Liebe Forianer!
Der in der Fachwelt umstrittene österreichische Dirigent Peter Jan Marthé ist der Auffassung, daß Bruckners Dritte (ungeachtet dreier im Druck erschienener Versionen von 1873, 1877 und 1889) „unvollendet“ sei und einer „Restaurierung“ bedürfe, zu der Bruckner selbst nicht mehr gekommen sei. Deshalb hat sich Herr Marthé erlaubt, an Bruckners Statt diese tiefgreifende Neufassung nunmehr selbst herzustellen. Dazu hat er aus den verschiedenen, von der Bruckner Gesamtausgabe vorgelegten Partituren eine Kompilation erstellt und zusätzlich erheblich in die Instrumentation eingegriffen (unter anderem durch Hinzuziehen einer Baßtuba, obwohl Bruckner selbst in all seinen letzten Umarbeitungen der Ersten, Zweiten und Dritten auf dies Instrument verzichtet hatte). Er plant zunächst für den August 2005 fünf Aufführungen unter eigener Leitung im Alpenraum. Ob diese Partitur auch im Druck veröffentlicht werden soll, geht aus seinen bisherigen Äußerungen nicht hervor, wohl allerdings der Anspruch, so der Autor, „die Dritte nun erstmals allen, auf dem gesamten Globus verteilten, zahlreichen Bruckner-Fans in ihrer ganzen Größe und Wucht“ zu offenbaren. Für den Moment möchte ich mich dazu noch jeder kritischen Meinungsäußerung enthalten. Allerdings bin ich der Ansicht, daß seine Äußerungen der kritischen Hinterfragung dringend bedürfen – in der Sache ebenso wie im Ton. Daher im Folgenden drei sehr umfangreiche Texte, die ich im Zweifelsfall herauszukopieren und in Ruhe daheim zu verdauen bitte – eine Polemik des Autors zu seiner Arbeit, ein früheres Interview zu seinem Brucknerverständnis sowie der offizielle Lebenslauf. (Eine englische Übersetzung der Polemik wird zur Zeit auch im Anton Bruckner Club von Yahoo international diskutiert.)
Beste Grüße, Benjamin-Gunnar Cohrs
*********************
ANTON BRUCKNER: III. SYMPHONIE D-MOLL „WAGNER-SYMPHONIE“
in einer vollständigen Neuversion 2005 von Peter Jan Marthé
16. 8., Brixen, Dom
17. 8., Schwaz, Knappendom
18. 8., Mondsee, Stiftskirche
19. 8., St. Florian, Stiftskirche
20. 8., Gaistal Arena / Seefelder Plateau, Klangdom Leutasch (open air)
European Philharmonic Orchestra
Peter Jan Marthé
„Erst, wenn man alle jene, nun endlich vorliegenden Autographe zur Dritten (von 1873 bis 18889!) miteinander in Beziehung setzt, kann man entfernt erahnen, welche gigantische, für die damaligen Zeitgenossen absolut unvorstellbare, neue Form von „Symphonie“ Anton Bruckner vorgeschwebt haben muß! Bedauerlicher Weise ist es Bruckner trotz wiederholter, verzweifelter Versuche Zeit seines Lebens nicht gelungen, diese neue, bis dato beispiellos gebliebene „symphonische Idee“ (jedoch in einem über einen Zeitraum von 16 Jahren sich hinstreckenden Splitterwerk) in einer für die Nachwelt verbindlichen Partitur zu fixieren. Nach mehr als 130 Jahren ist es nun endlich an der Zeit, dieses Problem zu lösen und die Dritte in einer Fassung vorzulegen, welche die bisher nie gehörte Wucht dieser Symphonie einem breiten Publikum weltweit zugänglich macht.“ (Peter Jan Marthé)
**********************************
[Informationstext von Marthé zum Projekt Dritte Sinfonie von Anton Bruckner/Bearbeitung Marthé 2005]
BRUCKNERS DRITTE — DESASTER ODER EINE NEUE DIMENSION VON MUSIK?
Ausgerechnet mit jener Symphonie, mit der Bruckner sich die Gunst Richard Wagners zu erkaufen suchte – seine Dritte –, hinterließ der Komponist bei einem Ableben ein ein-ziges Trümmerfeld. Und so sah die Hinterlassenschaft aus: erste Fassung von 1873, zweite Fassung 1877, selbständiges Adagio zur Dritten 1876 und dritte Fassung 1889 (wobei es in dieser Version zum letzten Satz nicht einmal ein Autograph aus der Hand des Komponisten gibt, sondern nur ein stark verstümmeltes Finale von Franz Schalk). Fazit der Musikwissenschaft: „Nach nunmehriger Vorlage des gesamten auffindbaren Notenmaterials zur Dritten ist es nicht möglich, eine Partitur zu ermitteln, die der eindeut-igen Intention des Komponisten entspricht. Für die gegenwärtige und zukünftige Aufführungspraxis bleibt also weiterhin das Problem, in jedem einzelnen Fall die Entscheidung zugunsten einer der vielen Werkgestalten zu treffen!“ Univ.-(Prof. Dr. Leopold Nowak) Es ist also wirklich an der Zeit, sich Bruckners Schmerzenskind von einem vollkommen anderen Gesichtspunkt her zu nähern. Nach mehr als einhundertdreissig Jahren wird sich die Dritte nun erstmals allen, auf dem gesamten Globus verteilten, zahlreichen Bruckner-Fans in ihrer ganzen Größe und Wucht offenbaren.
WAS DRINNEN IS, MUASS AUSSA
Der 16. Dezember 1877 sollte für Anton Bruckner zum größten Fiasko seines Lebens wer-den. Ort des Geschehens war der legendäre Goldene Saal des Wiener Musikvereins, am Programm stand seine Dritte, Bruckner selbst dirigierte die Wiener Philharmoniker. Das Publikum verließ in Scharen und lauthals lachend den Musikverein, am Schluß hockte Bruckner weinend am Podium, umringt von einigen wenigen, ziemlich ratlosen Getreuen (unter ihnen übrigens Gustav Mahler). Was war geschehen? Nach etlichen präludierenden, symphonischen „Aufwärmübungen“ – unter anderem auch seine beiden ersten „offiziellen“ Symphonien I und II – braute sich in Bruckner etwas zu sammen, das auf einen gewaltigen inneren Vulkanausbruch mit all seinen unabsehbaren Folgen hinauslief. „Was drinnen is, muass aussa!“, meinte Bruckner – und die Dritte nahm riesenhafte Gestalt an. Bruckner musste schon bald erkennen, dass seine neuen kompositorischen Pläne auf nichts weniger hinausliefen, als auf eine Neuerschaffung der „Symphonie“ durch einen radikalen Umsturz aller bisher geltenden, durch Beethoven etablierten klassisch-symphonischen Gestaltungsprinzipien. Die Symphonie sollte nicht länger Turnier-Arena für thematisch-musikalische Hochleistungs-Shows kraftstrotzender Komponisten sein, sondern das Medium schlechthin, um über Musik die archaisch-magischen Innenwelten des Menschen nach außen zu tragen! Mit der Dritten fand Bruckner nicht nur seine ureigenste Form des Komponierens, vielmehr war er zu nichts weniger angetreten, als zurErstürmung des Himmels mittels der Neuerschaffung der Symphonie. Der hämische Kommentar seitens tonangebender Herrschaften wie Brahms, Hanslick, Kalbeck & Co: „Purer Schwindel, einfach zum Totlachen!“
BRUCKNER CONTRA WAGNER?
Bruckner wagte darüber hinaus noch einen atemberaubenden Spagat. Devot bot er zwar Wagner die Widmung einer von Wagner-Zitaten platzenden Symphonie an, die jedoch im selben Atemzug eine unüberhörbare Kampfansage an den selbstherrlichen Wagnerschen Machtanspruch war, dass nämlich die „Symphonie“ ohnedies seit Beethovens Neunter bankrott sei und im Musikdrama (d.h. natürlich im Wagnerschen Musikdrama!) die einzig legitime Fortsetzung gefunden hätte. Wie bekannt, hatte sich Wagner dafür ebenso den Segen Beethovens geholt, wie sich Bruckner seinerseits für seine geradezu unerhörte Tat vorab des Segens seitens Richard Wagners versicherte (nachdem Wagner diese Widmung akzeptierte, eliminierte Bruckner bekanntlich wieder einen Großteil der Wagner-Zitate aus der Symphonie!). In der Tat ungeheuerlich: Siegfrieds Schwert (Bruckners Dritte) sollte Wotans Speer (Wagners Anspruch auf Vormachtsstellung des Musikdramas) zertrümmern! P.S.: der wohlverdiente, posthume Sieg Bruckners gegenüber Wagners wahnwitzigem Anspruch der Vormachtstellung seines Musikdramas könnte daher nun in der Irritation aller Wagnerianer liegen: nämlich die Wagner herausfordernde Dritte nun endlich in ihrer von Anfang gewollten Form und gigantischen Größe offenbar werden zu lassen, und damit der alten Auseinandersetzung neue Nahrung zuführen, wem denn nun die Palme gehört – der Symphonie oder dem Musikdrama. Aber noch hatte Bruckner viel zu hoch gepokert und bezahlte mit dem Desaster von 1877. Mehr noch, beinahe die ganze, ihm noch bleibende Lebenszeit wird Bruckner nicht mehr ruhen, um in immer neuen, verzweifelten Anläufen der Dritten ihre endgültige Gestalt zu geben. Vergeblich, wie wir längst wissen. Sie blieb unvollendet (wie die Neunte auch), aber in dem Sinne, dass wir nicht wissen, wie sie letztendlich wirklich ausgesehen hätte.
NICHT NEUN SONDERN SIEBEN
Die großen musikalischen Kunstwerke der Menschheit lassen sich niemals durch kunsttheoretische, musikwissenschaftliche Analysen erhellen. Denn in ihnen finden wir den Widerhall von universellen Zusammenhängen und kosmischen Gesetzmäßigkeiten. So ist auch ein Jahrtausend-Genie wie Bruckner wesentlich mehr als das, was er von sich selbst und seinem Werk zu wissen wähnt, oder gar, welchen äußeren Eindruck er auf seine Umgebung gemacht hat. Welche Fraktion sich auch immer anmaßt, Bruckner für sich in aller Ausschließlichkeit beanspruchen zu dürfen, beweist damit nur, dass diejenigen Herrschaften nichts von der wirklichen Abgründigkeit dieser Musik verstanden haben. Bruckner ist bei Gott mehr als nur der katholisch-fromme Spielmann Gottes. Seine Musik berührt den Urgrund des Seins, wo es weder „katholisch“ noch „buddhistisch“, weder dieses, noch jenes gibt, sondern nur dasjenige, was die Mystiker als den „NAMEN- UND GESTALTLOSEN ABGRUND“ erfahren haben. Von der Dritten zur Neunten – hier schließt sich ein magischer Kreis. Beide in d-Moll, beide unvollendet, beide ein scheinbar unüberbrückbares Paradoxon aussprechend. Die eine beginnt „buddhistisch“ (= die essentielle Leerheit aller Erscheinungen atmend, wie dies die neuesten physikalischen Erkenntnisse bestätigen) und endet „katholisch“ (= die prachtvoll-göttliche Fülle der Schöpfung verkündend, wie wir Menschen sie mit all unseren Sinnen erleben); die andere (die Neunte) beginnt „katholisch“ und endet „buddhistisch“. Das ist aber bei Gott noch längst nicht alles. Diese sieben sogenannten „Symphonien“ (also II bis IX) haben in Wahrheit mit der herkömmlichen „klassischen Symphonie“ so gut wie gar nichts mehr zu tun, sondern sind nichts anderes als „archaische Rituale der Klänge“. Jeder Interpret, der diesem Umstand nicht Rechnung zu tragen vermag, wird an diesen monumentalen Klanggebilden wie an einem Felsenriff gnadenlos zerschellen.
GEERDETE SPIRITUALITÄT
Bruckner hat also in Wahrheit sieben und nicht neun Symphonien geschrieben. Ob Musikwissenschaftler, ausführender Musiker oder passiver Hörer: wer Bruckner wirklich verstehen will, muss sich von jedweder Schulweisheit verabschieden und bereit sein, in den Abgrund zu springen. Sieben und nicht neun ist alles andere als Zufall, ist selbst schon Botschaft. Wie schon gesagt, mit der „Neunten“ schließt sich der Kreis, den er mit seiner Dritten begonnen hat. Wie sollte es auch anders sein, ist doch die „Sieben“ diejenige magisch- heilige Zahl, die „Irdisches“ (=4) und „Himmlisches“ (=3), also Körperliches, Seelisches und Geistiges zu einer unzertrennlichen Einheit verbindet – in Zahlen ausgedrückt: 3+4=7. Und was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen! Wenn also diese „Sieben“ als die Zahl Gottes eine so wesentliche Wahrheit über unser Dasein offenbart, hätten unsere Theologen noch Einiges nachzuliefern für den Menschen des dritten Jahrtausends. Da Bruckner diesen allen um Lichtjahre voraus ist, ist seine Musik auch die Musik des dritten Jahrtausends. Denn das ist die umwerfende Botschaft Bruckners: Wie „oben“ so „unten“ oder wie es im „Vaterunser“ heißt: wie im Himmel, so auf Erden. Irdisches-Himmlisches, Materie-Geist, Menschliches-Spirituelles – grundsätzlich geht es um eine geerdete Spiritualität, die das ganze volle Leben umspannt, von der „Erde“ bis zum „Himmel“. Niemals zuvor schnaubten und stampften vor einem himmlischen Adagio derartig heidnisch-archaische Klänge durch den Raum, wie im Scherzo seiner Neunten. „Ich schreib´ meine Symphonien so, wia ´s Leben halt is´. Meine eigentlichen Gebete und Aussprachen mit meinem Herrgott sind meine Symphonien....der Herrgott is´ weit mehr, als in oana Kirch´n Platz hat. Sol ´n sie sich meine Sach´n doch nur amol richtig anhör´n!“ meinte Bruckner einmal. Auch dies ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Dritte wie ihre große Zwillingsschwester, die „Neunte“ unvollendet geblieben sind. Ein Tatbestand, der den Vergleich mit den gotischen Kathedralen Frankreichs geradezu herausfordert. Keine einzige von ihnen ist jemals wirklich vollendet worden. Hie wie dort: nur unvollendete Werke können in die Ewigkeit hineinragen, weil sie wie der offene Zen-Kreis Raum für das „Unaussprechliche“ (ein anderes Wort für „unmittelbare Erfahrung“, „Himmel“, „Ewigkeit“, „Nirvana“, „Reich Gottes“ etc.) geben.
UNBEKANNTE REGIONEN DES GEISTES BETRETEN
Aus all dem Gesagten sind nun die für die Erstellung einer Neufassung notwendigen praktischen Konsequenzen zu ziehen. Denn die notwendige Inangriffnahme einer neuen Version der Dritten ist kein musikwissenschaftliches oder gar ein stilistisches Problem, sondern eine elementare Auseinandersetzung mit dem, was Musik, im Speziellen diejenige Bruckners dem Menschen des Dritten Jahrtausends zu sagen hat. Dies muß die alleinige Zielsetzung sein und nur diese wird logischerweise auch das Procedere sowie die grundlegenden Entscheidungen – die Details betreffend – vorgeben. Ähnlich wie Kafkas literarisches Schaffen verkörpert für mich Bruckners Werk den grandiosen und einzigartigen Versuch einer musikalischen Objektivierung der innersten, subjektiven Welt des Komponisten – einschließlich seiner Gefühle und Erlebnisse. Deshalb ist gerade in diesem speziellen Fall auch nicht der Musikwissenschafter, sondern der Künstler (der sowohl als Komponist als auch als Interpret seinen Mann zu stellen vermag und daher weiß, worum es geht) aufgerufen, sich der großen Herausforderung einer fundamentalen Neufassung zu stellen. Auch wenn er heute landauf, landab unermüdlich gespielt wird – Bruckner ist noch nicht wirklich entdeckt. Grund genug, sich gerade der Dritten anzunehmen und diese nun in einer Gestalt auferstehen zu lassen, die den M e n s c h e n – gleichgültig ob Musiker oder nicht – unmittelbar unter die Haut geht.
BRUCKNER – KUNST FÜR DEN MENSCHEN
Grundsätzlich ist nicht der Mensch für die Kunst da, sondern umgekehrt. So ist auch Bruckners Musik nicht für die Experten da, sondern für alle jene Menschen, die dieser Musik bedürfen, welcher Herkunft, welches Bildungsgrades auch immer. Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist die Dritte eine lautstarke Kampfansage seitens Bruckners an die alberne Doktrin der klassischen Musiktheorie, dass es so etwas gäbe wie eine „absolute Musik“. Bruckners elementar symphonische Antwort darauf gleicht einem Meteor-Einschlag in das gepflegt-häusliche Gemüsegärtlein eines spießbürgerlichen Musikverständnisses. Ich schreibe keine Symphonien, sondern archaische Rituale der Klänge! Bruckner verabscheute die kuschelweiche Salon-Kunst des 19. Jhdts. „Man hat mich in Wien arg zusammengeschreckt!“ – so hatte sich Bruckner im snobistischen Wien scheinheilig zusammengeduckt, bevor er zum großen Schlag ausholte und sich anschickte, die gewaltigste Symphonie aller Zeiten zu konzipieren, die alle bisher gekannten Dimensionen musikalischer Vorstellungskraft sprengen sollte. Wir wissen sehr wohl, wie Zeitgenossen mit solchen „Fällen“ und deren „anmaßende Ambitionen“ zu allen Zeiten umzugehen pflegen. Aber was vermögen schon die Hanslicks, Kalbecks & Co´s und deren spätere Nachfahren Brucknerschen Sturschädeln aller Zeiten halbwegs Ernstzunehmendes entgegenzusetzen?
MIT BLICK AUF DEN HIMALAYA
Um es allen verschworenen Gegnern einer „neuen Version“ der Dritten nicht allzu einfach zu machen: sobald Bruckner auf seinem kompositorischen Gipfelsturm jeweils ein neues „Plateau“ erreicht hatte, zog er sogleich alle übrigen seiner symphonischen „Kinder“ nach. Also: bei Bruckner von „Urfassungen“, Bruckners „authentischem Willen“ zu reden ist reiner Unsinn. Die Zeit ist reif, sich nun auch der Dritten anzunehmen, um sie auf denjenigen „Gipfel“ zu heben, den Bruckner schlussendlich mit der Siebten, Achten und Neunten erklommen hat. Soviel darf jetzt schon verraten werden: was sowohl die neue Version als auch die daraus folgende Interpretation der Dritten betrifft – es wird kein Stein auf dem anderen bleiben! Schon allein die Besinnung auf die richtigen Tempi wird die ganze Symphonie in einem völlig anderen Licht aufstrahlen lassen. Was mit der Dritten wirklich gemeint war und ist, offenbart nur der Blick auf die Siebte, Achte und Neunte und auf das, was daran so sensationell „neu“ ist. Auf der daraus gewonnenen Erkenntnis ergibt sich dann wie von selbst die Strategie einer „Restaurierung“ der Dritten. Denn Bruckner hat mit seiner Dritten in der abendländischen Musik bislang unbekannte Regionen des Geistes betreten, überirdische „Kraftfelder“ angezapft, zu denen kein anderer Komponist bis dato vorgedrungen ist. Kein Wunder also, dass Bruckner – mehr oder weniger überrascht von einem metaphysischen Vulkanausbruch – über kein adäquates „Gefäß“ formaler Fertigkeit verfügte, um die von ihm innerlich geschauten/erlebten Klangwelten auf den Boden irdischer Realität zu bringen. Erst ab der Siebten stand ihm das geistige Instrumentarium zu Verfügung, seine mächtigen Klang-Kathedralen auf Papier zu bannen. Was die nun anstehenden Restaurierungsarbeiten betraf, bedeutete dies konkret, zunächst einmal in die Proportionen, in die „Statik“ und Architektur des symphonischen Riesengebäudes einzugreifen: so werden etwa im Adagio aus der 3. Fassung von 1889 längere Passagen aus einer eigenen Adagio-Version von 1876 eingefügt. Des Weiteren werden die viel zu kurz geratenen Scherzo-Teile wie beim klassischen Beethoven-Scherzo wiederholt und mit der Scherzo-Coda aus der zweiten Version ergänzt. Im vierten Satz wird die in der dritten Version fehlende Reprise wieder eingefügt und so die architektonische Gesamtstatik dieses monumentalen Satzes zum ersten Mal hörbar gemacht. Einen weiteren fundamentalen, nichts desto trotz notwendigen Eingriff bedeutet die Hinzufügung der Tuba, die sich aus der für jeden Organisten auf der Hand liegenden „Pedal- Führung“ dieser Symphonie ergibt (Bruckner verfügte bekanntlich auf seiner großen Orgel in St. Florian über zwei gewaltige Baß-Register: Prinzipal 32´ und Bombarde 32´). Allein die Länge der neuen Version wird auf diese Weise eineinhalb Stunden Spielzeit erreichen und so Bruckners ursprünglicher Vision näher kommen, nämlich die „gewaltigste Symphonie zu schreiben, die es je gegeben hat“!
SCHREIBE MUSIK DER STÄRKE
Auch in dieser neuen Version wird und muss die Dritte weiterhin unvollendet und wie der Zen-Kreis „offen“ bleiben, wie die Kathedralen Notre Dame und Chartres. Aber sie wird sich zumindest in einer Gestalt präsentieren, die unmittelbar und elementar zu den M e n s c h e n spricht und nicht zum Fachpublikum. Gerade für die Dritte gilt, was Bruckner einmal über sein Schaffen insgesamt sagte: „Die Krankheit unserer Zeit ist Schwäche. Gerade deshalb muss ich da eine Musik der Stärke entgegensetzen!“ Natürlich bin ich gewappnet gegen diverse Attacken, die von allen möglichen Institutionen und ewig gestrigen Bruckner-Puritanern kommen werden. Aber sowie mich persönlich die atemberaubende Botschaft der Dritten wie ein Keulenschlag getroffen hat, bin ich überzeugt, dass diese neue Version auch jedem unbefangenen Hörer unmittelbar unter die Haut gehen und Portale des Lichts in die „Ewigkeit“ aufstoßen wird. Zu diesem Zweck und zu nichts anderem ist Bruckner auf diese Welt gekommen.
Innsbruck, den 2. Februar 2005, Peter Jan Marthé
****************************************
[Interview mit Marthé]
„BRUCKNER IST ANDERS! VON MAGISCHEN KLANG- RITUALEN UND PULSIERENDEN ENERGIEFELDERN“
ORF-Werkstattgespräch mit Peter Jan Marthé anlässlich des „KATHEDRALE DER KLÄNGE“ - Konzertes im Wiener Stephansdom am 25. August 2001 mit Anton Bruckners Symphonie VI, A-Dur. Redaktionelle Betreuung: Barbara Frey
Frey, Barbara: Herr Marthé, Bruckner gilt selbst bei eingefleischten Klassik-Liebhabern oftmals als eine schwer verdauliche Kost. Ist Bruckner schwer?
Marthé, Peter Jan: Eine fatale Verkennung dieser Musik, an deren Zustandekommen die Interpreten den größten Teil der Schuld bei sich selbst zu suchen haben, indem sie in Bruckner nicht tief genug hinabtauchen und in ihm oftmals nichts weiter sehen als einen „musikalischen Revolutionär“ oder gar nur einen schrulligen, katholisch-linientreuen „Musikanten Gottes“ oder sogar noch weniger...
F:....und was bedeutet Bruckner für Peter Jan Marthé?
M: Einer jener großen Geister, welche über den Weg des Klanges dem in die Banalitäten des Alltags verstrickten Menschen ein Tor zur Ewigkeit aufgemacht haben.
F: Ob bei internationalen Festivals in Mexiko, in Rimini, Modena, Arezzo, La Spezia, beim Klangbogen Wien oder im Bruckner-Heiligtum St. Florian oder etwa neuerdings beim dem spektakulären Open- Airprojekt „Klangdom am Berg“ mit Bruckners Neunter in 1400 m Höhe – Ihr Name als Bruckner-Dirigent wird inzwischen immer öfter als Geheimtipp gehandelt, der es versteht, selbst angesichts der bahnbrechenden Pionierarbeit Celibidaches in Sachen Bruckner dem Werk Anton Bruckners bisher nicht gekannte Seiten zu entlocken. Im Gegensatz zu anderen Veranstaltern von Klassik-Konzerten, die mit massiven Publikumseinbrüchen zu kämpfen haben, ziehen Ihre Bruckner-Darbietungen rapid anwachsende Fan-Gemeinden an. Was haben Sie, was die anderen nicht haben?
M: Ich glaube, das liegt einfach daran, wie ich mich der Musik generell nähere...
F: ...das ist ja meines Wissens in den Partituren schon exakt festgelegt.
M: ...einer der vielen Irrtümer, die den unmittelbaren Zugang zu Bruckner komplett blockieren. Daran krankt ja alles. Nach dem traditionellen Musikverständnis, das man übrigens im Musikstudium auch mir eifrigst einzuimpfen versuchte – Gott sei Dank ohne bleibenden Erfolg – müßte die so genannte „Werktreue“ das A und O aller menschlichen Bestrebungen sein.....d.h. je „selbstloser“ du dich an einen vorgegebenen Originaltext hältst, desto mehr dienst du angeblich dem Komponisten. Eine Partitur ist doch kein Kochbuch, wo ich mich an präzise Mengen-Angaben halten sollte, weil ansonsten wenig Genießbares herauskäme!
F: Erklären Sie mir dies bitte nun konkret am Beispiel Bruckner. Während Ihre Kollegen im Zusammenhang mit Bruckner-Symphonien von „musikalischer Architektur“, von „erweiterter Sonatenform“ oder „harmonischen Verläufen“ reden, sprechen Sie von „Klangritualen“, „energetischen Prozessen“, „Kraftfeldern“, „Kathedralen der Klänge“ etc., als ob es sich bei Bruckner in Wahrheit um gar keine Symphonien handelte. Was ist eine Bruckner-Symphonie nun wirklich?
M: Jener Eduard Hanslick, der damals als höchst einflussreicher Musikkritiker Bruckner medienmäßig den Garaus machte, hätte wie aus der Pistole geschossen geantwortet: „Eine tönend bewegte Form“. Welch ein Unsinn! Wann immer jemand versucht – ob Hörer, ob Interpret –, eine Bruckner-Symphonie mit den Werkzeugen der traditionellen musikalischen Ästhetik zu verstehen und – was noch viel schlimmer ist – zu interpretieren, kann nur scheitern. Denn auf diese Weise wird Bruckners Musik tatsächlich für den Hörer zum unverdaulichen Monstrum! Warum? Weil du als Hörer um das Wesentliche dieser Musik betrogen wirst: um das tiefe, spirituell-emotionale Erleben. Deshalb meine ich ja, eine Bruckner-Symphonie ist in erster Linie als ein „Ritual der Klänge“ zu verstehen und zu interpretieren. Und dies ist auch der Punkt, den Anton Bruckner wie kein anderer vor ihm und nach ihm in unsere abendländische Musik eingebracht hat.... ja, der in unsere Welt des intellektuell distanzierten Musikhörens oder des unverbindlichen L´art pour l´art-Vergnügens wie ein Meteor eingeschlagen und damals (und heute viel eicht noch mehr!) viele Musikfreunde verstört hat, weil sie dieser archaischen Wucht einfach nicht gewachsen waren. Es ist also höchste Zeit, daß auch das Publikum seine liebevoll gepflegten Vorurteile gegenüber Bruckner endlich einmal abbaut und sich einfach öffnet für eine Dimension von Musik, die in unserer abendländischen Musikgeschichte beispiellos dasteht: Musik als umwerfende Offenbarung einer Welt jenseits unserer Vorstellungskraft.
F: Was würde Ihr Lehrmeister Sergiu Celibidache zu diesen Ihren Bruckner-Ausführungen sagen?
M: Er wäre über alle Maßen entsetzt! Aber lassen Sie mich zunächst nochmals auf den Ritual-Charakter der Brucknerschen Musik zurückkommen, der mir äußerst wichtig ist. Sogenannte archaische Rituale hat jeder schon schon irgendwo einmal mitbekommen – ob im Kino, TV oder wie ich in Indien. Finden Sie wirklich, daß ein afrikanisches oder ein indianisches Ritual „schwer“ ist in dem Sinne, daß ich damit nichts anzufangen wüßte? Als Miterlebender ist man ganz einfach in ein sich allmählich aufbauendes, pulsierendes Energiefeld hineingezogen, das schließlich als ein powervolles, konkret erfahrbares Kraftfeld erlebt wird. Alle daran Beteiligten erleben spontan Heilung, Inspiration, Motivation – ihr Leben ist von etwas Gravierendem durchkreuzt worden. Ich selbst kann das bezeugen. Oder es genügt ja schon, wenn ein derartiges Ritual dazu verhilft, die Grenzen unseres normalen Alltagsbewusstseins auch nur für kurze Augenblicke zu sprengen. Das ist es ja, was Richard Wagner in seinem „Parsifal“ mit dem angeblich so dunklen Satz „....zum Raum wird hier die Zeit“ gemeint hat. Bruckner spricht in seinen Symphonien von nichts anderem: die Vernichtung der Zeit durch die Erschließung der „Inneren Räume“. Hier reicht Bruckner die Hand den größten Mystikern aller Zeiten, aller Religionen. Die charismatischen Bewegungen in den christlichen Kirchen besinnen sich wieder auf diese urchristlichen spirituellen Erfahrungsdimensionen. Wenn ich also Bruckner als ein „Magisches Ritual der Klänge“ definiere und zelebriere – ich meine dies ganz ernst –, wird sie niemals „schwer“ sein und wird auch vom Publikum so nicht empfunden. Schauen Sie doch mal bei einer unserer Bruckner-Aufführungen vorbei, Sie werden staunen, was sich da im Publikum abspielt.
F: Ihre persönliche Biographie weist erstaunliche Parallelen zu Bruckners Vita auf. Fällt Ihnen vielleicht dadurch der Zugang zu seiner Musik leichter als vielen Ihrer Kollegen? Wie Bruckner sind Sie abseits vom Getriebe der großen Welt aufgewachsen. Wie bei Bruckner hat sich bei Ihnen im Alter von dreizehn Jahren das ähnliche „Erweckungserlebnis“ ereignet: die Konfrontation mit der „transzendenten Wucht der Orgel“, wie Sie es selbst einmal beschrieben haben. Wie bei Bruckner liegen Ihre eigentlichen geistigen Wurzeln in den Ritualen der röm.-katholischen Kirche. Beide können Sie auf eine erfolgreiche internationale Organisten-Laufbahn zurückblicken. Einer der großen Höhepunkte bildete für beide ein Orgelkonzert in der Pariser Notre Dame. Ähnlich wie bei Bruckner steckt auch in Ihnen ein pädagogischer Missionar...
M: ... das mag schon sein. Aber viel gravierender empfinde ich die starke innere Verwandtschaft mit ihm, die ich als eine zutiefst innere, spirituell-emotionale Gemeinsamkeit empfinde und mir deshalb seine Musik als etwas von Urbeginn Vertrautes erleben läßt.
F: Gehe ich richtig in der Annahme, dass Vieles von dem an Erkenntnis, was Sie soeben dargelegt haben, nicht denkbar wäre ohne Ihre Begegnung mit Sergiu Celibidache?
M: Das ist absolut richtig. Aber ausschlaggebend war auch, dass ich, bevor ich Celi begegnete, in eine meiner tiefsten Krisen hinsichtlich der Identität als Musiker abgestürzt bin. Obwohl ich als Musiker sehr erfolgreich unterwegs war, zweifelte ich damals am Sinn der Musik selbst. Da ist eine rumänische Musikwissenschaftlerin an mich herangetreten und sagte mir nur: es gibt nur einen, der Ihnen in dieser Situation den Weg heraus zeigen kann: Sergiu Celibidache, gehen Sie zu ihm! Und genau so war es dann auch.
F: Um beim Thema zu bleiben, was haben Sie nun tatsächlich von Celibidache in Sachen Bruckner gelernt?
M: Als ich 1980 bei ihm zu lernen begann, habe ich das Wort „Bruckner“ von ihm nicht ein einziges Mal gehört, weil er selbst damals mit Bruckner ja noch ganz am Anfang stand. Das kam dann alles später im Kontakt mit seinen „Münchnern“. Aber da war ich ja längst schon nicht mehr bei ihm.
F: Eine Ironie des Schicksals ist es dann wohl, dass Sie immer öfter als Bruckner-Dirigent mit Celibidache als sein eigentlicher geistiger Erbe in Verbindung gebracht werden. Im August 2000 haben Sie mit der Jungen Österreichischen Philharmonie in St. Florian jene „Neunte“ nachgeholt, die eigentlich Sergiu Celibidache anlässlich von Bruckners Todesjahrs dortselbst dirigieren sollte. Leider kam es durch den plötzlichen Tod Celibidaches nicht mehr dazu. Wenn man nun Ihre Version von Bruckners „Neunter“ in St. Florian erlebt hat, ist einem wohl schon nach wenigen Takten klar, dass hier die Uhren anders gehen. Wer auch noch die großen Bruckner-Dirigenten wie Furtwängler, Knappertsbusch, Karajan oder gar ihren Lehrmeister Celibidache im Ohr hat, muss sich unweigerlich die Frage stellen, wie Sie es angesichts dieser enormen Hypothek zuwege bringen, einen von Grund auf neuen Bruckner-Stil so unverfroren in den Raum zu stellen.
M: Ich habe und hatte niemals auch nur im Entferntesten wie auch immer geartete Ambitionen, etwas so Abwegiges wie einen „neuen Bruckner-Stil“ auszuhecken. Diese Musik kommt einfach so tief aus mir heraus, als ob ich sie selbst komponiert hätte. Ich habe nicht die Wahl, etwas anders zu machen, als ich es tue. Tatsache jedoch ist, dass mir der Celi das Tor dazu aufgemacht hat. Von da an ging alles wie von selbst seinen Weg.
F:....womit wir bei einem der großen Weichenstellungen in Ihrem Leben wären...
M: Absolut, der Celi war sicher die wichtigste für meinen weiteren Weg. Einerseits hat er mir die Souveränität einer Dirigiertechnik vermitteln können, die mir heute ein größtes Maß an Sicherheit gibt, ein Orchester zu führen. Ein Fundament, auf das ich sehr, sehr stolz bin. Er hat mir aber auch das Wesen der Musik erschlossen und gezeigt, wo es wirklich lang geht. Es war tatsächlich eine von Gott geschenkte Offenbarung!
F: Was wäre ein Geiger ohne seine Stradivari? Auch ein Dirigent braucht ein erstklassiges Instrument zur Umsetzung seiner Intentionen. Sie weigern sich ja strikt, mit einem der sogenannten „professionellen“ Klangkörper zusammenzuarbeiten. Was haben die nicht, was Ihre „Junge Österreichische Philharmonie“ offensichtlich hat?
M: Ich habe gesagt, dass ich Bruckner mit keinem anderen Orchester machen kann...
F: Aber es gibt doch wahrhaft genug Orchester, die diese Musik hervorragend spielen können.
M: Ich kenne kein Orchester der Welt, das imstande oder auch nur bereit wäre, meine spezifischen Intentionen, sich der Brucknerschen Musik zu nähern, zu akzeptieren. Denn Bruckner erfordert ...
F: ... da muss ich doch wohl ein wenig nachhaken: die Probenarbeit mit einem Orchester wird ja wohl auch bei Ihnen nicht soviel anders aussehen, als bei jedem Ihrer Kollegen?
M: Doch, das tut sie aber! Sehen Sie, ich arbeite mit unheimlich starken Bildern und Visualisierungen, die sehr tief in die Seele eindringen – und so natürlich beim Musiker ein enormes, verborgenes energetisches Potential abrufen – wenn er nicht augenblicklich „dicht macht“, wie dies selbstverständlich ein Routinier tun muss, da er sonst seine Pensionierung nicht erlebt – denn so schädigend ist normalerweise Musiker-Routine tatsächlich für den Betreffenden. Musik ist Liebe! Fehlt diese, wird das Musizieren langfristig zum Alptraum. Zeigen Sie mir doch irgendeinen Musiker auf der ganzen Welt, der zwanzig Jahre lang im Orchestergraben gesessen ist und der sich dann bei Bruckner ganz verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln wischt, wie ich dies immer wieder bei meinen Musikern beobachte. Dieeses noch unmittelbar Berührtwerden-können ist aber eine der wesentlichsten Vorraussetzungen, um die volle Wucht eines Anton Bruckner ans Tageslicht zu heben. Da nützt mir selbst die blendendste Wiener Philharmonische Klangkunst herzlich wenig, wenn der Musiker selbst nicht mehr imstande ist, sein Herz zu öffnen, sich vielmehr hinter einer schrecklichen Patina aus Routine und „Professionalität“ versteckt! Deshalb versuche ich ja durch meine ganz spezifische Probenarbeit, in jedem Musiker das innere Kind wiederzuerwecken. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht das „Himmelreich“ betreten, sagt der Meister aus Nazareth – was nichts anderes heißt als: ...dann könnt ihr nicht in das Epizentrum eures Seins vordringen. Dort und nur von dorther bekommt die Musik eine Power, die dich augenblicklich umwirft. Musik mit einem anderen, d.h. geringeren Anspruch zu machen, interessiert mich nicht ...!
F: ... um nun nochmals auf die von Ihnen zu Beginn geäußerte Feststellung zurückzukommen: Sie meinen ja, dass Sergiu Celibidache Ihre Bruckner-Sichtweise nicht goutieren würde – ein ziemlich großer Widerspruch zum soeben Gesagten.
M: Selbstverständlich hatte ich immer schon ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Celi. Er war einerseits mein ganz großer Lehrmeister und hatte sich damals in der kurzen Lehrzeit bei ihm ....es war 1980/81...intensiv mit mir beschäftigt. Zugleich empfand ich ihn aber auch von allem Anfang an gefährlicher als den Todesbiss einer Königskobra. Er konnte einen versengen wie die Kerzenflamme den Schmetterling, der sich hypnotisiert der Flamme nähert und die Gefahr nicht bemerkt. Ich habe das damals nur allzu oft beobachtet in seiner Umgebung. Und das war sehr heilsam für mich, so dass ich wirklich meinen eigenen Weg gehen konnte und trotzdem heute auf das geistige Erbe Celis aufbauen kann. Umso mehr bewunderte ich seine gegenüber seinen Schülern selten gezeigte Größe, indem er mir 1981 zuredete: „Dein Weg verläuft woanders. Was Du suchst, wirst Du hier nicht finden. Geh´ in den Osten. Du musst nach einem Fundament graben, das tiefer liegt“ ...
F: ... und was war Ihre Antwort darauf?
M: ... ich habe fast sechs Jahre gebraucht, um diesen Schritt zu tun und alles auf eine Karte zu setzen: am 3. März 1987 hob dann der Flieger nach Indien ab....
F: ... womit wir nun bei der zweiten großen Weichenstellung Ihres Lebens angelangt wären ...
M: Das ist richtig. Der zweite Meteor-Einschlag meines Lebens ist natürlich Indien. Seine Philosophie, seine Spiritualität und natürlich die Kraft seiner Musik. Ich bin meinem Schicksal bis in alle Ewigkeit dankbar, dass es mich zu meinem eigentlichen Meister, Ameer Mohamad Khan geführt hat. Das war dann 1987. Durch den Einfluss des Celi auf mein Leben habe ich mit meiner bisherigen Musikerlaufbahn radikal Schluss gemacht. Ich habe damals alles auf eine Karte gesetzt und war entschlossen, mich dem Abgrund zu stellen – siegen oder fallen. Die Stunde meiner spirituellen und musikalischen Neugeburt war nun gekommen.
F: Könnten Sie dies näher erläutern?
M: Also das war 1987 bei meinem ersten Indien-Aufenthalt. Damals erfuhr ich bei einem Konzert mit großartigen indischen Artisten, die indische Musik spielten, auf beinahe dramatische und sehr persönliche Weise Musik als mächtig pulsierende Kraft- und Energiefelder. Dieses mehr oder weniger blitzartige Getroffenwerden von einer Dimension von Musik, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte, veränderte das Verständnis meiner eigenen „westlichen“ Musiktradition von Grund auf. Seitdem sehe ich die Aufgabe eines Dirigenten eher in der Steuerung von “energetischen Prozessen“ als in dem fragwürdigen Wunschdenken etlicher Kollegen, den Willen des Komponisten einigermaßen „objektiv“ erfül en zu können. Hier nun hat sich der Kreis zu dem, was mir der Celi mit auf den Weg mitgegeben hat, auf eine Weise geschlossen, die mich zutiefst erschüttert hat. Bei ihm hatte ich zwar das Brennholz zu stapeln gelernt, das eigentliche Feuer dazu hat mir jedoch noch gefehlt, die eigentliche In-Brandsetzung – das hat Indien besorgt. „Geh´ Richtung Osten“, hatte er mir gesagt ... Unglaublich!
F: Sie haben eingangs auf Ihre katholischen Wurzeln verwiesen, auf die Sie nach wie vor setzen. Andererseits kommen Sie immer wieder auf Ihre Indien-Erfahrung zu sprechen, die Sie ebenso mächtig geprägt habe, wie die katholische Tradition. Wie kommen Sie mit dieser enormen Polarisierung zurecht?
M: Ein äußerst fruchtbares Spannungsfeld. Der Liebe Gott hat mich nun einmal in die „Modellform“ der katholischen Spiritualität hingesetzt. Ich bin Christ, ich werde als Christ sterben. Aber sicher als einer, der weiß, daß der Glaube an den „einen Gott“ nicht heißt, daß ich dies oder das auszugrenzen habe, sondern der erfahren hat, daß „der eine Gott“ eine Einheit meint, außerhalb derer es nichts gibt! Verstehen Sie? Eins ist Eins ohne etwas Zweites. Alles ist darin enthalten. Ungeheuer ist diese Erfahrung! Wenn also der Credo-Ruf wie in z. B. in Bruckners f-Moll-Messe vom „einen Gott“ nicht nur eine Farce bleiben soll, bedeutet dies eine Menge aktiver Integrationsarbeit, bis die ganze Welt in Eins aufgeht. Der Katholik, der Buddhist, der Hinduist, der Moslem, der Atheist muß und wird auch zu dieser letzten und unwiderruflichen Einheit vordringen – unser aller Lebensziel. Diese ungeheure persönliche Tiefenerfahrung bestimmt seitdem auch meinen Umgang mit Bruckner. Denn Bruckner gibt uns einen Vorgeschmack davon. Und gerade hierin fühle ich eine mir vom Schicksal auferlegte Verpflichtung, über Celi hinauszugehen, was die Art betrifft, Bruckner in unserer Menschenwelt Klang werden zu lassen. Ich versuche „Kathedralen der Klänge“ zu bauen, in denen sich die Menschen in allen Dimensionen ihrer Menschlichkeit wiederfinden können. Genau das aber hatte der Celi bei Bruckner meiner Ansicht nach – bewußt oder unbewußt – verweigert.
F: ... sind Sie sich da ganz sicher, dass diesem Ihren Ansatz zumindest Bruckner zugestimmt hätte?
M: Aber natürlich, absolut! Kennen Sie etwa nicht einen jener ungeheuren Aussprüche Bruckners wie z. B. „Ich schreib´ meine Symphonien so, wia ´s Leben halt is´. Meine eigentlichen Gebete und Aussprachen mit meinem Herrgott sind meine Symphonien....der Herrgott is´ weit mehr, als in oana Kirch´n Platz hat. Soll´n sie sich (die geistlichen Herrn) meine Sach´n doch nur amol richtig anhör´n!“ Verstehen Sie, hier haben Sie Bruckner pur!!!......„Mister Hunderttausendvolt“....!!!! Er wurde uns geschickt, um im kommenden Jahrtausend, wo sich die Erde höchstwahrscheinlich endgültig in eine emotionale Eiswüste verwandeln wird, in den Menschen die Sehnsucht nach dem tiefsten Sinn unseres Hierseins am Leben zu erhalten. Denn Bruckner tut der Seele gut. Seine Musik atmet alles, was heutzutage konsequent aus dem Gesichtskreis unserer Lebensrealität verdrängt wird, wie Größe, Erhabenheit, Ergriffensein, Erschütterung, Herzenswärme, Sehnsucht nach mystischen Erfahrungen und echter Spiritualität, die von unserer Mutter Erde genährt wird. Die Menschen würden sich vielmehr mit Bruckner-Musik umgeben, wenn das auch etwas häufiger über die Rampe kommen würde ... ja, sehen Sie, das ist die Dimension, um die es bei Bruckners geht und alles, was sich nicht auf dieser Höhe bewegt, verfehlt das, was Bruckner eigentlich ausmacht! Jeder Bruckner-Interpret wird einmal an dieser Latte gemessen werden. Und ich hoffe – wenn einmal die Reihe an mich kommt – dabei nicht allzu schlecht abschneiden zu müssen.
******************************************
[Biographie]
DER DIRIGENT PETER JAN MARTHÉ: „KLASSISCHE MUSIK ALS ARCHAISCHE KLANG-RITUALE ZELEBRIEREN ...“
„Er ist ein Besessener. Marthé dirigiert so, dass jeder Wendung behutsam und mit zurückgenommenem Tempo intensive Aufmerksamkeit zukommt – auch hierin erweist er sich als Meisterschüler Celibidaches.“ (Süddeutsche Zeitung) Ob ein Symphoniekonzert auf dem 1400 m hoch gelegenen Gebirgsplateau im Tiroler Wetterstein-Massiv oder eine Bruckner-Symphonie auf dem 2000 m hohen Schweizer Hausberg „Rigi“ am Vierwaldstädtersee oder etwa die „Kathedrale der Klänge“-Projekte im Wiener Stephansdom, bei denen Bruckners Monumental-Symphonien als „archaische Rituale der Klänge“ dargeboten wurden – mit spektakulären Klassik-Projekten sorgt Peter Jan Marthé, der heiß umfehdete Bruckner-Dirigent und Meisterschüler des legendären Pultvirtuosen Sergiu Celibidache bei Publikum und Presse immer wieder für nachhaltiges Aufsehen. PETER JAN MARTHÉ, Chefdirigent des European Philharmonic Orchestra - „...in seinem früheren Leben der von Kunstskandalen begleitete Avantgarde-Organist, der sich heute als Dirigent dem kommerziellen Musikbetrieb entschieden verweigert...“ (Süddeutsche Zeitung) sieht seine Herausforderung vor allem darin, „...durch eine neue Emotionalisierung der Musik der gelegentlich etwas steril wirkenden Klassikszene einen provokanten Kontrapunkt entgegen zu setzen und mit einer konsequent verfolgten, alternativen Probenarbeit Interpretationen zu finden, die dem Publikum existentiell unter die Haut gehen“. „ ... eines steht fest: Marthé lässt niemanden kalt“. (Dolomiten/Bozen) Marthé ist Absolvent der Musikuniversität Wien in den Meisterklassen Dirigieren, Komposition und Orgel. Neben zahlreichen Konzerten in Frankreich, Deutschland, Österreich, Schweiz, Polen, Spanien, Portugal, Mexiko und Indien zählten vor allem seine Solo-Auftritte in der Pariser Notre Dame, im Markusdom von Venedig sowie im Großen Saal des Wiener Musikvereins zu den großen Höhepunkten seiner Karriere. Auftritte als Dirigent und Solist bei renommierten Festivals wie Klangbogen Wien, Festival Estival de Paris, Festival d´ Avignon, Festival international des Musiques Experimentales/ Bourges, Steirischer Herbst/ Graz, Musica Viva/München oder Sagra Musicale Malatestiana/ Rimini machten Marthé zum exponierten Interpreten sowohl zeitgenössischer Musik sowie der Symphonien Anton Bruckners. Als Komponist sieht Peter Jan Marthé seine Herausforderung darin, eine Klangsprache zu verwenden, welche darauf ausgerichtet ist, „nicht ein Fachpublikum zu bedienen, sondern vielmehr mit dem Menschen kommunizieren zu können und so über die Musik persönliche Erfahrungen auszutauschen.“ Schwerpunkte seines kompositorischen Schaffens bilden Werke wie „How do you do, Monsieur Marchand“ (1981/Wiener Musikvereinssaal), „Phantom Blues“ (1990), „AlpenRauschSymphony“ (1991 Klangart-Festival Osnabrück), „Kaiser des Anfangs“, ein Klangtheater (Münster/Köln 1992), „Blasophrenale“ für drei Blaskapellen, 50 Bläser und 30 Schlagzeuger (1992), „Sonnengesang“, Oratorium (1993), „Klangdom-Prolog“ (2001), „Stamp Music“ für großes Orchester (Mexico 2001); Mit dem 2003 komponierten, Otto von Habsburg gewidmeten „CONCERTO IMPERIALE Variationen über die österreichische Kaiserhymne“ vollzieht Marthé eine radikale musikalische Neuorientierung hin zur Zeitlosigkeit und zum „wärmenden Glanz“ der traditionellen Musiksprache der Klassik und Romantik. „EVVIA AUSTRIA“ (2005/Innsbruck) – eine musikalische Reise durch die Donaumonarchie nach einer Idee von Joseph Strauß. Des Weiteren diverse Bühnenmusiken sowie Filmmusik zu den Dokumentarfilmen „Feuer der Menhire“ und „Geheimnis der drei Frauen“ (RAI, BR, ZDF, ARD, ORF). Nicht nur seine Lernzeit bei seinem Meister Sergiu Celibidache in den Jahren 1981/82 sondern auch sein zweijähriger Indien-Aufenthalt 1987/88 bei Ustad Ameer Mohamad Khan in Jaipur/Rajasthan führten Peter Jan Marthé in „neue, ungeahnte und faszinierende Regionen des Musizierens“, die sich schon bald entscheidend auf seine nun folgende künstlerische Tätigkeit als Dirigent und Komponist auszuwirken begannen. 1994 gründet Peter Jan Marthé gemeinsam mit Yehudi Menuhin das EUROPEAN PHILHARMONIC ORCHESTRA, das er schon bald mit seinen außerordentlichen und aufwühlenden Bruckner-Interpretationen zu spektakulären Erfolgen führt und damit einer „Neuen Art elementaren Musizierens“ den Boden bereitet. 1995 wird Marthé von Yehudi Menuhin als Kuratoriumsmitglied in das weltumspannende Menuhin-Projekt „LIFE MUSIC NOW“ berufen. 2001 Verleihung des Titels eines „Honorarprofessors“ durch den Bundespräsidenten der Republik Österreich. 2003 Intendant des Festivals „AUSTRIA IMPERIAL“ in Innsbruck. (http://www.europ-phil.com)