Lieder von Alexander Zemlinsky

  • Wenn man Lieder von Alexander Zemlinsky erstmals hört, dann ist man eigentlich überrascht über die (relativ) konservative Ausstrahlung. Man hätte eigentlich - wenn man das Umfeld Zemlinskys betrachtet, etwas "Neutönerisches" erwartet.
    Überhaupt scheinen sich Zemlinskys Lieder nicht allzugroßer Bekanntheit zu erfreune - obwahl es einige Aufnahmen in den Katalogen gibt.
    Will man wissen, wie viele Lieder Zemlinsky gechrieben hat, dann befragt man ein Musiklexikon. Dort steht dann: ZAHLREICHE Lieder. Jetzt wissen wirs.
    Auf jeden Fall müssen es weit über 60 sein, denn 59 enthält die weiter unten vorgestellte Doppel-CD von Brilliant Classics,
    wobei es sich hier ausschliesslich um Lieder mit Klavierbegleitung handelt. Es gibt aber auch etliche Orchesterlieder, die hier nicht enthalten sind.

    Ursprünglich stammen diese Aufnahmen von der Deutschen Grammophon Gesellschaft, die aber offenbar die Verkaufschancen negativ beurteilte und die Lizenz an Brilliant Classics weitergab...


    Interessant auch die Auswahl der Textdichter. Eichendorff, Storm, Heyse, Liliencron, Morgenstern, Maeterlinck, Goethe sind nur einige wenige aus einer breiten Palette. Zemlinsky scheint der letzte Spätromantiker gewesen zu sein, aber natürlich gibt es auch moderne Einsprengsel...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo Alfred,


    vielen Dank für den neu eröffneten Thread über einen der interessantesten und spannendsten (Lied-)Komponisten des 20. Jahrhunderts!


    Eine der prominentesten Einspielungen der Klavierlieder Zemlinskys hast Du mit der DG- (nun Brillant-) Edition bereits genannt. Ebenfalls sehr schön und lohnenswert finde ich die Sony-Einspielung der 'Lieder aus dem Nachlaß':


    Alexander von Zemlinsky (1871-1942):
    Lieder aus dem Nachlaß für Singstimme und Klavier
    Ruth Ziesak, Sopran; Iris Vermillion, Mezzosopran; Hans-Peter Blochwitz, Tenor; Andreas Schmidt; Bariton; Cord Garben, Klavier
    Sony, 1993, 1 CD



    Die für mich jedoch mit Abstand berührendsten, tiefgründigsten Lieder hat Zemlinsky mit 'Sechs Gesänge nach Maurice Maeterlinck' (kurz: 'Maeterlinck-Gesänge') 1910 in der Klavier- und 1913 in der Orchesterfassung geschaffen! Besonders bemerkenswert ist hier, daß (in der Orchesterversion) jedes einzelne Lied seine eigene spezielle orchestrale Instrumentation erhält, als auch daß Zemlinsky - vor allem im 6. Lied 'Sie kam zum Schloß gegangen' - Gustav Mahler seine Reverenz erweist, indem er sich dem Mahler'schen Stil perfekt einfühlend annähert.


    Alexander von Zemlinsky (1871-1942):
    Sechs Gesänge nach Maurice Maeterlinck für Mezzosopran und Orchester, opus 13 1910/13
    Felicity Palmer, Mezzosopran; BBC Philharmonic Orchestra, Bernhard Klee
    Carlton, 1986, 1 CD



    Ebenfalls erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang den zwischen Orchesterliedzyklus und Symphonie gattungsmäßig changierenden Zwitter 'Lyrische Symphonie', die eines der reifsten und vollendetsten Opera des Komponisten darstellt und mittlerweile in etlichen exemplarischen Einspielungen vorliegt.


    :hello:
    Johannes

  • Als ich im Thread "Der Abschied im Lied" ein Werk von Ernst Krenek vorstellte, deutete ich an, dass ich - weil die Liedkunst des zwanzigsten Jahrhunderts mir hier im Forum zur Zeit unterrepräsentiert scheint - mich etwas näher auf diese einlassen würde, aber fürchte, auf nicht genügend Resonanz zu stoßen.


    Deshalb freue ich mich darüber, dass Alfred Schmidt diesen Thread hier gestartet hat. Zemlinskys Liedkomposition kann ich nicht so richtig auf einen Nenner bringen, weil zwischen seinem Opus 7 und dem Opus 27 doch eine starke stilistische Differenz besteht. Wenn Alfred Schmidt überrascht war über "die konservative Ausstrahlung" der Lieder Zemlinskys, dann sollte man das mit Vorbehalt nehmen. Zemlinsky hatte 1895 Johannes Brahms kennengelernt, und dieser nahm großen Einfluss auf sein Liedschaffen. Daher dieses "konservative Element".


    Aber erstens ist das nicht in allen Liedern deutlich zu vernehmen, und zweitens war Zemlinsky in seiner Harmonik ungleich kühner als Johannes Brahms. Die "klassische" Tonalität gilt für ihn als Richtschnur nicht mehr. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich frei von allen tonalen Bindungen, und die Tonarten, die sie durchläuft, liegen in der Regel weit auseinander. Dennoch ist das "Liedhafte" der melodischen Linie noch weitgehend gewahrt.


    Ich würde Zemlinskys Lieder ohne Einschränkung als hörenswert bezeichnen, - wenn man bereit ist, sich in sie geduldig einzuhören. Vielleicht versuche ich einmal, dieses oder jenes Lied näher vorzustellen. Ich scheue ein wenig davor zurück, weil das Beschreiben von Melodik und Harmonik in diesem Fall recht schwer ist, wenn man keine Noten zur Verfügung hat. Ich stimme übrigens Guercoeur ausdrücklich darin zu, dass die Lieder nach Gedichten von Maurice Maeterlinck op. 13 herausragend sind.

  • Die „Sechs Gesänge nach Gedichten von Maurice Maeterlinck op.13 entstanden zwischen 1910 und 1913. Die Titel der Lieder lauten: „Die drei Schwestern“, „Die Mädchen mit den verbundenen Augen“, „Lied der Jungfrau“, Als ihr Geliebter schied“, „Und kehrt er einst heim“, „Sie kam zum Schloß gegangen“. Auf das Lied „Als ihr Geliebter schied“ möchte ich näher eingehen.


    Als ihr Geliebter schied
    (Ich hörte die Türe gehn)
    Als ihr Geliebter schied,
    Da hab ich sie weinen gesehn.


    Doch als er wieder kam
    (Ich hörte des Lichtes Schein),
    Doch als er wieder kam,
    War ein anderer daheim.


    Und ich sah den Tod
    (Mich streifte sein Hauch)
    Und ich sah den Tod,
    Der erwartete ihn auch!


    Die Singstimme wird durchgehend von einer vorwiegend akkordisch angelegten Klavierbegleitung getragen, die allerdings stark von verminderter Harmonik geprägt und atonal angelegt ist. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich ruhig. Auf jedem Vers liegt eine abgeschlossene Melodiezeile, die in ihrer Anlage den jeweiligen Gehalt des lyrischen Textes deutlich hörbar reflektiert.


    So liegt zum Beispiel beim ersten Vers auf dem Wort „Geliebter“ ein ausgeprägter, weit ausholender melodischer Bogen, während im zweiten die Vokallinie in tiefere Lagen absinkt und verhaltener klingt. Ähnlich ist das auch bei den beiden folgenden Versen der ersten Strophe. Zunächst wird die Vokallinie des ersten Verses wiederholt, dann aber bekommt das Wort „weinen“ einen deutlichen Akzent in Form einer Aufgipfelung und Dehnung der melodischen Linie.


    Der Vers „Doch als er wiederkam“ trägt einen stark elegischen Ton: Die Vokallinie sinkt aus hoher Lage schrittweise in tiefe Moll-Harmonik ab. Das „Und ich sah den Tod“ wird auffällig langsam und syllabisch exakt deklamiert. Bei der Wiederholung des Verses kommt aber leichte Dramatik in die melodische Linie der Singstimme und das Wort „Tod" trägt jetzt einen lang angehaltenen hohen Ton. Ruhig steigt danach die Vokallinie abwärts, bis hin zu ihrem tiefsten Ton bei dem Wort „auch“. Dort verharrt sie lange, bis ein kurzes Nachspiel im Klavier erklingt.


    Das Lied beeindruckt stark. Vor allem durch seinen elegischen Grundton, der ganz wesentlich von der verminderten Harmonik und der sich in großen, ruhigen Schritten bewegenden Vokallinie geprägt ist. Deutlich trägt zu dieser Wirkung auf den Hörer auch die bei zentralen Wörtern des lyrischen Textes erfolgende Aufgipfelung der melodischen Linie der Singstimme bei.

  • Ich möchte noch einmal betonen, dass ich der Feststellung von Alfred Schmidt:


    „Wenn man Lieder von Alexander Zemlinsky erstmals hört, dann ist man eigentlich überrascht über die (relativ) konservative Ausstrahlung. Man hätte eigentlich - wenn man das Umfeld Zemlinskys betrachtet, etwas "Neutönerisches" erwartet.“


    keineswegs widersprechen wollte. Dieser Eindruck stellt sich tatsächlich ein, wenn man ein Lied wie „Der Himmel hat keine Sterne“ auf einen Text von Paul Heyse hört, das dem 1890 entstandenen Opus 2 angehört.


    Hier steht Zemlinsky noch stark unter dem Einfluss von Johannes Brahms. Aber mit dem oben besprochenen Lied „Als ihr Geliebter schied“ aus Opus 13 schlägt er schon eine ganz andere Musiksprache an. Die wagt sich sowohl in der kompositorischen Gestaltung der melodischen Linie der Singstimme, wie auch in deren Harmonisierung schon in atonale Bereiche vor.


    Und seine ganz eigene Musiksprache scheint Zemlinsky dann schließlich in dem oben besprochenen oder in einem Lied wie „Entführung“ (op.27) auf einen Text von Stefan George gefunden zu haben. Das ist ein zauberhaft lyrischer und keineswegs radikal atonaler Ton. Aber er ist eben sehr weit weg von dem noch sehr brahmsischen Ton des Liedes „Der Himmel hat keine Sterne“.


    In diesem Lied hat Zemlinsky eigentlich nichts Neues zu bieten. Hätte er nur Lieder dieser Art geschrieben, man könnte ihn vergessen. Aber dem ist ja nicht so!

  • Auf jeden Fall müssen es weit über 60 sein, denn 59 enthält die weiter unten vorgestellte Doppel-CD


    Lieber Alfred,


    da sitze ich und rechne und rechne ... Disc 1 = 34 Lieder plus Disc 2 = 33 Lieder. Hab´ich etwas falsch gemacht?


    Diese Zemlinsky-Liederproduktionen sind mir ohnehin etwas "unheimlich"... als Dichter des Textes "Heilige Nacht" wird hier Afanasy Fet genannt, in einer anderen Produktion (Steven Kimbrough / Cord Garben) steht unter dem voll abgedruckten Text "Heilige Nacht" Friedrich Martin von Bodenstedt ... ob es sich um eine Übersetzung handelt?


    Man muss hier erst mal einige Fakten klären bevor man sich mit diesen Liedern befasst, denn es gibt noch einige Dinge, die mir nicht ganz klar sind ...

  • Zitate hart:


    1) "Man muss hier erst mal einige Fakten klären bevor man sich mit diesen Liedern befasst".......


    Wieso eigentlich? Diese Feststellung bleibt mir unverständlich. Seit wann sind denn buchhalterische Kenntnisse über den Komponisten die Voraussetzung für das Hören und Verstehen seiner Lieder?


    2) "denn es gibt noch einige Dinge, die mir nicht ganz klar sind ..". ...


    Welche sind das denn? Vielleicht könnte man sie ja klären.


    Vielleicht hilft das ja weiter:


    Das Liedwerk von Alexander Zemlinsky (nach meiner Recherche, also mit Vorbehalt zu nehmen)


    Lieder für Singstimme und Klavier ……….op.2 (= 11 Lieder)
    Gesänge für Singstimme und Klavier ……op.5 (= 8 Lieder)
    Walzer-Gesänge nach toskanischen Volksliedern …op.6 (= 5 Lieder)
    Irmelin Rose und andere Gesänge op.7 (= 5 Lieder)
    Turmwächterlied und andere Gesänge …op.8 (= 4 Lieder)
    Ehetanzllied und andere Gesänge op.10 … (= 6 Lieder)
    Sechs Gesänge nach Maeterlinck …Op.13 (= 6 Lieder)
    Sechs Lieder für Singstimme und Klavier …op. 22 (= 6 Lieder)
    Zwölf Lieder für Singstimme und Klavier … op.27 (= 12 Lieder)
    Schlummerlied
    Ahnung Beatricens
    Der alte Garten (1895)
    Die Riesen (1895)
    Symphonische Gesänge
    Three Songs ("Chinese Serenade", "My Ship an I", "Love, I must sy goodbye")


    Macht: 70 Lieder, ohne die Symphonischen Gesänge

  • Danke, lieber Helmut Hofmann, das ist doch schon was! So bekommt man einen Wissensstand, den man bisher nicht hatte, so macht "Tamino" Sinn ...


    Mit Fakten meinte ich nun wirklich nicht das buchhalterische Liederzählen, aber es interessiert mich eben, wenn unter einem Gedicht in unterschiedlichen Publikationen zwei verschiedene Namen auftauchen. Und es interessiert mich, wenn unter "Geflüster der Nacht" und unter "Vor der Stadt" jeweils der gleiche Text steht und die Herren Storm und Eichendorff genannt werden ...


    Wie ist das nun mit "Heilige Nacht" stimmt meine Vermutung?

  • "so macht "Tamino" Sinn ... "


    Ja, das sehe ich ganz genauso! Ich gestehe, dass ich Deinen letzten Beitrag missverstanden habe, lieber hart. ich habe jetzt erst begriffen, dass dahinter Verwunderung oder gar Ärger über schlampig edierte CDs stand. Und den teile ich voll und ganz.


    Die Zuordnung von Eichendorff und Storm zu den beiden Zemlinsky-Liedern bei der Cord Garben-CD ist korrekt. Mit dem Autor Afanasy Fet weiß ich aber überhaupt nichts anzufangen. Das versuche ich aber auch noch zu klären.


    Wie gesagt: "so macht "Tamino" Sinn ... "

  • In diesem Beitrag stand ursprünglich ein Duplikat des vorigen, das ich Dussel mal wieder fabriziert habe. Da ich den Rahmen desselben nicht beseitigen kann, möchte ich ihn mit einer Bitte an hart füllen:


    Er möge doch bitte erklären, warum ihm die Lieder von Zemlinsky im Augenblich noch ein wenig "unheimlich" vorkommen. Das wäre für mich ein überaus willkommener Anlass, darauf einzugehen.

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  • Zu "Afanasy Fet" findet man bei Wikipedia:


    Afanassi Afanasjewitsch Fet ( Fet , Russisch : Афанасий Афанасьевич Фет , später änderte er seinen Namen zu Shenshin (Шеншин); 5. Dezember 1820 - 3. Dezember 1892, war ein Dichter, dominierten russischen Poesie im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts.


    Bei dem Namen Martin von Bodenstedt scheint es sich um dessen Übersetzer zu handeln.


    Das Lied "Heilige Nacht" klingt ja ganz hübsch, ist aber noch nicht die Musiksprache, die Zemlinsky später entwickelt. Der Einfluss von Brahms ist unüberhörbar. Die ersten beiden Melodiezeilen des Liedes haben mich sehr stark das das Lied "Ruhe, Süßliebchen" aus der "Schönen Magelone" von Johannes Brahms erinnert. Die melodische Nähe ist sehr auffällig!

  • Solche neuen Threads, wie Alfred Schmidt hier gerade einen eingerichtet hat, haben den interessanten Nebeneffekt, dass man sich mit der Person des Komponisten, um den es gerade geht, ein wenig näher befasst. Da taucht dann jede Menge an Komponisten- und Musikerleben auf, und ich denke, dass man davon auch ein wenig hier in einen solchen Thread einbringen sollte.


    Zemlinsky wurde ja zunächst (1900) Kapellmeister am Carltheater in Wien und kam danach 1904 in der gleichen Funktion an die neugegründete Hofoper. In dieser Zeit war er mit dem Komponisten Erich J. Wolff befreundet (auf den ich später in einer Liedbesprechung noch einmal eingehen möchte). Beide waren zu dieser Zeit – wie so viele andere Männer auch – verschossen in Alma Schindler, die spätere Frau u.a. Gustav Mahlers.


    Eines Tages schrieben sie ihr eine heitere Postkarte, die bei Almas Stiefvater folgende Reaktion auslöste: „Ist er (Zemlinsky) einer dieser Halb-Juden, denen es nie gelingt, ihr Judentum los zu werden? Und zu denken, dass er mit einem Gefährten wie Wolff – einem ungewaschenen Juden – zusammen sitzt, um die ganze Nacht zu trinken.“


    Zwei Wochen später gab Alma Schindler in ihrem Tagebuch ein Gespräch wieder, das sie mit Erich J. Wolff im Tonkünstlerverein hatte. Da heißt es: „Wir plauschten ganz lustig“. Das Gespräch kam dann auf Zemlinsky, und Wolff merkte an: „Wissen Sie, ich glaube, dass zwischen Ihnen und Zemlinsky eine Art Compromiss besteht (…) Leugnen Sie nicht, ich weiß ja, wie das ist, ich bin ja vom G´schäft“.

    Im Konzert, das Zemlinsky später leitete, wurden auch Lieder von Wolff aufgeführt. Im Foyer bat Alma Mahler danach Wolff, er solle ihr doch das zweite dieser gerade aufgeführten Lieder vorbeibringen. Zemlinsky wisse ja ihre Adresse. Wolff gab zur Antwort: „Fräulein, er ist mein Freund. Alles will ich ihn fragen – nur das nicht.“


    Zemlinsky war eifersüchtig auf seinen Freund Wolff. Im Tagebuch Almas findet sich dazu die Notiz: „Er (Zemlinsky) war unzufrieden, dass ich Wolff aufgefordert hatte, zu kommen. Sie sind ja sehr leicht mit dem Einladen bei der Hand – u.s.w.“


    Diese Anmerkungen habe ich nicht ohne Hintergedanken hier eingebracht. Das nächste Lied Zemlinskys, das ich hier besprechen möchte, „Entbietung“, ist ganz aus dem Geist dieser Liebe zu Alma Schindler heraus komponiert worden.

  • Diesem Lied liegt ein Text von Richard Dehmel zugrunde. Es gehört zu Zemlinskys Opus 7, das im Jahre 1900 entstand und Alma Maria Schindler, der späteren Frau (u.a.) Gustav Mahlers gewidmet ist, zu der Zemlinsky (wie so viele andere auch) „in Liebe entbrannt“ war. Diesen Geist atmet auch das Lied „Entbietung“. Es ist von Leidenschaft durchdrungener musikalischer Jugendstil.


    Entbietung
    Schmück dir das Haar mit wildem Mohn,
    die Nacht ist da;
    all ihre Sterne glühen schon,
    all ihre Sterne glüh´n heut dir,
    du weißt es ja:
    all ihre Sterne glüh´n in mir.
    Dein Haar ist schwarz,
    Dein Haar ist wild
    Und knistert unter meiner Glut;
    Und wenn sie schwillt,
    jagt sie mit Macht
    die roten Blüten und dein Blut
    hoch in die höchste Mitternacht.
    In deinen Augen glimmt ein Licht,
    so grau in grün,
    wie dort die Nacht den Stern umflicht.
    Wann kommst Du? Wann kommst Du?
    Meine Fackeln loh´n.
    Lass glüh´n, lass glüh´n!
    Schmück mir dein Haar mit wildem Mohn!


    Musikalisch geprägt ist das Lied von einem drängenden synkopischen Rhythmus, der sich in den akkordischen Dreierfiguren der Klavierbegleitung entfaltet und von der Einleitung bis zum letzten Takt durchgehend vorherrscht. Theodor W. Adorno spricht mit Blick auf dieses Lied von einem „eigentümlich heißen Ton“, und das trifft (wie so häufig bei ihm) genau den Kern der musikalischen Aussage.


    Am Anfang meint man Tristan-Klänge zu hören, was ja bei dem starken Einfluss, den Wagner auf Zemlinsky hatte, gar nicht verwunderlich ist. Die melodische Linie der Singstimme entfaltet sich am Anfang ruhig, in weit ausgreifenden Tonschritten. Aber auf dem Hintergrund der synkopischen Klavierakkorde hat diese Ruhe etwas Drängendes, wie von nur schwer beherrschter Leidenschaft Angetriebenes.


    Die Melodiezeilen umgreifen durchweg mehrere Verse, zumeist zwei oder drei, und sie sind häufig bogenförmig angelegt. Zusammen bilden sie aber größere Einheiten, so dass man drei Strophen zu hören meint. Ein erster Einschnitt findet sich nach dem Vers „all ihre Sterne glüh´n in mir“. Danach hat die Singstimme eine kurze Pause.


    Nach dieser setzt sie mit dem nächsten Vers („dein Harr ist schwarz“) neu an, ohne dass die zugrundliegende melodische Figur zunächst neu erscheint. Das ändert sich aber mit dem (durchaus kitschverdächtigen!) lyrischen Bild von den „roten Blüten“ und dem „Blut“, das „hoch in die höchste Mitternacht“ gejagt wird. Hier kommt starkes Pathos in die melodische Linie und die Singstimme bewegt sich im Forte-Bereich in große Höhen.


    Die nächsten Verse werden – wieder nach einer kurzen Pause – von der Singstimme in zunächst ruhiger Bewegung artikuliert. Bei der Frage „Wann kommst du?“ kommt es aber zu einer leichten dramatischen Steigerung, und das „“lass glühn´n“ wird mit ausgeprägtem Pathos gesungen.


    Beim letzten Vers bewegt sich sie Singstimme in langsamen Schritten und auf jeder Silbe deklamierend nach unten. Eindringlich, fast beschwörend klingt das. Vor allem deshalb auch, weil der tiefe Ton, der auf dem Wort „Mohn“ liegt, ungewöhnlich lange gehalten wird.

  • In diesem Thread hat sich ja inzwischen einiges getan - wo fange ich an? Versuche es zuerst mal wieder "buchhalterisch" und zitiere aus dem nicht ganz fehlerfreien Booklet der nachfolgend eingeblendeten CD




    "Von den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis Ende der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts im amerikanischen Exil, schrieb Zemlinsky über 120 Lieder, wovon nur ein Bruchteil von 50 Liedern zu Lebzeiten gedruckt wurden." Das ist dann doch etwas mehr als Alfreds Aussage "weit über 60" (soviel Buchhaltung muss sein, ich hoffe nur, dass diese Angaben auch stimmen).


    Aber jetzt zur Musik - ich wusste nicht recht wie ich es ausdrücken sollte, aber praktischerweise kann man Helmut Hofmann zitieren:


    Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich frei von allen tonalen Bindungen, und die Tonarten, die sie durchläuft, liegen in der Regel weit auseinander.



    Genau so ist es! Da singt jemand und im Hintergrund läuft so eine Art "Meditationsmusik", zumindest bei einigen Liedern kann man das so empfinden.


    Das Lied "Entbietung" ist ja ein typischer Dehmel-Text, der Mann wusste wovon er schrieb ... auch mich hat dieses Lied besonders interessiert, denn den Namen Zemlinsky hatte ich vor vielen Jahren erstmals bewusst wahrgenommen, als ich mich mit Alma Mahler beschäftigte (Oliver Hilmes: "Witwe im Wahn")



    Auch hier ein Zitat: "Alexander von Zemlinsky war ein strenger Lehrer mit einem unbestechlichen Blick. Er kritisierte die Einfälle seiner Schülerin und machte Alma unmissverständlich klar, dass ihre Oberflächlichkeit einem Erfolg als Komponistin im Wege stand. >Entweder Sie componieren<, hielt er ihr einmal entgegen, >oder Sie gehen in Gesellschaften - eines von beiden. Wählen Sie aber lieber das, was Ihnen näher liegt - gehen Sie in Gesellschaften."


    Und noch eine Anmerkung zu dieser CD: Das Begleitbüchlein enthält alle 23 Texte. Bei der am Threadanfang vorgestellten CD ist kein Text abgedruckt und man muss sich die Texte von immerhin 25 Dichtern mühsam zusammensuchen.

  • Wenn hart mich so zitiert:


    "Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich frei von allen tonalen Bindungen, und die Tonarten, die sie durchläuft, liegen in der Regel weit auseinander.",


    ... dann ist das zwar zutreffend, aber ich möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass dies nicht für alle Lieder Zemlinskys gilt. Diese weisen in ihrer musikaischen Faktur eine große Bandbreite auf und sind kaum auf einen Nenner zu bringen. So sind zum Beispiel alle elf Lieder von Opus 2 ausnahmslos tonal angelegt. Sie sind sogar recht konventionell in ihrer musikalischen Faktur.


    Lediglich bei den Liedern "Vor der Stadt" (Text von Eichdendorff) und "Frühlingstag (Text Carl Siebel) bewegt sich die melodische Linie der Singstimme durch weiter von einander entfernte Tonarten. Aber auch hier ist aber die Tonalität als Grundlage der Komposition gewahrt.


    Diese Anmerkung mache ich nicht nur aus Gründen der Korrektheit, sondern weil ich auch ein wenig für Zemlinsky hier werben möchte. Liedfreude, die ganz von der Tradition von Schubert, Schumann und Brahms her kommen, dürften bei diesen Liedern von Opus 2 entzückt sein. Die gehen zum Teil regelrecht ins Ohr!

  • Diese weisen in ihrer musikaischen Faktur eine große Bandbreite auf und sind kaum auf einen Nenner zu bringen.


    Dem muss man einfach zustimmen, weil es eine Tatsache ist, leicht ins Ohr gehen mir diese Lieder nicht gerade ... aber dies mag vielleicht auch am Empänger liegen, jedes Individium ist anders gestrickt.



    Wieder einen anderen Zemlinsky erlebt man bei dem Lied "Waldgespräch", wo man natürlich von altersher (wer fängt seine Liedhörerkarriere schon mit Zemlinsky an) den Eichendorff-Text in der Verbindung mit der Musik Robert Schumanns im Ohr hat. Die mir zugängliche Aufnahme hat keine Klavierbegleitung, sondern wird als Orchesterlied angeboten. Das ist dann fast schon "große Oper".


    Ähnlich verhält es sich bei der Zemlinsky-Schülerin Alma Mahler (Zemlinskys "gehen Sie in Gesellschaften" klingt mir zu negativ). Auch sie vertonte ihre Texte einmal recht bravourös, dann wieder sehr zurückhaltend und sogar ergreifend.


    Aber diese Bandbreite trifft man schließlich bei vielen Komponisten, gerade in dieser Zeit - ich denke hier vor allem an Richard Strauss.

  • Dem Lied liegt ein Text von Christian Morgenstern zugrunde. Es gehört zu Zemlinskys Opus 10 und wurde wohl 1901 komponiert. Das Gedicht wurde auch von Erich J. Wolff vertont, worauf noch eingegangen werden soll.


    Vöglein Schwermut
    Ein schwarzes Vöglein
    Fliegt über die Welt,
    das singt so todestraurig…
    Wer es hört, der hört nichts anderes mehr,
    wer es hört, der tut sich ein Leides an,
    der mag keine Sonne mehr schauen.
    Allmitternacht, Allmitternacht ruht es sich aus
    Auf dem Finger des Tods.
    Der streichelt´s leis
    Und spricht ihm zu:
    „Flieg, mein Vögelchen!
    Flieg, mein Vögelchen!“
    Und wieder fliegt´s
    Flötend über die Welt.


    Es gibt Gedichte, die sind erschütternd durch die Banalität des Tons, mit dem sie eine existenzielle Ungeheuerlichkeit in Worte fassen. Morgensterns Gedicht gehört dazu. Das Bild des Ausruhens des Vögleins Schwermut auf dem Finger des Todes entfaltet magische und zugleich tief berührende Kraft. Für einen Komponisten gehört Mut dazu, sich an ein solches Bild mit musikalischen Mitteln heranzuwagen. Zemlinsky hatte ihn, und sein Mut trug eindrucksvolle Frucht.


    Das Lied ist in seinem klanglichen Eindruck geprägt von dem Gegensatz zwischen einer ruhig sich bewegenden Singstimme und den nervös auf und ab sich bewegenden Tonketten aus Zweiunddreißigsteln. Mit diesen soll, das ist unüberhörbar, das Flattern des Vögleins Schwermut musikalisch suggeriert werden. Nur anfänglich ist das ein Auf und Ab. Im Verlauf des Liedes wird daraus auch ein Hin und Her und ein komplexes Umspielen der melodischen Linie der Singstimme.


    Diese bewegt sich bei den ersten beiden Versen schwerfällig in einem Sekund-Intervall auf und ab und landet bei dem Wort „Welt“ auf ihrem tiefsten Ton. Der nächste Vers („das singt so todestraurig“) wird in hoher Lage gesungen und wirkt wie ein wehmütiges Klagen. Danach folgt ein ruhiges, erzählendes Deklamieren, bis hin zu der Stelle „ein Leides an“.


    Hier ereignet sich wieder ein Ausbruch der melodischen Linie in Form eines hohen Bogens. Und die Erregung, die darin aufklingt, setzt sich im nächsten Vers fort: „Der mag keine Sonne mehr schauen“. Danach folgt eine Pause, in der das Klavier von seinen Zweiunddreißigsteln ablässt und zu schweren Akkorden übergeht, denen tiefe Einzeltöne im Klavierbass folgen.


    Das „Allmitternacht“ wird situativ beschworen. Auf zwei Tönen wird deklamiert, von einfachen Akkorden im Klavier begleitet. Das Bild vom „Ausruhen“ des Vögleins„auf dem Finger des Todes wird mit einer extrem ruhigen Bewegung der melodischen Linie aufgegriffen. „Flieg, mein Vögelchen“ hört man in hoher Lage deklamiert, wobei die Singstimme danach einen Abwärtsschritt vollzieht, der eine beschwörende Wirkung entfaltet.


    Bei den beiden letzten Versen setzt das Zweiunddreißigstel-Geflatter im Klavier wieder ein, und die Singstimme vollzieht eine ähnlich ruhige Bewegung darin, wie sie am Liedanfang zu hören war. Das alles mündet am Ende in einen einfachen Akkord und einen nachfolgenden singulären tiefen Ton im Klavierbass.

  • Hat sich Helmut Hofmann bei der Gedichteingabe vertippt?


    Nein, hat er nicht. Der Gadanke kam auf, weil Hans Peter Blochwitz "Vögelein" anstatt "Vöglein" singt - in einem Liederabend ist das "geschenkt", würde ich kaum darüber nachdenken ... Da es sich hier jedoch offensichtlich um eine Studioaufnahme handelt, hätte man das leicht korrigieren können.


    Also darf man vermuten, dass der Sänger einen Grund hat "Vögelein" zu singen - aber welchen? Es darf spekuliert werden ...

  • Aber natürlich hat er sich vertippt. Helmut Hofmann ist kein großer "Tipper",- er gesteht es gerne ein.


    Es muss im ersten Vers heißen: "Ein schwarzes Vögelein..." Ich bitte zum Entschuldigung!


    Aber jetzt mal im Ernst:


    Ich hätte lieber einen Kommentar zu diesem Lied gelesen. Denn der würde mich viel mehr interessieren als der öffentliche Hinweis auf meine Tippschwächen!


    (Hart möge nicht böse sein!)

  • Seid doch nicht immer so ernst. Ich mache auch Tippfehler, meistens samstags, beim Lotto.



    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • Der 1874 in Wien geborene Erich J(acques) Wolff stand längere Zeit in enger Beziehung zu Zemlinsky; er war dessen Assistent in Wien. Der Zemlinsky-Biograph Antony Beaumont nennt ihn einen „untrennbaren Begleiter Schönbergs und Zemlinskys in den späten Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts.“ Später siedelte Wolff nach Berlin über und starb achtunddreißigjährig in New York. Er hinterließ mehr als hundertfünfzig Lieder.


    Wolffs Vertonung von Morgensterns Gedicht erschien im Jahre neunzehnhundertacht. Schon das lange Klaviervorspiel lässt erkennen, dass es diesem Komponisten um eine Charakterisierung dieses Vögleins Schwermut als Todesvogel geht. Das musikalische Motiv dieses Vorspiels taucht noch zwei Mal in diesem Lied auf, und zwar vor dem Vers „Allmitternacht…“ und vor dem Verspaar am Schluss. Das weist darauf hin, dass Wolff ihm eine zentrale Funktion im Sinne einer musikalischen Charakterisierung des Vögleins beimessen wollte.


    Schon die ersten Takte der Singstimme evozieren eine düstere Stimmung: Es wird silbenlang auf nur einem Ton deklamiert, von dem man gerade mal um eine kleine Sekunde abweicht. Auf das Wort „Todestraurig“ wird ein lang gedehnter Bogen in hoher Lage gelegt. Ähnlich expressiv ist das „der tut sich ein Leides an“ musikalisch angelegt: Wieder steigt die melodische Linie der Singstimme in hohe Lagen auf


    Die Worte „Allmitternacht …“ werden langsam und in beschwörendem Ton deklamiert, vom Klavier mit Akkorden gestützt. Auf dem Wort „Tod“ liegt wieder eine lange Dehnung in höherer Lage. Das „Flieg mein Vögelein“ (so heißt es bei Wolff) klingt hier ähnlich wie bei Zemlinsky: Es isr reiner Sprechgesang, der allerdings klanglich sehr spitz und eindringlich wirkt.


    Die beiden Schlussverse erklingen auf derselben melodischen Linie wie die Anfangsverse. Wieder mit dieser so trist wirkenden kleinen Sekunde inmitten des melodischen Verharrens auf einem einzigen Ton.


  • Sowohl Rebecca Broberg als auch Hans Peter Blochwitz singen eindeutig "Vögelein" und genau so eindeutig finde ich auf verschiedenen Internetseiten diesen Text:


    Vöglein Schwermut

    Ein schwarzes Vöglein fliegt über die Welt,
    das singt so todestraurig . . .
    Wer es hört, der hört nichts anderes mehr,
    wer es hört, der tut sich ein Leides an,
    der mag keine Sonne mehr schauen.


    Allmitternacht, Allmitternacht
    ruht es sich aus auf dem Finger des Tods.
    Der streichelt's leis und spricht ihm zu:
    »Flieg, mein Vögelein! flieg, mein Vögelein
    Und wieder fliegt's flötend über die Welt.


    Die musikalische Ähnlichkeit ist in der Tat frappierend, aber ich frage mich warum ein Komponist solche Änderungen am Text vornimmt, denn in der zweiten Strophe werden aus aus "Vögelein" "Vögelchen". Einleuchtend ist, dass sich "andres" besser singt als "anderes" und wenn ich meinen Ohren noch trauen darf, wurden aus dem "Finger des Tods" mehrere gemacht. Man kann das für "buchhalterisch" halten, aber wenn man ein Lied schon genau betrachtet, dann tauchen eben solche Fragen auf ...


    Die von der Sopranistin Rebecca Broberg gesungene Version (ich nehme an, dass Du dich auf diese Aufnahme beziehst) gefällt mir ein klein wenig besser, hauptsächlich in den zwei letzten Textzeilen, aber die Dame hat ja auch etwa 30 Sekunden mehr Zeit für ihren Vortrag.

  • Morgensterns Gedicht löst Betroffenheit aus, wenn man sich ihm lesend hingibt. Eine Daseinsbefindlichkeit wird mit lyrischen Worten zu fassen versucht, die den Menschen, wenn sie von ihm befallen ist, in die Nähe des Todes führt. Depression nennt das die heutige Psychologie. Die deutsche Sprache hat dafür das viel konkretere, bildhaftere und deshalb gewichtigere Wort Schwermut.


    Betroffenheit stellt sich ein, weil Morgenstern den Schrecken der Schwermut mit fast kindlich naiver Sprache und entsprechenden lyrischen Bildern umschreibt. Ein Vöglein fliegt um die Welt. Es singt todestraurig, es flötet, aber der Tod hat es ausgesandt.
    Ich habe mich gefragt: Welche von den beiden Vertonungen (Zemlinsky/ E.J. Wolff) wird dem lyrischen Text in dieser seiner ganz spezifischen Aussage am ehesten gerecht?


    Sie sind beide auf ihre Weise gelungen, aber es liegen ihnen unterschiedliche kompositorische Intentionen zugrunde. Zemlinsky ist mehr musikalisch deskriptiv ausgerichtet. Er will die einzelnen lyrischen Bilder mit musikalischen Mitteln ausmalen: Das Fliegen des „Vögleins Schwermut“, das Ausruhen desselben „auf dem Finger des Todes“ und die Ansprache durch eben diesen Tod. Aus dieser Grundhaltung heraus verwendet er auch lautmalerische kompositorische Mittel, wie etwa diese Flatterfigur aus Zweiunddreißigsteln im Klavierdiskant.


    Wolff will dagegen dem Hörer die Todesnähe dieses „Vögleins Schwermut“ in musikalisch suggestiver Weise nahebringen. Deshalb auch dieses drei Mal wiederkehrende, ganz in Moll- und verminderte Harmonik getauchte musikalische Motiv des Klaviervorspiels, das mit seinen flirrenden Zweiunddreißigstel-Triolen etwas Irrlichterndes, ja Beängstigendes an sich hat.


    Suggestiv wirkt bei Wolff auch das lang anhaltende monotone Deklamieren auf tiefen Tönen, das dann mit einem Mal in einen melodischen Bogen in hoher Tonlage umschlägt, - dann wenn es um Worte geht, in denen sich die zentrale Aussage des Liedes sprachlich verdichtet.


    Viel bedrohlicher als bei Zemlinsky wirkt bei ihm das „Flieg, mein Vögelein“. Bezeichnenderweise heißt es bei Zemlinsky „mein Vögelchen“. Es ist ganz konsequent, wenn er den Diminutiv „Vögelchen“ verwendet. Er verstärkt damit kindlich-naiven Grundton des Gedichts auf, den er ja auch musikalisch mit seinem „Flattermotiv“ aufgegriffen hat.


    Während bei Zemlinsky in der Logik dieses kompositorischen Ansatzes auf diesem Vers ein einfacher, abwärts gerichteter Tonschritt liegt, ist es bei Wolff ein tonaler Dreischritt, wobei das Wort „Flieg“ in extrem hoher Lage gesungen wird, dann ein großer tonaler Sprung nach unten folgt und danach, bei dem Wort „Vögelein“ wieder ein Schritt nach oben. Das wirkt überaus eindringlich, spitz und bedrohlich.


    Ich meine, dass Erich J. Wolff die Bedrohlichkeit und Todesnähe, die hinter den lyrischen Bilder dieses Gedichts von Morgenstern aufschimmert – und damit dessen eigentliche dichterische Aussage – musikalisch besser eingefangen hat, als dies Zemlinsky gelungen ist.


    Aber es zeigt sich wieder einmal, was ich schon in unzähligen Beiträgen hier darzustellen versuchte: Komponisten lesen lyrische Texte auf ihre je ganz eigene Weise. Und diese unterschiedliche Rezeption, auf die man in Liedvergleichen stößt, schlägt sich dann in unterschiedlicher musikalischer Faktur nieder. Und sie geht oft auch einher mit Eingriffen in den lyrischen Text. Da wird dann mal eben aus dem "Vögelein" ein "Vögelchen", weil dieser Diminutiv dem Einfangen der evokativen Kraft der kindlich-naiven Bilder, das der Komponist mit seinem Lied versucht, eher entspricht. So bei Zemlinsky geschehen.


  • Es ist mir ein Bedürfnis, auf diese CD in diesem Thread aufmerksam zu machen, auch wenn es dabei nicht primär um Zemlinskys Musik geht. Alle Liedtexte sind im Booklet abgedruckt und der einführende Text ist eine gute Informationsquelle. Wie man sehen kann, handelt es sich um Lieder, die vom Orchester begleitet werden, aber diese Begleitung ist bei entsprechenden Texten recht zurückhaltend. Die Liedtexte stammen von Dehmel (4), Hartleben, Falke(2), Rilke(3), Heine, Bierbaum(2), Werfel und Novalis(2)

    Auf Alma Mahler als Kompositionsschülerin Zemlinskys hatte ich bereits in einem anderen Beitrag hingewiesen. Durch ihre Ehe mit Gustav Mahler und ihrer Stellung in der Gesellschaft wurde sie als Komponistin nicht besonders gewürdigt, aber es ist bekannt, dass Gustav Mahler Almas Arbeiten in späteren Jahren dann doch unterstützte. Ein schon fast volksliedhaftes Liedchen ist "Leise weht mein erstes Blühen"; mit schönem Wohlklang - das zarte Bild einer Mutter. Die Kmponistin nannte sich damals noch Alma Schindler. Der Sopran von Charlotte Margiono wird bei diesem Lied so sensibel vom Orchester begleitet, dass man es fast wie ein Klavierlied empfindet.

    Leise weht ein erstes Blühen (Rainer Maria Rilke)
    Leise weht ein erstes Blühn
    von den Lindenbäumen,
    und, in meinen Träumen kühn,
    seh' ich dich im Laubengrün
    hold im ersten Muttermühn
    Kinderhemdchen säumen.


    Singst ein kleines Lied dabei,
    und dein Lied klingt in den Mai:
    blühe, blühe, Blütenbaum,
    tief im Traubengarten,
    blühe, blühe, Blütenbaum,
    meiner Sehnsucht schönsten Traum
    will ich hier erwarten.


    Blühe, blühe, Blütenbaum,
    Sommer wird dir's zählen.
    Blühe, blühe, Blütenbaum,
    schau, ich säume einen Saum
    hier mit Sonnenstrahlen.


    Blühe, blühe, Blütenbaum,
    balde kommt das Reifen,
    blühe, blühe, Blütenbaum,
    meiner Sehnsucht schönsten Traum
    lehr mich ihn begreifen,
    Singst ein kleines Lied dabei,
    und dein Lied ist lauter Mai.


    Und der Blütenbaum wird blühn,
    blühn vor allen Bäumen,
    sonnig wird dein Saum erglühn
    und verklärt im Laubengrün
    wird dein junges Muttermühn
    Kinderhemdchen säumen.

  • Dieses Gedicht von Morgenstern muss eine große Faszination auf moderne Komponisten ausgeübt haben. Das kann man ja auch verstehen, artikuliert es doch lyrisch eine bedeutsame problematische Seite modernen Lebensgefühls. Neben den bereits hier vorgestellten Komponisten, die das Gedicht vertont haben ist noch ein dritter zu nennen: Heinz Tiessen. Vielleicht gibt es ja noch weitere, aber ich kenne sie nicht.


    Heinz Tiessen ( 1887 - 1971) ist eine Größe des Berliner Musik- und Konzertlebens im zwanzigsten Jahrhundert. Er war zunächst Kapellmeister an der Berliner Volksbühne und wurde dann später Direktor des Städtischen Konservatoriums (1946-49) und danach Direktor an der Akademie der Künste. Er komponierte Werke für Klavier, Orgel, Kammerorchester, ferner Bühnenmusik und Lieder und verfolgte dabei einen gemäßigt modernen Stil.


    Sein Lied auf den Text von Morgenstern atmet tiefe Tristesse und Resignation. In langsamem Tempo bewegt sich die Singstimme durch eine das ganze Lied prägenden Moll- und verminderte Harmonik. Keine Spur von den Hörer bedrängender Bedrohlichkeit von der Art Zemlinskys oder gar Wolffs ist da zu hören, nur stilles Einvernehmen mit der Todesnähe der lyrischen Bilder.


    Schon das Klaviervorspiel prägt den Charakter des Liedes: Über einem tiefen, lang gehaltenen Ton im Klavierbass erklingen punktuelle Einzeltöne im Diskant, die aufsteigen, dann wieder abfallen und in einen leise verklingenden Akkord münden.


    Lyrische Schlüsselwörter bekommen einen besonderen melodisch-harmonischen Akzent. So entfaltet sich über dem Wort „todestraurig“ eine weit ausholende und danach in die Tiefe abfallende melodische Linie. Bei dem Vers „der tut sich ein Leides an“ steigt die Singstimme in große Höhen und verharrt dort, als wolle sie sich gar nicht mehr weiter bewegen.


    In tiefer Lage wird das „Allmitternacht“ gesanglich artikuliert. Auf dem Wort „Tods“ liegt ein einziger Ton, der mehr als einen Takt lang gehalten wird. In gar keiner Weise deklamatorisch drängend, wie bei Zemlinsky oder Wolff, erklingt die Ansprache durch den Tod: „Flieg, mein Vögelein“. Die melodische Linie bewegt sich hier, wie im ganzen Lied, ruhig, und sie durchläuft nur geringe Tonintervalle. Eher einschmeichelnd, verlockend klingt das, und in gar keiner Weise drängend.


    Die beiden Schlussverse wirken wie ein lakonisch gedämpfter Ausklang des Liedes. Die melodische Linie der Singstimme beschreibt einen nur kleinen Bogen in mittlerer Tonhöhe und verklingt danach.

  • Noch ein zweites Gedicht wurde sowohl von Alexander Zemlinsky, wie auch von seinem Freund Erich J. Wolff vertont: „Irmelin Rose“. Der Autor des Gedichts ist J. P. Jacobsen (1847-1885)


    Seht, es war einmal ein König,
    als den reichsten pries man ihn,
    und der beste seiner Schätze
    hieß mit Namen Irmelin.
    Irmelin Rose, Irmelin Sonne,
    Irmelin alles, was schön war.


    Schier von jedem Ritterhelme
    Wehte ihrer Farben Schein,
    und mit jedem Reim der Sprache
    klang ihr Name überein:
    Irmelin Rose, Irmelin Sonne,
    Irmelin alles, was schön war.


    Freier kamen scharenweise
    Hergezogen zum Palast,
    und mit zärtlichen Gebärden
    klang ihr Schmeicheln ohne Rast:
    Irmelin Rose, Irmelin Rose,
    Irmelin alles, was schön ist.


    Doch die Prinzessin jagte
    All die Freier schnippisch fort.
    Fand an jedem etwas zu tadeln
    Hier die Haltung, dort das Wort.
    Irmelin Rose, Irmelin Sonne
    Irmelin alles, was schön ist.


    Das Lied ist mit „etwas bewegt“ überschrieben und weist ein zweitaktiges Vorspiel auf. Es steht in F-Dur und gehört zu Zemlinskys Opus 7.


    Ein tänzerischer Rhythmus liegt ihm zugrunde. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich vom ersten Vers an rasch, in einem heiter lyrischen Grundton, dem aber immer wieder, bei aller Dur-Harmonisierung ein Moll-Klang und verminderte Harmonik in der Klavierbegleitung beigegeben ist. Rasch bewegt sie sich, als hätte sie in all den vier Strophen nichts anderes im Sinn, als bei diesem Refrain „Irmelin Rose“ zu landen und ihn melodisch auszukosten.


    Das geschieht zwar in jeweils variierter Form, aber die zugrundeliegende melodische Linie ist immer die gleiche: Ein in hoher Stimmlage sich entfaltender und zärtlich klingender Preisgesang, dem gleichwohl ein Anflug von Wehmut beigegeben ist. Er hat etwas Eindringliches, etwas das nach dem Hören des Liedes hängenbleibt.


    Ein neuer Ton kommt mit der dritten Strophe in das Lied: Es ist der eines akzentuierten Deklamierens in epischer Absicht. Aber er hält nicht lange vor, denn der Refrain naht wieder, und damit der hohe lyrische Ton des Preisgesangs.


    Vor der letzten Strophe erklingt ein Zwischenspiel, das mit einer raschen Aufwärtsbewegung von Zweiunddreißigsteln im Klavierdiskant eingeleitet wird. Das Bild vom „Stahlherz“ wird musikalisch eingeleitet. Das „Doch“ erhält einen deutlichen Akzent, und zwar dadurch, dass ihm eine kurze Pause folgt. Und genauso wird das Wort „fort“ musikalisch herausgehoben.


    In überaus zärtlichem Ton erklingen die letzten beiden Verse. Der Name „Irmelin“ wird, in hoher Lage gesungen, sogar noch einmal wiederholt. Nach dem Wort „alles“ tritt, überaus effektvoll, eine Pause in die melodische Linie, bevor auf den Worten „was schön ist“ mit einer großen Dehnung auf einer fallenden Quinte das Lied endet und all die ihm innewohnende lebhafte Rhythmik zur Ruhe kommt.

  • Das Lied setzt ohne Klaviervorspiel ein. Die Singstimme deklamiert silbengtreu. Die Melodiezeilen umfassen jeweils ein Verspaar, greifen aber ineinander. Und ihre Höhepunkte liegen dabei jeweils auf dem Namen „Irmelin“. Der wird schon bei seinem ersten Auftauchen am Endes des vierten Verses in herausgehobener Weise auf einem hohen Ton deklamiert.


    Das Lied weist zahlreiche Taktwechsel auf. So erklingt zum Beispiel der Refrain an Ende der Strophen in einem wiegenden Dreivierteltakt. Aber die melodischen Linien sind dabei keineswegs identisch, sondern, so angelegt, dass von Strophe zu Strophe eine expressive Steigerung in immer höhere Tonlagen erfolgt.


    Eine leichte Dramatik kommt mit Beginn der dritten Strophe in das Lied: Es wird rascher und taktlang auf einem Ton deklamiert. Aber schon bei dem Bild von den „zärtlichen Gebärden“ klingt wieder Dreiviertelt auf.


    Vor der letzten Strophe ist ein langes Klavierzwischenspiel zu hören. Mit dem ersten Vers kommt dann Tempo in die melodische Linie: Das Davonjagen der Freier wird akzentuierter und rascher Deklamation musikalisch artikuliert. Schon mit dem dritten Vers kehrt aber wieder ein ruhiger Erzählton in das Lied ein.


    Am Ende mündet er in den pathetischen, stimmlich in hohe Lagen ausgreifenden Refrain. Auf den letzten Worten „was schön ist“ liegt ein Bogen mit langer Dehnung in hoher Stimmlage.

  • Zemlinsky hat drei Gedichte von Goethe vertont: „Feiger Gedanken bängliches Schwanken“, „Elfenlied“ und „Wanderers Nachtlied“ („Der du von dem Himmel bist“), und man ist natürlich neugierig, wie ein moderner Komponist gerade mit dem Gedicht umgegangen ist, das man in großen Vertonungen aus der Zeit des romantischen Klavierliedes kennt und das eben gerade Gegenstand der Betrachtungen im Thread Franz Liszt ist.


    Der klangliche Grundcharakter ist der einer in Moll- und verminderte Harmonik gehüllten elegischen Klage. Die Singstimme bewegt sich in ruhigen Schritten über einer rein akkordischen, atonal weite harmonische Räume durchschreitenden Klavierbegleitung. Interessant sind die Akzente, die durch die Struktur der melodischen Linie gesetzt werden, denn sie geben Auskunft darüber, wie der Komponist das Gedicht gelesen hat.


    So erfolgt bei dem Wort „Himmel“ ein Ausgreifen in hohe Lagen, in denen die Singstimme erst einmal verbleibt, bevor sie bei dem Wort „stillest“ in tiefere Lagen abfällt und auf einer Dehnung innehält, als wolle sie das lyrische Bild auskosten.


    Auf dem Vers „Den, der doppelt elend ist“ liegt eine melodische Linie, die, ganz in verminderte Harmonik eingebettet, ausgesprochen elegisch wirkt, weil sie ganz statisch angelegt ist und nur um eine kleine Sekunde von ihrer tonalen Basis abweicht.


    Bei dem Vers „Doppelt mit Erquickung füllst“ bewegt sich die melodische Linie aber wieder nach oben und hält bei dem Wort „füllst“ inne, als wolle sie auf den Vollzug dieses Gnadenaktes warten. Der Vers „Ach, ich bin des Treibens müde“ wird in tiefer Lage deklamiert, wieder mit verminderten Akkorden begleitet. Die Müdigkeit ist sehr deutlich zu vernehmen.


    Die Frage: „Was soll all der Schmerz und Lust“ erklingt in drängendem Ton und in hoher Stimmlage. Bei „Komm, ach komm“ steigt die melodische Linie der Singstimme in die höchsten Lagen des ganzen Lieds auf und beschreibt dort einen lang gestreckten Bogen. Bei dem Wort Brust erklingt, überraschend für dieses Lied, in den Klavierakkorden reine Dur-Harmonik. Das Klaviernachspiel besteht nur noch aus Einzeltönen, die im Pianissimo verklingen.


    Nicht nur musikstrukturell gesehen, also von seiner Melodik und seiner Harmonik her, ist Zemlinskys Vertonung dieses Goethe-Gedichts eine moderne kompositorische Rezeption. Man kann hören, wie sich hier ein - aus dem Leiden der eigenen Existenz hervorgehendes – Erlösungsbedürfnis mit großer emphatischer Eindringlichkeit musikalisch artikuliert.


    Die Modernität des Liedes wird einem ganz besonders bewusst, wenn man es auf dem Hintergrund des Schubert-Liedes auf den gleichen Text hört. Man erinnert sich plötzlich an die Bemerkung von Fischer-Dieskau zu eben diesem Schubertlied: „Wer so um Frieden bittet, der hat ihn schon.“ Zemlinsky hatte ihn hörbar nicht!

  • Vielleicht ist dies abstruse Spinnerei: an einen Thread, dessen letzter Beitrag von 2011 herrührt, einen enzyklopädisch angewehten Anhang zu platzieren; aber ich persönlich halte Zemlinsky für einen derart wichtigen, substanzreichen Liedkomponisten, dass ich gerne behilflich sein möchte, Klarheit und Ordnung zu stiften bezüglich der im Thread immer wieder umkreisten und angefragten Menge der Lieder.


    Es sind 111 KLAVIER-Lieder. Quelle ist das in der außerordentlich empfehlenswerten Biographie des weltweit besten Zemlinsky-Kenners, Antony Beaumont, enthaltene Werkverzeichnis. Beaumont hat gleichermaßen als Dirigent, Rekonstrukteur, Herausgeber und eben noch als Haupt-Biograph Überragendes für die Renaissance von Zemlinskys Musik geleistet. Die Biographie erschien auf Deutsch 2005. Bereits 1995 aber gab er heraus die sämtlichen Lieder ohne Opuszahl, die sich im Nachlass erhalten haben, ohne die Fragmente. Da der Verlag RICORDI ist, kennzeichne ich diese Quelle stets mit "R". - Die Lieder MIT Opuszahlen sind heutzutage alle wieder käuflich erhältlich. Zwei Lieder o. Op. von 1934/35 liegen der amerikanischen Ausgabe von op. 22 bei.


    Auch stimme ich mit Helmut Hofmann völlig überein, dass "Heilige Nacht" aus op. 2 nicht repräsentativ für Zemlinskys Liedschaffen ist. Ich habe nun 7 Gruppen gebildet, A bis G. Und ich gehe sogar soweit zu sagen: Während man von "D" bis "G" kaum etwas weglassen möchte/kann, führt eine einseitige Auswahl bei "A" bis "C" zu einer Verzerrung in der Wahrnehmung der spezifischen Qualität dieses Liedkomponisten. Im vorhandenen Bewusstsein von Subjektivität selektiere ich also bei den ersten drei Rubriken. Ich nenne jeweils die ganze Quantität, rücke aber mit Titeln doch bestimmte Lieder in den Vordergrund. Und: ich beschränke mich auf die Klavierlieder, wie schon erwähnt.


    Alexander Zemlinsky hat wahrscheinlich von allen Liedkomponisten seiner Epoche den eigenartigsten, weitesten musiksprachlichen und -stilistischen Weg zurückgelegt. Beginnt als hochmusikalischer Spätromantiker, aber teils noch mit "geliehener" Sprache, findet bereits in op. 2 teilweise zu unverkennbarem Eigenton, der im Spätherbst 1898 mit op. 7 radikal durchbricht. In eigentümlichen stilistischen Wellen bewegt er sich spätestens ab "Schlummerlied" (1905) auf ein völlig eigenständiges freitonales Idiom zu, das 1916 mit den Hofmannsthal/Baudelaire-Liedern bereits voll ausgeprägt ist und in den 1930er-Jahren mit größter Selbstverständlichkeit verfeinert wird.


    A) 16 erhaltene Lieder 1889-92, darunter viele durch Doppelvertonungsaspekte interessante Lieder, u.a. nach Eichendorff, Johann Mayrhofer(!), Heine, Paul Heyse. R (Ricordi).


    B) 17 Lieder 18(94)95-96, darunter 4 ohne Opuszahl, z,B. "Nun schwillt der See" nach Paul Wertheimer. R. - Op. 2/Heft 1: 7 Lieder, darunter "Geflüster der Nacht" (Storm), "Der Liebe Leid" (aus dem Türkischen), "Mailied/Zwischen Weizen und Korn" (Goethe), (!) "Vor der Stadt" (Eichendorff) - Op. 2/Heft 2: 6 Lieder, darunter (!) "Frühlingstag" (Karl Siebel), "Im Lenz"/zweite Bearb. (P. Heyse), "Das verlassene Mädchen" (Otto von Leixner)


    C) 15 Lieder 1896(zweite Jh.) - Frühjahr 1898, darunter ein Heyse-Lied ohne Opuszahl. R. - Op. 5/Heft 1: 4 Lieder, darunter "Schlaf nur ein" (P. Heyse) - Op. 5/Heft 2: 4 Lieder, darunter "Tiefe Sehnsucht" (Detlev von Liliencron - Doppelvertonungen Brahms 1888, Pfitzner 1896), "Im Korn" (Franz Evers) - Op. 6: Sechs Walzergesänge nach den Toskanischen Liedern von Ferdinand Gregorovius (SO hab ich Zemlinsky kennengelernt - Jugendstil, süffig, feinsinnig, spätromantisch, alles gut - aber doch Welten entfernt von vielen späteren Liedern, wo man zeitweise noicht glauben kann, dass sie vom gleichen Schöpfer stammen...)


    D) 18 Lieder Herbst 1898 - 1901. Jetzt geht's "zur Sache"... Der Schritt von op. 6 Nr. 6 zu op. 7 Nr. 1 ist kaum nachvollziehbar. (Forscht man aber genauer nach, wann Chr. Morgensterns Gedicht FRÜHESTENS öffentlich zugänglich war, wird klar, dass diese Nr. 1 sicherlich als LETZTES dieser Lieder komponiert wurde.) Am ehesten knüpft Zemlinsky bei der Nr. 5 an die Welt der "Walzergesänge" an. Nr. 2 und 3, seine ersten Dehmel-Vertonungen, sind in der Harmonik völlig anders verortet als die bislang geschriebenen Lieder. Und bei der Nr. 4, "Irmelin Rose" (nach Jens Peter Jacobsen aus dem Dänischen von Robert Franz Arnold), klar, lieber Helmut Hofmann muss man da an die Charakterzüge der Widmungsträgerin Alma Maria Schindler denken; aber A. Beaumont hat die Quellen geklärt: die Lieder waren sämtlich schon komponiert, der Verlagsvertrag mit Wilhelm Hansen im Januar 1900 unterzeichnet, bevor es im Februar 1900 zur ersten Begegnung kam, und bevor Zemlinsky am 10. III. Alma spontan die Widmung antrug. Freilich erschienen die Lieder erst im August 1901, und die Affäre der beiden neigte sich bereits dem Ende zu... - Op. 8: 4 Lieder, darunter (!) "Und hat der Tag all seine Qual" (wieder JPJ/RFA), "Tod in Ähren" (kein Tippfehler - D. v. Liliencron) - Op. 10: 6 Lieder, alle wichtig. Nr. 1 "Ehetanzlied" (O. J. Bierbaum) schlägt die Brücke zu drei (!) Brettl-Liedern, 1901 für Ernst von Wolzogens "Überbrettl" in Berlin entstanden, drei deswegen, weil "In der Sonnengasse" (Arno Holz) in ZWEI Versionen vorliegt; und eben "Herr Bombardil" (Rudolf Alexander Schröder). R.


    E) 11 Lieder der 1900er-Jahre, alle R. - 4 Einzellieder 1903-05, darunter überragend "Über eine Wiege" (D. v. L.) und "Schlummerlied" ( = eine Strophe aus Richard Beer-Hofmanns Gedicht "Schlummerlied für Mirjam") - 2 Balladen Frühjahr 1907, auf dieselben Texte, die A. Schönberg im selben Jahr vertonte (Zemlinsky schneidet keine Spur schwächer ab!) - 5 Lieder Spätherbst 1907 nach Richard Dehmel, alle wichtig.


    F) 10 Lieder der 1910er-Jahre. Sechs Maeterlinck-Gesänge op. 13 (dt. Friedrich von Oppeln-Bronikowski), zurecht berühmt...(1910/1913) - 4 Lieder Sommer 1916 (alle R.) - Drei nach H. v. Hofmannsthal, das vierte nach Charles Baudelaire "Harmonie des Abends" (dt. Anton Englert), unbeschreiblich schön und eigen.


    Exkurs: Jetzt kommen die Orchesterlieder. Anfang der 1920er-Jahre wird die geniale Kammerorchestration der Maeterlinck-Gesänge fertig, 1922-23 folgt die "Lyrische Symphonie" op. 18 mit Sopran, Bariton und großem Orchester nach 7 Tagore-Gedichten (d., Hans Effenberger), 1929 (sieben) "Symphonische Gesänge" op. 20 nach deutschen Übertragungen afro-amerikanischer Lyrik.


    G) 24 Lieder der 1930er-Jahre. 1933 "Und immer gehst du" o. Op. für tiefe Stimme (August Eigner). R. - 1934 Sechs Lieder op. 22 (vier nach Chr. Morgenstern, zwei nach Goethe) sowie "Das bucklichte Männlein" (Des Knaben Wunderhorn) - 1935 "Ahnung Beatricens" nach dem jetzigen Ehemann Alma Schindler-Mahlers, Franz Werfel. - ALLE diese Lieder sind Höhepunkte, nicht nur in Zemlinskys Liedschaffen. - Die Summe: Zwölf Lieder op. 27, komp. 1937, nach der Vollendung des Particells der letzten Oper "Der König Kandaules"; Lieder nach George, Goethe, indischen und afro-amerikanischen Quellen. - Und ein wehmütiger Nachtrag aus dem überhaupt nicht bewältigten Exil, Sommer 1939 in New York erstellt, stilistisch bewusst regredierend, unter dem Pseudonym "Al Roberts" verfasst, "Three Songs", nach einer deutschsprachigen Hobby-Dichterin in englischer Übertragung vertont, im Stil veredelter Unterhaltungsmusik, SO berührend, wenn man beim Hören den ganzen Kontext mitdenkt, -fühlt.


    Soweit mein kleiner Überblick. Der natürlich mit Leben gefüllt werden müsste.


    Robert Klaunenfeld

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