Fehlurteile konservativer Musikkritiker

  • Die Geschichte der Musik kann man lesen als Geschichte ihrer Neuerungen und Veränderungen. Wer hat zum ersten Mal zur Einstimmigkeit eine zweite Stimme hinzufügt? Wer schreib die erste Oper? Wann kam der Basso continuo außer Gebrauch? Wo entstanden die ersten Streichquartette? Und so weiter, und so weiter.


    Alles verändert sich ständig. Wir verändern uns, indem wir älter werden, indem sich unser Äußeres ändert, in dem unsere Leistungsfähigkeit nachlässt, indem wir neue Interessen und Hobbies entdecken und andere ablegen.


    Auch unsere Mitmenschen ändern sich, unsere Lebensbedingungen, die Arbeitswelt, die Technik, mit der wir uns umgeben, das Klima und die Gesetze. Alles ist im Fluss. Ob es uns gefällt oder nicht, das ist so. Wir müssen lernen, mit den Veränderungen umzugehen und Schritt zu halten.


    Manche dieser Veränderungen sind vorhersehbar und so können wir uns auf sie einstellen und an sie gewöhnen. Andere Veränderungen kommen relativ überraschend und unerwartet, so dass sie uns unvorbereitet treffen. Wir werden ins kalte Wasser geworfen und müssen schwimmen, wenn wir nicht untergehen wollen.


    Veränderungen als solche machen keine Angst.


    Wir haben nur dann Angst vor Veränderungen, wenn wir denken, diese nicht bewältigen zu können, wenn wir uns schwach oder hilflos fühlen, uns also nicht zutrauen, mit dem Neuen und Unbekannten umgehen zu können. Schätzen wir unsere Fähigkeiten, mit neuen Situationen umzugehen, als gering ein oder überschätzen die tatsächlichen Gefahren, die auf uns zukommen könnten, dann haben wir Angst vor Veränderungen.


    Die Angst vor Veränderungen, die wir nicht bewältigen können, weil wir sie nicht verstehen, kann uns dazu bringen, unangemessen darauf zu reagieren. Die Geschichte der Musikrezeption ist voll davon.


    Hier möchte ich einladen, Beispiele zusammen zu tragen, in denen Menschen, denen neue Musik geboten wurde, offensichtlich damit überfordert waren, deren Größe zu erkennen und daher heftig und hilflos reagierten. Insbesondere wäre ich an Fehlurteilen konservativer Musikkritiker interessiert, und möchte gleich das erste voranstellen:

  • „Ich [...] gestehe frei, daß ich den letzten Arbeiten Beethovens nie habe Geschmack abgewinnen können. Ja, schon die viel bewunderte neunte Symphonie muß ich zu diesen rechnen [...], deren vierter Satz mir [...] monströs und geschmacklos und in seiner Auffassung der Schiller’schen Ode so trivial erscheint, daß ich immer noch nicht begreifen kann, wie ihn ein Genius wie der Beethoven’sche niederschreiben konnte. Ich finde darin einen neuen Beleg zu dem, was ich schon in Wien bemerkte, daß es Beethoven an ästhetischer Bildung und an Schönheitssinn fehle.“ (Louis Spohr)

  • Ich hoffe den Threadinhalt nicht absolut zerstören, wenn ich einige Gedanken von Wolfram in Frage stelle, bzw ihnen widerspreche, wobei ich nicht darauf bestehe "Recht zu haben" - ich möchte nur einige Aussagen von Wolfram relativieren, bzw zeigen, daß man gewisse Dinge auch anders sehen kann.


    Zitat

    Wir haben nur dann Angst vor Veränderungen, wenn wir denken, diese nicht bewältigen zu können,


    Ich sehe das völlig anders.
    Wir haben vorzugsweise dann Angst vor Veränderungen, wen sie für uns persönlich negative Auswirkungen haben, wenn Privilegien, die wir uns erkämpft haben in Frage gestellt werden, wenn wir für unsere vermeintlcihe oder reale Leistung weniger bekommen als bisher. Wir haben Angst, wenn man Menschengattungen, die wir bisher als minderwertig betrachtet haben, plötzlich als uns "ebenbürtig" eingestuft werden, kurz wenn unsere Vorrechte in Frage gestellt werden und wir um etwas kämpfen sollen, das uns unserer Meinujng nach längst gehört.



    Zitat

    Wir werden ins kalte Wasser geworfen und müssen schwimmen, wenn wir nicht untergehen wollen.


    Wer will das schon. Daher wird es immer wieder Betrebungen geben, Leute, die uns ins Kalte Wasser werfen (wollen) "kaltzustellen" Das kann von subtilen Maßnahmen, die den Einfluß dieser Leute minimieren - bis hin zur angestrebten Liquidierung dieser Gruppe reichen...
    Die katholische Kirche beispielsweise hat Leute, die solche Bedrohungen darstellten beispielsweise auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Erst als sie diese Praktiken aufgab hat sie an Einfluß verloren.



    Zitat

    Die Angst vor Veränderungen, die wir nicht bewältigen können, weil wir sie nicht verstehen, kann uns dazu bringen, unangemessen darauf zu reagieren. Die Geschichte der Musikrezeption ist voll davon.


    Hier bin ich fast geneigt zuzustimmen - aber es geht tiefer:
    Es wird immer wieder Veränderungen geben, die die Vernichtung gewisser Gesellschaften zur Folge haben werden. Kein Wunder wenn die darauf entsprechend reagieren. Das angestrebte Ergebnis ist stets die völlige Zerstörung des Gegners.


    In der Naturwissenschaft ist die Auflehnung gegen den Fortschritt fatal - sie ist niemals zuz gewinnen, anders ist das in der Gesellschaftsordnung oder in der Kunst. Hier gibt es keinem "Fortschritt" nur verschiedene Strömungen


    Schauen wir uns das "Fehlurteil" von Spohr an
    Es ist gar keines. Er gesteht der 9. Sinfonie Beethovens zu, daß sie allgemein bewundert wird - er selbst könne ihr aber - wie den letzten Arbeiten Beethovens überhaupt - keinen Geschmack abgewinnen.
    Eine sehr subjektive Aussage, wobei der Autor einräumt, daß er sich dieser Tatsache wohl bewusst ist.


    ER isteht mit dieser Aussage sicher nicht alleine da, Beethovens Neunte wurde oft kritisiert.
    Pech für Spohr, daß er nur wenig hinterlassen hat, das seinen Nachruhm fördert, Beethoben aber heute beinahe göttergleiche Verehrung zuteil wird....


    Dennoch - ein hochinteressanter Thread an dem ich mich - auch im Sinne des Threadstartes - gerne beteiligen werde...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat Wir haben nur dann Angst vor Veränderungen, wenn wir denken, diese nicht bewältigen zu können,



    Ich sehe das völlig anders.
    Wir haben vorzugsweise dann Angst vor Veränderungen, wen sie für uns persönlich negative Auswirkungen haben, wenn Privilegien, die wir uns erkämpft haben in Frage gestellt werden, wenn wir für unsere vermeintlcihe oder reale Leistung weniger bekommen als bisher. Wir haben Angst, wenn man Menschengattungen, die wir bisher als minderwertig betrachtet haben, plötzlich als uns "ebenbürtig" eingestuft werden, kurz wenn unsere Vorrechte in Frage gestellt werden und wir um etwas kämpfen sollen, das uns unserer Meinujng nach längst gehört.


    Hallo,
    wenn Alfred so zitieren würde, dass man erkennt, wen er zitiert und man nicht meinen müsste, er zitiert sich selbst, würde ich mich in meiner Antwort leichter tun.
    Also: Der 1. Satz stammt von Wolfram und dem widerspricht Alfred. Warum eigentlich? Was sieht Alfred völlig anders? Alfreds Einwände sind m. E. nur Erläuterungen dessen, was pauschal und verallgemeinert Wolfram sagt. Alle Beispiele von Alfred sind Situationen, in denen wir Angst haben, sie nicht bewältigen zu können

    Schauen wir uns das "Fehlurteil" von Spohr an
    Es ist gar keines. Er gesteht der 9. Sinfonie Beethovens zu, daß sie allgemein bewundert wird - er selbst könne ihr aber - wie den letzten Arbeiten Beethovens überhaupt - keinen Geschmack abgewinnen.
    Eine sehr subjektive Aussage, wobei der Autor einräumt, daß er sich dieser Tatsache wohl bewusst ist.


    Die subjektive Aussage des in der Sache kompetenten Spohr ist natürlich kein Fehlurteil, denn objektiv hat er sich ja nicht ausgelassen. Jeder Mensch, auch Herr Spohr, kann einen eigenen Geschmack haben, der von dem "allgemein üblichen Gescmack" sehr entfernt sein kann. Aber:
    Von einem "Herrn" Spohr kann erwartet werden, dass er zuerst versucht objektiv zu urteilen und dann seine eigene, für Andere völlig unverbindliche Meinung zu äußern, so abstrus sie auch sein möge, weswegen sein Urteil eben doch wieder ein Fehlurteil ist.


    Und genau das wird von einem ernst zu nehmenden heutigen Musikkritiker auch erwartet, zu Recht. Ob sich da Spreu vom Weizen trennt?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Vielleicht wird die Diskussion einfacher, wenn man sich darauf einigt, dass als ein Fehlurteil dasjenige angesehen wird, wo positive Publikumsrezeption und Kritikermeinung extrem auseinanderklaffen. Objektive Gründe mögen sicherlich beschaffbar sein. Aber über Hanslicks Meinung zu Tschaikowskys Violinkonzert ist die Rezeptionsgeschichte nun mal hinweggefegt. Auch Anton Rubinstein, es geht wiederum um Tschaikowsky, musste erkennen, dass das b-moll Konzert so unspielbar nicht war.


    Und wenn sich Spohr noch kritisch zu Beethovens 9ter äußert, so müssen wir, um ihn zu verstehen, nur ins 20. Jh schauen. Wie war das denn mit der Uraufführung von Strawinsky's "Sacre"?


    Interessant wäre es, die Validität der Einschätzungen von Joachim Kaiser zu erleben. Der äußert sich ja betulich-altväterlich in einem eigenen Musikblog auf youtube. Zu spannenden Themen wie etwa dem, warum Dr. Fu der größte Dirigent aller Zeiten gewesen sei.


    Interessant ebenfalls der Versuch, einen Kritiker in seinen Meinungen zu profiilieren und mit eigenen Meinungen abzugleichen. Im Bereich Literatur denke ich da an MRR. Es ist bei ihm immer deutlich, aus welcher Perspektive von Literatur heraus er urteilt. Seine Urteile waren in diesem Sinne stets verlässlich. Mit der praktischen Konsequenz, dass ein Verriss von ihm durchaus eine Lektüreempfehlung sein konnte. Ich kenne das aus der Kölner Presse: ein Verriss des sehr betulich schreibend Gerd Bauer -er schreibt nicht mehr viel- ist im Bereich Oper eine ähnliche Empfehlung, hinzugehen, wie Kunstausstellungsverrisse von Amelie Haase.


    Auch hier bei Tamino gibt es genügend profilierte Persönlichkeiten -instinktiv greife ich den guten teleton heraus- deren Postings Orinetierung sind.


    Will heißen: objektivieren kann ich eigentlich nix. Aber ich kann mich in Beziheung zum Kritiker setzen. Was bedingt, dass ich mich mit dem Kritiker auseinandersetze. Erst dadurch gewinnt Kritik/Rezension ihren Wert.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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  • Wir haben Angst, wenn man Menschengattungen, die wir bisher als minderwertig betrachtet haben, plötzlich als uns "ebenbürtig" eingestuft werden,


    Lieber Alfred,


    ich bin erschrocken - wen meinst Du mit "wir" in Deinem Posting?


    Und was meinst Du mit "Menschengattung"? "Homo" ist bereits der Name der Gattung der Menschen. Von der Systematik her gesehen gibt es innerhalb dieser Gattung die Arten homo erectus, homo habilis, homo heidelbergensis, homo neanderthalensis, homo sapiens usw.

  • Zitat


    (von Thomas Pape)
    Und wenn sich Spohr noch kritisch zu Beethovens 9ter äußert, so müssen wir, um ihn zu verstehen, nur ins 20. Jh schauen. Wie war das denn mit der Uraufführung von Strawinsky's "Sacre"?


    Ich würde das "Urteil" des Uraufführungspublikums nicht als "Fehlurteil" einstufen - sondern als Ausdruck einer anderen Auffassung der Welt. Strawinkski brach hier einige Tabus - und wurde vom zeitgenössischen Publikum dafür abgestraft.
    Spätere Zeiten und andere Gesellschaftsstrukturen haben verschiedenes anders gesehen. Wir müssen uns - so unangenehm dies auch sein mag - mit dem Gedanken vertraut machen, daß all das was wir als "ewige Werte" betrachten lediglich Ausdruck einer gewissen Zeit sind - und von den nächsten Generationen neu bewertet werden.


    Einer der grössten Musikkritiker seiner Zeit, der allmächtige Eduard Hanslick wird heutzutage gern als "Meister des Fehlurteils" bezeichnet. Das trifft aber die Sache nicht ganz, die Urteile waren von einem erzkonservativen Weltbild geprägt, das heute allenfalls noch um verborgenen auf ein Comeback wartet.


    Gerne komme ich noch auch Joachim Kaiser zurück.
    Kaiser war in den sechziger und siebziger Jahren - und auch danach keineswegs "betulich" sondern vorsichtig ausgedrückt einfach der "Papst" in Sachen Klavierkritik. Man lese sein Buch "Große Pianisten in unserer Zeit" (Piper) und hier insbesondere das Vorwort von 1996.


    Zitat

    (Joachim Kaiser, Vorwort der Auflage von 1996)


    Doch meine Leidenschaft, jungen Pianisten auf die Finger zu sehen,Interpreten zu wägen und zu vergleichen, das Klavier für den Mittelpunkt der Welt, oder zumindestens der Musikwelt zu halten, ist nicht mehr so feurig, monoman und ausschliesslich wie früher....


    Er weiß also selber, daß er nicht mehr "zeitgemäß" urteilt - und hat sein Buch in die Hände von Klaus Bennert gelegt, der die damls letzten Entwicklungen beurteilt hat.


    Ich wehre mich, Herrn Kaiser als Kritiker abzuwerten, oder als konservativ abzustempeln. Wir müssen seine Leistungen unbedingt auf dem Gipfelpunkt seiner Zeit sehen, etwas, das wir ja auch Sängern und Pianisten zugestehen.....


    Damit ich aber zu diesem Thread auch etwas Sinnvolles - ich meine hier im Sinne des Threaderstellers - beitrage, bringe ich gerne das Urteil von Strawinski über Vivaldi ins Spiel, der da sinngemäß meinte, Vivaldi habe im Grunde nur ein Konzert geschrtieben - das aber vierhundert mal....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    um das Urteil von Strawinski über Vivaldi richtig einsortieren zu können, müsste ich den ganzen Text seiner Aussage kennen; etwas Sinngemäßes hilft mir da nicht weiter.


    Kann das "Urteil eines Uraufführungspublikums" ein Wertmesser sein? Es mag ja Experten geben, die nach einmaligem Anhören ein Werk in allen Feinheiten sofort erfassen - ich (und der "Durchschnittshörer"?) kann das nicht, ich brauche dafür ein mindestens nochmaliges Hören. Aber, das wurde schon oftmals gepostet: Wenn das Werk (meinen) den Hörgewohnheiten so zuwider ist, dass (ich) man gar keinen emotionalen Zugang habe/hat, wird der Versuch einer rationalen Verarbeitung schwierig.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die Geschichte der Musik kann man lesen als Geschichte ihrer Neuerungen und Veränderungen. Wer hat zum ersten Mal zur Einstimmigkeit eine zweite Stimme hinzufügt? Wer schreib die erste Oper? Wann kam der Basso continuo außer Gebrauch? Wo entstanden die ersten Streichquartette? Und so weiter, und so weiter.


    Ich glaube, so hat man einmal versucht, das zu schreiben, und dementsprechend viel zurechtgebogen, vereinfacht ...
    Perotin als Komponist seiner Werke ist ja eine sehr fragwürdige Konstruktion, man wollte aber ein Genie haben, einen großen Namen für's Musikgeschichtsbuch. Freilich, die Erfindung der zweiten Stimme hat Leonin auf dem Konto - was man wohl auch nicht ganz ernst nehmen sollte ...


    "Die erste Oper" ... Peri ... kennt kaum jemand. Die ersten Streichquartette - in Italien (Scarlatti), wenn sie denn als "Streichquartette" gelten, sonst vielleicht Mannheim. Die erste Zwölftontechnik: Golyscheff (mein Lieblingsbeispiel).


    Aber wenn man mal von der Suche nach den ersten abgeht, ist Musikgeschichte natürlich eine Geschichte der Veränderungen. Und bei Neuheiten die besondere Qualität in der Masse zu erkennen, ist so schwierig, dass ich es eher peinlich anmaßend finde, über historische "Fehlurteile" zu lachen (tut hier vielleicht eh niemand).


    Dass der Komponist Spohr ein "konservativer Musikkritiker" gewesen sein soll, kommt mir irgendwie verkehrt vor. Vielleicht kann man diese Abneigung mit der Abneigung Haydns gegenüber Sammartini vergleichen, den er geringschätzte, obwohl er von diesem hochmodernen Komponisten entwicklungsgeschichtlich eigentlich viel übernommen hatte (wenn auch nicht direkt sondern eher aus Mannheim). Dies also mein Vorschlag: Der "konservative" Musikkritiker Haydn erkennt nicht die hervorragende Stellung Sammartinis in der Frühklassik.
    :hello:

  • „Ich [...] gestehe frei, daß ich den letzten Arbeiten Beethovens nie habe Geschmack abgewinnen können. Ja, schon die viel bewunderte neunte Symphonie muß ich zu diesen rechnen [...], deren vierter Satz mir [...] monströs und geschmacklos und in seiner Auffassung der Schiller’schen Ode so trivial erscheint, daß ich immer noch nicht begreifen kann, wie ihn ein Genius wie der Beethoven’sche niederschreiben konnte. Ich finde darin einen neuen Beleg zu dem, was ich schon in Wien bemerkte, daß es Beethoven an ästhetischer Bildung und an Schönheitssinn fehle.“ (Louis Spohr)


    Geht mir auch so ähnlich.


    Und das trotz riesigem musikgeschichtlichen Abstand und einer eher "fortschrittsorientierten" Musikgeschichtsbetrachtung meinerseits.


    Aber wenn ich mir diesen Satz endlich einmal einigemale anhören werde, werde ich mich natürlich daran gewöhnen und dieses Problem wohl nicht mehr haben (was ich ja auch nicht habe, da ich dieses Werk fast nie höre).

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  • Zitat

    Thomas Pape: Vielleicht wird die Diskussion einfacher, wenn man sich darauf einigt, dass als ein Fehlurteil dasjenige angesehen wird, wo positive Publikumsrezeption und Kritikermeinung extrem auseinanderklaffen. Objektive Gründe mögen sicherlich beschaffbar sein. Aber über Hanslicks Meinung zu Tschaikowskys Violinkonzert ist die Rezeptionsgeschichte nun mal hinweggefegt. Auch Anton Rubinstein, es geht wiederum um Tschaikowsky, musste erkennen, dass das b-moll Konzert so unspielbar nicht war.


    M.E. ist nicht der Unterschied zwischen Publikums- und Kritikeransicht entscheidend, sondern der historische Faktor. Wir haben ja oft, wenn überhaupt aus der Vergangenheit nur Expertenurteile überliefert bzw. sind die ausführlicher und zuverlässiger erhalten als allgemeine Publikumsreaktionen. Natürlich muss man gegenüber dem Publikum mindestens genauso skeptisch sein wie gegenüber dem Experten. Und man sollte auch vorsichtig mit "Fehlurteil" sein. Im Prinzip (das heißt nicht, dass ich das de facto für wahrscheinlich hielte) sollte man offen dafür sein, die Revision eines angeblichen Fehlurteils wieder zu revidieren, d.h. in manchen Fällen z.B. Hanslick nachträglich recht zu geben. Es gibt ja außerdem auch den umgekehrten Fall, dass hochgelobte, populäre Werke und Komponisten wieder in den Hintergrund getreten sind oder sich Hoffnungen nicht erfüllten (vielleicht einige davon dann entsprechend Irrtümer progressiver Musikkritiker) usw.
    Überdies muss man gerade beim angeblichen "Konservatismus" bedenken, dass Brahms 1880 ja genauso zeitgenössische Musik war wie Bruckner oder Wagner. Hanslick plädierte ja nicht dafür, nur Mozart und Beethoven zu spielen. Insofern ist die Situation natürlich eine ganz andere gewesen als heute, wo "konservativer Geschmack" eher dadurch gekennzeichnet ist, die Musik der letzten 100 Jahre zu ignorieren oder abzulehnen, nicht Henze gegen Lachenmann oder so auszuspielen.


    In jedem Falle finde ich es oft blasiert und wenig erhellend, heute als Laie, der meist schlicht die gängige Meinung reproduziert, auf angebliche Fehlurteile von zeitgenössischen Experten herabzusehen. Hinterher ist man immer schlauer, das ist keine Kunst. So unverständlich uns manche zeitgenössischen Urteile scheinen mögen, wir sollten erstmal davon ausgehen, dass die Rezensenten keine Idioten waren, sondern fast immer mehr von Musik verstanden als der typische heutige Klassikhörer (schon gar nicht Spohr oder Hanslick).
    Gewiss ist manches in Polemik oder weitgehender Ratlosigkeit gegründet, aber viele der heute bizarr erscheinenden Urteile können durchaus aufschlußreiche Hinweise geben. Wir haben uns, gerade beim gängigen Repertoire, so an alles gewöhnt, sind oft beinahe abgestumpft. Wenn man dann liest, dass eben nicht nur die Eroica, sondern auch die zweite Sinfonie Beethovens oder gar die frühen Violinsonaten op.12 Befremden auslösten oder das Mozarts Musik mit der Dichtung Klopstocks verglichen wurde, dann bringt uns ein Nachspüren dieser Irritationen vielleicht einigen Elementen der Musik näher als die selbstverständliche Beweihräucherung.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • In jedem Falle finde ich es oft blasiert und wenig erhellend, heute als Laie, der meist schlicht die gängige Meinung reproduziert, auf angebliche Fehlurteile von zeitgenössischen Experten herabzusehen. Hinterher ist man immer schlauer, das ist keine Kunst. So unverständlich uns manche zeitgenössischen Urteile scheinen mögen, wir sollten erstmal davon ausgehen, dass die Rezensenten keine Idioten waren, sondern fast immer mehr von Musik verstanden als der typische heutige Klassikhörer (schon gar nicht Spohr oder Hanslick).


    Lieber Johannes,


    volle Zustimmung - und es war auch die eigentliche Absicht des Threads, dies herauszuarbeiten, insbes, Deinen zweiten Satz ab "So unverständlich ..."!


    Denn das sind ja Geschichten, die sich wiederholen und heute live miterlebt werden können.

  • Ich [...] gestehe frei, daß ich den letzten Arbeiten Beethovens nie habe Geschmack abgewinnen können. Ja, schon die viel bewunderte neunte Symphonie muß ich zu diesen rechnen [...], deren vierter Satz mir [...] monströs und geschmacklos und in seiner Auffassung der Schiller’schen Ode so trivial erscheint, daß ich immer noch nicht begreifen kann, wie ihn ein Genius wie der Beethoven’sche niederschreiben konnte. Ich finde darin einen neuen Beleg zu dem, was ich schon in Wien bemerkte, daß es Beethoven an ästhetischer Bildung und an Schönheitssinn fehle.“ (Louis Spohr)

    Ich muss gestehen, dass ich diese Einschätzung Spohrs teile, wobei ich abweichend von Spohr nur den vierten Satz meine. Der zweite Satz ist einer der überwältigendsten Sinfoniesätze für mich, die je geschrieben wurden. Also direkt von Fehlurteil würde ich da so nicht sprechen.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Im Jahre 1871 schrieb ein Rezensent zu Schuberts Streichquartett Nr. 15 G-Dur D887:


    Das Stück ist sehr lang und hat einzelne hervorragend schöne Stellen. Anspruch auf ein wirkliches Kunstwerk kann es aber nicht machen; es ist in seiner ganzen modulatorischen Anordnung wild, bunt, formlos und oft auch sehr arm an wirklich musikalischen Gedanken (an Melodien), statt dessen wird ein sehr verschwenderischer Gebrauch von äußerlich wirkenden Manieren, z. B. vor allem von dem sogenannten tremolo gemacht.

  • Zitat

    In jedem Falle finde ich es oft blasiert und wenig erhellend, heute als Laie, der meist schlicht die gängige Meinung reproduziert, auf angebliche Fehlurteile von zeitgenössischen Experten herabzusehen. Hinterher ist man immer schlauer, das ist keine Kunst. So unverständlich uns manche zeitgenössischen Urteile scheinen mögen, wir sollten erstmal davon ausgehen, dass die Rezensenten keine Idioten waren, sondern fast immer mehr von Musik verstanden als der typische heutige Klassikhörer


    Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen. Das was wir heute, seien wir nun Klassikhörer, Laien oder Fachleute, als gesicherte abschlioessende Erkenntnis betrachten (auch Urteile über 200 Jahre alte Werke etc..) ist auch nur eine Momentaufnahme. So wäre es beispielsweise denkabar, daß dereinst Mahle als "kitschig" oder als "Modeerscheinung" bezeichnet wird - wenn sich die geschmacklichen Vorlieben ändern (das gilt natürlich auch für andere Komponisten)


    Daher ist auch der Begriff Fehlurteil allenfalls umgangssprachlich zu akzeptieren - korrekterweise könnte man allenfalls von einer nicht eingetroffenen Prognose treffen - wobei selbst das noch offen ist....Sie könnte iin 100 Jahren - oder später - in der Tat eintreffen...


    Aber wir sollten - trotz dieser Einwände - den Thread so führen wie er vom Themenstarter gedacht war....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Im Jahre 1871 schrieb ein Rezensent zu Schuberts Streichquartett Nr. 15 G-Dur D887:


    Das Stück ist sehr lang und hat einzelne hervorragend schöne Stellen. Anspruch auf ein wirkliches Kunstwerk kann es aber nicht machen; es ist in seiner ganzen modulatorischen Anordnung wild, bunt, formlos und oft auch sehr arm an wirklich musikalischen Gedanken (an Melodien), statt dessen wird ein sehr verschwenderischer Gebrauch von äußerlich wirkenden Manieren, z. B. vor allem von dem sogenannten tremolo gemacht.


    Stimmt schon! ;) von der Bewertung abgesehen. Das Stück wurde 1851 posthum veröffentlicht und wohl erst ab den 1860ern langsam der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Ich weiß nicht, ob es noch im 19. Jhd. einigermaßene Verbreitung erlangte; es dürfte (ebenso wie das Quintett) vermutlich noch lange eher etwas für Insider gewesen sein. Im Gegensatz zur Großen C-Dur-Sinfonie (für die sich bekanntlich Schumann und Mendelssohn einsetzten, durchaus gegen Widerstände) finden sich ja auch kaum Nachwirkungen oder "Echos" dieser Werke bei den späteren Romantikern.
    (Ich hatte mal einen Konzertführer, in der Substanz vermutlich aus den 1950ern?, der ernsthaft vorschlägt, man solle doch Schuberts Klaviersonaten kürzen, um ihre schönen Stellen für den Konzertsaal zu retten.)

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    (Bob Dylan)

  • Zitat


    von Zweiterbaß


    um das Urteil von Strawinski über Vivaldi richtig einsortieren zu können, müsste ich den ganzen Text seiner Aussage kennen; etwas Sinngemäßes hilft mir da nicht weiter.


    Es ist weit mehr als "sinngemäß" - auch wenn ich das so genannt habe.


    Vermutlich aber wurde das Statement etliche mal hin und her - übersetzt, sodaß es etliche Versionen des Ausspruchs gibt. Mal handelt es sich um 400, dann wieder um 600 Konzerte, etc etc.


    Hier eine weitere Version :


    Zitat

    »Vivaldi wird sehr überschätzt, ein langweiliger Mensch, der ein und dasselbe Konzert sechshundertmal hintereinander komponieren konnte.«


    Bemerkenswert ist daran, daß diese Betrachtungsweise von vielen Musikfreunden übernommen wurde, und sie noch lange, bis ins ausklingende 20. Jahrhundert die Barockszene prägte....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen. Das was wir heute, seien wir nun Klassikhörer, Laien oder Fachleute, als gesicherte abschlioessende Erkenntnis betrachten (auch Urteile über 200 Jahre alte Werke etc..) ist auch nur eine Momentaufnahme. So wäre es beispielsweise denkabar, daß dereinst Mahle als "kitschig" oder als "Modeerscheinung" bezeichnet wird - wenn sich die geschmacklichen Vorlieben ändern (das gilt natürlich auch für andere Komponisten)

    Urteile lassen sich schlecht objektivieren, sie haben oft sehr viel mit Geschmack zu tun. Das trifft die Musik ebenso wie die Kunstgeschichte. Und in dem Maße, in dem Kritiker aus ihrer Zeit und ihrem Geschmack heraus über ein Werk urteilen, erlaube ich mir selbstverständlich auch, aus meiner Zeit heraus von einem Fehlurteil zu sprechen.


    Ich möchte allerdings nochmal darauf hinweisen, dass hier nicht von Geringschätzung die Rede sein kann, sondern Auseinadersetzung gefordert wird. Joachim Kaiser ist ein brillianter Autor, seine Kritiken kann ich allerdings erst dann einordnen, wenn ich einige davon kenne und daraus auf das Musikbild Kaisers schließen kann. Verhielte sich bei Hanslick ebenso. Womit sich die Frage nach der Objektivität von Kritik stellt, die meiner Meinung nach nicht vorhanden ist und auch nicht vorhanden sein kann. In einem Buch über zeitgenössische Pianisten (Erstauflage 1919) habe ich gelesen, dass der brilliante junge Backhaus wohl ein fabelhafter Interpret der neuen Musik (Debussy) sei, ansonsten sehr technisch, durch Virtuosität blendend und eigentlich nicht geeignet als Beethoven-Pianist. Das hingegen wurde vom selben Autor im selben Buch für die junge Elly Ney in Anspruch genommen.


    Das Interessante dabei ist, dass wir zu vielen der in dem Buch beschriebenen Pianisten Aufnahmen auf Schellack oder Welte-Mignon besitzen, wir sind also in der Lage, der Kritik zu folgen und daraus Rückschlüsse auf die Spielästhetik der Zeit zu ziehen. Der Wert der Kritik liegt nicht unbedingt darin, ob die Prognose eingetroffen ist, das Urteil Bestand hatte. Darüber mag man dann später gerne schmunzeln. Der Wert liegt in ihrer zeitbedingten Einschätzung von Werken. Wenn Alfred Kerr 1921 eine Aufführung von Büchners "Woyzeck" rezensiert verrät die Rezension vor allem viel über ihre Entstehungszeit (wird offenbar auch heute noch als Abiturprüfungsthema genommen wie ich hörte). Die eigentliche Aussage einer Kritik als Fehlurteil zu bezeichnen ist durchaus statthaft, der Wert einer Kritik liegt in der zeitbezogenen Aussage. Und die Einschätzung "Fehlurteil" hat auch was mit Zeitgebundenheit zu tun.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • In jedem Falle finde ich es oft blasiert und wenig erhellend, heute als Laie, der meist schlicht die gängige Meinung reproduziert, auf angebliche Fehlurteile von zeitgenössischen Experten herabzusehen. Hinterher ist man immer schlauer, das ist keine Kunst. So unverständlich uns manche zeitgenössischen Urteile scheinen mögen, wir sollten erstmal davon ausgehen, dass die Rezensenten keine Idioten waren, sondern fast immer mehr von Musik verstanden als der typische heutige Klassikhörer (schon gar nicht Spohr oder Hanslick).


    Nun, es geht ja nicht darum, auf die Urteile früherer Zeiten herabzusehen. Aber es kann ja einen Wert haben, zunächst mal wahrzunehmen, welche Bandbreite an künstlerischen Werturteilen in anderen Zeiten überhaupt vorlag. Dass eine "9. Beethoven" eben nicht vom ersten Moment als unvergängliches Meisterwerk angesehen wurde. - Dass wir heute anders bewerten als etwa diejenigen, die Meyerbeer hochhielten, ist ja klar. - Dass Laien meistens schlicht die gängige Meinung reproduzieren, kann ich zumindest im Tamino-Forum nicht bestätigen.


    Dennoch finde ich interessant, zu sehen, zu welchen Urteilen damalige Fachleute mit einem gewiss nicht kleinen Background gekommen sind! Insbesondere interessiert bei der Ablehnung von Neuerungen, wo diese herrührt: Am "Verstehen" des Werkes, das scheitert, weil die Neuerungen nicht ins gelernte Denkmuster passen? Oder an einer tiefer liegenden Aversion gegen Neuerungen?


    Gewiss ist manches in Polemik oder weitgehender Ratlosigkeit gegründet, aber viele der heute bizarr erscheinenden Urteile können durchaus aufschlußreiche Hinweise geben. Wir haben uns, gerade beim gängigen Repertoire, so an alles gewöhnt, sind oft beinahe abgestumpft. Wenn man dann liest, dass eben nicht nur die Eroica, sondern auch die zweite Sinfonie Beethovens oder gar die frühen Violinsonaten op.12 Befremden auslösten oder das Mozarts Musik mit der Dichtung Klopstocks verglichen wurde, dann bringt uns ein Nachspüren dieser Irritationen vielleicht einigen Elementen der Musik näher als die selbstverständliche Beweihräucherung.


    Das ist sehr richtig! Dennoch wollen viele Klassikhörer auch heute noch sogar "ihre" Eroica lieber kulinarisch genießen, anstatt ihre Ecken und Kanten vorgeführt zu bekommen. Das verstehe ich wiederum nicht.

  • Dennoch wollen viele Klassikhörer auch heute noch sogar "ihre" Eroica lieber kulinarisch genießen, anstatt ihre Ecken und Kanten vorgeführt zu bekommen. Das verstehe ich wiederum nicht.


    Das Geniessen der Ecken und Kanten ist doch auch eine Art Kulinarik, etwas schärfer gewürzt sozusagen.
    Die mit "ihren" Eroicas empfinden womöglich ein stärkeres Bedürfnis der Identifikation mit den Kunstwerken, weshalb Irritationen unerwünscht sind?
    :hello:

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  • bringe ich gerne das Urteil von Strawinski über Vivaldi ins Spiel, der da sinngemäß meinte, Vivaldi habe im Grunde nur ein Konzert geschrtieben - das aber vierhundert mal....


    Lieber Alfred,


    danke für Deine Stellungnahme. Mein Frage ist, ob Strawinski dieses Urteil im Rahmen einer mehr oder weniger längeren Stellungnahme/Auseinandersetzung zu/mit Vivaldis Werken machte - und dabei Gründe für sein Urteil abgab - oder ob es ein "Schuss aus der Hüfte" war? Wenn es eine emotionale, unbegründete Meinung war, frage ich mich, warum dieser soviel Bedeutung beigemessen wurde, selbst wenn sie von Strawinski stammt. Da wird für mich eine Expertenhörigkeit sichtbar, die ich???


    Eine Kritik über Kunst - nat. auch über Musik - ist für mich ein Anhaltspunkt zu prüfen ob ich mit meiner anderen Meinung u. U. völlig falsch liege; dann versuche ich zu prüfen, wie es zu der von meiner Meinung abweichenden Sicht kommt und ob es angebracht ist, meine Meinung zu ändern. Wenn diese Prfüung nicht möglich ist, weil "ein Hüftschuss", warum soll ich mich dann damit befassen?


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat


    „Aber den Sinn des fugirten Finale wagt Ref. nicht zu deuten: für ihn war es unverständlich, wie Chinesisch. Wenn die Instrumente in den Regionen des Süd- und Nordpols mit ungeheuern Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn jedes derselben anders fugirt und sie sich per transitum irregularem unter einer Unzahl von Dissonanzen durchkreuzen, wenn die Spieler, gegen sich selbst misstrauisch, wohl auch nicht ganz reifen greifen, freylich, dann ist die babylonische verwirrung fertig; dann giebt es ein Concert, woran sich allenfalls die Marokkaner ergötzen können, denen bey ihrer hiesigen Anwesenheit in der italienischen Oper nichts wohlgefiel, als das Accordiren der Instrumente in leeren Quinten, und das gemeinsame Präludiren aus allen Tonarten zugleich. Vielleicht wäre so manches nicht hingeschrieben worden, könnte der Meister seine eigenen Schöpfungen auch hören. Doch wollen wir damit nicht voreilig absprechen: vielleicht kommt noch die Zeit, wo das, was uns beym ersten Blicke trüb und verworren erschien, klar und in wohlgefälligen Formen erkannt wird.“


    – „Allgemeine musikalische Zeitung“, 28 [1826], Sp. 310f.; zitiert nach Konzertberichte, S. 559f.


    Zitat

    In diese Weite kracht dann die Große Fuge, das erratischste, abnutzungsresistenteste Stück der Quartettliteratur bis heute, komplex und chaotisch und exzessiv. Nicht nur dem Uraufführungskritiker kam sie 1826 so »chinesisch«, also unverständlich vor, dass Beethoven sie durch ein gefälligeres Finale ersetzte. Im Grunde versteht kein Mensch dieses Stück, aber fragt man einen Vulkan, was er uns mit seinem Ausbruch sagen will? Freilich ist dieser Ausbruch auch ein Extremfall kontrapunktischer Konzentration, aber das lässt die vier Musiker aus Berlin nicht in respektvoller Analyse erstarren. Sie ersparen sich und uns keinen der umherfliegenden Splitter und Glutfetzen.
    Sie begeben sich mit offenem Visier ins Katastrophengebiet und formen es zugleich. Man fühlt einen großen Bogen über die fünfzehn Minuten hinweg. Und man erlebt Szenen inmitten der durchknallenden Struktur. Hier eine seltsame kleine Rokoko-Idylle mit seidigem Fell, da ein karges Plateau, auf dem Achtelfiguren in gleichen Abständen detonieren, in allen vier Stimmen, als verbände sie ein Zündmechanismus.


    Für solche Plastizität brauchen Musiker überragende Technik, Selbstbewusstsein auch gegenüber dem Komponisten, vor allem aber eine szenische Sensibilität, die vielleicht das eigentlich Unverwechselbare dieses Ensembles ist. Bis in den einzelnen Ton: Da gibt es im ersten Satz von opus 130 dieses fast frierende Fis in einem Adagio-Einschub, mit der uns Beethoven und die erste Geigerin Natalia Prischepenko an den stockenden, trüben Beginn des Werkes erinnern.


    Werte Leser,


    ich habe hier mal zwei Kritiken gegenübergestellt. Die Erste dürfte eigentlich bekannt sein, die Zweite ist von "Zeit online" und über die Interpretation des Artemis Quartettes geschrieben.


    Es gibt sicher Zeitgenossen, die stimmen auch heute noch der Kritik von 1826 zu. Ich bin für die Zweite.


    Der Erfahrungshorizont über Musik hat sich erweitert. Ungewöhnliche Musik ist heute (Gott sei Dank!) nichts Neues mehr.
    Interpretationen von heute stellen alte Sichtweisen auf Werke in Frage. Kritiker von heute müssen dem Rechnung tragen.


    Viele Grüße Thomas

  • Zitat

    Wenn es eine emotionale, unbegründete Meinung war, frage ich mich, warum dieser soviel Bedeutung beigemessen wurde, selbst wenn sie von Strawinski stammt. Da wird für mich eine Expertenhörigkeit sichtbar, die ich???


    Dafür gibt es zumindest zwei Erklärungen


    1) Vivaldi galt (und gilt bei einigen noch heute) als Vielschreiber, als Komponist von "seichten Werken" die alle ein und dasselbe Strickmuster aufweisen. Wer dieser Meinung ist, der kann sich trefflich hinter Strawinskys Statement verschanzen....


    2) Die Vivaldi Anhänger und die Strawinsky -Gegner zitieren dieses Statement um Strawinsky "lächerlich" zu machen und sein mangelndes Urteilsvermögen zu entlarven...


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • 2. freut mich - sozusagen eine "Quelle der Freude für..."


    Herzliche Grüße "von Dürer"
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die Äußerung Strawinsky ist kein "Fehlurteil eines konservativen Musikkritikers", sondern ein Bonmot eines Komponisten über einen 200 Jahre älteren, von dessen Musik wahrscheinlich zum Zeitpunkt der Äußerung ein kleiner Teil gerade wieder Popularität zu gewinnen begann, nachdem sie vorher wohl nur wenigen Forschern bekannt gewesen war. Im thread gemeint waren aber doch wohl eher halbwegs zeitgenössische Urteile.


    Es wird wohl hauptsächlich zitiert, weil es halbwegs witzig und durchaus nachvollziehbar ist. Es ist aber trivial, dass eine Massenproduktion wie sie im 18. Jhd normal gewesen ist, schon im 19. kaum mehr akzeptiert wurde.
    Was immer Strawinsky damit bezweckt hat, sicher keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Vivaldi. Weiß jemand, von wann die Äußerung stammt? Ich glaube nicht, dass Strawinsky mehr als eine Handvoll Konzerte gehört oder gesehen hat, weil die meisten damals vermutlich noch gar nicht ediert worden waren. Selbst wenn hat er sich kaum ernsthaft damit befasst.


    Eine sicher ernsthaftere (und gemeinere) Bemerkung hat er übrigens zu Messiaens Turangalila gemacht: Um solch ein Werk zu schreiben, benötige man vor allem eine ausreichende Menge Tinte. Der junge Boulez nannte Turangalila "Bordellmusik" (später hat er aber jedenfalls anderes von Messiaen dirigiert).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Der junge Boulez nannte Turangalila "Bordellmusik" (später hat er aber jedenfalls anderes von Messiaen dirigiert).


    Vielleicht ein Übersetzungsfehler? "Bordel" bedeutet natürlich "Bordell", kann aber auch "Durcheinander" heißen: "Quel bordel!" - "Was für ein Chaos!". Dass dem damaligen Serialisten Boulez die Turangalila-Musik extrem ungeordnet vorkam, leuchtet mir sofort ein. "Musique de bordel" = "Bordellmusik", oder eben = "chaotische, ungeordnete Musik".

  • Was immer Strawinsky damit bezweckt hat, sicher keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Vivaldi. Weiß jemand, von wann die Äußerung stammt?


    Hallo,


    ich würde mich freuen (noch eine "Quelle..."), wenn auf JRs Frage "von irgendwo" eine Antwort käme.


    Am Rande: Mein "Strawinski" war eine Mischung aus dt. Strawinsky und frz. Stravinski - Au weia!
    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Muss man (ich) die "Bordellmusik" kennen? (Weitere scherzhafte Bemerkungen gehen im "schallenden Gelächter" unter! Heute komm' ich aus den "Freudenquellen" gar nicht mehr raus: Wer kennt noch den "leicht verfremdeten" Werbespruch, als "die Quelle" in den 60-igern die Waschmaschine auch für breite Bevölkerungskreise kaufbar machte: Der Waschtag wird zum Freudentag, ergänzt um, "das Waschhaus wird zum Freudenhaus und die Waschfrau wird zur ..." )

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Rezension aus der Allgemeinen Musikzeitung über die Uraufführung von Beethovens Sinfonie Nr 7 im Dezember 1813:


    Zitat

    "Daß Herr van Beethoven ein großes, ja ein gar außerordentliches Talent und Genie besitzt, ist nicht zu bezweifeln. Viele seiner früheren Arbeiten haben wir schon mit Bewunderung und Vergnügen gehört. Aber was ist aus dem guten Manne seit einiger Zeit geworden? Daß er in eine Art von Verrücktheit geraten ist, davon legt seine neueste Sinfonie beredtes Zeugnis ab. Das Ganze dauert wenigstens dreiviertel Stunde und ist ein wahres Quodlibet von tragischen, komischen, ernsten und trivialen Ideen, welche ohne Zusammenhang vom Hundertsten ins Tausendste springen, sich zu allem Überdruß noch mannigfach wiederholen und durch den unmäßigen Lärm das Trommelfell fast sprengen. Wie ist es möglich, an einer solchen Rhapsodie Gefallen zu finden? Zwar sagt man 'Die Kunst macht Fortschritte', aber muß man nach Anhörung dieser Sinfonie nicht glauben, daß diese Schritte krebsartig sind und uns in den Abgrund der Barbarei führen?"


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe das auf einer englischsprachigen Seite gefunden, da hieß es "bordello music". Ich denke schon, dass der sinnlich-schwülstige Charakter gemeint ist.
    Aber gewiss störten sich sowohl der alte Stravinsky wie der junge Boulez auch an dem ausufernden, überbordenden Charakter, der mangelnden Strenge und Konzentration.
    Ich habe nicht alles durchgesehen, aber es scheint, dass Boulez immerhin konsequenterweise dieses Stück nicht dirigiert hat, jedenfalls nicht eingespielt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Aus aktuellem Anlass könnte man vielleicht diesen Thread wiederbeleben.


    Hier ein Beispiel:


    Christian Gerber schreibt in seiner "Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen" im Jahr 1732 zu einer Aufführung der Matthäus-Passion:


    "Als in einer vornehmen Stadt diese Paßions-Music mit 12 Violinen, vielen Hautbois [Oboen], Fagots und anderen Instrumenten mehr, zum erstenmal gemacht ward, erstaunten viele Leute darüber und wußten nicht, was sie daraus machen sollten. Auf einer Adelichen Kirch-Stube [Empore] waren viele Hohe Ministri und Adeliche Damen beysammen, die das erste Passions-Lied aus ihren Büchern mit großer Devotion sungen: Als nun diese theatralische Music angieng, so geriethen alle diese Personen in die größte Verwunderung, sahen einander an und sagten: Was soll daraus werden? Eine alte Adeliche Wittwe sagte: 'Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera-Komödie wäre.' - Aber alle hatten ein Mißfallen daran und führten gerechte Klage darüber."


    Zur ersten Aufnahme der Matthäus-Passion durch Nikolaus Harnoncourt schreibt Georg Henkel:


    "Um auf das beschleunigte Tempo zurückzukommen: Die Einsicht, dass dem Eingangschor mit seinem Zwölfachtel-Takt ein tänzerischer Siciliano-Rhythmus zugrundeliegt, äußert sich bei Harnoncourt in einer beschwingteren, pulsierenden Darstellung, die das erhabene Trauerportal, das die romantische Tradition noch in ihm sah, in einen 'Hexentanz' verwandelte - so zumindest die empörten Kritiker. Doch gerade in der Synthese von bewegter Trauer (Tonart e-Moll, klagende Motivik) und Trost (bewegter Kontrakpunkt, Pastorale und Tanz im Vorauswissen um Erlösung und Auferstehung) offenbart sich Bachs vielschichtiges musikalisches Denken. Genau dieses spannungsvolle Zusammengehen auch widersprüchlicher Elemente wird in den meisten älteren Einspielungen unterschlagen. Mengelberg, Klemperer, Karajan und Richter sahen hier vor allem den beziehungslosen, sich selbst genügenden Traueraffekt. "


    Ich meine, Kritiker können sowohl ein Werk als auch eine Interpretation falsch beurteilen - gestern wie heute.


    :hello:

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