Das "Wunder von Neapel"- Domenico Scarlattis "Stabat Mater" (1715)

  • Vor 25 Jhren noch gänzlich unbekannt, hat sich Domenico Scarlattis "Stabat Mater" seit dem zu einem belliebten Objekt der Tonträger-Industrie entwickelt, ist es doch, wie wenige Werke sonst, geeignet, die Leistungsfähigkeit eines Chores eindrucksvoll zu demonstrieren. Ich hörte es im Jahr 1979 zum ersten Mal bei einem Aurtritt des "Monteverdi-Chores unter J.E. Gardiner und muss wohl, wie mir meine Konzert-Begleitung später sagte, den Mund vor Verblüffung garnicht mehr zubekommen haben.


    Die Komposition ist allerdings in Rom, für die offenbar ausserordentlich leistungsfähigen Sänger der
    Julianischen Kappelle entstanden, doch sind ihre Wurzeln unüberhörbar neapolitanisch, wo die Sequenz schon seit geraumer Zeit, auch durch die Kompositionen Scarlatti Seniors und Provencales fester Bestandteil des Liturgischen Geschehens der Passionswoche war.


    Auf den ersten Blick mag die Besetzung zu 10 Stimmen (4 Soprane, 2 Altstimmen, 2 Tenöre, 2 Bässe und Orgel-Continuo) durchaus retrospektiv anmuten, aber Scarlatti operiert hier nicht, wie die Meister des Frühbarock, mit blockhafter, scharf voneinander abgesetzter Doppel-Chörigkeit, sondern lässt alle Stimmen in geradezu grenzenlosen, polyphonen Vermischen zusammen-und wieder ausseinander fliessen.


    Alle dramatischen Aspekte werden allein mit den Mitteln der Polyphonie erreicht; die zeitgemässe, meistens monodisch strukturierte Dramatik der Neapolianischen Oper bleibt hier völlig aussen vor. Schon vom technischen Vermögen muss man die Messlatte für die Leistung des Meisters sehr hoch ansetzen,
    (Lotti: "Crucifixus", Bach: "Sanctus" der hmoll-Messe und "Metamorphosen" von Richard Strauss (1945), um nur einige ganz wichtige Werke zu nennen.


    Das Polyphone Fliessen wird immer durch melodische Einwürfe einzelner Stimmen unterbrochen, die aber dann doch im Gesamtvolumen des Klanges einmünden und die in ihrer himmlischen Entrücktheit an Vokalwerke des
    späten Mozart ("Ave verum corpus" )erinnern !


    Ein in jeder Hinsicht hörens-und bemerkenswertes Kunstwerk und es stellt sich die Frage, was den überaus erfolgreichen Komponisten wohl bewogen haben mag, aus dem Kernland musikalischen Geschehens sich in völlig unbekanntes Terrain (erst Portugal, später Spanien) zu begeben und das alles als Klavier-Lehrer einer Prinzessin !
    Neben dem schon erwähnten Monteverdi-Choir, dessen Aufnahme nach wie vor an der Spitze meiner Lieblings-Einspielungen steht:



    (wohl derzeit nicht lieferbar !)


    viel kammermusikalischer, aber nicht weniger eindrucksvoll die Aufnahme
    unter Gerhard Weinberger:



    Sehr schön auch die Einpielung von "The sixteen", die sich ausserdem auch weiterer, kennenlerneswerter Kirchenmusik Scarlattis (überwiegend in Spanien entstanden) annimmt:


    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • hm daß ich nun ausgerechnet auf diesem thread sitzenbleiben würde, hab ich nicht erwartet, aber vielleicht passiert ja noch was....

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Hallo BigBerlinBaer,
    Zitat:
    Vor 25 Jhren noch gänzlich unbekannt, hat sich Domenico Scarlattis "Stabat Mater" seit dem zu einem belliebten Objekt der Tonträger-Industrie entwickelt, ist es doch, wie wenige Werke sonst, geeignet, die Leistungsfähigkeit eines Chores eindrucksvoll zu demonstrieren.
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    Hier stimme ich zu, wie geschickt Scarlatti sein großes Vokalwerk komponiert hat. Mit seinem 10- stimmigen
    Stabat Mater gelang ihm der große Wurf und gilt als sein bedeutendes Chorwerk und in der Musikge-
    schichte sucht man vergebens nach etwas Gleichem.
    Ob nun das Werk in Rom oder Venedig erstellt wurde, lässt sich nicht mehr genau feststellen.
    Die zehn Stimmen agieren nicht in der gewohnten Form einer blockhaften Gegenüberstellung 2-er fünf-
    stimmiger Vokalgruppen sondern sie verflechten sich durch den ständigen Wechsel und Austausch der
    Stimmkombinationen.
    Hier gelingt es Scarlati in den solistisch angelegten Teilen eine ariose Anmut und konzertante täzerische Eleganz zu verwirklichen.


    In der zu einer oratorischen Pracht sich entwickelnden Vokalstimmungen, fehlt es hier an der orchestralen
    Unterstützung. Lediglich eine Generalbassstimme wurde hinzugefügt.
    Hier wollte Scarlati wohl bewusst ein störendes Element durch eine Instrumentierung verhindern um eine
    gängige Durchsichtigkeit seiner Gesangs-Partitur dem Hörer bewusst werden zu lassen, was ihm mit diesen
    Werk auch vortrefflich gelang.


    Hier sind voll ausgebildete Sänger erforderlich, um dieses prächtige Vokalwerk von der Intonation und
    Ausführung konzertant wiedergeben zu können.


    Hier erweist sich der Monteverdi-Choir wieder von seiner absoluten Klasse und überragenden Darbietung,
    die kaum noch getoppt werden kann.
    Ich besitze nur die unten genannte CD von Gardiner und kann sie ebenfalls als absolut gelungene
    Einspielung hervorheben.
    Eine Neuveröffentlichung ist z.Zt. nicht geplant, was aber unbedingt wünschenswert wäre.




    Grüsse nach Berlin
    reklov29

    Bach ist so vielfältig, sein Schatten ist ziemlich lang. Er inspirierte Musiker von Mozart bis Strawinsky. Er ist universal ,ich glaube Bach ist der Komponist der Zukunft.
    Zitat: J.E.G.

  • Das Stabat Mater war eines der ersten geistlichen Werke das ich überhaupt in meiner Sammlung hatte - sehr verwunderlich, dass ich diesen Threat hier immer übersehen habe ?(



    Jedenfalls war ich von diesem Werk auch sehr angetan.


    Deshalb ist meine Aufnahme auch schon etwas älter:



    Scarlatti / Vivaldi: Sacred Works
    BBC Singers / Poole (Scarlatti)
    English Bach Festival Chorus & Orchestra / Malgoire (Vivaldi)


    Mir ist gleich aufgefallen, dass dieses Werk sich sehr von den üblichen Barockvertonungen unterschied - zumindest was ich damals kannte.


    Ich bin zwar in der geistlichen Musik der Renaissance kaum bewandert, doch fiel selbst mir der starke Bezug zu Palestrina auf.
    Doch ist das alles viel barocker, viel abwechslungsreicher.


    Zwar schätze ich seinen Vater Alessandro wesentlich mehr als Domenico, doch dieses Werk ist unbestreitbar ein Meisterwerk des Barock!

  • Hallo BigBerlinBear!


    Zitat

    Vor 25 Jhren noch gänzlich unbekannt, hat sich Domenico Scarlattis "Stabat Mater" seit dem zu einem belliebten Objekt der Tonträger-Industrie entwickelt, ist es doch, wie wenige Werke sonst, geeignet, die Leistungsfähigkeit eines Chores eindrucksvoll zu demonstrieren. Ich hörte es im Jahr 1979 zum ersten Mal bei einem Aurtritt des "Monteverdi-Chores unter J.E. Gardiner und muss wohl, wie mir meine Konzert-Begleitung später sagte, den Mund vor Verblüffung garnicht mehr zubekommen haben.


    Ich kann das gut nachvollziehen.
    Das Stabat Mater Domenico Scarlatti war eine ganz große positive Überraschung für mich. Das hätte ich disem Komponist, von dem ich sonst nur mikroskopischen Klavierwerke kenne (sorry, seinen Sonaten kann ich nichts abgewinnen), nicht zugetraut.


    Zitat

    an der Spitze meiner Lieblings-Einspielungen steht:



    (wohl derzeit nicht lieferbar !)


    Doch, das gibts jetzt wieder in folgender Box, die ich seit ein paar Monaten besitze:



    Allein für die darin enthaltene Gardiner-CD mit dem Scarlatti-Stabat Mater und kleineren Werken von Cavalli, Gesualdo und Clement lohnt sich die Anschaffung! :jubel:
    Ich halte Scarlattis Stabat Mater für ein ganz großartiges und wunderschönes Werk, das auf jeden Fall bekannter sein sollte! :yes:


    Die anderen drei CDs der Box sind gefüllt mit Stabat Maters, die von Michel Corboz dirigiert werden - keine interpretatorischen Glanzleistungen, aber zum Kennenlernen des ein oder anderen Werks sicher gut.
    Und wie gesagt: Die eine Gardiner-CD ist super!


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Sehr schön auch die Einpielung von "The sixteen", die sich ausserdem auch weiterer, kennenlerneswerter Kirchenmusik Scarlattis (überwiegend in Spanien entstanden) annimmt:



    Danke für diesen Hinweis - kommt auf meine Wunschliste. Ich habe einiges an Kantaten von ihm, bin aber noch nicht zu seiner Kirchenmusik vorgedrungen.
    Auf dem Gebiet der Vokalmusik soll er ja an seinen Papa nicht herangereicht haben, aber ich höre da in seinen Kantaten durchaus sehr individuelle Töne, die ähnliche Züge wie seine Cembalomusik aufweisen.

  • Zitat

    Auf dem Gebiet der Vokalmusik soll er ja an seinen Papa nicht herangereicht haben,


    Was nach Kennenlernen des "Stabat Mater" nicht mehr haltbar ist. Die spanischen Kirchenwerke jedoch sind reine "Gebrauchsmusik", den begrenzten
    Aufführungsmöglichkeiten angemessen. Mir persönlich wär es lieber gewesen, noch ein paar Werke von Gehalt und Größe des "SM" zu haben als jene Sonaten für Cembalo, die man heutzutage meistens auf diesen dafür völlig ungeeigneten und deshalb auch unerträglichen Klimperkästen zu hören bekommt ! X(

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Ja, dieses "Stabat mater" ist wirklich ein Meisterwerk!
    Auch ich besitze die hier schon viel (zu recht) gelobte Einspielung mit The Sixteen. Unter der Leitung von H. Christophers zeigt der Chor seine Stärken im Chorgesang (Intonation, Homogenität, etc.).
    Allein, im Ausdruck erscheint mir das doch etwas "englsich", d.h. der weiche und leichte Chorklang, sowie die Tempi, scheint mir eben eher zu Byrd oder Purcell zu passen.



    (so sah die CD früher aus)


    Als Gegenstück dazu empfehle ich Alessandrini! Handwerklich, also vom Chorklang, ist diese solistisch besetzte Version vielleicht an einigen Stellen nicht ganz so perfekt, dafür emfinde ich seine Entscheidung bei Tempo und Klang sehr überzeugend, mindestens hochinteressant- es handelt sich schließlich um ein Werk des italienischen Barock. Da sind mir gewisse Etxtravagenzen durchaus willkommen.



    (rec. 1999)



    Eine interessante Version liefert bestimmt auch Bernius. Kennt jemand hier diese CD?


    Hören, hören und nochmals hören: sich vertraut machen, lieben, schätzen.
    Keine Gefahr der Langeweile, im Gegensatz zu dem, was viele glauben, sondern vielmehr Seelenfrieden.
    Das ist mein bescheidener Rat. (S. Richter, 1978)

  • obwohl die frage bald 2 jahre her ist, antworte ich hier mal, in der hoffnung, dass der eine oder andere dieser wundervollen aufnahme gehör schenkt.


    übrigens war das meine erste choreinspielung überhaupt; ich hatte damals nach einer 'lux aeterna'-aufnahme ausschau gehalten, und war hingerissen von dieser gesangskultur, von dieser mir völlig unbekannten (und wie großartigen!) seite d.scarlattis, von dieser mir völlig unbekannten seite mahlers (gut, ist ne bearbeitung, aber sehr sinnvoll gemacht), vom ligeti sowieso... auch der boyd ist durchaus eindrucksvoll, vielleicht nicht ganz mein fall.


    ich bin sonst kein freund wilder cd-zusammenstellungen, aber bei dieser springt der funke sofort über. gerade für hörer, die sich mit neuerer musik oder überhaupt chormusik schwertun, ist die cd ein hervorragender anfang!


    ich muss gestehen, dass ich keine vergleichseinspielungen zum scarlatti kenne (muss mir mal die von alessandrini besorgen, danke für den tipp!),
    aber ich kann mir kaum verinnerlichteres vorstellen.


    wenn ich das programm doch mal im konzert erleben könnte!