Klassische Musik ist auch Arbeit!

  • Hallo allerseits,


    angeregt durch die Diskussion in "Interpretationen für die Zeitgenossen - oder für die Nachwelt?" bin ich ein wenig ins Grübeln gekommen:


    Der Threadtitel suggeriert mindestens die Absicht des Interpreten, sich für einen der beiden Wege zu entscheiden. Aber ist dies wirklich der Regelfall? - Wenn ich in ein Konzert oder eine Opernaufführung gehe, denke ich natürlich immer, dass der Abend etwas besonderes ist. Und implizit setze ich stets voraus, dass dies genauso für die jeweiligen Künstler/Interpreten gilt. Schließlich geht es ja um große Kunst, der mit einer gewissen Ehrfurcht zu begegnen ist ...


    Und dann wird mir plötzlich bewusst, dass meine im Konzert oder der Oper verbrachte Freizeit auf nichts anderem, als auf der Arbeit der Künstler fußt. Und wie sauer einem Arbeit manchmal werden kann, hat sicherlich jeder schon einmal erlebt!


    Wie ist das also? Was denkt der Orchestermusiker über die hehre Kunst, wenn er jeden Abend im Orchestergraben sitzt? Was ist, wenn die Finger nach Jahren des Geigespielens gichtig verkrümmt sind? Wie nimmt ein Paukist die Musik um ihn herum wahr, wenn er kaum noch hören kann?


    Wie oft hat sich ein Karajan (oder ein anderer Sänger, Dirigent etc. des jeweiligen Vertrauens) mit seinen unzähligen Aufnahmen die Frage des o.g. Threads wohl wirklich gestellt? Und kann man das den Aufnahmen eventuell anhören?


    Vielleicht können ja die hier schreibenden aktiven (Profi-)Musiker mein "verschobenes Bild" etwas geraderücken!

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Lieber MSchenk!


    Viele gute Fragen stellst Du da, und die könnte man alle an einem gemütlichen Abend mit der einen oder anderen Flasche Wein als Inspirationsquelle besprechen.

    Der Threadtitel suggeriert mindestens die Absicht des Interpreten, sich für einen der beiden Wege zu entscheiden. Aber ist dies wirklich der Regelfall? - Wenn ich in ein Konzert oder eine Opernaufführung gehe, denke ich natürlich immer, dass der Abend etwas besonderes ist. Und implizit setze ich stets voraus, dass dies genauso für die jeweiligen Künstler/Interpreten gilt. Schließlich geht es ja um große Kunst, der mit einer gewissen Ehrfurcht zu begegnen ist ...


    Mein erster Gedanke war: So? Ist das wirklich so? Auch Sonntags nachmittags in der Oper, wenn die Seniorenabonnements-Vorstellung dran ist und der GMD wegen eines lukrativeren Vertretungsrufes ganz dringend in die Großstadt X musste, um die Oper Y als Einspringer für den erkrankten lokalen GMD Z zu dirigieren und nun der 2. Kapellmeister ran muss, der die Einstudierung geleitet hat und bei den Schlussproben assistierte?


    Freut der sich über seine Chance oder hadert er mit den Mechanismen des Opernbetriebs - vielleicht sind ja auch einige Orchestermitglieder und Choristen in dieser Vorstellung auch nicht mehr ganz so motiviert wie bei der Premiere, vielleicht singen die B-Solisten, und wenn dann nicht mal der Chef dirigiert, dann muss man sich ja als Tuttischwein am 5. Pult nicht soooo sehr verausgaben ...


    Das mit der Ehrfurcht ist so eine Sache. Sicher war allen Aufführenden irgend wann mal in ihrem Leben klar, dass Musik etwas ganz besonderes ist, die uns auf rätselhafte Weise berühren kann. Darum haben sie Musik studiert und das zu ihrem Lebensinhalt gemacht. Aber die Routine, die geringen Freiheitsgrade als Orchestermusiker oder Chorist, die vielleicht mit den interpretatorischen Entscheidungen der jeweiligen Dirigenten häufig nicht einverstanden sind und dieselben vielleicht auch menschlich nicht gerade anziehend finden, ...


    Das mit der Ehrfurcht nutzt sich ab. Der religiöse Ottonormalbürger ändert etwas in seinem Verhalten, wenn er eine Kirche betritt, wird andachtsvoll, wie auch immer. Der Organist - bestimmt ein gläubiger Mensch -, der an über 300 von 365 Tagen im Jahr in der Kirche ist, um an der Orgel zu üben oder in Gottesdiensten und Konzerten zu spielen, packt nach zwei Stunden Üben an der Orgel sein Butterbrot und seinen Orangensaft aus und stärkt sich an heiligem Orte ganz profan. - So ähnlich könnte es auch sein, wenn man die fünfzigste Zauberflöte in seinem Leben fidelt, pfeift, schmettert, paukt. Es verliert seinen Zauber, wenn man unter ungünstigen Umständen arbeiten muss - unangenehmer GMD usw. Der Zauber muss immer wieder neue Nahrung erhalten, um lebendig zu bleiben.


    Wie ist das also? Was denkt der Orchestermusiker über die hehre Kunst, wenn er jeden Abend im Orchestergraben sitzt? Was ist, wenn die Finger nach Jahren des Geigespielens gichtig verkrümmt sind? Wie nimmt ein Paukist die Musik um ihn herum wahr, wenn er kaum noch hören kann?


    Siehe oben - krasse Beispiele sind denkbar. - Glaubt den aber z. B. den Berichten der Münchener Philharmoniker über Celis Zeit, dann waren sie damals sehr glücklich. "Bei Celi ist mir wieder eingefallen, warum ich Musik studiert habe" - solche und ähnliche Zitate konnte man da hören. - Wenn jemand aus körperlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, in einem Ensemble sinnvoll mitzwirken, muss man sowieso überlegen, wie man mit der Situation umgeht.


    Wie oft hat sich ein Karajan (oder ein anderer Sänger, Dirigent etc. des jeweiligen Vertrauens) mit seinen unzähligen Aufnahmen die Frage des o.g. Threads wohl wirklich gestellt? Und kann man das den Aufnahmen eventuell anhören?


    Das hängt sicher von der Psyche und den Aufführungsmöglichkeiten ab. Ein junger Dirigent, der ein Probenkontingent am Rande des absoluten Minimums zugeteilt bekommen hat - und dafür noch dankbar sein muss -, wird alles Augen- und Ohrenmerk darauf legen müssen, das Werk ohne Unfälle über die Klippen zu bekommen. Ein Karajan, der sich als Chef so viele Proben für ein Konzert nehmen konnte, wie er wollte, hatte ganz andere Möglichkeiten, an einer "ewig gültigen" Wiedergabe zu arbeiten (z. B. bei Schönbergs op. 31, an dem er über Monate und Jahre immer wieder arbeitete - sogar auf Tourneen, in denen dieses Werk nicht auf dem Programm stand, wurde immer mal wieder zwischendurch eine Variation geprobt.)


    Wer ein entsprechendes Sendungsbewusstsein hat, kann natürlich in einer entsprechenden Position daraufhin arbeiten, "für die Ewigkeit" zu arbeiten. Aus meiner Sicht muss dies Illusion bleiben. Aber es ist sicher eine schöne Illusion. Warum nicht.


    Vielleicht können ja die hier schreibenden aktiven (Profi-)Musiker mein "verschobenes Bild" etwas geraderücken!


    Ich bin kein Profimusiker, jedenfalls verdiene ich meinen Lebensunterhalt nicht überwiegend mit Musik. Ich arbeite im Laienchorbereich. Für einige Projekte kann ich mir Zeit nehmen und lange vorbereiten, andere Auftritte werden einfach vorgegeben und sind notwendig, weil die Chöre auch ihren Platz im Dorfgeschehen haben und sich nicht so einfach ausklinken können, ohne die lokale Bindung zu verlieren. Da muss man musikalische Kompromisse machen, um die sozialen Bindung zu pflegen. - Es ist besser, nicht ganz so perfekt zu singen, als gar nicht zu singen. Die Frage nach der "Arbeit für die Ewigkeit" stellt sich da erst gar nicht.

  • Das wird wohl von jedem Musiker anders gesehen werden.
    Wer von einer Solistenkarriere geträumt hat und beim Orchester eines Provinzobernhauses gelandet ist, der wird vermutlich Frust empfinden - Hass auf den Kollegen, der da immer wieder an der gleichen Stelle "patzt", Hass auf das was er auf der Bühne sieht, und Unbehagen wenn er immer wieder anonym und "unbedankt" spielen muss. Widerwillen gegen den Mann am Pult, der für den erkrankten "Hausdirigenten" einspringt und dem Orchester mitteilen will, was es die letzten 20 Jahre alles falsch gemacht hat.
    Dann jemand, der die Solistenkarriere geschafft hat - vielleicht sogar gegen den eigenen Willen. Er leidet unter dem Dauerstress "perfekt" sein zu müssen - er hasst Aufnahmestudios und das Publikum. Und er hat Angst davor seine eigenen Aufnahmen live nicht qualitativ erreichen zu können. Er mag keine Reisen - und ist zu ihnen gezwungen. Warum nimmt so jemand eine Solokarriere überhaupt auf sich? Vermutlich deshalb warum wir alle unseren Job machen - des lieben Geldes wegen......und vielleicht auch, weil man letztlich den Ruhm dann im Stillen doch geniesst.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Klassische Musik ist weiß Gott Arbeit, mein Vater war 40 Jahre Geiger bei den Berliner Philharmonikern und hat angefangen als Geiger im Stummfilmkino und hat sich zu den Berlinern empor gegeigt!
    Als ich in Berlin einen Schulkameraden abholte fragte mich seine Mutter "Na, in welcher Kapelle spielt Dein Vater eigentlich".
    Ja das ist Berlin....


    Aber im Ernst, das ist kein leichter Job und die Musiker verdienten nicht soviel wie heute, hatten es oft mit Dirigenten zu tun, die sie nicht so gut fanden! Naja das ist heute wohl genauso! Ich bewundere heute die vielen Solisten am Klavier und allen anderen Instrumenten, die SOLO unterwegs sind, denn das ist Streß pur, Reisen, genug Konzerte zu haben, um leben zu können .....


    Zu allem gehört nicht nur das Talent, sondern auch der Wille, auf sehr viel zu verzichten zu müssen.


    :hello:

    mucaxel

  • Ich erinnere mich sehr gut daran, als ich zum ersten Mal in der Pause mit den verehrten Musikern, die gerade beeindruckendes geleistet hatten, die Treppe runter in Richtung Kantine ging. - Und wie die Geigen auf den Schultern lagen, wie einer eine Karnevalsmusik pfiff, wie über Motorräder geredet wurde und dann schnell ein paar Bierchen verschwanden.
    Und mein Freund, Bratschist, der mich schnell überzeugte, dass langer Beifall schlicht und einfach die Arbeitszeit verlängere...


    Das ist alles sehr prosaisch und auch ernüchternd.


    Ich kenne aber auch die Situation, dass wir nach einem Konzert (Cesar Franck) ins Parkhaus kamen und überall hörte man gesummt oder gepfiffen das Thema des Konzerts, weil es auch die Musiker nicht mehr losging. Und nach einem Brucknerkonzert ging das halbe Orchester noch zusammen in eine Kneipe, weil man das Schöne nicht einfach so enden lassen wollte.


    Das zu wissen, ist dann auch wieder sehr schön.


    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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  • Aber ich denke mal hart arbeiten muss man in jedem Beruf wenn man nicht nur Dienst nacht Vorschrift machen will. Und auch der kleine Büroangestellte wird neidisch auf seinen Vorgesetzten sein. Aber ich kann mir schon vorstellen das es für einen jungen Dirigenten frustierend sein muss, wenn man Stücke zum dirigieren zugeweisen bekommt, die sonst keiner will. Auch Christian Thielemann hat in einem Interview gesagt, das er an der Rheinoper als Kapellmeister auch Stücke dirigieren musste, die er eigentlich nicht mochte. Weiterhin meinte er, dass man sich einfach durchbeißen muss, denn nur so lernt man sein Handwerkszeug für später. Wie ich finde eine sehr gute Einstellung. Wie oft habe ich es an der Rheinoper erlebt, dass Orchestermusiker beim Schlussapplaus schon gar nicht mehr im Orchestergraben waren, wenn irgendein Gastdirigent dirigiert hat.

  • .
    Ein Zitat des großen Humoristen und Analytikers der bayerischen Seele, Karl Valentins.
    (Und momentan der Titel einer Münchner Ausstellung, die sich dem Wirken von Kuratoren, Restauratoren, Historikern etc. im Hintergrund einer Gemäldesammlung widmet)


    Man verzeihe mir dieses lässig hingeworfene Bonmot, das dem Thema nicht unbedingt mehr Substanz verleiht, aber mir bei dem Titel doch sofort in den Sinn kam und so ungemein gut passt...

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • "Es ist das Einfache, das schwer zu machen ist."B. Brecht


    Aber der meinte was ganz anderes! 8-)


    Aber: "Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst." F. Schiller

  • Auch Christian Thielemann hat in einem Interview gesagt, das er an der Rheinoper als Kapellmeister auch Stücke dirigieren musste, die er eigentlich nicht mochte.


    Ja, Ballettabende. Dabei fühlte er sich doch schon damals zu Höherem berufen.
    Aber dem Orchester konnte man es anhören, dass sie ungern unter Th. spielten - beruhte wohl auf Gegenseitigkeit.


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Ich kriege die Geschichte nicht mehr ganz hin: Jedenfalls gab es einen sehr langen Opernabend und die Bratschisten hatten irgendwann so 70 Takte Pause. Da kamen sie auf die Idee (das ganze spielt in den NIederlanden) sich dafür Fritten zu bestellen. Das hat auch gut geklappt, aber nachher gab es mehrere Beschwerden von Besuchern wegen des Frittenduftes, der sich aus dem Orchestergraben ausbreitete.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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