Warum betrieb bzw. betreibt der Mensch überhaupt Kunst(musik)?
Weil diese Kunst ihm eine Ausdrucksmöglichkeit für sein Lebensgefühl, seine Gedanken und Emotionen vielfältigster Art gab und gibt.
Wenn es sich um grosse Kunst handelt, dann hat diese immer auch zwei Ebenen:
Zunächst ist sie natürlich ein Ausdruck und Spiegel ihrer Entstehungszeit. Sie nutzt die Ausdrucksmittel und -Stile ihrer Zeit aus und erweitert sie in vielen Fällen auch.
Bei der zweiten Ebene geht es dann um jene Aspekte, die "für alle Zeiten" Gültigkeit haben, weil sie etwas beinhalten, was bei Menschen immer gleich bleiben wird, weil die Komponisten vergangener Generationen genau wie wir auch der Gattung Mensch angehören.
Nun hat Nikolaus Harnoncourt schon Anfang der 80er-Jahre in seinem Buch "Musik als Klangrede" im Einleitungskapitel "Die Musik in unserem Leben" auf ein Dilemma hingewiesen, in der sich "die Klassik" schon lange vor den 1980er-Jahren befand und mehr denn je bis heute befindet. Seine Thesen und viele der hier stattfindenden Threads ( von allen Regietheaterthemen angefangen , über "heile Welt", Schuberts Kunstlied - hier die Frage, ob man die Musik möglichst aus dem "Geist" der Romantik hören und musizieren sollte- bis zu den Themen über Interpretationsmoden bzw. ob früher alles besser war) haben mich auf einige allgemeine Gedanken gebracht, die ich hier gerne teilen möchte bzw. die ich zur Diskussion stelle.
Hier zunächst eine Situationsbeschreibung aus Harnoncourts Einleitungskapitel:
" ...solange die Musik wesentlicher Bestandteil des Lebens war, konnte sie nur aus der Gegenwart kommen.
Sie war die lebendige Sprache des Unsagbaren, sie konnte nur von den Zeitgenossen verstanden werden.
Die Musik veränderte den Menschen - den Hörer, aber auch den Musiker.
Sie musste immer wieder neu geschaffen werden, so wie die Menschen sich immer wieder neue Häuser bauchen mussten - immer wieder der neuen Lebensweise, der neuen Geistigkeit entsprechend.
So konnte man auch die Alte Musik, die Musik der vergangenen Generationen, nicht mehr verstehen und nicht mehr gebrauchen; man bewunderte gelegentlich ihre hohe Kunstfertigkeit."
Wenn wir also heute etwas von Schütz oder Wagner hören, dann ist das immer auch "Alte Musik", die wir dann, aufgrund ihrer allgemein anerkannten ausserordentlichen Qualität mit dem allgemeinen Begriff "Klassik" versehen.
Verglichen mit der kulturellen Situation der Entstehungszeiten betreiben wir als Teile des "Klassikbetriebs" (also Musiker, Hörer, Taminoschreiber....) immer auch eine Art von Anachronismus, weil wir uns mit längst vergangener Kunst beschäftigen.
Warum nur, frage ich mich...?
Bei der Kultivierung unseres Anachronismus hilft uns die rasante technische Entwicklung, die es uns mittlerweile ermöglicht, Ton und Bild in immer besserer Qualität zu konservieren. Wer beim Anblick von historischen Noten aus Archiven oder Bibliotheken keine Musik im Kopf hören kann, muss also nicht verzweifeln, sofern er denn - und hier ist schon ein Knackpunkt- überhaupt an diesen kulturellen Zeugnissen aus vergangenen Jahrhunderten tatsächlich interessiert ist.
Wenn mich nun einer fragt, welche Musik denn heutzutage ein aktueller Zeitausdruck wäre, dann fielen mir z.B. Sachen aus dem Gebiet anspruchsvoller Electronica- und Tranceproduktionen ein, gerade wenn es um ein urbanes Lebensgefühl geht (z.B. "Peace Orchestra").
Hier hört man schon eher Klänge und Rhythmen unserer Zeit, nicht jedoch bei Schumann oder Wagner.
Die historische Entwicklung der Instrumente "unseres" klassischen Orchesters reicht ja mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück.
Laut Wikipedia gibt es eine frühe Abbildung eines oboenähnlichen Instrumentes aus dem Jahre 3000 v/Chr.
Warum geben wir uns also immer noch mit so etwas Altem wie Streichern, Holz- und Blechbläsern ab?
Warum dann noch überhaupt etwas von Mozart, Schubert oder Wagner hören?
Haben denn deren Konflikte oder auch deren Idyllen noch etwas mit uns heute zu tun?
Was soll ich denn mit den für mich heute eher sinnlosen Geschichten einer Mozart-Oper, oder mit der Wagnerschen Sagenwelt?
Was habe ich mit dem Winterreisenden aus Schuberts Liederzyklus gemein?
Brauche ich denn heute tatsächlich eine Musik, die vor weit mehr als 100 Jahren durch die Vorstellung einer katholischen Pilgerzugs inspiriert wurde (Bruckner 4, Satz 2...) ?
Wir tun als Klassikhörer- und Musiker heute genau das, was man in den Jahrhunderten der Entstehungszeiten der "Klassik" im Allgemeinen so nicht praktizierte, nämlich eine hauptsächliche Beschäftigung mit vergangenen Inhalten.
Wir versetzen die kulturellen Erzeugnisse aus vergangenen Jahrhunderten mit Hilfe der existierenden Noten und der technischen Medien in unsere gelebte Gegenwart, worin der Anachronismus "der Klassik" m.E. besteht.
Basierend auf diesen Prämissen formuliere ich nun meine These:
Wir sollten diesen Anachronismus anfangen zu akzeptieren und die richtigen Konsequenzen ziehen.
Warum höre ich die Musik als alten Zeiten?
Meine Antwort: Weil sie so schön, so gut, so bewegend, so menschlich ist.
Wir tun gut daran, uns genau damit zu beschäftigen, eben aufgrund der hohen Qualität dieser Musik.
Die Erfahrung einer vollständig durchgehörten "Romantischen" von Bruckner bereichert mein Leben in allen möglichen Aspekten. Das Wort "Tiefe" möchte ich in diesem Zusammenhang in der Tat aussprechen.
Ich kann die Musik aus vergangenen Epochen besser verstehen, wenn ich mich auch sowohl stilistisch als auch vom Lebensgefühl her auf die Parameter ihrer Zeit und auch der Gedankenwelt des Komponisten so gut wie irgend möglich einlasse. Auf diesem Wege habe ich meines Erachtens eine Chance, jenes Ziel zu erreichen, nämlich jene menschlichen Aspekte zu erleben, die allgemein und für alle Zeiten Gültigkeit haben werden. Mit "Erleben" meine ich jetzt eine ganzheitliche, sich gegenseitig verstärkende Erfahrung aus Verständnis und Emotion.
Diese grosse Kunst, die wir als "Klassik" bezeichnen, kann aus meiner Sicht so wie sie ist, für sich alleine stehen. Entweder man gehört zur Minderheit derjenigen, die mit ihr das Bewegende und das Schöne erfahren können, oder man schliesst sich der Mehrheit an, für die mit Namen wie "Bach" ( neulich sagte mir eine junge Dame. "...wie hiess der, den Du da immer hörst? Bass? Was für Lieder hat der denn geschrieben...kenne ich nicht") eben in erster Linie ein "kleiner Fluss" gemeint ist.
Weil diese Musik für sich so wie sie ist stehen kann, braucht man sie meiner Ansicht nach auch nicht immer wieder neu "mutieren" und in unsere Zeit "übersetzen" um sie ja nicht im "Musealen" "ersticken" zu lassen.
Wenn man das trotzdem versucht zu tun, dann verkennt man, dass diese Kunst immer auch vom Hörer einen künstlerischen Akt der Auseinandersetzung und des Lernens erfordert und erfordert hat.
Sollte der Hörer diese allgemeingültigen, bereits in der Musik potentiell vorhandenen Erfahrungen machen wollen, dann muss er sich nun einmal auch bis zu einem gewissen Grad ( nach oben gibt es keine Grenzen...) auf das Niveau der Musik heraufarbeiten ( wie soll man denn sonst die Wendungen bei Schubert, Brahms und Bruckner verstehen...?)
Umgekehrt wird kein Schuh draus: Man schadet dieser Kunst, wenn man sie durch Mittel der Verfremdungen, Profanisierungen oder gar der Kommerzialisierung in die kulturelle Talsohle des schwer zu definierenden Durchschnitts eines "heutigen Menschen des 21. Jahrhunderts" hinunterdrückt.
Ich plädiere also dafür, sich der Klassik mit einer "klassischen" Herangehensweise zu nähern bzw. sich darauf zu besinnen.
Höre ich die "Winterreise" dann versetze ich mich so gut ich kann in die Denkweise der Romantik: Entweder eine idealisierte Glückseligkeit mit der Angebeteten oder absolute Einsamkeit, Trostlosigkeit usw.... Für beide Extremwelten finde ich Beispiele in der Natur: Die bunten Blumen, lustiges Vogelgeschrei oder Kälte, Finsternis und Schreien der Raben usw.
Wenn ich dann ein geistliches Werk höre, dann versetze ich mich so gut ich kann in die Denkweise und das Fühlen dieser Inhalte. Das Lob Gottes oder Auseinandersetzung mit Christi Kreuz und Auferstehung steht dann im Mittelpunkt.
Sollte es ein barockes Werk sein, dann versetze ich mich- wieder so gut es nur geht- in das barocke Affektdenken, in die gestisch- rhetorische Klangrede dieser Zeit hinein. Das Verständnis dieser Zusammenhänge steigert auch hier das emotionale Erleben.
Ein Künstler - wie z.B. Fischer-Dieskau- kann das, unabhängig davon, ob er selbst sehr romantisch nach damaligen Massstäben oder religiös/gläubig ist
Und wenn ich mir Wagner anhöre, dann tauchen vor meinem inneren Auge schon -ohne dass ich irgendeine Inszenierung sehe- seine sagenhaften inhaltlichen Themen und Motive auf, wie z.B. die Götterwelt, Helden, Tod und Liebe (Tristan...).
Um ein Werk von ihm zu erleben, versuchen ich mich in seinen Mythos und in all das, was mit ihm in seinem Zeitrahmen zusammenhängt, so gut es geht hineinzudenken und zu fühlen. Sehe ich dann eine Inszenierung, dann soll die den musikalischen Ausdruck ( um den es ja geht, denn die Opernmusik ist hier hier das eigentliche Kunstwerk) unterstreichen und mein Erleben steigern.
Es geht in allen genannten Fällen um ein Abtauchen in eine andere Zeit und deren Welt, um die musikalischen Kunstwerke aus diesen Epochen im Sinne von Verstehen und Fühlen so intensiv und bewegend wie möglich und vom Kunstwerk vorgegeben zu erfahren.
Damit erlebe ich die allgemeinen, menschlich immer gültigen und bewegenden Aspekte der musikalischen Kunstwerke meiner Ansicht und Erfahrung nach in heutiger Zeit besonders eindrucksvoll.
Diese Herangehensweise scheint mir der beste Ausweg aus der Erkenntnis zu sein, mit dem Hören und dem Spielen der Klassik ständig eine Art von Anachronismus zu zelebrieren.
Man sollte diesen einfach als gegeben anerkennen, aber dann eben auch das Beste daraus machen, indem man auf die allgemein immer geltende menschliche Wirkung des Kunstwerks vertraut und es aus dem Betrachtungswinkel der Entstehungszeit versucht zu verstehen. Das ist nur begrenzt möglich, aber aufgrund der Tatsache, dass die Menschen schon immer menschlich waren, m.E. dennoch die beste Möglichkeit.
Andere Alternativen wären- extrem ausgedrückt- z.B. sich nicht immer sklavisch an die alten Noten zu halten (warum auch, macht man ja beim Opernlibretto heutzutage auch nicht immer...) sondern radikal zu bearbeiten und im heutigen Stile darstellen. Die klassischen Instrumente könnte man durch indische oder afrikanische Instrumente, oder Softwaresynthis, und den Dirigenten durch einen Sequenzer (DAW) zu ersetzen. Die Frage, warum man dann überhaupt noch die klassische Musik als Basis hernehmen soll, taucht dann schnell auf.
Hier wäre es tatsächlich besser, gleich eine neue Musik zu machen.
Das immer wieder von Verfremdungsbefürwortern herangezogene Argument " in der Urform sagt uns das heute nichts mehr" lasse ich nicht gelten.
Damit wird ja unausgesprochen eingeräumt, dass man offensichtlich an einem Verständnismangel für das jeweilige Kunstwerk leidet.
Mein o.g. Vorschlag ist daher aus meiner Sicht alternativlos. Ich komme aus dem Dilemma des Anachronismus dann also nicht durch mehr oder weniger radikale Verfremdungen heraus (die man dann gerne "eine frische, aktuelle Neuinterpretation" nennt), sondern dadurch, dass ich mich der Klassik auf klassische Art und Weise - wie oben beschrieben- annähere.
Immer da, wo es wirkliche Kunst gibt, gibt es auch Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen schafft der Künstler mitunter ein grosses Kunstwerk.
In der totalen Grenzenlosigkeit gibt es keine Kunst und deswegen hat das dann auch nichts mit der Freiheit derselben zu tun.
Ich stelle diese meine Auffassungen hier zur Diskussion. Natürlich kann man anhand von Beispielen auf Einzelthemen wie Kunstlied, Interpretationsstile der klassischen Instrumentalmusik oder auch "Regietheater" kommen und sich da verbeissen.
Für diesen Thread sollte man aber nicht den Bezug zur allgemeinen Frage nach der "Klassischen Klassik" vs. einer "der heutigen Zeit angepassten" Klassik aus den Augen verlieren, weil es ja zu den Einzelfeldern Spezialthreads gibt.
Glockenton