersten Satz die Wiederholung nicht gespielt wurde. – Sehr zügig nehmen die Amadeus-Mannen das Adagio (5:36 gegenüber 6:16 bei Raphael und 6:23 bei den Leipzigern, das Alban-Berg-Quartett nimmt sich sogar 6:54). Der Höhepunkt in der dritten Variation wirkt da schon sehr rasch. – Hat man die unglaubliche Sehnsucht gehört, die Sandor Vegh aus dem Thema zauberte, weiß man, was hier fehlt. – Auch im „Un poco Allegretto“ liegt die schnellste Fassung dieses Vergleichs vor. – Im Finale passt die Tempowahl vielleicht am ehesten, im „animato“ ist es wirklich mitreißend!


    Eine widersprüchliche Aufnahme: Fast jede Stelle ist in einer anderen Aufnahme besser gelungen, als Ganzes mag ich sie aber gerne. Je öfter ich sie höre, desto mehr wird mir klar, dass die Interpretation des Amadeus-Quartetts ziemlich pauschal ist, und dass die flotten Tempi da helfen, den Mangel an Binnendifferenzierung zu überspielen. Trotzdem: Es ist eine musikantische Aufnahme, die Spaß macht, die einen „old fashioned“-Touch hat, den ich mag. Sie ist wie ein entfernter Verwandter, mit dem man zwar keine hochdifferenzierten Weltbetrachtungen vornimmt, der aber ein guter Freund ist, mit dem man gerne einen gemütlichen Abend verbringt.


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    Das Raphael Ensemble nimmt den ersten Satz durchaus zügig, die janusköpfige Tempovorschrift „Allegro non troppo, ma con brio“ schlüssig umsetzend. Die Walzercharaktere kommen sehr schön heraus. Die genutzte dynamische Bandbreite ist deutlich größer als beim Amadeus-Quartett, und das ist nicht alleine der Klangtechnik geschuldet. Auch werden die pianissimo-Abschnitte besser individuell ausgeleuchtet, das Pianissimo zu Beginn der Durchführung hat bei den Briten einen ganz anderen Klang als das Pianissimo im modulierenden Abschnitt der Durchführung. – Der Klangfarbenreichtum des Ensembles kommt insbesondere den beiden Mittelsätzen sehr zugute. Bezüglich Homogenität muss sich das Ensemble vor ausgezeichneten Streichquartetten gewiss nicht verstecken.


    Große Freude macht mir, dass sich nichts in den Vordergrund drängt, nichts aufgesetzt wirkt – die Musik klingt so selbstverständlich, als müsse es so sein. Im abschließenden Animato wird die Freude dann zur Begeisterung – eine tolle Aufnahme!



    Die Leipziger bringen wiederum die beste Klangtechnik mit und auch ein schlankeres, helleres Timbre als ihre Kollegen von der Insel. Die Musik klingt hier nicht ganz so entspannt wie beim Raphael Ensemble, hat mehr Zug nach vorne, wirkt aber im Kopfsatz nicht so flott heruntergespielt wie im Quintett F-Dur. Klangzauber ist weniger die Sache der Leipziger, ihnen ist an Erhellung der Strukturen und an der Linearität gelegen. Im Vergleich mit den Briten wirkt diese Einspielung noch nüchterner, dabei keineswegs kühl.


    Ob man das Raphael Ensemble oder das Leipziger Streichquartett bevorzugt, ist wohl reine Geschmackssache! Die Tempi und demzufolge auch die Spielzeiten liegen sehr dicht beieinander. Ich kann mit beiden Aufnahmen gut leben, bevorzuge jedoch leicht die britische Aufnahme wegen ihrer Gelassenheit. Auch ist diese momentan günstiger zu haben. Für die MDG-Aufnahme spricht die noch bessere, räumlichere Klangtechnik.


  • Seit über 15 Jahren besitze ich folgende Aufnahme der Quintette, mit der ich diese Werke kennengelernt habe. Sie ist inzwischen immerhin wieder als download erhältlich.



    Außerdem habe ich noch Hagen Q./Caussé, die ich irgendwann mal im Abverkauf mitgenommen habe. Sicher müsste ich die noch häufiger anhören, sei gefällt mir auch nicht schlecht. Allerdings sagt mir der Zugang der Boston Chamber Players mehr zu: orchestraler, romantischer, wärmer.
    Die Hagens sind sicher deutlicher in einigen Kontrasten, zB am ätherischen Beginn der Durchführung im Kopfsatz. Aber verglichen mit den Bostonern klingen sie etwa am Satzbeginn etwas dünn und insgesamt tendenziell "kälter" bzw. etwas reservierter (auch wenn Salzburg näher an Wien liegen mag als Boston).
    Das mag teilweise auch an der Aufnahmetechnik liegen. Der Beginn des Werks sei problematisch, da das Cello ohne brutal zu sägen, mit großem Ton durchkommen muss, man den Rest aber auch nicht zu sehr dämpfen darf. (Bekanntlich konnte Brahms ja nicht instrumentieren, anscheinend schon ab fünf Instrumenten überfordert...) Ich habe das noch nie live gehört, auf Konserve klingt es für mich gut und voll genug, nur eben vergleichsweise schlanker bei den Hagens. Bei den Bostonern mag das "larger than live" sein (obwohl Nonesuch nicht für aufnahmetechnische Gimmicks bekannt ist), es ist einfach ein Klangrausch. :jubel: Auch das Finale des 1. Quintetts hebt mit ganz anderer Wucht an als bei Hagen/Caussé.


    Zitat


    Der zweite Satz wird manchmal als Variationensatz bezeichnet, doch dies greift fast zu kurz. Wenn überhaupt, dann im Sinne von Charaktervariationen wie im Kopfsatz von Beethovens Klaviersonate As-Dur op. 26, nicht etwa im Sinne von Variationen wie im Kopfsatz von Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331. – Das Thema und die einzelnen Variationen haben verschiedene Längen, verschiedene harmonische Verläufe, verschiedene Phrasenlängen und Binnenstrukturen


    Eben.
    Daher befinden sich die genannten Variationen von Mozart und Beethoven gemeinsam auf einer, dieser Satz von Brahms auf der anderen Seite. Rein vom Hören hätte ich den auch nicht ohne weiteres als Var.-Satz eingeordnet...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes!


    Die Hagens sind sicher deutlicher in einigen Kontrasten, zB am ätherischen Beginn der Durchführung im Kopfsatz. Aber verglichen mit den Bostonern klingen sie etwa am Satzbeginn etwas dünn und insgesamt tendenziell "kälter" bzw. etwas reservierter (auch wenn Salzburg näher an Wien liegen mag als Boston).


    Die Hagens haben in jedem Fall einen "unromantischen" Ansatz. Sie verzichten auf den großen schwelgerischen Ton und geben sich mit der Freilegung der Strukturen zufrieden - wobei sie sogar an einigen Stellen einen tendenziellen dünnen, fast vibratofreien Ton nicht scheuen. Ich weiß nicht, in wie weit das Brahms-nahe ist. Auf mich wirkt dieser Ansatz erhellend, modern und gültig. (Na, das ist ja fast Regietheater ... :pfeif: ... ich würde zum Kennenlernen des Werkes eher die Version mit dem Raphael Ensemble empfehlen. Die Hagens sind eine tolle Zweiteinspielung!)


    Das mag teilweise auch an der Aufnahmetechnik liegen. Der Beginn des Werks sei problematisch, da das Cello ohne brutal zu sägen, mit großem Ton durchkommen muss, man den Rest aber auch nicht zu sehr dämpfen darf. (Bekanntlich konnte Brahms ja nicht instrumentieren, anscheinend schon ab fünf Instrumenten überfordert...)


    Schon Reinhold Hummer, der Cellist des uraufführenden Rosé-Quartetts, hat vor dieser Aufgabe fast kapituliert. In der Tat muss sich das Cello gegen die von vier Streichern aufgespannte G-Dur-Klangfläche durchsetzen. Diese ist im Forte notiert, d. h., wenn die oberen Streicher sich zugunsten des Cellisten zurückhalten, ist's auch falsch. - Auf Anraten von Joseph Joachim hat Brahms eine andere Version des Anfangs entworfen, aber bei Veröffentlichung doch wieder die ursprüngliche Fassung verwendet.


    Daher befinden sich die genannten Variationen von Mozart und Beethoven gemeinsam auf einer, dieser Satz von Brahms auf der anderen Seite. Rein vom Hören hätte ich den auch nicht ohne weiteres als Var.-Satz eingeordnet...


    Na ja, Beethoven steht in jedem Fall zwischen Mozart und Brahms in der Freiheit seiner Variationen bzgl. des Themas. Ob er nun so viel dichter bei Mozart als bei Brahms ist, weiß ich nicht ... Spannend wäre jetzt, nachzusehen, wie die Sache bei Schönberg weiterging, etwa in dessen op. 31.

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  • Inzwischen habe ich die Aufnahme mit dem Raphael-Ensemble erstanden, welche aus meiner Sicht geringfügig weich klingt -die Instrumente verschmelzen miteinander, was einen symphonischen Eindruck vermittelt.


    Durch einen Zufall entedeckte ich noch eine weitere Aufnahme, auf der das Streichquintett Nr 2 (in Koppelung mit dem Streichquartett Nr 1) enthalten ist: Das Belcea-Quartett mit Thomas Kakuska vom ABQ als Verstärkung spielt geringfügig konturierter - im Sinne von durchhörbarer - als die Raphaels, bei annähernd gleichen Spielzeiten - nicht nur des Werkes - sondern jeden einzelnen Satzes. Interessenten mögen so schnell wie möglich zugreifen, da die Nipper-Serie bereits im Auslaufen begriffen ist....



    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich besitze von op.111 zwar bloß die Amadeus-Qt.-Aufnahme mit Aronowitz. Aber ich hege für mich so meine Zweifel, ob die Brahmssche Kammermusik immer in die erste Reihe gehört. Auf längere Strecken klingt mir das zu zerquält und schon ganz nach der Krise, in die die spätromantische Musik unweigerlich geraten wird, wenn die komplexe Binnenstruktur den musikalischen Einfall zu überwuchern beginnt. Unfrohe Turbulenzen, trübsinniges Kreisen, ein forcierter Tanzkehraus, der mit Ungarn nur die erste Silbe gemein hat - für mich klingt das immer, wie wenn ein einfacher Sachverhalt zu kompliziert ausgedrückt wird.


    Ich habe als Maßstäbe da die träumerisch-fließende Expression Faurés und die rhythmische Prägnanz und Architektur des reifen Dvořák im Ohr und muß mich immer ein wenig bemühen, Brahms da gerecht zu werden. Es ist sehr deutlich, daß es ihm um die Strukturen und nicht um Atmosphäre, Duftigkeit oder Melodik geht. Wenn ich Walzer hören möchte, greife ich ganz bestimmt nicht zu diesem Quintett. "Melancholie des Unvermögens", das böse Nietzsche-Wort, hier hat es mitunter seine Berechtigung.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Farinelli.


    Schön, daß wir anderer Meinung sind, das belebt das Forum


    Zitat

    Aber ich hege für mich so meine Zweifel, ob die Brahmssche Kammermusik immer in die erste Reihe gehört.


    Auch wenn ich der Meinung bin, daß Brahmssche Kammermusik immer in die erste Reihe gehört kann ich es leider nicht begründen.
    Aber - müssen wir das wirklich ?
    Inwieweit erfüllt diese Musik ihren Zweck ?
    ich habe keine Probleme mit seiner Melodik, ich empfinde eine eigenarige Stimmung, die mit "Melancholie" nur schwer zu übersetzen ist. Zu Recht wurden Brahms`Kammermusikerke mit Herbststimmungen in Verbindung gebracht.
    In keiner Weise sind sie jedoch schoff oder sperrig.
    Persönlich aber ich hege für mich so meine Zweifel, ob die Brahmssche Kammermusik immer in die erste Reihe gehört. Gefällt mir seine Kammermusik sogar besser als seine Sinfonien - oder anders gesagt - ich hatte in meiner Jugend eher Zugang zu Brahms Kammermusik, als zu seinen doch recht kompakt orchestrierten Sinfonien.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Ich habe als Maßstäbe da die träumerisch-fließende Expression Faurés und die rhythmische Prägnanz und Architektur des reifen Dvořák im Ohr und muß mich immer ein wenig bemühen, Brahms da gerecht zu werden.


    Dvorak hat sehr viel Kammermusik geschrieben, aber nur die letzten beiden Quartette, das Klavierquintett und vielleicht noch das f-moll-Trio befinden sich in Brahms' Liga. Natürlich ist das fast immer erheblich einfacher und übersichtlicher als bei Brahms, dazu mit netten böhmischen Melodien und rhythmischer Verve.
    Fauré ist sicher auch ein großer Kammermusikkomponist (dagegen scheint mir, was ich an Orchesterstücken gehört habe, vernachlässigbar), der außerhalb Frankreichs wohl noch immer unterschätzt wird. Aber mir ist hier die Eleganz mitunter etwas zu leichtflüssig. Es ist jedenfalls eine ganz andere Welt als Brahms, bei dem sowohl das "erdige" als auch das widerborstige zum Stil gehört.


    Mir scheint Du nimmst hier subjektive Stimmungspräferenzen zum Anlass für eine Kritik, die auf diesem Fundament nicht so weit gehen kann, wie sie beansprucht.


    Zitat

    Es ist sehr deutlich, daß es ihm um die Strukturen und nicht um Atmosphäre, Duftigkeit oder Melodik geht. Wenn ich Walzer hören möchte, greife ich ganz bestimmt nicht zu diesem Quintett. "Melancholie des Unvermögens", das böse Nietzsche-Wort, hier hat es mitunter seine Berechtigung.


    Inwiefern denn Unvermögen? Melodische Einfälle? Ich habe diesen Vorwurf immer für absurd gehalten und m.E. sind beide Quintette ( mehr jedoch vielleicht noch das op.88 ) schlagende Gegenbeispiele. Ich glaube nicht, dass es in der Musik jemals nur "um Strukturen" geht.
    Nur ist sicher korrekt, dass Brahms ein Musiker war, der in mitunter zerstörerischer Selbstkritik nichts veröffentlichte, was ihm strukturell nicht ausreichend solide war. Hier hat ihm wohl kaum jemand Unvermögen vorgeworfen. Allerdings ist Brahms auch hier immer tendenziell zurückhaltend, selten so demonstrativ wie Beethoven (oder Bruckner). Motivische Verknüpfungen und kontrapunktische Verbindungen wirken eher im Hintergrund, anstatt demonstrativ herausgestellt zu werden.
    Dvorak scheint diese Skrupel nicht gehabt zu haben. Dessen Lernprozess ist sozusagen öffentlich, was dann zu einer Fülle von relativ vernachlässigenswerten, unfokussierten (nicht unbedingt sehr frühen) Frühwerken führt.


    Aber wiederum, gerade dieses Quintett ist, jedenfalls im Kopfsatz, eben ein Beispiel dafür, dass Atmosphäre nicht unwichtig ist. Der Klang des schon angesprochenenen Beginns war Brahms selbst angesichts der schwierigen Umsetzbarkeit anscheinend durchaus wichtig. Dass auch die Walzeranklänge der Seitenthemen (für mich ist da ein echter Ohrwurm dabei) nie ganz frei von Melancholie sind, ist eben ein Brahmsscher Charakterzug. In den frühen Sextetten oder in op.8 kann er sich noch ziemlich naiv dem romantischen, auch volkstümlichen Ton hingeben. Dass das später kaum mehr vorkommt, hat aber nichts mit Unvermögen zu tun. Es scheint, das wird jedenfalls von einigen Kommentatoren vertreten und es gibt auch deutliche Belegstellen, dass Brahms sozusagen an "musikhistorischer Melancholie", unter dem Fluch einer zu späten Geburt litt: Er sah sich verpflichtet, das Erbe von Schütz bis Schumann, besonders aber der Wiener Klassiker fortzuführen, ohne "naiv", "einfach" so komponieren zu können wie das zu Mozarts Zeiten noch ging (oder wie es der bewunderte Zeitgenosse Joh. Strauss tat).

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    (Bob Dylan)

  • Lieber Farinelli!


    Es kommt nicht von ungefähr, dass ausgerechnet das "Aimez-vous Brahms?" seinen literarischen Niederschlag fand.


    Aber ich hege für mich so meine Zweifel, ob die Brahmssche Kammermusik immer in die erste Reihe gehört. Auf längere Strecken klingt mir das zu zerquält und schon ganz nach der Krise, in die die spätromantische Musik unweigerlich geraten wird, wenn die komplexe Binnenstruktur den musikalischen Einfall zu überwuchern beginnt. Unfrohe Turbulenzen, trübsinniges Kreisen, ein forcierter Tanzkehraus, der mit Ungarn nur die erste Silbe gemein hat - für mich klingt das immer, wie wenn ein einfacher Sachverhalt zu kompliziert ausgedrückt wird.


    Bei "zerquält" und "komplexe Binnenstruktur, die den musikalischen Einfall überwuchert", denke ich eher an Reger oder gar Bach.


    Aber Reger ist ja nur ein Gleis, auf dem die Musik sich weiterentwickelte, und sicher kein Hauptgleis. In Mahler, Schönberg (in seinen früheren Phasen) und Richard Strauss finden wir andere Wege, die nicht unbedingt eine "globale" Krise andeuten - wohl kam jeder der Genannten in seine eigene Krise, auch bezüglich der Tonalität, und jeder fand seinen eigenen Weg hindurch. Die Krisen waren vielleicht eher individuell - in ihren zeitlichen Verläufen, in ihren Intensitäten und in ihren Lösungen.


    muß mich immer ein wenig bemühen, Brahms da gerecht zu werden. Es ist sehr deutlich, daß es ihm um die Strukturen und nicht um Atmosphäre, Duftigkeit oder Melodik geht. Wenn ich Walzer hören möchte, greife ich ganz bestimmt nicht zu diesem Quintett. "Melancholie des Unvermögens", das böse Nietzsche-Wort, hier hat es mitunter seine Berechtigung.


    Nun, wenn ich Walzer hören möchte, greife ich auch nicht zu Brahms - oder jedenfalls nicht zu op. 111, schon eher zu op. 39. Brahms wollte ja wohl auch keinen Wiener Walzer für Streichquintett komponieren. Aber wie er den Walzer im G-Dur-Quintett künstlerisch sublimiert, hat für mich etwas Berührendes.


    Die Vorwürfe gegen Brahms haben ihn ja ab seinem Bekanntwerden begleitet. Ganz prominent Hugo Wolf: "Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden. Ganz wie der liebe Gott versteht auch Herr Brahms sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen." Oder: "„In einem einzigen Beckenschlag aus einem Lisztschen Werk drückt sich mehr Geist und Empfindung aus als in allen brahmsschen Symphonien.“


    Dass die Kunst von Brahms ein gutes Stück weit darin liegt, aus nichts etwas zu machen - oder sagen wir: aus fast nichts -, hat Wolf schon richtig gesagt, auch wenn mit anderer Absicht.


    Und dennoch: Wenn man nachweisen wolle, dass das "Nichts" oder "fast Nichts" stark übertrieben sei - dann wäre doch ein Werk wie op. 111 dafür ein trefflicher Zeuge?

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  • Es grenzt beinah an Wichtigtuerei, wenn ich hier unter so prominenten Fachleuten etwas hinzuposte, zumal ich - das ist aber fast schon wieder symptomatisch - in puncto Brahmsscher Kammermuik keine einzige Taschenpartitur besitze.


    Ich habe jahrelang fast ausschließlich Brahms gehört und besitze fast alles im Plattenschrank, seit eine gute Freundin, selbst Cellospielerin, mir einmal das H-Dur-Trio vorspielte. Ich mochte z.B. auch die Lieder (und bin bis heute von ihrer hohen Qualität überzeugt), oder die späten Klavierstücke, die Intermezzi usw. Ich war süchtig nach dieser melancholisch-herbstlichen Qualität, von der Alfred spricht. Aber irgendwann hatte ich mich daran leid gehört, diese ewig dem Liebesharm und der Jugend hinterhergeweinten Tränen, dieser Stormton, auch diese klanglichen Dickichte und dieser, um pardon, schusterfleckhafte Stil, wo das melodische Thema plötzlich abbricht und rhythmisch unergiebige, akademisch modulierende Passagen gedroschen werden und ich immer nach der Uhr sehe, wann denn, bitte schön, weiter musiziert würde. Ich habe gestern abend beide Quintette angehört (vielleicht liegt es an der Aufnahme, meine Stimmung war sehr gelassen). Es gibt da so viel Austauschbares, daß man weder weiß, welcher Satz, noch gar, welches der Quintette es eigentlich ist. Und dieser zerquälte zerfahrene Ausdruck, der einfach nicht strömt, immer wieder unterbrochen wird, ins Stocken gerät.


    Dieses nicht in Fluß Kommen erinnert mich an einen Erzählstil, der immer wieder von neuem ansetzt und sich in viel zu schwierigen Formulierungen verheddert. Die Symphonien zeigen da schon ein anderes Bild, sie profitieren von einer gemeißelten Klarheit (vielleicht mal vom Kopfsatz der Ersten abgesehen). Das Violinkonzert findet auch nicht meine ungeteilte Freude; ein gebrochener D-Dur-Dreiklang ist mir als Thema zu wenig (ein unscheinbarer, aber gewaltiger Unterschied zum Kopfsatz der Zweiten), und der langsame Satz zerfasert sehr schnell nach Einsatz des Solisten. - Ich will hier niemanden ärgern, sage das aber bewußt provokant in die Richtung der Lehrmeinung, daß das Bruchsche Konzert so überaus minderwertig sei, während es m.E. von einem bewunderungswürdigen Formgeist so knapp wie möglich gehalten wird, dabei große melodische und musikalische Schönheit entfaltet, während die brahmssche Großform mit ihren sinfonischen Ambitionen ein wenig langatmig gerät und trotz "zündender" Slawonik im Finale, trotz der expressiven "Gesangsszene" im Zentrum des Adagios mit ihrem chromatischen Höhenflug immer auch ein wenig durchhören läßt, wie hier auf Länge gearbeitet wird (die ironischen Selbstüberbietungen der sequenziert einander ins Wort fallenden Kadenzformeln im Finale z.B.)


    Um dem schönen Adagio des Violinkonzert nicht zu großes Unrecht anzutun - es hat den Charakter einer Reflexion, die die Welt des bukolischen Gesangsthemas sprengt; in der Reprise dann ergeben sich, typisch für Brahms´ Idyllik, sich auflichtende Erwartungspannungen auf etwas, das zuletzt ungesagt bleibt (wie auch Sinf. III, 2). Daß Brahms sich einer vordergründig faßlichen Melodik vielfach verweigert, hat gewiß mit einer großen Zurückhaltung und Dezenz zu tun - das Allegretto der III. wirkt da beinah befremdlich. - Im Adagio des Violinkonzert herrscht die Reduktion zur sanglichen Geste vor, in die sich der Solist am Ende schwelgerisch einspinnt, als könne man ewig auf einer Schwelle verharren und sie eben dadurch überschreiten. - Die Momenthaftigkeit des aufleuchtend Melodischen bei Brahms scheint mir ein Element zu sein, dessen sich auch Richrd Strauss bedienen wird.


    Das alles o.t. mir von der Seele geschwatzt. Ich gelobe, mich den Quintetten unter den hier empfohlenen Einspielungen näher zu widmen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das 2. Streichquintett befriedigt auch mich, wenngleich es für mich zum stärkeren Brahms gehört, nicht in seiner Gänze, aber ein „Nicht-In-Den-Fluss-Kommen“ sowie einen „gequälten, zerfahrenen Ausdruck“ kann ich hier nicht empfinden, ganz im Gegenteil. Ich empfinde die Musik als sehr klar, kraftvoll und reibungslos. Aber das gilt nach meinem Empfinden für den gesamten Brahms; wenngleich er wohl viel zauderte und korrigierte, so klingt das, was er dann veröffentlichen ließ, eher sicher und kompakt.


    Der erste Satz des G-Dur-Quintetts ist wirklich starke Musik. Dieser Satz gehört für mich zum Besten, was Brahms geschrieben hat. Er ist reich an Einfällen, und zwar hinsichtlich Melodien, rhythmischen Verschiebungen, Veränderungsdynamik, ach, was soll ich sagen: es passiert so viel und ruht dennoch so sehr in sich. Ich finde die Stimmung, so das Resultat all dessen, gelöst, heiter und … irgendwie einfach nett.


    Der schwerere zweite Satz führt die Stimmung des Vorgängers gut fort. Trotz des Stimmungswechsels fügt er sich nahtlos an; ich finde die ruhige Melodieführung als sehr angenehm und natürlich. Auch dort empfinde ich Momente von Schönheit und Kraft, was sich weiterhin im dritten Satz fortsetzt.


    Diesen Satz erlebe ich im Stimmungsverlauf jedoch trotz starker Ansprache etwas ins Leichte gehend, ohne die Grenze zum Dahinplätschern erreicht oder gar überschritten zu haben. Was mir gut an den beiden ruhigeren Sätzen gefällt ist, dass sie immer wieder an den Eröffnungssatz erinnern und seine Grundstimmung fortführen.


    Dies gilt zweifellos von seinem inneren Wesen her auch für den letzten Satz, den ich jedoch leider nicht gerne höre. Er macht mich, wie so mancher Schlusssatz (sogar beim Klarinettenquintett von Brahms und beim Streichquartett op. 127 von Beethoven, um nur starke Werke zu nennen), unruhig und zappelig, da er nach meinem Empfinden hektisch nach vorne strömt und für mein Ohr unangenehme beißende Akkordklänge hervorbringt. Ehrlich gesagt lasse ich den letzten Satz meist weg.


    Das soll die Freude an den ersten drei Sätzen jedoch nicht schmälern. Meine erste Einspielung und eine meiner ersten CDs überhaupt ist die des Berliner Philharmonischen Oktetts von 1970, die ich bis heute gerne und häufig höre. Das Coverbild war damals jedoch ein anderes. Wie auch das Schwesternwerk op. 88 empfinde ich das Quintett so, wie es fast in jedem Musikführer zu recht skizziert wird: als frühlingshaft. Ich höre es im Sommer auch gerne im Auto und singe vergnügt und laut mit, ohne die Ernsthaftigkeit und Tiefe zu verkennen.



    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Aufnahmen (II)


    Die Einspielung mit dem Hagen-Quartett und Gérard Caussé an der 2. Bratsche stimmt bezüglich Spieldauern Satz für Satz stets bis auf wenige Sekunden mit der Aufnahme des Raphael Ensembles überein. Die größte Abweichung ist beim Adagio gegeben, für das sich die Hagens 21 Sekunden länger Zeit nehmen. – Die Hagens spielen hier durchaus mit süffigerem Klang als im Quintett F-Dur op. 88, was der volleren Setzweise der Partitur entspricht. Den Walzercharakteren im ersten Satz fehlt mir das letzte Quäntchen Charme, dafür haben die leisen Abschnitte viel Wärme. – Faszinierend fahl klingen die choralartigen Stellen in der zweiten Variation des langsamen Satzes, diesen fast gambenartigen Klang kenne ich nur von den Hagens. – Beeindruckend finde ich die häufige Zurückhaltung, das leichte Nachgeben im Tempo, den nach innen gekehrten Klang. Die Musik wirkt auf mich bei den leisen Stellen in dieser Interpretation manchmal wie ein Selbstgespräch des Ensembles, bei dem ich mir geradezu als Voyeur privatester Gedanken vorkomme. – Das finale „Animato“ hat nicht ganz den Überschwang wie bei den anderen, doch dies wirkt angesichts der insgesamt zurückhaltenden Lesart des Hagen-Quartetts absolut stimmig.


    Insgesamt kann diese Aufnahme neben denen des Raphael Ensembles und des Leipziger Streichquartettes bestens bestehen! Ich möchte auf keine der drei verzichten. Die Aufnahme des Hagens-Quartetts ist eine tolle Zweiteinspielung.


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    Das Alban-Berg-Quartett und der Bratschist Hariolf Schlichtig haben sich im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses live aufnehmen lassen. Klanglich stehen sie ungefähr in der Mitte zwischen der (herrlichen!) Opulenz des Raphael Ensembles und der introvertierten Zurückhaltung des Hagen-Quartetts, wobei der tendenziell süßliche Ton des Primarius Günter Pichler in Kauf zu nehmen ist. – Der Ansatz zur Klangbalance lässt sich ganz gut als „Tutti mit Soloeinlagen“ beschreiben: Der Gesamtklang ist homogen, durchaus chorisch-orchestral, doch wo ein Instrument etwas Hervorhebenswertes zu sagen hat, tritt es auch tatsächlich (minimal) deutlicher als in den anderen Einspielungen hervor, was den Ablauf für den Hörer auflockert und Transparenz schafft. Die Walzercharaktere sind ausgezeichnet gespielt – die Alban-Bergs sind halt Wiener. – Die gelegentlichen Verbreiterungen des Tempos finde ich sehr organisch integriert und dem aktiven Nachvollzug des Werkes dienlich. Der modulierende Abschnitt nach dem ersten Höhepunkt der Durchführung des Kopfsatzes hat durch starkes Zurücknehmen des Tempos und Verzicht auf Vibrato etwas fahl-Gespenstisches in dieser Aufnahme. – Überschwänglich dann der Eintritt in die Reprise, wo sich Günter Pichler sogar ein kleines Portamento erlaubt – sehr schön! Ganz wunderbar ist die zarte Zurückhaltung des Ensembles im Abschnitt vor der Generalpause in der Coda., das ist großes Ensemblespiel.


    Im zweiten Satz sind die Wiener langsamer als die Vorgenannten (ca. eine halbe Minute). Ich finde auch das überzeugend, frage sogar, ob dies dem „Adagio“-Charakter nicht noch besser entspricht. – Das Finale hat in dieser Aufnahme etwas Verschattetes. Das Tempo ist leicht zurückhaltend, fast eine Minute langsamer als das Amadeus-Quartett und rund eine halbe Minute langsamer als die anderen („Vivace ma non troppo presto“). In den Moll-Abschnitte der Durchführung ist sogar ein leicht grimmiger Ton zu hören, die vorgeschriebenen Akzente werden scharfkantig genommen, erst mit der Reprise wird es wieder versöhnlicher. Im abschließenden Animato geht es richtig ab!


    Eine ganz wunderbare Aufnahme, die mit denen der Raphaels, Hagens und Leipziger mindestens in einer Liga spielt und viel hat, um sie eventuell sogar an die erste Stelle zu setzen.



    Das Melos-Quartett hat nach seiner Abkehr von der Deutschen Grammophon in den 1980er Jahren einige Aufnahmen bei harmonia mundi France gemacht, die zum Feinsten gehören, was dieses Ensemble hinterlassen hat. Ich nenne die Aufnahmen der späten Quartette Schuberts ebenso wie die Aufnahme des Streichquintetts von Bruckner – beide waren übrigens Remakes früherer Einspielungen des Ensembles. Diese CD mit Brahms‘ opp. 111 und 115 entstand im Jahre 1990, beim Streichquintett wirkt Gérard Caussé als 2. Bratschist mit.


    Mit viel Schwung geht’s los – fast zu viel Überschwang im Cello für meinen Geschmack, aber ok. Die ersten vollen Akkorde werden saftig ausgekostet. Viel Charme haben die Walzer-Abschnitte – hier rächt sich der vollmundige Beginn ein wenig, da man um der Einheit des Satzes willen den Ausdruck wohl nicht ganz so stark zurücknehmen wollte, wie es dieser Musik auch gut zu Gesicht gestanden hätte. – Noch breiter als das Alban-Berg-Quartett nehmen die Melos-Mannen das Adagio. Ich finde das überzeugend, die dritte Variation wirkt hier überhaupt nicht gehetzt, sehr angemessen! – Im dritten Satz ist mir die Darstellung zu direkt, das könnte etwas geheimnisvoller klingen, da fehlt mir das „als ob“. – Im Finale schießen die Stuttgarter schließlich den Vogel ab: 4:48 sind wohl Temporekord. Es wirkt auf mich nicht gehetzt, eher dramatisch und offensiv. – Spieltechnisch ist so gut wie nichts anzumerken, der Klang ist ausgewogen und homogen, die Klangtechnik gut.


    Saftiger Brahms wird hier präsentiert, das macht Spaß beim Hören! Mein Brahmsbild ist eher ein anderes, zurückhaltender, introvertierter, aber zum Kennen- und Liebenlernen des Werkes taugt diese günstige CD allemal und besticht durch herrlich musikantischen Schwung. An die Einspielungen des Raphael-Ensembles, des Hagen-Quartetts, des Alban-Berg-Quartetts reicht sie m. E. nicht ganz heran.



    Zu guter Letzt – sozusagen außer Konkurrenz - noch eine Einspielung durch ein Kammerorchester: die Camerata Academica des Mozarteums Salzburg unter Sandor Vegh. Leider ist die genaue Besetzungsstärke nicht angegeben. Dies ist sozusagen die Version für Kammermusikverächter. Meines Wissens ist sie von Brahms nicht autorisiert, bezieht ihre Legitimation aber hinreichend aus der klanglichen Opulenz des Werkes, das ja ohnehin quasi orchestrale Klangflächen einsetzt. Jedenfalls hat mich das Ergebnis sehr überzeugt, um das Fazit vorwegzunehmen.


    Erzmusikant Vegh lässt mit vollem Klang aufspielen. Satt, prall, lustvoll klingt es, dass es eine Wonne ist. Die Klangfläche der Violinen und Bratschen am Beginn des Kopfsatzes lässt er nur an der Unterkante von „Forte“ spielen, so dass die Celli freie Bahn für ihr wahrlich sinfonisches erstes Thema haben, aber sobald die Violinen motivisch etwas zu sagen haben, geht auch dort die Post ab. Herrlich getroffen sind auch die Walzercharaktere im ersten Satz. – Das eigentliche Wunder ereignet sich aber im zweiten Satz. Wie Vegh die zarte Melancholie des Themas spielen lässt, dabei immer nur im Bereich der Andeutung bleibt, nie prätentiös Innerstes nach außen kehrt, ist ungemein eindringlich. Er beherrscht die Kunst, die Musik wie hinter einem Schleier klingen zu lassen, als ob letzte Geheimnisse nicht vorlaut ausgeplaudert werden dürften.


    Nur im Finale hatte ich ganz kurz mal den Eindruck, dass die Kammerorchesterbesetzung zu dick sei für dieses Quintett, aber das ist marginal. Auch dieser Satz gelingt Vegh ausgezeichnet, am Ende mitreißend, aber nicht überdreht. Hier spielt ein ganz Großer beste Musik.



    Was bleibt? Zunächst mal dei Erkenntnis, dass keine wirklich schlechte Aufnahme dabei war. Das ist schon mal was!


    Das Raphael-Ensemble und das Alban-Berg-Quartett wären für mich erste Wahl, das Hagen-Quartett liefert mit seinem introvertierten Ansatz vielleicht die interessanteste Alternativ-Lesart. Allen Kammermusik-Verächtern sei dringend die Version für Streichorchester mit Sandor Vegh empfohlen. Derzeit am preisgünstigsten ist die Aufnahme mit dem Melos-Quartett.

  • Hallo,


    den ausgezeichneten Beiträgen von Wolfram (der leider ausgeschieden ist) habe ich nichts hinzuzufügen, außer dass ich eine Menge lernen konnte - ich habe keinen Eindruck von "spröde" usw., was für mich auch an den melodiösen Themen liegt - ich habe die Aufnahme mit "The Raphael Ensemble" - Klang sehr ausgewogen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler