Was ist Kitsch in der Musik?

  • Dieser Thread wurde angeregt durch den fleißigen Taminoianer Helmut Hofmann, kompetenter und eloquenter Apologet seiner Erkenntnisse und tief durchdachten Ausführungen zur Gattung des Liedes im allgemeinen wie im speziellen:


    Fragwürdig wird jede Art von Kunst, wenn sie auf eine Kumulation von Reizeffekten abzielt, hinter denen keine irgendwie fassbare künstlerische Aussage steht. Wenn man so will, ist das das zentrale Wesensmerkmal all jener "Kunstprodukte", die man unter den Begriff "Kitsch" subsumieren kann.


    Das ist ein hervorragender Ausgangspunkt für einen Versuch, den Begriff „Kitsch“ definitorisch genauer zu fassen.


    Aber zunächst Beispiele: Welche Werke sind für Euch Kitsch? Langsame Sätze von Rachmaninow? Gounods Paraphrase über das erste Präludium im WK I („Ave Maria“)? Mahlers Adagietto? Bachs Air? Der langsame Satz aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur?


    Wo zieht Ihr die Grenze zwischen Kitsch und Kunst? Hängt es eventuell von der Interpretation ab? Kann eine ernsthafte Interpretation ein Werk vor dem Etikett „Kitsch“ retten – und umgekehrt: Kann ein künstlerisch wertvolles Werk durch entsprechende Interpretation zu Kitsch werden?


    (Sollte ein ähnlicher Thread bereits existieren – ich habe keinen gefunden, der Kitsch im allgemeinen thematisierte, es wurden allerdings mehr als 50 Seiten Treffer angezeigt – bitte ich um Zusammenlegung mit diesem.)

  • Lieber Wolfram,


    Es gibt bereits 2 Threads zu diesem Thema:


    Darf Oper kitschig sein ?
    Kitsch in der Klassik


    Dennoch würde ich vorschlagen, wir beginnen das Thema neu aufzurollen - da kommen oft völlig andere Erkenntnisse zutage.
    Sollte jemand aber zusätzlich die alten Threads fortführen wollen . so bleibt ihm das unbenommen


    "Kunst ohne FASSBARE künstlerische Aussage" - das ist schon irgendwie schwer zu definieren.


    Nehmen wir ein Beispiel von Schubert. Das Ständchen "LAHAISE FLÄHEN MAINE LIEHIDER"
    Ein Kunstwerk - ohne Zweifel (oder zweifelt vielleicht doch jemand ?)
    Aber -Übertrieben interpretiert, bzw instrumentiert - kann man sich des Eindrucks, der Nähe zum Kitsch nicht erwehren - wenngleich - aus mir unbekannten Gründen - mich das Lied in meiner Jugend zu Tränen rührte


    Und hier tut sich die Frag auf, wer denn eigentlich bestimmt ab wann ein Stück "kitschig"
    oder nur "tief empfunden" ist.


    "Der Höller Rache kocht in meinem Herzen"
    Eine beeindruckende- und zudem schwierig zu singende Arie
    Ein wenig Pathetisch vielleich FÜR UNSERE OHREN
    Aber wie empfanden das Mozarts Zeitgenossen ?


    Der Gefangenenchor aus Nabucco
    ein beliebtes Stück fürs Wunschkonzert.
    Ein Freiheitslied der Italiener


    wer wagt es - das neutral zu bewerten ?


    Ich würde sagen Kitsch ist eine Frage der betrachtungsweise - des Umfeldes - der Erziehung
    und des Wertesystems der jeweiligen Gesellschaft.


    Richard Wagners Heldengestalten - Kunst oder Kitsch ?
    Enn ich den unvermeidlichen Attacken der Wagnerianer lebend entrinne werde ich vielleicht sogar
    eine Antwort auf diese Frage erhalten....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Kitsch - Objekt der Kunst, Musik oder Literatur, welches auf eigene Stilformen verzichtet und sich hauptsächlich durch Bekanntheit und Beliebtheit auszeichnet. Kitsch steht zumeist abwertend gemeinsprachlich für einen aus Sicht des Betrachters minderwertigen, sehnsuchtartigen Gefühlsausdruck. In Gegensatz gebracht zu einer künstlerischen Bemühung um das Wahre oderdas Schöne, werten Kritiker einen zu einfachen Weg, Gefühle auszudrücken, als sentimental, trivial oder kitschig. Das zur Definition von "kitschig" im Internet. Das kann meines Erachtens so aber nicht ganz zutreffen. Bekanntheit und Beliebtheit kann nicht ausreichen, um Kitsch zu sein. Nehmen wir nur mal die bekannten und sehr beliebten Tenorschlager aus berühmten Opern. Das kann doch kein Kitsch sein oder sollte ich mich gewaltig irren?


    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Mein lieber Bernward!


    Leider werden in der heutigen Zeit Opernhits auch für Schlager mißbraucht. Das passiert wohl immer öfter. Nimm nur einmal den Gefangenenchor aus NABUCCO, der in der Schlager-Hitliste auftauchte, oder die Arie der Gilda "Teurer Name dessen Klang..." den ich als Schlager geträllert öfter hörte als "Hi, ha, ho...". Wenn den Schlager-Komponisten nichts mehr einfällt, dann nimmt man eben Opernhits. Das ist für mich so verunstaltet auch Kitsch. Schade!



    Herzlichst


    Wolfgang

    W.S.


  • Der Einfluss der Interpretation ist gegeben, aber begrenzt. Mahlers Adagietto oder das Mozart-Andante sind gefährdet, aber bei einer adäquaten Interpretation nicht bedroht. Wobei ich Bearbeitungen für andere Instrumente/Besetzungen ("Bachs Air", "Händels Largo") nicht als Interpretationen sehe, damit kriegt man fast alles kaputt.
    Die einschlägigen Beispiele von Rachmaninoff oder Tschaikowsky brauchen dagegen Hilfe vom Interpreten, um nicht über die Kitschgrenze zu rutschen.


    Ich finde das aber sehr schwierig. Die Idee, wie sie auch von Helmut angesprochen wird, dass Kitsch eine Art Vortäuschung, ein unehrlicher Einsatz kunstähnlicher Mittel ohne dahinterstehende Aussage ist, ist sehr verbreitet. Aber da es so schwierig ist, zu sagen, was überhaupt "Aussagen" in der Kunst sind und wie man da ehrlich und unehrlich sein kann, wird es im Detail sehr schwierig.
    Ich meine: Wenn man eine schlichte Männerchorfassung eines Schubert-Liedes, wie sie Silcher u.a. gemacht haben, nimmt, dann ist das Ergebnis sicher dem Original in vieler Hinsicht künstlerisch unterlegen. (Ganz einfach etwa, wenn beim Lindenbaum die differenzierte Behandlung der unterschiedlichen Strophen fehlt.) Aber muss es deshalb Kitsch sein, oder vielleicht doch nur schwache Kunst oder ordentliches Kunsthandwerk oder Gebrauchskunst?


    Das Prätentiöse gehört wohl schon zum Kitsch "Gebet einer Jungfrau" (grandios in Mahagonny von Weill, wenn das auf einem verstimmten Kneipenpiano angestimmt wird, und einer kommentiert ergriffen: "Das ist die ewige Kunst!")
    Deswegen halte ich z.B. Strauß-Walzer eher nicht für kitschig, weil die gar nicht mehr sein wollen, als sie sind.
    Aber es könnte jemand auch ernsthaft mehr wollen, als er künstlerisch einlösen kann. Wann ist dann etwas bloß schwache Kunst, wann Kitsch?


    Ein weiterer Aspekt beruht auf der Idee, dass sich künstlerische Mittel "abnutzen" können. Sie können Klischees werden. Der Kitsch arbeitet dann mit diesen Klischees, die zwar noch Reize bieten, aber ihre ursprüngliche (Aussage-)Kraft verloren haben. Das Mozart-Andante ist kein Kitsch, aber wenn jemand heute so ähnlich komponiert, käme vermutlich Kitsch heraus, weil die Mittel, die in Mozarts Zeit angemessen waren, heute abgenutzt sind.
    Da ist sicher auch etwas dran. Aber ist der historische Verlauf wirklich so eindeutig, dass man das immer danach entscheiden kann?
    Es gibt eine berühmte genüssliche Polemik Adornos über das angeblich kitschige Adagio in Tschaikowskys 5. Adorno erfindet eine romantisch-kitschige Filmszene passend zur Musik und wirft dann, plump gesagt, Tschaikowsky vor, dass das so gut passt. Ungeachtet der Kitschnähe des Satzes finde ich das nun unfair, weil Tschaikowsky nichts davon wissen konnte, wie 50 Jahre später Hollywood Kitsch fabrizieren und musikalisch unterlegen würde. Und ob in den 1880ern Tschaikowskys Mittel schon derart abgenutzt waren, das sie zu Klischees geworden waren, kann man sicher bestreiten.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Hallo,


    eine Frage die, nur für mich, allgemein betrachtet unlösbar ist, weil absolut vom Individuum und auch noch von dessen Lebensphasen abhängig ist.


    Alfreds emotionale Ergriffenheit in seiner Jugend von "Laise…"die ihm heute nicht mehr erklärbar ist, die er aber damals bestimmt nicht als Kitsch abgewertet sehen wollte!


    Helmuts rein rationale Erklärung, die für ihn Gültigkeit hat und für…, die seine Meinung teilen. "Die rein fassbare künstlerische Aussage" - wer definiert dies? Helmut hat da gewiss keine Schwierigkeit, aber schon die Frage ob "alle musikbegeisterten Helmuts" sich seiner Definition anschließen?


    Das Ave Maria von Bach/Gounod, Nabucco… usw. usw. ist für mich Kitsch. Ich für mich rücke Alles in die Nähe von Kitsch, wo für mein Gefühl "Gefühl" zu dick aufgetragen wird - ich mag das nicht und empfinde es als kitschige Gefühlsduselei, wenn das Innere zu sehr und noch dazu direkt nach Außen getragen wird. Da mag es auch Menschen geben, die gleich oder ähnlich empfinden und mit dem Kitschempfinden der o. g. überhaupt nicht übereinstimmen.


    Wir können heute nicht mehr eruieren, was große Komponisten der Vergangenheit als Kitsch ansahen und zwar Musik ihrer Epoche oder zuvor. Bringt die Meinung von z. B. Stockhausen oder Pärt oder Lauridsen etwas, was sie als Kitsch ansehen?


    Kann ein Atheist beim Hören eines tief religiösen Werkes sich vom Text (den er wahrscheinlich als kitschig empfindet) lösen und nur die Musik hören und nur danach beurteilen ob sie für ihn kitschig ist? Dabei wäre noch zu unterscheiden zwischen religiös und gläubig! Gleiches gilt natürlich umgekehrt.


    Menschen, die ein traumatisches Erlebnis hinter sich zu bringen haben, werden sehr unterschiedlich auf Musik reagieren, die diese besonders von ihnen erlebte Situation zum Inhalt hat. Und dies ändert sich nach einem individuell verschiedenen Zeitabstand zum Trauma.


    Ich hoffe, ich kann mit diesen wenigen Beispielen zumindest ansatzweise erklären, warum ich diese Frage - so gestellt - für unlösbar halte.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zu Kitsch fällt mir immer "Plump" ein. Egal ob der "Röhrende Hirsch" oder Schlagerschnulzen, irgendwie ist das immer peinlich.


    Aussagen werden übertrieben, ein feines, zartes Gefühl wir übersteigert, ins Groteske und Vordergründige gezogen.


    Sehnsüchte sollen mit einfachsten Mitteln befriedigt werden. Die Aussage springt sofort in`s Ohr oder Auge, drängt sich auf, wenig Platz für Zweideutigkeiten im entdeckerischen Sinn.


    Flach, sehr flach.

  • Das Ave Maria von Bach/Gounod, Nabucco… usw. usw. ist für mich Kitsch. Ich für mich rücke Alles in die Nähe von Kitsch, wo für mein Gefühl "Gefühl" zu dick aufgetragen wird - ich mag das nicht und empfinde es als kitschige Gefühlsduselei, wenn das Innere zu sehr und noch dazu direkt nach Außen getragen wird.


    Dein Statement, lieber zweiterbass, hört sich nach "Unterdrückung der Gefühle um jeden Preis" an...


    Ich gehöre zu den Menschen, die, wie man so landläufig sagt, nahe am Wasser gebaut haben. Es war trotzdem keine Frage für mich, daß ich mir früher immer wieder die "Butterfly" oder die "Boheme" angesehen habe - um nur zwei Beispiele zu nennen. Und immer wieder gehörte ich auch denjenigen, die schlucken mußten. Und immer wieder kam ich mir dabei lächerlich vor.


    Irgendein Moderator, ich weiß nicht mehr, ob es KSM oder Theophilus war, meinte mir sagen zu müssen, ich sollte froh darüber sein, solche Empfindungen bei Opernaufführungen zu haben.


    In der Tat darf man sich durch Musik rühren lassen und es ist auch eine Erfahrung aus den alten Regiekonzepten, die ich bei modernen Inszenierungen vermisse...


    LG

    .


    MUSIKWANDERER

  • leider gibt es so eine anti-gefühlsausdruck-haltung öfters. damit wird natürlich auch ein großer teil der barocken produktion verunglimpft, in der musik vielleicht am prominentesten bachs passionen.


    ich verwende das wort kitsch eigentlich nicht in zusammenhang mit klassischer musik. vielleicht bei einiger filmmusik. oder in einrichtungshäusern, obwohl gerade bei einer online-suche nach beispiel-objekten mir angenehmerweise nichts entsprechend aufgestoßen ist.

  • Ich gehöre zu den Menschen, die, wie man so landläufig sagt, nahe am Wasser gebaut haben. ... die "Boheme" angesehen habe . Und immer wieder gehörte ich auch zu denjenigen, die schlucken mußten.

    Ich auch, lieber Musikwanderer. Mir geht es genauso. Gestern, 1973, war ich zum ersten mal in der Berliner Staatsoper in der Boheme. Und ich erinnere mich noch genau, wie nach dem Finale und dem Wiederangehen des Lichtes, sich einige Zuschauer ( und nicht nur Damen ), das Taschentuch an die Augen hielten, auch wenn einige Herren taten, als müßten sie sich die Nase putzen.

    Und immer wieder kam ich mir dabei lächerlich vor.


    Keinesfalls, warum auch. Man kann und sollte doch stolz zu seinen Gefühlen stehen. Ich bin froh und glücklich darüber, daß ich mir solche Emotionen erhalten habe. Wenn einen die Musik so ergreift und berührt, dann hat doch alles gestimmt und für solche Momente, daß wir fähig sind dies so intensiv zu erleben, sollten wir dankbar sein. Ich bin´s.
    Herzlichst
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

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  • Genau so geht es mir in Verdis Rigoletto. Und zwar beim Duett im ersten Akt zwischen Gilda und Rigoletto, dann im 2. Akt bei Rigolettos Arie und beim Finale im 3. AKt. Ich bin zwar auch schon abgebrüht und mich kann so leicht nichts mehr erschüttern, aber dort muss ich doch immer ein paar Tränchen unterdrücken. Kommt natürlich auch darauf an wie emotional die Sänger das rüberbringen und wie die Inszenierung ist. Die alte Ponelle Inszenierung an der Rheinoper wahr sehr berührend, bei der neuen hingegen ließ mich alles vollkommen kalt, da war mir egal ob jemand auf der Bühne stirbt.

  • Kommt natürlich auch darauf an wie emotional die Sänger das rüberbringen und wie die Inszenierung ist.


    Das, lieber Rodolfo, ist natürlich eine ganz wichtige Voraussetzung. Meine letzte Boheme in der Semperoper hat mich z. B. nicht berührt. Die habe ich mir ohne große Emotionen angehört. Da kam nichts rüber. Dagegen, so oft ich auch schon die DVD mit der San Francisco Boheme geschaut habe, wenn ich da in der richtigen Stimmung bin, dann...
    Herzlichst
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

  • leider gibt es so eine anti-gefühlsausdruck-haltung öfters. damit wird natürlich auch ein großer teil der barocken produktion verunglimpft, in der musik vielleicht am prominentesten bachs passionen.


    Solche Verallgemeinerungen könnte sich ein "Moderator" eigentlich sparen, selbst wenn er nicht blau schreibt.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Das Ave Maria von Bach/Gounod, Nabucco… usw. usw. ist für mich Kitsch. Ich für mich rücke Alles in die Nähe von Kitsch, wo für mein Gefühl "Gefühl" zu dick aufgetragen wird - ich mag das nicht und empfinde es als kitschige Gefühlsduselei, wenn das Innere zu sehr und noch dazu direkt nach Außen getragen wird. Da mag es auch Menschen geben, die gleich oder ähnlich empfinden und mit dem Kitschempfinden der o. g. überhaupt nicht übereinstimmen.


    leider gibt es so eine anti-gefühlsausdruck-haltung öfters. damit wird natürlich auch ein großer teil der barocken produktion verunglimpft, in der musik vielleicht am prominentesten bachs passionen.


    Zweiterbass hat eigentlich hervorragend beschrieben, was er meint.


    Die Frage "Kitsch oder nicht?" ist für ihn keine binäre (nur "ja" oder "nein" ist möglich), sondern auch eine Frage nach dem Grad.

    Zitat

    Ich für mich rücke alles in die Nähe von Kitsch, wo für mein Gefühl "Gefühl" zu dick aufgetragen wird


    Ich höre da auch heraus, dass seine Auffassung eventuell in die Richtung geht, dass in der Kunst und insbesondere in der Musik die Andeutung oft viel stärker wirkt als die Übertreibung. Dem würde ich völlig zustimmen.


    Auch in den von KSM genannten Passionen Bachs: Wenn der Alt(us) in der "Erbarme dich"-Arie outriert, ist die Wirkung dahin - und dann wird dieses wunderbare Stück Musik tatsächlich zu einem kaum erträglichen Schmachtfetzen in hingebungsvoll zerfließendem 12/8-Takt.


    Die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz schafft erst den berührenden Zauber dieser Musik.


    Die Mäßigung im Gefühlsausdruck einzufordern, ist keine Anti-Gefühlsausdruckshaltung, sondern eher ein künstlerischer Imperativ.

  • Die Mäßigung im Gefühlsausdruck einzufordern, ist keine Anti-Gefühlsausdruckshaltung, sondern eher ein künstlerischer Imperativ.

    Gerade in diesem Zusammenhang verkennt vielleicht immer wieder noch der eine oder andere Künstler, dass es nicht darum geht, dass er selbst Gefühle hat, die er dem Publikum unter die Nase reibt. Dass und ob der Künstler selbst fühlt, muss vielmehr von seiner Darbietung völlig abgekoppelt bleiben.


    Maßgeblich muss m. E. sein, dass er weiß, welche Art seiner Darstellung (= welche Interpretation) welche Gefühle im Zuhörer auslösen kann oder auslösen soll, und dass er u. a. aus dieser Einschätzung seine Interpretationsentscheidungen trifft. Von diesen Entscheidungen wird es dann abhängen, ob am Ende Kitsch herauskommt oder eine "geschmackvolle" Interpretation.

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  • Die Mäßigung im Gefühlsausdruck einzufordern, ist keine Anti-Gefühlsausdruckshaltung, sondern eher ein künstlerischer Imperativ.


    Aber nur ein möglicher Imperativ ... zur Zeit der Gegenreformation war der Appell an das Gefühl von solchen Imperativen weniger gemäßigt. Ich lasse ja jedem Künstler seinen persönlichen Imperativ, wenn er damit Gutes hervorbringt.


    Jedenfalls bedauere ich es, wenn durch vermeintlichen "guten Geschmack" durch Verordnung von Zähmung des Gefühlsausdrucks so vieles Qualitätsvolles verächtlich betrachtet wird.

  • Wir dürfen nicht ausser acht lassen, daß der momentan herrschende "Zeitgeist" Gefühle kaum zulässt.
    Weder wird Melancholie akzeptiert, noch exzessive Liebe, von Religiosität mal ganz zu schweigen.
    Gefühle wie "Zufriedenheit" gelten als leistungsfeindlich und somit als Störfaktor, Hass wird als unzulässig gewertet.


    In der Vergangenheit, speziell in der Romantik waren Gefühle jedoch zugelassen - und wurden ausgelebt.
    Somit kann man davon ausgehen, daß die Einstellung zu Gefühlen in Kunstwerlken eine völlig andere war, ist jene die wir heute vorfinden - und die auch uns ein wenig geprägt hat...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das Ave Maria von Bach/Gounod, Nabucco… usw. usw. ist für mich Kitsch

    Lieber zweiterbass,
    natürlich kann hier jeder aus seiner Sicht den Begriff "Kitsch" definieren, aber bei "Nabucco" bin ich doch etwas zusammengezuckt und wer weiß, was sich hinter Deinem usw. usw. noch so alles verbirgt ...


    Mit "Nabucco" ist wohl im allgemeinen Sprachgebrauch ohnehin meist nur der Chor aus dieser Oper gemeint. Diesen Chor habe ich in Opernhäusern so hervorragend gehört, das kann nie und nimmer "Kitsch" gewesen sein!


    Man sollte tunlichst zwischen "Kitsch" und "Verkitschung" unterscheiden.
    Wie Johannes Roehl am Beispiel von Tschaikowskys Adagio gezeigt hat, kann der Künstler nichts dafür, wenn sein genialer musikalischer Einfall später politisch oder ästhetisch missbraucht wird.


    Gerade Dir, lieber zweiterbass, muss man ja nicht erklären, dass die "Betende Hände" Deines Landsmannes heutzutage fast ausschließlich als Kitschprodukt in Erscheinung treten; dennoch ist das im Ursprünglichen ganz große Kunst!


    Und noch ein Beispiel aus neuerer Zeit:
    In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war der Franzose Bernard Buffet (1928-1999) ein geachteter Künstler; als seine Reproduktionen in den Kaufhäusern als Massenware verramscht wurden, sank die künstlerische Reputation.

  • Diesen Chor habe ich in Opernhäusern so hervorragend gehört, das kann nie und nimmer "Kitsch" gewesen sein!


    Lieber hart,


    das glaube ich Dir gerne, aber es tritt bei mir ein Effekt ein - durch Sendungen im Radio, auf Klassik-Open-Airs, in Wunschkonzerten, in den Klassiksendungen im FS (all diese "Raritäten" höre ich mir eh selten an und wenn nur z. T.) - den ich als Abnutzung bezeichnen möchte, was durch den für mich nicht sehr verlockenden Text und dessen Vertonung noch verstärkt wird.


    Ich hoffe, ich konnte mich so verständlich machen, dass ich was Kitsch ist, nur dem individuellen Empfinden anheim stellen kann und ich deshalb schon den Titel des Threads "Was ist Kitsch in der Musik" für ??? halte, es könnte lauten: Was empfindet das einzelne Forumsmitglied als Kitsch in der Musik.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Als Persiflage gibt es nun auch die "Betenden Füsse" - und die "Kunstinstallation" des "Dürer-Hansens" vor etliche Jahren: Der "Schöne Brunnen" auf dem Hauptmarkt in Nürnberg wurde mit grünen Plastikhasen als Dürerkopie um(ver)hüllt - wenn ich mich recht erinnere, musste die Polizei diskutierende Streithähne, die handgreiflich wurden, trennen.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich hoffe, ich konnte mich so verständlich machen, dass ich was Kitsch ist, nur dem individuellen Empfinden anheim stellen kann und ich deshalb schon den Titel des Threads "Was ist Kitsch in der Musik" für ??? halte, es könnte lauten: Was empfindet das einzelne Forumsmitglied als Kitsch in der Musik.

    Im Großen und Ganzen Übereinstimmung. Aber: Wem der Threadtitel nicht ganz passt, und davon gibt es im forum unsagbar viele, was mich betrifft, könnte doch so tun, wie es lauten könnte. Also: sehen wir es positiv und legen nicht jedes Wort im Threadtitel auf die Gold... Bei der Überschrift zu Fidelio, neulich, habe auch ich überreagiert. Werde ich künftig aber vermeiden. Bin immer froh, wenn noch neue Threads gepostet werden.



    LG, Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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  • ich deshalb schon den Titel des Threads "Was ist Kitsch in der Musik" für ??? halte


    Lieber Zweiterbass,


    ich gebe Dir Recht!


    Von Alfred habe ich gelernt, dass es manchmal besser ist, einen Threadtitell nicht unbedingt wissenschaftlich präzise zu formulieren - lieber etwas unschärfer und offener und plakativer.


    Dein Einwand, dass wir hier über individuelles Empfinden reden und nicht über objektiv nachprüfbare Sachverhalte, dürfte allerdings auf viele Threads und Beiträge zutreffen.

  • das glaube ich Dir gerne, aber es tritt bei mir ein Effekt ein - durch Sendungen im Radio, auf Klassik-Open-Airs, in Wunschkonzerten, in den Klassiksendungen im FS (all diese "Raritäten" höre ich mir eh selten an und wenn nur z. T.) - den ich als Abnutzung bezeichnen möchte,


    Ich glaube, fast jeder kann solche Abnutzungserscheinungen bei sich persönlich feststellen. Da das aber auch nichtkitschige Stücke betreffen kann, wäre dann die Frage, ob man diese Abnutzung objektiver fassen kann. Sicher sind nicht alle Stücke gleichermaßen geeignet, selbst wenn in der heutigen Massenmedienkultur ein Stück, das einmal berühmt und für bestimmte Untermalungszwecke ge-/mißbraucht wurde, dies immer weiter erleiden muss und sich noch stärker abnutzt. (Hochzeitsmärsche, La donna e mobile für Pizza, Pasta, Choco Crossies-Werbung usw.).


    Kitsch im engen Sinne wäre ein Stück, das schon "abgenutzt auf die Welt gekommen ist", weil es abgenutzte Mittel naiv oder strategisch einsetzt. (Es wäre eine ironische Verwendung der Mittel möglich, um Kitsch zu vermeiden.)


    Seinerzeit war "Va pensiero" noch nicht abgenutzt, wenngleich so eingängig, dass es als populäre Freiheitshymne dienen konnte. Heute singt man es im Fußballstadion. Dagegen würde ich so manches Stück, mit dem Andrea Bocelli hervorgetreten ist, als echten Kitsch bezeichnen. Unreflektiert werden die Mittel der ital. Oper des 19. Jhds. verwendet, um Ende des 20. einen Schlager, ein Auftrittslied für einen Boxer oder was weiß ich, zu erhalten.

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Wir dürfen nicht ausser acht lassen, daß der momentan herrschende "Zeitgeist" Gefühle kaum zulässt.
    Weder wird Melancholie akzeptiert, noch exzessive Liebe, von Religiosität mal ganz zu schweigen.


    Ja, die Gefühlsstatements haben mich auch schon zu diesem Gedanken geführt.
    Ein stark nach außen getragenes Gefühl wird von vielen unserer Zeitgenossen wohl auch abgelehnt werden, nicht nur in der Musik oder im Bild sondern auch "in der Realität".
    Manchmal habe ich den Eindruck, dass "Wehleidigkeit" momentan eine ganz schlimme Vergehung ist.
    (Dabei ist die Gefühlsverweigerung natürlich ungesund.)


    Als Beurteilungskriterium für künstlerische Qualitäten ist das mE unbrauchbar.


    Damit man nicht auf die Interpreten ausweichen kann, poste ich einmal ein paar Bilder:




    Da ich nur wikimedia verwende, ist die Auswahl leider beschränkt, sonst könnte man anhand desselben Bildthemas mit ähnlichen Darstellungen von Gemütsregungen noch besser demonstrieren.

  • Heute singt man es im Fußballstadion.

    Wirklich "Nabucco" im Fußballstadion? Da habe ich eher den Triumphmarsch aus Aida im Ohr und freue mich immer darüber, dass etwas Kultur in die Fankuve kommt ...


    Es waren ja die klassisch ausgebildeten Tenöre, die in großem Stile "Nessun Dorma" in die Nähe des Fußballs brachten. Noch etwas näher an unserer Zeit ist dann die "Winterreise" im Boxring.

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  • Wirklich "Nabucco" im Fußballstadion? Da habe ich eher den Triumphmarsch aus Aida im Ohr und freue mich immer darüber, dass etwas Kultur in die Fankuve kommt ...


    Leider kaum zu hören:


    "http://www.youtube.com/watch?v=Q_XrRQ0qg1Q"


    Den Triumphmarsch finde ich übrigens ziemlich grauenvoll, nicht nur im Fußballstadion, Kitsch würde ich es aber nicht nennen.

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  • Echt? Welche Stelle denn? "Nun merk ich erst, wie müd ich bin"?


    Ich habe mich gekugelt vor Lachen - köstlich!


    Noch ein Nachsatz zu hart und den "Betenden Händen":


    Dürers Original ist selbstverständlich große Kunst - was die künstlerische Ausführung betrifft, damals bestimmt auch für weite Bevölkerungskreise das religiöse Gefühl treffend - ob dies so noch aktuell ist?
    Aber in den Souvenierläden Nürnbergs werden diese nun als Holzreliev, in Bronze, als Abziehbildchen usw. usw. angeboten. Dass hart und ich und mit uns viele Mitglieder das Souvenierangebot als Kitsch sehen ist klar -aber viele Menschen sehen das nicht so, es wird gekauft, sonst stünde es nicht in den Läden.
    Was Kitsch ist - eine Frage des persönlichen Gefühls/Geschmacks (z. T. auch Bildung) jedes einzelnen Menschen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich habe mich gekugelt vor Lachen - köstlich!


    Was gibt es denn hier zu lachen? Für mich ist das schon ein ernstes Thema, wenn ich lese wie Frau Schäfer den künstlerischen Mehrwert einer "Winterreise" im Boxring erklärt ...

  • .... und nicht nur schrecklich, sondern auch ziemlich ärgerlich.


    Die grausamsten Beispiele zurzeit sind für mich die Peer-Gynt-Suite (hier die Morgenstimmung) für ein Mittel gegen Harndrang oder noch schlimmer, die Rache-Arie der Königin der Nacht für irgend ein Sex-Gleitgel, einfach nur zum ko.... Ich kann gar nicht verstehen, dass solche Geschmacklosigkeiten zur Veröffentlichung kommen. :cursing:


    An den ewigen Rigoletto für die Pizza-Werbung hat man sich ja schon gewöhnt (leider kann ich diese Arie deswegen einfach nicht mehr höhren).


    Allerdings ist es ist ja auch möglich, dass es Menschen gibt, die durch solche Werbung zum ersten Mal Berühung mit klassischer Musik haben und auf dieser Basis sich langsam heranarbeiten (wäre wenigstens eine winzige versöhnliche Hoffnung ?( ). Besonders bei Kindern und Jugendlichen könnte ich mir das vorstellen, die leider vom Elternhaus aus nie an die Klassik herangeführt wurden.

  • Deswegen halte ich z.B. Strauß-Walzer eher nicht für kitschig, weil die gar nicht mehr sein wollen, als sie sind.


    Das finde ich einen wichtigen Ansatz. Aus dem gleichen Grund ist auch die meiste Art von Folklore nicht kitschig obgleich "einfach". Kitsch muß also immer etwas mit dem Auseinanderklaffen von Anspruch und Ergebnis zu tun haben. Wie lässt sich das aber beurteilen? Wir müssen hier garnicht die "Qualität" im Sinne von gut oder schlecht benennen, sondern den Informationsgehalt. Erweckt das Werk den Eindruck es gehe um ganz große Themen oder ganz große Gefühle, dann muss die "Informationsdichte" entsprechend hoch sein, sonst wirkt das Ergebnis gemessen an der Baustelle die aufgemacht wurde hohl. Hohe Informationsdichte kann durch Komplexität oder durch unabgenutzte Mittel entstehen. Ein hohes Ausmaß an Emotionalität führt also nicht zwangsläufig zu Kitschigkeit. Ein Werk wie Tristan ist hochemotional jedoch sowohl durch die Neuheit der Mittel, als auch durch die Komplexität der Ausarbeitung nicht in Gefahr als kitschig wahrgenommen zu werden.


    Gruß aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

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