KORNGOLD, Erich Wolfgang: DIE TOTE STADT

  • Erich Wolfgang Korngold (1897-1957):


    DIE TOTE STADT
    Oper in drei Bildern - Libretto von Julius Korngold unter dem Pseudonym Paul Schott
    nach dem Roman „Bruges la morte“ von George Rodenbach


    Uraufführung am 4. Dezember 1920 zeitgleich im Opernhaus Köln und Stadttheater Hamburg


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Paul, ein Witwer (Tenor)
    Maries Erscheinung/Marietta, Tänzerin (Sopran)
    Frank, Freund von Paul (Bariton)
    Brigitta, Pauls Haushälterin (Mezzosopran)
    Fritz, der Pierrot (Bariton)
    Juliette, Lucienne, Tänzerinnen (Sopran, Mezzosopran)
    Gaston, ein Tänzer (Tenor)
    Victorin, ein Regisseur (Tenor)
    Graf Albert (Tenor)


    Das Geschehen ereignet sich in Brügge zu Ende des 19. Jahrhunderts.


    INHALTSANGABE


    ERSTES BILD


    Pauls Haushälterin Brigitta betritt mit dem nach langer Zeit nach Brügge zurückgekehrten Freund ihres Hausherrn, Frank, das Sterbezimmer von Marie, Pauls Frau. Brigitta klärt den Gast über den seltsamen Zustand seines Freundes auf: Brügge ist für Paul zum Sinnbild für Tod und Vergänglichkeit geworden. Beide bestaunen das Zimmer, das der Witwer „Kirche des Gewesenen“ nennt und das mit Erinnerungsstücken an Marie geschmückt ist. Besonders den Blumenschmuck am großen Bild der Verstorbenen, Rosen und Levkojen, lobt Brigitta. Frank kann sich die Frage nach Brigittas persönlicher Situation in diesem trostlos wirkenden Haus nicht versagen. Die Antwort der Haushälterin ist so einfach wie schlicht: sie dient gerne in einem Haus, in dem die Liebe wohnt.


    Paul tritt auf die Szene und spricht Brigittas Beschreibung zunächst Hohn. Er bittet seine Magd, sofort beim Gärtner zwei Arme voll Rosen zu besorgen. Dann erzählt er seinem Freund, daß Marie lebt und bald zurückkommen werde. Franks Entgegnung, daß er phantasiere, beantwortet Paul mit dem Bericht, daß er eine junge Frau gesehen habe, die der toten Marie aufs Haar gleiche. Zwar wisse er nicht, wer sie ist, aber seine Einladung zu einem Besuch in seinem Hause habe sie angenommen. Frank warnt ihn, er möge die schöne Frau umarmen, aber Tote schlafen lassen - sein Freund will jedoch den „Traum der Wiederkehr" genießen.


    Nach Franks Abgang erscheint Brigitta mit den Rosen und kündigt dabei eine verschleierte Dame an. Es ist Marietta, die als Tänzerin einer Tourneebühne in der Stadt ist. Das Haus aber findet Marietta, die das Leben, das Vergnügen und die Sonne liebt, „dumpf wie eine Gruft“. Paul schenkt ihr nicht nur die Rosen, sondern gibt ihr den Schal und die Laute seiner verstorbenen Marie. Marietta singt ein trauriges Lied (Glück, das mir verblieb), das Paul aus früheren und schöneren Tagen kennt. Er erinnert sich sogar an die zweite Strophe und stimmt mit in das Lied ein.


    In diesem Moment kommt Mariettas Kollege, der Tänzer Gaston, hinzu und erinnert sie an die beginnenden Proben im Theater. Paul wundert sich über Mariettas Beruf und sie klärt ihn auf: Sie stammt aus Lille und tanzt hier in Brügge die Hélène in Meyerbeers „Robert le Diable“. In diesem Moment entdeckt Marietta das Bildnis von Marie und die Ähnlichkeit mit ihr. Paul, der sie an sich ziehen will, entzieht sie sich, ermuntert ihn aber zu einem Wiedersehen im Theater. Dann verschwindet sie mit Gaston.


    Anstelle von Marietta erscheint Paul plötzlich die tote Marie und mahnt ihn an Liebe und Treue. Paul schwört, daß sie nie aus dem Raum, aus „dieser toten Stadt“ und aus seinem Leben entschwinden würde, doch die Erscheinung glaubt zu wissen, daß er sie vergessen werde: „Dich faßt das Leben, dich lockt die Andre, schau und erkenne.“


    ZWEITES BILD


    Nach einer Orchestereinleitung wiederholt Maries Erscheinung ihre letzten Worte: „Dich faßt das Leben, dich lockt die Andre, schau und erkenne.“


    Paul ist Marietta verfallen; auch seine Gewissensbisse können ihn aus der ausweglosen Situation nicht lösen. Er sinniert nächtens vor Mariettas Haus, gequält von Angst, Sehnsucht und Reue gleichermaßen. In diesem Moment kommt Brigitta und sagt im Vorübergehen, sie sei auf dem Wege zur Kirche. Paul beklagt ihre Trennung, für die Brigitta Paul und sein sündhaftes Verhalten verantwortlich macht. Sie werde für ihren ehemaligen Dienstherrn beten. Paul sagt leise zu der abgehenden Brigitta, auch er habe seine Frau nicht verraten - trotz jener Frau.


    Freund Frank kommt und bittet Paul, von Marietta abzulassen, doch die Antwort Pauls ist eindeutig: „Mich zogs zur Seele der Toten und ich verfiel dem Leib der Lebenden“. Frank wird deutlicher und gibt sich seinem Freund gegenüber als Rivale zu erkennen, der noch dazu einen Schritt weiter gekommen ist: Marietta gab ihm ihren Wohnungsschlüssel. Als Paul diesen Schlüssel für sich fordert, weist ihn Frank zurück: „Ich bin dein Freund nicht mehr“.


    Die bunte Theatertruppe kommt aus dem Opernhaus und besingt die Freiheit der Kunst und der Liebe. Paul beobachtet ungesehen die Szenerie. Graf Albert, der Kunstfreund, betont, daß Fest und Tanz nur mit Marietta Glanz und Vergnügen versprechen. Als alle nach Marietta rufen, erscheint auch sie und verkündet fröhlich, daß sie nicht nur einem Mann gefallen will, sondern allen Männern. Die Truppe läßt Marietta hochleben.


    Marietta erzählt ihrer Kollegin Lucienne, daß sie heute zur Probe keine Lust gehabt und deshalb mit Gaston eine Landpartie unternommen habe. Auf die Gegenfrage Luciennes, was denn mit ihrem Freund, dem „Düsterling“ sei, antwortet Marietta, daß sie ihn verlassen habe, um „atmen“ zu können.


    Victorin, der Regisseur, gibt bekannt, daß Graf Albert alle zu „Wein und leckerer Schüssel“ eingeladen habe. Marietta fragt, wo gedeckt würde und schlägt „Freiluft-Essen“vor, das sei mal etwas „Neues“. Der Pierrot Fritz stellt sich mit einem traurigen Lied aus seiner deutschen Heimat vor: „Mein Sehnen, mein Wähnen, es träumt sich zurück. Im Tanze gewann ich, verlor ich mein Glück.“ Marietta lobt Fritz für seinen Gesang und erlaubt ihm, sie zu küssen. Dann schlägt sie vor, die Szene der Nonnenerweckung aus „Robert le Diable“ zu tanzen. Da stürzt Paul hervor und klagt Marietta der Blasphemie heiliger Gefühle an. Als sich Victorin, der Graf und Fritz, der Pierrot, einschalten, wehrt Marietta sie mit der Bemerkung ab, sie würde schon allein mit Paul fertig und schickt sie fort.


    In folgenden Gespräch bietet Marietta ihre ganzen Verführungskünste auf und schafft es, Paul erneut vollständig in ihren Bann zu ziehen. Paul nennt sie zunächst verlogen und wirft ihr vor, sich seinem Freund Frank zugewandt zu haben. Sie antwortet, daß sie grundsätzlich das tue, was ihr gefällt und wenn er damit Probleme habe, solle er gehen. Paul gesteht ihr daraufhin, daß er in ihr seine verstorbene Frau erkenne, damit aber Marie „entweiht“ habe. Als sie ihm daraufhin ihren „durstigen, lustgeschwellten Mund“ zum Kuß darbietet, ist es um Paul geschehen: er will mit ihr in ihre Wohnung gehen, doch Marietta besteht darauf, ihn im „Haus der Toten“ aufzusuchen. Damit sei „das Gespenst“ dann für immer gebannt, sagt er. Sie gehen in Pauls Haus...


    DRITTES BILD


    Nach einem kurzen Orchestervorspiel steht Marietta nach aufgegangenem Vorhang vor Maries Bild und fordert von der Toten, nicht den Frieden der Lebenden zu stören, sondern von den „Atmenden“ zu lassen.


    Ein Kinderchor singt aus der Ferne Prozessionslieder und Marietta gibt ihren spöttischen Kommentar zu dieser Szene ab. Den hinzutretenden Paul verhöhnt sie wegen seiner Frömmigkeit. Paul, dessen Erinnerung an Marie angesichts der betenden Menschen übermächtig wird, weist Marietta aus seinem Haus. Doch die lehnt seine Forderung ab und will mit ihm aus dem Fenster heraus dem Umzug zusehen. Marietta nimmt an dieser Stelle des Gesang des Pierrot aus dem vorangegangenen Bild auf: „Mein Sehnen, mein Wähnen, es träumt sich zurück. Im Tanze gewann ich, verlor ich mein Glück.“


    Während Paul die Prozession reflektiert, fordert sie ihn auf, sie zu küssen. Paul lehnt das entschieden ab: „Nicht hier und nicht jetzt“. In diesem Moment sieht er den frommen Zug ins Zimmer dringen, sieht furchtbare Gesichter, die ihn quälen. Marietta gibt lachend zur Antwort, er sähe Gespenster, ausgelöst durch den Moder des Raumes und Pauls dumpfen Aberglauben. Nein, antwortet Paul, es sei kein Aberglaube, sondern Glaube an die Treue um die, die einst war. Marietta beschwert sich, daß Paul immer nur an die Tote denke, sie aber dadurch ständig erniedrige.


    Mariettas Blick fällt auf eine Haarsträhne von Marie; sie hält sie an ihr eigenes Haar und findet die Strähne tot und ohne Glanz, ihres dagegen samtig weich. Paul wird wütend und fordert, Maries Haarsträhne sofort hinzulegen. Doch Marietta ärgert ihn mit der erneuten Forderung, sie doch zu küssen. Ihr Benehmen raubt ihm alle Sinne, er wirft sie nieder und erwürgt sie.


    Paul scheint aus einem Traum zu erwachen und sucht die Tote, die doch soeben noch auf dem Boden lag. Aber plötzlich sind die Traumbilder verschwunden, die Realität ist für Paul wiederhergestellt: Brigitta tritt ein und meldet die Rückkehr der fremden Dame, die den Rosenstrauß vergessen habe. Überrascht nimmt Paul zur Kenntnis, daß seine Haushälterin wieder anwesend ist. Marietta kommt hinzu und bittet um Vergebung, daß sie Schirm und Rosen vergessen habe und fragt, ob sie das als ein gutes Omen nehmen sollte - etwa um zu bleiben? Als sie sich, ohne eine Antwort von Paul zu bekommen, abwendet, trifft sie im Hinausgehen auf Frank, der Paul erstaunt als von Visionen befreit erkennt. Der äußert sich eindeutig: „Ich werde sie nicht mehr wiedersehn. Ein Traum hat mir den Traum zerstört...“ Frank hat beschlossen, eine Reise zu unternehmen und bittet seinen Freund Paul, doch mit ihm zu kommen. Paul sagt zu und wird mit Frank die „Stadt des Todes“ verlassen. Die Oper endet mit Mariettas Lied „Glück, das mir verblieb...“


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Erich Wolfgang Korngolds Oper kann man getrost als Meisterwerk bezeichnen. Die spätromantisch-sinfonisch geprägte Partitur zeigt ganz eindeutig Einflüsse von Richard Strauss, so in der Anlage mit einem Riesen-Orchester. Geprägt aber auch, nimmt man die eingängigen Melodien, von Giacomo Puccini. Die beiden berühmtesten Nummern der Oper sind das Duett zwischen Paul und Marietta „Glück, das mir verblieb“ und die schwärmerisch-melancholische Arie des „Pierrot“ Fritz „Mein Sehnen, mein Wähnen“.


    Die Qualität der Musik hält sich auf dem Niveau vieler Strauss-Opern, nur daß man dessen Werke ständig auf den Spielplänen der Theater findet, während Korngold viel zu selten gespielt wird. Das liegt wohl auch daran, daß die beiden Hauptakteure, Paul und Marietta, extreme Schwierigkeiten zu meistern haben. Der Interpret des Paul muß beispielsweise in der Lage sein, fast zwei Stunden ständige Bühnenpräsenz zu zeigen und sich nicht von dem riesigen Orchester an die Wand drücken zu lassen. Die Marietta wiederum muß, vergleicht man diese Partie wieder mit Strauss-Rollen, den Part der Salome oder der Kaiserin ohne Probleme singen können.


    Der Übersetzer des Rodenbach-Romans, Siegfried Trebitsch, hatte Korngold seine deutsche Fassung als Opernstoff angeboten und der junge Komponist griff zu und entwarf sofort ein Szenarium, das von Hans Müller in ein Libretto gefaßt wurde. Nach dessen Ausscheiden übernahm Korngolds Vater unter Pseudonym die Fertigstellung.


    In der Oper wird Pauls Begegnung mit Marietta - im Gegensatz zum Roman - als Vision dargestellt und der Mord an der Tänzerin löst bei Paul eine Art Reinigungsprozess aus: er kann den Schatten der toten Marie hinter sich lassen und ist letztlich als psychisch geheilt anzusehen.


    Als Marietta feierte einst Maria Jeritza in Wien (1921) und bei der amerikanischen Erstaufführung in New York wahre Triumphe und der berühmteste Interpret des Paul war Richard Tauber.


    © Manfred Rückert für Tamino-Opernführer 2011
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Libretto aus der Naxos-Produktion
    Brockhaus-Riemann Musiklexikon
    Wikipedia über Erich Wolfgang Korngold

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    MUSIKWANDERER

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  • Bei den Tamino-Werbepartnern Amazon und jpc sind folgende Einspielungen erhältlich:


    mit Rene Kollo als Paul
    Benjamin Luxon als Frank
    Hermann Prey als Fritz, der Pierrot
    Carol Neblet als Marietta und Stimme der Marie
    Chor des Bayerischen Rundfunks
    Tölzer Knabenchor
    Münchner Rundfunkorchester; Leitung Erich Leinsdorf


    Zitat aus stereoplay 11/89: Klanglich und interpretatorisch ausgezeichnete Aufnahme eines der bezeichnendsten Werke des Musiktheaters der frühen zwanziger Jahre. Orchesterraffinement, illustrative Beredsamkeit, spätimpressionistische Klangschärfungen, vokaler Melodienluxus sind die Ingredienzien des damals 20jährigen, später als Filmmusikkomponist weltberühmten Korngold.



    mit Thomas Sunnegardh als Paul
    Katarina Dalayman als Mariette und Stimme der Marie
    Anders Bergström als Frank
    Per-Arne Wahlgren als Fritz, der Pierrot
    The Royal Swedish Opera Chorus
    Tomtberga School Childrens Choir
    The Royal Swedish Opera Orchestra; Leitung Leif Segerstam


    Zitat aus orpheus 11/97: Hier handelt es sich um einen Live-Mitschnitt, der das Packende und Unmittelbare einer Theateraufführung miteinander verbindet. Leif Segerstam dirigiert Wagner-breit, was dem Fluß und dem epigonalen Duktus der Musik entgegenkommt, eher „Tristan“ als „Pelleas“. Seine Sänger liegen auf diesem Klangbett wie auf Daunen. Thomas Sunnegardh klingt als morbider Paul verdächtig wie Kollo an einem sehr guten Abend. Es ist zudem eine Wohltat, nun einmal endlich nicht das amerikanische Idiom zu hören, das so viele neue Aufnahmen entstellt. Katarina Dalayman ist genau die richtige üppige, sahnige Stimme für die verführerische Marietta, die sie großdimensional mit herrlichem Timbre anlegt. Anders Bergström, Ingrid Tobiasson und vor allem Per-Arne Wahlgren stehen ihren Kollegen in nichts nach und beleben den Mittelakt mit Effekt.


    eine Historische Einspielung
    mit Maud Cunitz als Marietta/Stimme der Marie
    Karl Friedrich als Paul
    Benno Kusche als Frank
    Hans Braun als Fritz, der Pierrot
    außerdem Richard Holm, Margot Guillaume, Josef Traxel
    Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks
    Leitung Fritz Lehmann

















    DVD; mit Denoke, Svenden, Kerl, Batukov
    Philharmonisches Orchester Straßburg
    Leitung: Jan Latham-Koenig


    Zitat aus Stereo 1/03: Für Korngolds Oper engagiert sich ein fabelhaftes Sängerteam,
    während Jan Latham-König die von Verismo-Anklängen zehrenden Ohrwürmern effektvoll strahlen lässt.

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