Beethovens "Neunte" in HIP-Aufnahmen - warum gibt es keine wirklich guten?

  • Anlass für diesen Thread sind Bemerkungen aus "Was hört Ihr gerade jetzt (Klassik 2011)":


    es geschieht auch wirklich selten, dass ich mich so ärgere, aber diese Neunte war nun mal wirklich total verhunzt. Es mag ja Werke geben, denen es gut tut, flotter genommen zu werden, z B eben Beethovens Erste. Aber Herr Norrington scheint es ja gar nicht zu interessieren, welche Satz-Bezeichnung der Komponist vorsieht, es wird bei ihm gehudelt was das Zeug hält. Und wenn bei ihm ein Adagio molto zum Allegretto mutiert, dann ist er für mich als Dirigent nicht mehr akzeptabel.


    Ich würde auch Beethovens Neunte nicht mit Norrington hören wollen, da lob' ich mir meine Vorurteile, was bleibt einem da nicht alles erspart...


    Tja, die "Neunte" in HIP-Aufnahmen. Irgendwie scheint die niemand aus der Ecke richtig hinbekommen zu haben. Norrington, Hogwood und Goodman nicht, aber auch nicht Harnoncourt, Gardiner e tutti quanti. Auch im hochgelobten Paavo-Järvi-Zyklus gehört die "Neunte" zu den weniger gelungenen.


    Woran liegt das? Hat sich in Beethovens Musik zwischen der "Achten" und der "Neunten" etwas verändert, was Interpretationsansätze, die bis zur Achten noch passen, inkompatibel zu Späterem macht?


    Oder hat sich eigentlich nichts verändert, und man spürt erst bei der "Neunten" so richtig, wie falsch der HIP-Ansatz insgesamt ist? Was meint Ihr?


    Oder gibt es doch ein Beispiel für eine rundum gelungene Einspielung der Neunten durch einen Vertreter der HIP-Fraktion, das sich etwa mit Furtwängler 1942, Klemperer, Böhm, Bernstein, Karajan (1961 und 1977), Wand messen könnte?

  • Am besten von allen mir bis dato untergekommenen HIP-Neunten gefiel mir die Aufnahme von Immerseel. Kennt die sonst noch jemand?


    Tendenziell würde ich der These zustimmen. Die Neunte wirkt in HIP oft nicht so. Warum das so ist, ist natürlich die Frage.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo Wolfram,


    8) da ich ja bekanntlich ohnehin kein HIP-Freund bin ist die Sache für mich klar.
    :!: Gerade zur Beethoven-Sinfonie Nr.9 passt eine HIP-Besetzung noch weit weniger als bei den anderen Sinfonien. Die Sinfonie Nr.9 ist ein großsinfonisches Werk, bei der eine orchestrale unterbesetzung von vorherein zum Scheitern verurteilt ist: Du hast es an deinen genannten HIP-Beispielaufnahmen erwähnt und bestätigt.


    Ich würde zu den von Dir genannten TOP-Interpretationen der Neuten (für mich) noch die zügigeren Aufnahmen von Leibowitz (Chesky) und Mackerras (EMI) hinzufügen.



    Zu Paavo Järvi (RCA):
    Inzwischen habe ich auch den beachtlichen und hochgelobten Paavo Järvi - Zyklus komplett. :no: Nur die Sinfonie Nr.9 nicht, denn die will ich aus genannten Gründen nicht haben !
    Meine erste Ablehnung für den P.Järvi-Zyklus (da mir vieles ungewohnt und klanglich zu dünn erschien) ist in vielfacher Hinsicht in Achtung und sogar Begeisterung umgeschlagen. Daher auch mein Interesse nach zunächst den Sinfonien Nr. 4, 7 und 3, 8 erfolgte nun auch die Anschaffung der CD´s von Nr.1, 5 und 2, 6.
    Nachdem ich in der ersten Jahresquartal die zügige Mackerras_GA (EMI) genossen und aufs höchste schätzen gelernt habe, kann ich nun den "mega-präzisen" P.Järvi-Zyklus auch sehr gut vertragen und schätze diesen inzwischen auch.
    ;) Und das ist auch gut: Denn so HIP klingt der im übrigen gar nicht, wie der erste Eindruck mir erschien. :D

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Soweit ich weiss, ist der auch nicht wirklich 'HIP'. In den 'Making-offs' (*grusel*) habe ich gelesen, dass es sich um moderne Instrumente mit historischem Blech und Pauken handelt, also eine klangliche Mischform.


    Die mir im Übrigen extrem zusagt, ich höre das sehr gerne.

  • Ich höre Beethoven fast nur auf historischen Instrumenten.
    Furtwängler kenne ich nur dem Namen nach.
    Die Threadfrage ist ja ein Witz ...
    ;)
    Aber die HIP-Verächter können ja hier ihre Argumente versammeln. Oder auch nicht, ich finde Argumente nicht so wichtig ...

  • Hallo Kurzstückmeister,


    welche HIP-Aufnahme der Neunten würdest Du denn einem empfehlen, der behaupten würde, es gäbe keine wirklich gute?

  • Ich mutmaße, es sind unsere Hörgewohnheiten, die uns HIP-Aufnahmen der Neunten als "nicht wirklich gut" erscheinen lassen. Die klang doch 1824 zur Premiere auch vermutlich eher wie Immerseel, Hogwood, Goodman und Co. denn wie Furtwängler, Klemperer, Knappertsbusch oder Böhm.


    Vielleicht paßt die "romantische" Sichtweise eben besonders zu diesem gewaltigen Werk sehr gut, wie auch zu den anderen "großen" Beethoven-Symphonien (Nr. 3, 5, 7). Sie gewinnen m. E. durchaus und verlieren nicht unbedingt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

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  • Damit die Frage überhaupt interessant wird, muss ja der in Frage stehende Hörer den HIP-Zugang bei mindestens einigen anderen Sinfonien Beethovens akzeptabel oder sogar vorziehenswert finden. Die Ansicht desjenigen, der ohnehin Anti-HIP eingestellt ist, ist schlicht unerheblich, weil sie für die gesuchte Differenz nichts beitragen kann.


    Weiter muss man sehen, ob es hauptsächlich um Fragen des Tempos geht. Wer schon Klemperer im Adagio oder Toscanini im Kopfsatz (etwa so schnell wie die HIPisten) viel zu schnell findet, der wird mit HIPisten, die etwa in diesem Bereich liegen (oder im Adagio noch zügiger), allein deshalb nicht froh werden. Nun hat Beethoven freilich diese Angaben hingeschrieben, wenn uns das heute zu schnell scheint, vielleicht doch weil wir superlangsame pseudobrucknersche Lesarten der Sätze gewohnt waren.
    (Vgl. zum Adagio meine Postings aus dem Winter in einem anderen Thread)


    Klar, der Klang eines größer und mit modernen Instrumenten besetzten Orchesters wird immer anders sein, aber es finden sich auch schon vor den HIPisten vergleichsweise nüchterne Interpretationen des Werks (zB Weingartner oder Toscanini).


    Es ist auch nicht zu bestreiten, dass die 9., gut 10 Jahre nach der 7. und 8. komponiert, sich durchaus von diesen und den vorhergehenden Werken unterscheidet. Auch wenn sie m.E. immer noch "klassisch" und formal viel klassischer als die späten Sonaten und Quartette ist, so wurde sie, mehr noch als die 5. von der romantischen Interpretationshaltung vereinnahmt. Vielleicht nicht ganz zu unrecht (im Ggs. zu, sagen wir, Mozarts g-moll oder Beethovens 4. oder 7.)


    Ich höre die 9. selten und die einzige HIPpe Einspielung, die ich öfter gehört habe, ist Harnoncourts, die ich als ziemlich gut in Erinnerung habe. (Ich besitze noch Norringtons aus den 80ern und Brüggen, die habe ich aber beide vermutlich noch nie angehört.) Meiner Erinnerung nach, fand ich jedenfalls diese 9. besser als seine 5., wenn auch nicht so gut wie die ersten 4 und die 7.+8.


    Es gibt einen Aufsatz von R. Taruskin "Resisting the Ninth", in dem dieser ebenfalls sehr kritisch über die HIP-Aufnahmen urteilt, wobei ihm allerdings, wenn ich recht erinnere, erst Hogwood und Norrington vorlagen. Der Text findet sich in dem Sammelband Richard Taruskin: "Text and Act", Oxford UP, Oxford 1995


    Was ist eigentlich mit der Missa solemnis? Die ist ja, rein von der Klanglichkeit und Dimension, ebenso monumental wie die 9. und hier genießt doch zumindest die Einspielung Gardiners (u. vielleicht auch Harnoncourt, Herreweghe) einen ziemlich guten Ruf, oder?

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Oder gibt es doch ein Beispiel für eine rundum gelungene Einspielung der Neunten durch einen Vertreter der HIP-Fraktion, das sich etwa mit Furtwängler 1942, Klemperer, Böhm, Bernstein, Karajan (1961 und 1977), Wand messen könnte?


    Hallo Wolfram,


    JR hat recht, wenn er auf Hörgewohnheiten anspielt. Wenn man "hippe oder hip-orientierte" Aufnahmen den oben von Dir genannten gegenüberstellt, dann kann nicht "objektiv" verglichen werden, denn einige Interpretationen sind höchst subjektiv geraten, insbesondere die der Herren Bernstein und Furtwängler.


    Bei Bernstein, mehr noch in der New Yorker als in der Wiener Aufnahme, fällt zudem auf, daß die Temprelationen nicht immer stimmen. Das bei vielen "hippen und hip-orientierten" Dirigenten als zu schnell empfundene "adagio molto e cantabile" ist bei ihm in Relation zu den Zeitmaßen der anderen Sätze zu langsam (und mir persönlich zu romantisch-zerdehnt).


    Wer Beethoven als "Titan" sieht, wer die 9. Sinfonie romantisch wuchtig als "Ode an die Freude mit obligaten drei Sätzen voran" sieht, der kann mit der historisch informierten Aufnahmepraxis nicht oder kaum glücklich werden.


    Ich selbst fand lange Zeit so gut wie keine Aufnahme, die mich zufrieden stellte, da für mich Beethovens 9. "das gewaltigste, größte und erschütterndste Musikstück, das jemals komponiert wurde" (Selbstzitat) darstellt.


    Unter dieser Prämisse war Gardiner z.B. technisch beiindruckend, aber in der musikalischen Aussage zu "glatt" und "belanglos".


    Einzig Michael Gielen fand in seiner gewohnt präzisen, durchsichtigen Lesart Anerkennung. Gielen war in etwa so wie Wand, bloß ein bißchen schneller.


    (leider nur sündhaft teuer gebraucht erhältlich)


    Dann aber wurde ich von Ulrich "verführt" ( ;) ), mir die Aufnahme mit Christoph Spering zuzulegen und seitdem gibt es sie für mich - die "hippe Aufnahme, die mich vom Hocker haut", weil sie so vollkommen ungewohnt, unerhört daherkommt, daß ich jedes Mal aufs Neue fasziniert bin.


    Um mich nicht zu wiederholen, der Link zu meiner ausführlichen Besprechung: Freude schöner Götterfunken - Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr 9 in d-moll op 125


    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Damit die Frage überhaupt interessant wird, muss ja der in Frage stehende Hörer den HIP-Zugang bei mindestens einigen anderen Sinfonien Beethovens akzeptabel oder sogar vorziehenswert finden.


    Das leuchtet mir nicht ein. Es wäre doch sogar folgender Extremfall denkbar (zumindest denkbar): Jemand lehnt HIP bei Beethoven normalerweise ab, kennt aber zwei oder drei HIP-Einspielungen der Neunten, die er akzeptiert (oder mehr).

  • Nachdem ich eingangs zitiert werde, erlaube ich mir eine kurze, sehr subjektive Stellungnahme, die jeglichem musikwissenschaftlichen Anspruch nicht gerecht wird und dies auch dezidiert nicht will...


    Vorneweg: Meine erwähnte Aussage war selbstredend mit einem Augenzwinkern zu verstehen, sie entspricht zwar durchaus den Tatsachen, sofern dies meine Vorlieben und meine Bandbreite an Aufnahmen angeht, doch bin ich zu ausreichend Selbstreflexion fähig, um meine oft speziellen musikalischen Vorlieben als sehr persönlichen Geschmack und nicht als allgemeingültige Richtlinie einordnen zu können.


    Doch nun zu Beethoven. Ich bin kein Anhänger der historischen Aufführungsparxis, doch gibt es durchaus einige Symphonien, bei denen ich derartige Einspielungen mit Gewinn und durchaus auch Vergnügen höre; wenig überraschend die ersten Beiden, ebenso 4 & 5, besonders auch die Achte. Bei der Neunten ist das Vegnügen im Scherzo eventuell vorhanden, im ersten Satz überwiegt dann der (intellektuelle) Gewinn. Beim dritten Satz freilich... Ich kenne bis dato keine HIP-Interpretation, die nicht ähnlichen (oder noch gravierenderen) Ärger hervorgerufen hätte, wie dies bei rolo zu lesen war. Was dann im Finale passiert, war für mich nach den Unanehmlichkeiten des schnellen langsamen Satzes meist nicht mehr von Belang.


    Das Adagio der Neunten ist bei mir sakrosankt, ich liebe es ob seiner weltentrückten Schönheit - die ich nur empfinden kann, wenn es in gemäßigtem Tempo gespielt, ja ich wage zu sagen - zelebriert - wird. Ob es nun der Intention Beethovens entspricht, wenn Furtwängler ein 20-minütiges Traumgebilde aufbaut, mag diskutierbar sein, für mich ist dies nicht von Belang.
    Diese Sichtweise offenbart in dem Satz eine geradezu propehtische Vorwegname der Gefühlswelt romantischer Symphonik. Es ist sicher unseren Hörgewohntheiten geschuldet, dass dieser Aspekt wahrnehmbar ist, sowie der Rückschau auf die Musikentwicklung. Dennoch bin ich überzeugt, das Beethoven besonders in seiner Neunten, aber nicht nur dort, romantische Gefühls- und Klangwelten erspürt hat, die durch die romantische - oder meinetwillen romatisierende - Interpretationsweise quasi freigelegt werden. Die historische Aufführungspraxis hingegen legt mehr die Strukturen frei und jene Aspekte der Musik, die sie als Produkt der Wiener Klassik kennzeichnen.


    Sicherlich entspricht es nicht der Aufführungspraxis zu Beethovens Zeit, wenn ein von der Romantik geprägter Dirigent wie Furtwängler die Neunte zu einem emotional aufegeladenen Werk macht, oder ein Karl Böhm ihm trotz allen klassichen Ebenmaßes titanische Größe verleiht. Die These, dass dies dezidiert GEGEN die Intention Beethovens sein soll, halte ich angesichts zahlreicher durchaus schon romantischer Aspekte in der Symphonie allerdings für gewagt. Zwar konnte Beethoven die musikalische Entwicklung natürlich nicht vorhersehen, doch hat er etwas komponiert, was überzeugend unter Verwendung der neuen Sichtweise, die aus dieser Entwicklung hervorging, rezipiert werden kann. Und zu behaupten, Furtwänglers interpretation sei einfach schlecht, wird sich ja kaum jemand anmaßen.


    Ich denke, gerade Beethovens Neunte war für die in der Folge aufkommende Musik nicht nur als Inkuinabel von Bedeutung, sondern auch als Gegenstand der Anwendung ihrer neuen klanglichen und emotionalen Ideale in der Interpretation.


    HIP zeigt, wie die Neunte zu Beethovens Zeiten klang.
    Ich will das Werk so hören, wie es klingen kann, weil Beethoven es seiner Nachwelt zum Geschenk gemacht hat.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Für mich ist HIP eine Erweiterung der Hörerfahrung , gerade bei der Neunten. Feinheiten werden hörbar, die Struktur ist transparent.


    Das Thema mit dem Tempo hat Johannes wunderbar aufgegriffen. Die Relation im Werk muss stimmen.


    Paavo Järvi`s Aufnahme wurde in der Fernsehbesprechung von Thielemann und Kaiser an entscheidenden Stellen zur Vorstellung der Sätze herangezogen, quasi mit Karajan und Bernstein auf eine Stufe gestellt.


    Wer sich tiefer mit dem Schaffen Beethoven`s beschäftigt, kommt um HIP nicht herum. Ich sage nicht, das man es mögen muss, aber es werden Aspekte des Werkes freigesetzt, die einfach in einer romantisierenden Interpretation untergehen. Auch hat man dann einen Vergleich, quasi eine andere Stimme, mit der man überprüfen kann, wo die "Knackpunkte" des Werkes liegen.


    Das persönliche Überfrachten von Musik mit seinen Gefühlen verleitet zu Dogmatismus. " So und so hat das Adagio zu klingen, alles andere ist Müll". Ich habe die Erfahrung gemacht, das gerade neue Sichtweisen, einfach mal die Neunte von einer anderen Seite hören, neue Erkenntnisse in seinem eigenen Lernen dieser Musik bringen.


  • Das leuchtet mir nicht ein. Es wäre doch sogar folgender Extremfall denkbar (zumindest denkbar): Jemand lehnt HIP bei Beethoven normalerweise ab, kennt aber zwei oder drei HIP-Einspielungen der Neunten, die er akzeptiert (oder mehr).


    natürlich ist das rein logisch möglich (ich schrieb auch nicht "sinnlos", sondern "nicht interessant" ;)). Ich hatte freilich Deine Äußerung, dass ja offensichtlich? bei der 9. die Frage sich eher stellen würde, als bei den anderen Sinfonien, als Voraussetzung genommen.
    (Ich meine allerdings schon mal gelesen zu haben, dass Hörern die 9. erst HIP richtig zugesagt hätte, vielleicht auch weil endlich mal ein Chor die Musik artikuliert und transparent singen kann und nicht verwaschen brüllen muss (das ist natürlich im Grunde HIP-unabhängig, aber bei praktisch allen "legendären" Aufnahmen bis weit in die 1970er de facto der Fall). Das waren aber keine HIP-Gegner.)


    Der Normalfall ist doch wohl, dass jemand, der HIP prinzipiell ablehnt, es trivialerweise bei der 9. ebenfalls ablehnt. Nun hast Du die eingangs zitierte Äußerung vermutlich deswegen zum Anlass für diesen Thread genommen, weil Dir einleuchtete, dass es bislang noch keine überzeugende HIP-9. gäbe, oder weil solche Äußerungen schon mehrfach gefallen seien. Da von den anderen Sinfonien nicht die Rede war, aber eine Sonderstellung der 9. impliziert schien, bin ich mal davon ausgegangen, dass Du selbst den Eindruck hast, dass es von etlichen Sinfonien überzeugende HIP-Aufnahmen gäbe, von der 9. jedoch nicht. Mag sein, dass ich das überinterpretiert habe.


    Jedenfalls gebe ich KSM recht, dass es eher uninteressant ist, nun eine generelle Ablehnung von HIP noch mal konkret an der 9. Beethoven (warum nicht an der Eroica oder Schuberts Großer C-Dur? oder was immer) durchzudeklinieren.

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  • Das Thema mit dem Tempo hat Johannes wunderbar aufgegriffen. Die Relation im Werk muss stimmen.


    Das mit der Temporelation ist ebenfalls ein Bereich, in dem die Romantik die Bewertung meines Erachtens deutlich verändert hat. Zu Beethovens Zeit, wo die Symphonik noch von sehr strengen Regeln bestimmt war und vor allem kurze Satzlängen die Regel waren, waren nennenswerte Freiheiten in der Tempogestaltung einfach kaum vorhanden.
    Nun ist es aber ein Unterschied, ob ich ein Haydn-Menuett von dreieinhalb Minuten interpretiere, oder Beethovens doch eher 15-minütiges Adagio aus der Neunten. Der Spielraum innerhalb des Satzes ist allein schon durch die bloße Dauer größer. Führt dieser Spielraum nun zwangsläufig zu Verschiebungen in der Relation der Sätze untereinander, so hat sich da einfach unsere Beurteilung geändert. Wer zu Beethovens Zeiten nur das bis dahin geschriebene kannte, würde auf gewollte Ungleichgewichte in der Tempogestaltung sicherlich mit Verstörung und Abneigung reagiert haben, doch wer etwa mit dem Klangkosmos Mahlers und dessen unglaublichen Schatzes an unterschiedlichen Interpretationsansätzen vertraut ist, wird auch bei Beethoven die Sache nicht mehr so eng sehen - oder?
    Ob - historisch - richtig oder falsch, auch in der Romantisierung liegen neue Hörerfahrungen.



    Das persönliche Überfrachten von Musik mit seinen Gefühlen verleitet zu Dogmatismus.


    Wo liegt denn da Problem am emotionalen Zugang zur Musik? Natürlich wird das Gehörte mit eigenen Gefühlen assoziert. Musik ist doch in erster Linie dazu da, um einen über das Hervorrufen von Empfindungen zu berreichern.


    Beethoven hat einem seiner Werke den Satz beigegeben:

    Von Herzen - möge es wieder zu Herzen gehen


    Wohl kaum ein Aufruf zu kühler intellektueller Analyse.


    Ich bleibe bei dogmatischer Hingabe...

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    (Arthur Schopenhauer)

  • Zitat

    Einzig Michael Gielen fand in seiner gewohnt präzisen, durchsichtigen Lesart Anerkennung. Gielen war in etwa so wie Wand, bloß ein bißchen schneller.


    (leider nur sündhaft teuer gebraucht erhältlich)

    Bei Gielens Wiedergabe sind mir die beiden ersten Sätze etwas zu kontrastarm und blaß geraten. Um so stärker beeindrucken der 3. und 4. Satz unter Gielen, meisterhaft; auch oft sehr emotionale Spielweise...
    Unter P. Järvi habe ich mehrere Livemitschnitte der 9. bei denen sofort der Funke rübersprang.. die Themen werden bei ihm deutlich artikuliert (vor allenm in den ersten beiden Sätzen) und nicht im Fluss runtergebügelt, eingeebnet .. aber:
    ist das mit Järvi überhaupt HIP ????? Bin mir da momentan gar nicht sicher ....
    :hello:

  • Das mit der Temporelation ist ebenfalls ein Bereich, in dem die Romantik die Bewertung meines Erachtens deutlich verändert hat. Zu Beethovens Zeit, wo die Symphonik noch von sehr strengen Regeln bestimmt war und vor allem kurze Satzlängen die Regel waren, waren nennenswerte Freiheiten in der Tempogestaltung einfach kaum vorhanden.
    Nun ist es aber ein Unterschied, ob ich ein Haydn-Menuett von dreieinhalb Minuten interpretiere, oder Beethovens doch eher 15-minütiges Adagio aus der Neunten. Der Spielraum innerhalb des Satzes ist allein schon durch die bloße Dauer größer. Führt dieser Spielraum nun zwangsläufig zu Verschiebungen in der Relation der Sätze untereinander, so hat sich da einfach unsere Beurteilung geändert. Wer zu Beethovens Zeiten nur das bis dahin geschriebene kannte, würde auf gewollte Ungleichgewichte in der Tempogestaltung sicherlich mit Verstörung und Abneigung reagiert haben, doch wer etwa mit dem Klangkosmos Mahlers und dessen unglaublichen Schatzes an unterschiedlichen Interpretationsansätzen vertraut ist, wird auch bei Beethoven die Sache nicht mehr so eng sehen - oder?


    Der Maßstab für Beethoven muss m.E. Beethoven sein, nicht Haydn oder Mahler (s.u.). Ich stimme andererseits zu, dass wir uns natürlich nicht mehr von der Erfahrung (spät)romantischer Musik und entsprechenden Interpretationen befreien können. (Allerdings habe ich Beethovens 9. lange vor Mahler und Bruckner kennengelernt und in der eher geradlinigen Aufnahme Karajans/1962.) Aber Beethoven hat gezeigt, dass er auch in zügigerem Tempo "profunde" Sätze, sagen wir das Allegretto der 7. Sinf. oder den 3. Satz aus op.130 schreiben kann. Die Idee, dass je langsamer, desto tiefsinniger, ist daher m.E. verfehlt.


    Ich habe übrigens meiner Erinnerung nach nie mit den relativen Tempi der Sätze untereinander argumentiert (höchstens als Beleg, dass manche von Beethovens Angaben beinahe so selbstverständlich befolgt, wie andere ignoriert werden.)
    In meinem Beitrag vom November 10 komme ich ja mehr oder minder zu dem Ergebnis, dass sowohl ein zügiges wie auch Furtwänglers sehr langsames tempo funktionieren können.


    Die Bezugspunkte bei Beethoven wären natürlich einige der langsamen Sätze aus den späten Quartetten, aus der Sonate op.111 (das adagio aus op.106 ist im Charakter zu verschieden) und auch schon das choralartige Adagio aus op.59,2. Außer bei op.111 (und vielleicht noch in op.132 (Hl. Dankgesang)) scheint mir die Schwankungsbreite (bzgl. der tempi) bei den Interpreten hier deutlich geringer zu sein als im adagio der 9. (ohne das genauer untersucht zu haben). op.111 ist ein Extremfall, weil hier die Variation durch Verkleinerung der Notenwerte auf die Spitze getrieben wird. Niemand kann den Anfang so langsam nehmen, dass die späteren Variationen nicht ziemlich lebhaft wirken würden. Das ist offenbar von Beethoven ja auch so gedacht. Auf ähnliche Weise, glaube ich, soll bei den Figurationen (besonders 12/8-Abschnitte) im adagio der 9. ein "beschwingter" Gestus erzielt werden, was ich im verlinkten Beitrag "verklärten Serenadentonfall" nannte. Und das passt eben ziemlich gut zu dem zügigeren Tempo. Ähnliches gilt für die Andante-Abschnitte (das "zweite Thema"), die ja selbst im üblichen zu breiten Tempo noch etwas Tänzerisches (wie ein langsames Menuett oder eine Sarabande) haben. Die offensichtliche Parallele besteht zu dem Dankgesang in op.132. Nur hat Beethoven dort den Kontrast "Choral"-"Tanz" viel stärker auskomponiert und entsprechend einen deutlicheren Tempowechsel vorgeschrieben, wozu noch die extreme Figuration der D-Dur-Abschnitte beiträgt, die diese beinahe hektisch wirken lässt, obwohl das Grundtempo andante ist. (Dass der Choral in op.132 ebenfalls meist deutlich langsamer genommen wird als vermutlich intendiert (zugegeben sehr effektiv...) ist wieder eine andere Sache.) In den "bunteren" Variationssätzen in op.127 und 131 finden sich gar scherzando-Passagen. So soll das Adagio der 9. gewiss nicht klingen, aber "graziös" dürfen die entsprechenden Abschnitte auch dort sein.

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  • Naja, Amfortas, es hängt davon ab, was Du unter "HIP" genau verstehst.


    "HIP" an Järvi ist die Beachtung der Metronomangaben, ist die Orchesteraufstellung, ist die reduzierte Orchesterstärke, ist die Bärenreiter Urtext-Edition, streng genommen "unhip" sind die modernen Streichinstrumente (ich weiß jetzt nicht genau, ob Järvi "alte" Hörner und Pauken verwendet).

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    Norbert


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  • Hallo Johannes,


    dann lassen wir das mit der Temporelation mal meine Aussage sein. Ich habe immer noch ein Problem damit, Querverweise auf die Kammermusik nachzuvolziehen. Mein Eindruck ist einfach der, das Beethoven viel zu genau auf die Zusammensetzung und Art der Instrumente eingegangen ist. Beethoven entwickelt die Musik zu sehr aus dem inneren Zusammenhang heraus. Deine Verweise sind aber immer ein Muss für mich, sie zu überprüfen.


    Hallo novecento,


    natürlich ist der emotionale Zugang zur Musik erlaubt. Aber die Neunte auf diesen Wert zu reduzieren lässt vieles außen vor. Wie Johannes schon schrieb, muss Beethoven der Maßstab seiner Musik sein, nicht Mahler oder Bruckner. Warum bleibt ihr denn nicht einfach bei diesen Komponisten, da ist doch Gefühlsüberschwang in Überfülle zu erleben .


    Beethoven ist Beethoven und bleibt es in seiner Einmaligkeit. Die Reduzierung auf einen Aspekt seiner Musik, das künstliche Herausheben derselben kann zur Reduzierung des Gesamtbildes beitragen.

  • Natürlich sind alle Sätze "einzigartig". Aber die historisch nächstliegenden Werke Beethovens sind bei der 9. Sinf. eben nicht die4. Sinfonie (danach gibt es ja erstmal gar kein Adagio in einer Sinfonie), sondern die anderen späten Werke.
    Die formalen Parallelen zwischen den langsamen Sätzen von op.125 und op.132 sind ganz eindeutig. Zur Sinfonie vgl. mein oben verlinktes posting. In op.132 hat man A (Choral) B (andante, "Neue Kraft fühlend") A' (Variation) B' (Variation) A'' (Var. + Coda). Bei der 9. folgt eben eine weitere Variation des Hauptthemas bzw. eine freiere Coda. Weitere Gemeinsamkeit ist der 3erTakt des kontrastierenden Teils und dessen tänzerischer Charakter, sowie eine gewisse Choralartigkeit zumindest des Themenkopfes in der 9. (Dieser Gestus ist auch die Gemeinsamkeit mit op.59/2; ansonsten ist das ein Sonatensatz, keine Variationen.)
    Die anderen genannten Sätze haben keine "Zwischenthemen", sondern sind Variationen über nur ein Thema, allerdings oft mit deutlichen Tempowechseln.
    Für die Tempofrage ist das zwar alles sekundär (weil es für die Quartette keine M.M.-Ziffern Beethovens gibt), aber interessant finde ich solche Ähnlichkeiten trotzdem :D

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  • natürlich ist der emotionale Zugang zur Musik erlaubt. Aber die Neunte auf diesen Wert zu reduzieren lässt vieles außen vor.


    DAs ist schon richtig. Aber ebenso reduziert auch die Historische Aufführungspraxis die Neunte auf gewisse Dinge und lässt anderes außen vor. Jede Interpretation muss, indem sie einen Aspekt in einem Werk hervorhebt, wohl zwangsläufig andere außen vor lassen. Darin liegt die Vielfalt begründet, und der Gewinn, ein Werk in unterschiedlichen Ansätzen zu hören.
    ALLE Aspekte einzubeziehen und gleichermaßen voll erblühen zu lassen, ist sicherlich unmöglich, sonst gäbe es ja die eine perfekte Aufnahme.
    In denen, wo versucht wird, als Kompromiß das Meiste abzudecken, herrscht vielfach Langeweile vor.



    Wie Johannes schon schrieb, muss Beethoven der Maßstab seiner Musik sein, nicht Mahler oder Bruckner. Warum bleibt ihr denn nicht einfach bei diesen Komponisten, da ist doch Gefühlsüberschwang in Überfülle zu erleben .


    Schade, wenn jemand den Eindruck hat, Beethovens Musik wäre weniger emotional als die Bruckners oder Mahlers...




    Was die Querverweise zur Kammermusik angeht, so habe auch ich ein Problem damit, diese nachzuvollziehen. Aber das ist meiner geringen Kenntnis dieser Gattung geschuldet und nicht der Sinnhaftigkeit dieser vergleichenden Analyse :D .
    Es ist sicher richtig, Rückschlüsse aus dem Werkkontext zu ziehen, die Vergleichbarkeit auf technische Übereinstimmung zu reduzieren wäre zu kurz gegriffen.
    Allerdings bin ich der Ansicht, dass die interpretatorischen Zugänge sich zwischen Kammermusik und Symphonik sehr unterscheiden, was direkte Rückschlüsse wiederum erschwert.

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  • Schade, wenn jemand den Eindruck hat, Beethovens Musik wäre weniger emotional als die Bruckners oder Mahlers...


    Werter novecento,


    da bist du auf dem Holzweg. Ich mache es mir nur nicht einfach mit Beethoven, stelle ihn nicht in eine romantisierende Ecke und erwarte dann, das er auch so interpretiert wird. Jede Argumentation pro eines langsamen Adagio z.B. streicht sofort das Offensichtliche heraus, das, was einem sofort in`s Auge springt Eine Interpretation, die diesem offensichtlichem folgt, ruft Langeweile bei mir hervor.


    Gerade durch HIP habe ich mir erhört, was Johannes schon beschreibt. Beethoven hat mehr als eine simple Gefühlsduselei geschrieben und das zu hören, ist Beethoven entdecken.

  • Zitat

    Naja, Amfortas, es hängt davon ab, was Du unter "HIP" genau verstehst. "HIP" an Järvi ist die Beachtung der Metronomangaben, ist die Orchesteraufstellung, ist die reduzierte Orchesterstärke, ist die Bärenreiter Urtext-Edition, streng genommen "unhip" sind die modernen Streichinstrumente (ich weiß jetzt nicht genau, ob Järvi "alte" Hörner und Pauken verwendet).

    dann würde ich die Livemittschnitte unter Järvi als "hippig" bezeichnen (ebenso Gielens fetzige Studiokonserve, was den 3. und 4. Satz betrifft). "Alte" Instrumente höre ich da nicht heraus. Die beeindruckenden Wiedergaben bzw. Mitschnitte unter Pletnev, Vänskä vom 28.08.10, Zagrosek vom 01.10.08 und Cambreling 17.12.10 tendieren dann auch zum "Hippigen"
    Emotion und "hippig" schließen sich nicht aus....

    Zitat

    ede Argumentation pro eines langsamen Adagio z.B. streicht sofort das Offensichtliche heraus, das, was einem sofort in`s Auge springt Eine Interpretation, die diesem offensichtlichem folgt, ruft Langeweile bei mir hervor.

    Das Thema des 3. Satzes ist so "verschlungen" gestaltet, dass bei langsamen Tempi die Gefahr besteht es unkenntlich werden zu lassen...es zu zerfasern...
    :hello:

  • Ich hörte gerade
    Beethoven: sinfonia nr 9 .2010. Moscu.Dinara Alieva (sopr). Larissa Kostiuk (mezzo). Alexander Timchenko ( ten). Ezer Abdullaev (bajo). Coro de cámara de Moscu. Gran coro de Moscu "500 voces". Orq. Nacional Rusa. Dir.: Mikhail Pletnev.
    Alles andere als HIP! Eher größtmöglicher Aufwand! Nicht unbedingt mein Bier aber schwer beeindruckend und er bringt das Adagio unter 14 Minuten.
    Gruß S.


    Nachtrag: Wenn Russen deutsch singen müssen, klingt es schon arg merkwürdig! Insbesondere Herr Abdullaev hat da so seine Probleme. Der Chor ist astrein!

  • Hallo S.,


    ja, Pletnevs Beethoven ist für mich ein sehr heißer Geheimtipp. Das ist sehr emotional musiziert, nie verschleppt, und doch sehr eigenständig klingend.
    Sein Beethoven-Zyklus auf DG ist m. E. sehr empfehlenswert.


    LG

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    – Luís de Camões

  • Am besten von allen mir bis dato untergekommenen HIP-Neunten gefiel mir die Aufnahme von Immerseel. Kennt die sonst noch jemand?


    Tendenziell würde ich der These zustimmen. Die Neunte wirkt in HIP oft nicht so. Warum das so ist, ist natürlich die Frage.


    Die Box mit Immerseel habe ich mir heute gekauft! Habe nur reingehört, ein bisschen 2., 5. und 9. Intensives Hören und Genießen kommt leider erst nach Pfingsten.


    Dass die 9. in HIP nicht so wirke, kann ich nicht bestätigen - es sei denn, das an "das Wirken" bestimmte Erwartungen geknüpft seien, die ich nicht kenne und/ oder teile.
    Gerade Gardiner hat mich mit der 9. begeistert. Allein der wunderbare Chor! Was für eine "Freude"!


    VG, Accuphan

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Es gibt sie ja, in meinen Augen gehören Gardiner und vor allem Harnoncourt zu den wirklich guten. Von allen Chören, die in meinen nunmehr über 30 Neunten mitwirken, schwimmt der Monteverdichoir Gardiners ganz oben mit, und dann möchte ich noch auf ein anderes Team aufmerksam machen:

    Zitat

    Zitat von Norbert: Doch dann wurde ich von Ulrich verführt, mir die Aufnahme von Christoph Spering zuzulegen".


    Ja hat denn außer Ullrich und mir keiner im Live-Konzert mit Christoph Spering mit seinem fablhaften Chorus Musicus Köln und seinem nicht minder kompetenten Neuen Orchester gesessen? Ich habe die Protagonisten gleich zwei Mal in Essen gehört, und ich war begeistert über die Ausgewogenheit des Klangs und die Balance zwischen Chor und Orchester. Spering ist nämlich ein Freund des modifizierten Originalklangs, wenn ich das einmal so nennen darf, vor allem, was die Besetzungsstärke angeht, und so wird bei der Neunten Beethoven das Podium richtig voll, und das Ergebnis ist überwältigend.


    Also, es gibt sie, die wirklich guten.


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • DAs ist schon richtig. Aber ebenso reduziert auch die Historische Aufführungspraxis die Neunte auf gewisse Dinge und lässt anderes außen vor. Jede Interpretation muss, indem sie einen Aspekt in einem Werk hervorhebt, wohl zwangsläufig andere außen vor lassen. Darin liegt die Vielfalt begründet, und der Gewinn, ein Werk in unterschiedlichen Ansätzen zu hören.
    ALLE Aspekte einzubeziehen und gleichermaßen voll erblühen zu lassen, ist sicherlich unmöglich, sonst gäbe es ja die eine perfekte Aufnahme.
    In denen, wo versucht wird, als Kompromiß das Meiste abzudecken, herrscht vielfach Langeweile vor.


    Es wäre schade, wenn diese wichtige Aussage unterginge, weshalb ich sie noch einmal hervorheben möchte. Genau so ist es nämlich: Ein wirkliches Kunstwerk ist wie ein komplexes Gebilde (z.B. ein Berg), dass im Dunkeln verborgen ist. Man kann nun mit den Bewegungen eines Scheinwerfers darüber hinwegleuchten und dabei sowohl Details erkennen als sich auch eine Vorstellung vom Ganzen machen. Nie wird man allerdings wie eine Sonne alle Aspekte und Details beleuchten können. Die eine, absolut mustergültige Interpretation kann es demzufolge nicht geben, selbst wenn wir bei manchen Stücken meinen, sie gefunden zu haben. Vielleicht hat ein Interpret besonders schöne und beeindruckende Formationen des Berges derart geschickt beleuchtet, dass wir auf andere Eindrücke der Landschaft frei nach dem Motto "verweile doch du bist so schön" gerne verzichten wollen.


    Trotzdem können sie vorhanden sein.
    In eine ähnliche Richtung geht die Harnoncourtsche Knödeltheorie: Man kann auf der einen Seiten des Knödels etwas draufpacken, muss es aber von der anderen Seite wegnehmen. Der Knödel nimmt verschiedene Formen an, aber die Masse bleibt gleich. Mit anderen Worten: Ein Interpret kann nicht alle Aspekte eines wirklichen Meisterwerks beleuchten. Vieles wird im Dunkeln bleiben. Wenn er das Werk nach 10 Jahren wieder spielt, dann kann es sein, dass andere "Formationen" zu Tage treten, um im ersten Bild zu bleiben.


    Nun konkret zur Neunten:
    Meinem Eindruck nach wollte Beethoven mit diesem Werk wie mit keinem anderen die konventionellen Grenzen sprengen, mit denen er auswuchs.
    Sein Ausdruckswille war hier so unbedingt, dass er sowohl der Tradition der sprechenden Instrumentalmusik (Klangrede) als auch der etablierten Symphonieform (Sonatensatz wie Allegro, Adagio, Menuetto, Presto-Finale) offensichtlich gar nicht mehr zutraute, diesem gerecht werden zu können.
    Deshalb konnte er sich sozusagen nicht anders helfen, als mit einem skandierenden Schlusschor abzuschliessen. Dessen Thema appeliert in seiner Einfachheit und der "wir Menschen sind doch alle Brüder" -Aussage für mich tatsächlich an die Massen und nicht mehr nur an eine gebildete, dünne Oberschicht, die den feinen, in der Klangrede versteckten Humor in Stellen einer Haydn-Symphonie vielleicht im Gegensatz zu Bauern und Handwerkern, die mit dieser Kunst überhaupt nicht in Kontakt kamen, heraushören konnten.
    Selbst die mehr als unkonventionellen ersten drei Sätze der 9. haben für Beethoven nicht ausgesagt, was er eigentlich ausdrücken wollte.
    Deshalb fängt der letzte Satz mit einem extremen Wutausbruch an. Obwohl er sich soviel Mühe gegeben hat, die eigentliche Aussage zu finden, reicht das, was Satz 1-3 bieten kann, nicht aus und Beethoven lässt mit dem dissonanten Beginn des 4. Satzes seiner Frustration darüber freien Lauf.
    Die suchenden Bässe im letzten Satz sind ja ein Bild für ihn selbst. Die vorhergehenden Sätze werden reflektiert und im Falle von 1. und 2. brüsk, im Falle von 3. sanft verworfen.
    Als dann die Bläser endlich mit den ersten Ansätzen des bekannten Themas kommen, stimmen die Bässe (also Beethoven) einem Quintsprung (klingt wie "ja, ja!") zu und die Bässe dürfen dann auch das Thema erstmalig in Reinform vorstellen.


    Dieser Einblick in die Beethovensche Komponierwerkstatt zeigt mir, dass hier mit einem befreienden Paukenschlag die alten Perücken des Barocks, des Rokokos und der Haydn-Mozart-Ära in den Ofen geworfen werden.
    Beethoven benutzte die Konventionen, die gewachsene Klangsprache seiner Zeit. Aber genau darin besteht auch der Konflikt: Eben diese Klangsprache benutzend, wollte er sie in dem er sie benutzte (was ihn vielleicht frustrierte) geradezu revolutionär abschaffen.
    Musik soll jetzt nicht mehr nur einer gebildeten Elite als Zeitvertreib zur Verfügung stehen. Sie ist für alle da, soll von allen verstanden werden.
    Es gilt nicht mehr hochkultivierte Klangrede, sondern die Musik soll sozusagen stadiontauglich sein ( dass es in japanischen Stadien Massenveranstaltungen gab, bei denen das ganze Publikum als Chor für den Schlusschor der 9. fungierte, ist sicherlich kein Zufall, sondern eine Reaktion auf den in der Musik enthaltenen Appell)
    Natürlich fand dieses musikalische Umdenken bei Beethoven dabei auch vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Veränderungen statt, weshalb der Text von Schiller nicht besser passen konnte.


    Man kann also annehmen, dass Beethoven dieses Werk auch als eine Art musikalische Zukunftsutopie ansah. Der Blick war ganz klar nach vorne, in eine utopisch bessere Zukunft gerichtet, keineswegs traditionsbewusst nach hinten.
    Er hat nie vorgehabt, ein "Klassiker" zu werden, der sich von der Romantik abgrenzt, denn die kannte er ja noch nicht.
    Allerdings hat er mit diesem Werk die Tür zur Romantik weit aufgestossen und vieles vorweggenommen, was später bei Brahms oder Wagner wieder auftaucht.


    Die oben angeführten Aspekte führen mich zu dem Schluss, dass eine HIP-Interpretation, gar mit alten Instrumenten, nicht unbedingt dem entsprechen muss, was sich der Meister vorstellte. In der Tat blieb ihm nur noch seine Vorstellungskraft, weil er ja zum Zeitpunkt des Komponierens schon taub war.
    Deshalb empfinde ich eine Aufführung mit modernen oder romantischen Instrumenten und voller Besetzung der Berliner Philharmoniker als sehr legitim und auch als werkgerecht.
    Beethoven sehnte sich nach Neuem, Konventionen konnten ihn nicht mehr zufriedenstellen.
    Stünde er auf wundersame Weise -geheilt von seiner Taubheit- von den Toten auf, dann wäre es wirklich interessant zu hören, ob er nun die an Wagner erinnernde Karajansche Klangpracht und Dramatik, oder das historisierende Klanggewand ( mit entsprechender Spielweise) für dieses Werk favorisieren würde.
    Vielleicht würden einige HIP-Anhänger enttäuscht sein, wenn er sich für den satten Wagner-Sound ausspräche....natürlich ist das nur ein Gedankenspiel.


    Ich habe an verschiedener Stelle im Forum schon erwähnt, dass für mich Karajans Aufnahmen der 9. nach wie vor Referenzstatus geniessen. Sie halte ich für unerreicht.
    Eine HIP-Aufführung, die mich derart überzeugt, habe ich hier noch nicht gehört.
    So notwendig und überzeugend ich einen lebendigen HIP-Ansatz für Bach, Haydn, Mozart und den Beethoven der 1. und 2. Symphonie auch finde, muss ich doch sagen, dass die "romantische" Annäherung an die 9. mich sehr überzeugend kann, weil es m.E. das Werk so angelegt ist, dass es diese Dinge vorwegnimmt und sich sozusagen in die Zukunft hineinwerfen will.


    Vielleicht empfinden deshalb viele den retrospektiven HIP-Ansatz ( so lebendig es auch gespielt sein mag) als nicht sehr überzeugend.
    Dass es jedoch keine gelungenen oder guten HIP-Aufnahmen dieser Symphonie gäbe, sage ich jedoch nicht.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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