Musik des Mittelalters - nur für Historiker ?

  • Um diesen Bereich ein wenig in den Mittelpunkt zu stellen möchte ich hier mal die Frage stellen, was euch mittelalterliche Musik gibt.
    Ist sie nur vom "historischem" Wert,Musik die man beim Namen kennt - aber möglichst nicht hören will ?
    Verschrecken Euch die "exotischen " Instrumente -oder begeistern Sie euch ? Welche Stücke des Mittelalters kennt Ihr - welche begeistern Euch ? Hat diese Musik Euch überhaupt noch etwas zu sagen ?
    All das soll Thema dieses Threads sein - aus dem sich später andere Threads entwickeln sollen.
    WAs kennt Ihr - was gefällt Euch - was nicht ?
    CD- Empfehlungemen - im Maßen - sind gern gesehen....
    Dieser Thread ersetzt jenen mit der Nr 609
    Musik des Mittelalters
    welcher schon einige Jahre am Buckel hat und wo etliche empfohlene CDs nicht mehr erhältlich sind.
    Zudem hat sich die Mitgliederzusammensetzung geändert. Daher ist dort lediglich ein Mitlesen der alten Beiträge möglich.



    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Alfred rückt mit seiner Threaderöffnung eine Epoche in den Blickpunkt, die für mich bisher mehr oder weniger "terra incognita" ist. Der älteste Komponist in meinem Regal ist Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377):



    Ich muß gestehen, diese Messe nur einmal gehört zu haben, nämlich (wie ich es immer halte) nach Erhalt, um festzustellen, ob die Pressung einwandfrei ist. Und dieses Hörerlebnis ist schon ein Dezenium her. Einen rechten Zugang konnte ich nicht finden. Dabei will ich nicht bestreiten, daß Machaut mit seinen Werken als hervorragendster Vertreter der "Ars Nova" seinen Platz in der Musikgeschichte fest hat. Die Frage ist allerdings, ob die Komponisten dieser "Ars-Nova-Epoche" überhaupt noch zum Mittelalter zählen - ich gehe aber mal davon aus, daß Alfred hier keine musikhistorisch eindeutige Grenzziehung im Sinne hatte.


    Mein früherer Musiklehrer hatte, schon aus beruflichen Gründen, einige Platten mit Musikbeispielen der Troubadours, auch Adam de la Halle, Leonin und Perotinus magnus. Ich erinnere mich, daß mir die - zumeist geistliche - Musik wenig bis überhaupt nichts sagte; daran hat sich auch nichts geändert.


    Je weiter ich dann aber vorangehe und Namen wie Ockeghem, Josquin Desprez, Heinrich Isaac aus dem Dunkel der Zeit auftauchen, wird mein Interesse dann auch wieder größer. Eine Reihe von Messe-Vertonungen auf die damals sehr berühmte Melodie "L'homme armé" besitze ich auch; es ist schon interessant, die stets weitergehende Musikentwicklung an diesen Messe-Kompositionen zu verfolgen.


    Kurzes Fazit: Mittelalterliche Musik - und dazu sind ganz sicher die Troubadoure, Adam de la Halle, Leonin und Perotin zu zählen - findet bei mir (bisher) keinen Anklang. Wahrscheinlich ist das Hörempfinden zu sehr durch die Epochen wie Barock, Klassik und Romantik geprägt, als daß die doch sehr eintönig klingenden Weisen dieser Zeit mich ansprechen könnten. Je näher ich dann an die Renaissance-Zeit herankomme, je interessanter wird für mich auch die Musik - meint der

    .


    MUSIKWANDERER

  • Auch ich denke an die Messe de Nostre-Dame von Machaut als erstes, und zwar in der mittlerweile 50 Jahre alten Aufnahme von Alfred Deller, die mich damals beim Hörvergleich am meisten faszinierte:



    Ansonsten habe ich (obwohl Historiker) auch kaum mittelalterliche Musik in meiner Sammlung.


    LG
    Joseph
    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die Wurzeln unserer Musik liegen im Mittelalter. Daher bin ich immer bereit mich in diese Klangwelten einzuhören und die Beziehungen zu unserer Zeit zu suchen. Wie diese Musik geklungen hat, darüber lässen sich nur Mutmassungen anstellen. Wir kennen die Instrumente verwendet wurden von bildlichen Darstellungen oder schriftlichen Erwähungen, Noten sind spärlich vorhanden.


    Eine meiner liebsten Scheiben meiner CD Sammlung über alle Epochen betrachtet ist diese beim Label ECM erschienene Aufnahme des Hilliard Ensemble mit Werken von Perotin Magnus (1165-1220) und einem Anonymus dieser Epoche. Ich höre diese Gesänge gerne, weil Bezüge zur Minimal music darin zu entdecken sind. das hatte ich unabhängig von der Pressestimme auf diesem jpc Link für mich bereits herausgefunden.

    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich kann Moderato nur zustimmen! Eine sehr empfehlenswerte CD. Sie erinnert daran, dass auch die Mehrstimmigkeit erst einmal erfunden werden musste.


    Rein handwerklich waren die zwei- und vierstimmigen Organa der Pariser Notre-Dame-Schule so konstruiert, dass eine Stimme einen gregorianischen Choral in langen Noten aushielt und andere Stimmen diese langen Töne umspielten.


    Das faszinierendste Stück der CD ist vielleicht das erste, ein vierstimmiges Organum mit dem Titel "Viderunt omnes". Das Hilliard Ensemble bringt diese Musik perfekt zum Blühen.


    Wenn Ihr mal einen Musikfreund aufs Glatteis führen wollt, spielt ihm dieses Stück vor und lasst ihn den Komponisten raten. Ich wette, viele tippen aufs 20. Jhd.!


    Sehr hörenswert ist auch diese CD mit Motetten von Guillaume de Machaut:


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  • Machaut wird auf jeden Fall noch zum MA gezählt. Den Übergang zur Musik der Renaissance bzw. deren ersten Höhepunkt setzt man mit Dunstable, Du Fay und Binchois (alle kurz vor oder um 1400 geboren).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Johannes,


    die Grenzen sind natürlich fließend.


    Historiker nehmen - glaube ich - eher die Reformation 1517, die Entdeckung Amerikas 149x oder Buchdruck 14xx als Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit.


    In der Musik haben wir Dunstable natürlich schon früher.


    Zwischen der Hochgotik von Leonin und Perotin und Frührenaissance wären da noch ars antiqua (z. B. Adam de la Halle) und ars nova (z. B. Guillaume de Machaut) zu nennen. Ob Dunstable wirklich schon zur Frührenaissance gezählt wird oder in eine Übergangszeit, darüber streiten die Gelehrten vielleicht auch noch.

  • Historiker nehmen - glaube ich - eher die Reformation 1517, die Entdeckung Amerikas 149x oder Buchdruck 14xx als Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit.


    Hallo Wolfram,


    in der Tat nehmen "wir Historiker" in etwa die Zeitspanne von ca. 1450 (1453 Eroberung von Konstantinopel, Ende des Hundertjährigen Krieges) bis ca. 1550 (1555 Augsburger Religionsfrieden) als ein Jahrhundert des Übergangs. Kein ernsthafter Historiker würde heute noch behaupten, daß das Mittelalter 1492 endete und die Neuzeit am Tage von Kolumbus' Amerika-(Wieder-)Entdeckung begann. Bei der Reformation ist das ähnlich. Zudem haben wir schon einige frühere Reformationen im Spätmittelalter, ich sage nur Wycliff im England der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts und Hus in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts. Kunstgeschichtlich beginnt die Frührenaissance freilich schon früher, nämlich um bzw. kurz nach 1400 in Italien, was nördlich der Alpen aber noch eindeutig Spätmittelalter ist. Wir haben hier eine Überschneidung. Grad auch in England hielt sich das Mittelalter besonders lange. Und noch die Bestrebungen Karls V. [Ks. 1519–1558] als letzten "Universalkaiser" sind im Grunde mittelalterlich, sein ganzes Weltbild nicht neuzeitlich. Von daher wurde er auch als "letzter Kaiser des Mittelalters" (P. Rassow) bezeichnet, auch wenn man tendenziell mit ihm heute eher die Neuzeit beginnen läßt.


    LG
    Joseph
    :hello:

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    – Luís de Camões

  • Hallo Joseph,


    danke für die freundliche und fundierte Information!


    Zitat

    Grad auch in England hielt sich das Mittelalter besonders lange.


    Man merkt es allenthalben ... :)


    Jetzt weiß ich auch, was Deine Profession ist! Mit Geschichte konnte ich in der Schule nicht allzu viel anfangen, ich war da eher naturwissenschaftlich orientiert. Fortschreitendes Lebensalter hat allerdings einen neuen Blick auf dieses Fach bewirkt.

  • Verschrecken Euch die "exotischen " Instrumente -oder begeistern Sie euch ?


    Die Instrumente spielen da ja eigentlich kaum eine Rolle, schließlich gibt es keine (?) überlieferte genuine Instrumentalmusik aus dem Mittelalter.
    Mit polyphoner Musik des Mittelalters habe ich keine Probleme, Notre-Dame-Schule, Ars antiqua und Ars nova höre ich gerne, habe ich im letzten Jahr stark ausgebaut.
    Bei der Gregorianik und dem Minnesang spielt die Art der Ausführung naturgemäß eine größere Rolle. Da bin ich noch in der Eingewöhnungsphase - wobei ich da nicht so ambitioniert bin, schließlich sind die "Rekonstruktionen" vielleicht doch allzu zweifelhaft.

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  • die Grenzen sind natürlich fließend.


    [...]


    Ob Dunstable wirklich schon zur Frührenaissance gezählt wird oder in eine Übergangszeit, darüber streiten die Gelehrten vielleicht auch noch.


    Ich meinte natürlich nur die "Renaissance" in der Musik. Da wird Machaut eindeutig zum MA und Dufay bzw. seine um die Mitte des 15. Jhds. enstandenen Werke zur Renaissance gezählt. Dunstable und evtl vorher Ciconia in die Übergangszeit eingeordnet. Die Frage ist natürlich immer, was eine bloße Bezeichnung mit einem Epochenlabel erhellt. Bekannt und auch hörbar ist jedenfalls der neue Ton, der berühmte "englische Stil" Dunstables mit den dominierenden Terzen gegenüber der Musik des 13. und 14. Jhds.


    Weltliche Musik des 14. und der ersten Hälfte des 15.Jhds. werden auf dieser Sammlung dargestellt (leider ist die Doppel-CD inzwischen recht teuer/vergriffen).


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  • Kunstgeschichtlich beginnt die Frührenaissance freilich schon früher, nämlich um bzw. kurz nach 1400 in Italien, was nördlich der Alpen aber noch eindeutig Spätmittelalter ist.


    Obwohl gerade in der Malerei in Italien und den Niederlanden im 15. Jahrhundert durchaus ähnliche Dinge passieren.
    (Entdeckung der Perspektive, generell verstärktes Interesse an der Wiedergabe der Realität, und zwar zuerst recht intensiv bei van Eyck und Masaccio und dann wieder etwas zurückgenommener bei den ihnen unmittelbar folgenden Meistern.)



    :hello:

  • Da ich mich grundsätzlich erstmal für jede Art von Musik interessiere, habe ich mich auch im Mittelalter oder davor umgeschaut (obwohl Musik der Antike häufig wirlich viel mit Raten und Glauben zu tun hat...)


    Gefallen hat mir da Einiges.


    Besonders bemerkenswert fand ich diese CD mit dem Chant de l'Eglise de Rome, über den ich vor einigen Jahren mal stolperte:


    Die Sachen wirken sehr fremdartig, gar nicht wie das, was uns die Massenmedien gerne als 'Gregorianik' verkaufen wollen; manchmal mutet es eher morgenländisch an, mit mikrotintervallischen Melismen über langen Haltetönen... höre ich immer mal wieder gerne.


    Und eine meiner Lieblings-CDs ist das Graduale der Alienor von Bretagne, ein Beispiel früher Mehrstimmigkeit mit herrlichen Frauenstimmen:


    Das sogenannte 'Mittelalter' ist eben eine sehr lange und sehr vielschichtige Epoche. Man darf auch nicht vergessen, dass die Kommunikationswege damals viel länger waren und darum die kulturelle Durchdringung nicht in diesem irrwitzigen Tempo ablief wie sie das im Internetzeitalter tut.

  • Zitat

    Wahrscheinlich ist das Hörempfinden zu sehr durch die Epochen wie Barock, Klassik und Romantik geprägt, als daß die doch sehr eintönig klingenden Weisen dieser Zeit mich ansprechen könnten


    Ich glaube nicht, daß sich diese Musik -und ich spreche lediglich von den bisher oben angeführten Tonbeispielen - mit dem Begriff "ansprechend" umschreiben lässt. Aber sie ist BEEINDRUCKEND.
    Zumindest empfinde ich das so Manchmal ist eine gewisse Eintönigkeit, und stellenweise sogar "Häßlichkeit" unüberhörbar - ABER das wird wettgemacht durch eine geradezu hypnotische Wirkung die diese Musik - zumindest auf mich ausübt.
    Derartige Musik wird gerne aus anderen Kulturkreisen akzeptiert - um in transzendentale Welten einzutauchen.
    Und man ist dann ganz hingerissen. Man findet diese hypnotische Eintönigkeit im arabischen, wie auch im indischen Kulturkreis.
    Es ist nicht etwa so, daß ich diese geistliche Musik "mit Vergnügen" höre - aber sie erzeugt in mir ein eigenartiges - sanft melancholisches Glücksgefühl - eine Zufriedenheit die den zartbitteren Geschmack der Vergänglichkeit in sich trägt.
    Es klingt zwar paradox und vielleicht sogar unglaubwürdig - ist aber so......


    Aber das Mittelalter hatte auch laute und vulgäre Seiten, Liebeslieder, Tänze und Saulieder.
    Auch denen werden wir uns hier widmen.....



    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred Schmidt


    Diese Gefühle, wie du sie beschreibst kann ich sehr gut nachempfinden. Für gewisse Klänge habe ich eine Sucht entwickelt, ich lasse dann eine Nummer einer CD, die es mir angetan hat, in der Repeat-Schleife abspielen. Das archaische der Tonsprache zieht mich an. Du ziehst Parallelen zur Musik aus dem arabischen bzw. indischen Kulturkreis, die uns ansprechen.


    Was wir von den Menschen des Mittelalters als Lebensgefühl kennen, tritt uns in der Musik und dem geschriebenen Wort wohl am unmittelbarsten entgegen, wenn man von den wenigen überlieferten Bildern und den Sakralbauten einmal absehen.


    Eine spannende und anregende CD-Sammlung ist bei harmonia mundi erschienen, welche einen Bogen von byzanthinischen Gesängen, übers Mittelalter bis zur Mehrstimmigkeit der Renaissance spannt. Aufschlussreich sich damit auseinanderzusetzen, wie Musik vor und nach der Zeit des Mittelalters tönte.


    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Eine spannende und anregende CD-Sammlung ist bei harmonia mundi erschienen, welche einen Bogen von byzanthinischen Gesängen, übers Mittelalter bis zur Mehrstimmigkeit der Renaissance spannt. Aufschlussreich sich damit auseinanderzusetzen, wie Musik vor und nach der Zeit des Mittelalters tönte.



    Das ist sicher eine sehr lohnende Sammlung. Vor etlichen Jahren habe ich (zu vergleichbarem Preis) die Vorläuferbox mit 6 CDs (die fast alle auch wieder in der neuen enthalten sind) gekauft. Bei der neuen hat man im Wesentlichen am Ende drei CDs mit Renaissancemeistern und vorher eine mit Musik der Antike angefügt, der Rest überlappt sehr stark.



    Ein sehr lohnendes Buch, das (wenn auch rein wissenschaftlich inzwischen vermutlich ein wenig veraltet) einen Ausschnitt des uns in vieler Hinsicht sehr fremden Mittelalters nahe bringt, habe ich unlängst wieder gelesen. Die Katastrophen des 14. Jhds. (hundertjähriger Krieg (und andere Auseinandersetzungen), Pestepidemie, Kirchenschisma, plündernde Horden und Volksaufstände) stellen wohl einen Extremfall dar. Um diese Lebenssituationen heute annähernd nachvollziehen zu können, müsste man vermutlich Krisenregionen wie Kongo oder Afghanistan einen Besuch abstatten.


    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Lieber Alfred Schmidt,


    Du hast eine interessante Frage gestellt, wobei ich bei deren Beantwortung einschränken muß, daß ich als Historiker, Altgermanist und Ethnologe vorbelastet bin. Für Geschichte interessiere ich mich seit meinem 5. Lebensjahr, für Oper seit ich 12 war. Während meines Studiums suchte ich nach der Musik, die das Mittelalter abbilden kann, also nach der Musik der Minnesänger. Zunächst wurde ich kurioserweise beim Crossover fündig und grub die Platten der ersten deutschen Mittelalter-Popgruppe aus, OUGENWEIDE, die in den 70iger und 80iger Jahren Texte der Minnesänger im originalen Mittelhochdeutsch sangen und diese mit zurückhaltender Popmusik unterlegten. Bei im Original gesungenen und gespielten Minneliedern wurde ich bei der Gruppe I CIARLATANI fündig, die unter anderem eine CD mit Minneliedern aus dem Codex Manesse aufnahmen. Sehr gut bedient wird man auch mit CDs der Gruppe Estampie, die beispielsweise Kreuzfahrerlieder eingespielt haben. Mittelalterliche Musik ist ein Faszinosum, weil sie mit den Mitteln der Musik tiefe Gott- und Schicksalsergebenheit, sowie die harte Realität einer archaischen Zeit transportiert, meine höre nur das Kreuzfahrerlied "Imperator Rex Graecorum", in dem die Ankunft vor der oströmischen Metropole Byzanz besungen wird. Dann erwarb ich eine Aufnahme des Singspiels "Ordo Virtutum" von Hildegard von Bingen. Wenn man sich in das Spätmittelalter und die Renaissance begeben will, wird man, bei Vokalmusik, von den FREIBURGER SPIELLEYT gut bedient. Muß man Historiker sein, um von der Musik der Epochen vor 1700 begeistert zu sein ? Nicht unbedingt, zumal Musik aus Mittelalter und Renaissance auch von "Jugendgruppen" wie Grufties oder Schwarzromantikern gehört wird. Aber eine Affinität zur Vergangenheit ist unabdingbar, sonst wirkt der Zauber vergangener Zeiten nicht ! Übrigens, auf http://www.minnesang.com kann man sich sehr gut informieren und kann auch viele CDs erwerben.


    Gruß,


    Antalwin


  • Jordi Savall und die Ensemble Hespèrion XXI sowie La Capella de Catalunya haben beim Label Alia Vox eine äusserst informative Einspielung zur Geschichte der Katharer herausgebracht. Sie werden auch als Manichäer, Albinenser, Patariner bezeichnet und gehörten einer christlichen Glaubensausrichtung an, die im Konflikt mit der katholischen Kirche standen.


    Es finden sich auf drei SACDs Musikstücke und rezitierte Texte in zeitlich entstandener Folge (zwischen 950 und 1460), welche die Entwicklung des Okzitanischen Kulturraumes dokumentieren.


    Das reich bebilderte "Booklet" ist ein beinahe 600 seitiger Wälzer mit Lesebändchen, der alle Gesangstexte in Übersetzungen enthält und die Tragödie der Katharrer in sieben Sprachen (Französisch, Englisch, Occitan, Kastellan, Katalan, Deutsch, Italienisch) beschreibt. Der deutsche Teil der Abhandlung hat einen Umfang von 55 Seiten, der die Ursprünge, die Hochblüte, die Verfolgung und das Ende der Katharer beschreibt.


    Der historisch interessierte Leser kommt durch die von Fachleuten für die Geschichte der Katharer verfassten Texte auf seine Kosten wie der Musikliebhaber. Die Musiker und Musikerinnen sind alle Fachleute für die Aufführungspraxis der Alten Musik und bürgen für erstklassige Interpretationen. Die Aufnahmetechnik ist vom Feinsten.


    Beim Anhören der Musik und dem Studium der Texte sind mir Parallelen dieser Geschichte zu heutigen Problemen durch den Kopf gegangen.
    Jordi Savall und seiner vor kurzem verstorbenen Frau Montserrat Figueras, beide "Künstler für den Frieden" der UNESCO, kommt das Verdienst zu, mit solchen gross angelegten Projekten die Geschichte lebendig zu erhalten und uns unserer Wurzeln bewusst zu machen.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Dieser Thread ging wohl bisher an mir vorüber. Das Mittellter ist eine jener Epochen, in denen ich als ausübender Künstler und Musikwissenschaftler schließlich zu Hause bin. Daher beteilig ich mich gern. Sollten Fragen sein, gerne stellen, ich werde versuchen, sie zu beantworten.


    Zitat

    Die Instrumente spielen da ja eigentlich kaum eine Rolle, schließlich gibt es keine (?) überlieferte genuine Instrumentalmusik aus dem Mittelalter.


    Das ist eine oft zu hörende Aussage, die aber so nicht richtig ist. Zweifelsohne ist die meiste überlieferte Musik des Mittelalters vokaler Natur. Es gibt aber sehr wohl einige Sammlunge, zudem musiklaisch nicht die unbedeutendsten, die instrumentaler Natur sind bzw. Sammlungen von Vokalmusik, die auch Instrumentalmusik enthalten.
    Die wichtigsten Handschriften, es sind 2 liegen in Paris in der Bibliotheque national und im British Museum im London Diese Sammlungen enthalten Tanzmusik (Istampittas bzw. Estampies), die eindeutig instrumental gedacht sind und zudem noch untextiert überliefert sind. Die französische Sammlung dürfte auch französischer Provenienz sein, die Sammlung im British Museum ist eindeutige italienischer Herkunft. Diese beiden Sammlungen gehören zum eisernen bestand und sind an den Stücken "Estampie bzw. Danse royale" bzw. an Namensgebungen zu erkennen, die heute nicht mehr rekonstruierbaR SIND WIE "Tre fontane", "Belicha", "Lamento di Tristano" etc.
    Daneben gibt es aus dem 12. und 13. Jahrhundert noch kleinere instrumentale Anhänge zu Sammlungen.
    Aus der Zeit der Ars nova bzw. dem Übergang zur Frührenaissance gibt es dann sehr berühmte Sammlungen etwa den Codex Faenza oder den Codex Squarluppi. Diese enthalten meist zweistmmige Werke mit kunstvoll verzeirten Oberstimmen über einem Tenor in der Unterstimme, so z.B. das recht bekannte Aquila altera von Jacopo da Bologna. Komponistennamen wie Francesco Landini gehören in dieses Umfeld, der seine Berühmtheit seiner unglaublichen Virutosität als Organetta-Spieler zu verdanken hatte (und eventuell der Tatsache, daß er blind war.) In Deutschland fällt stilistisch das Buxheimer Orgelbuch in die Zeit.


    Zitat

    Derartige Musik wird gerne aus anderen Kulturkreisen akzeptiert - um in transzendentale Welten einzutauchen.
    Und man ist dann ganz hingerissen. Man findet diese hypnotische Eintönigkeit im arabischen, wie auch im indischen Kulturkreis.


    Das verwundert insofern nicht, daß unsere abendländische Musdik zu einem Großteil auf Einflüssen des Orient beruht. Beinahe alle unsere Instrumente gehenb uf arabische Instrumente zurück und sind über die maurischen Königreiche in Spanien, die Kreuzzüge und Handelreisende via Byzanz nach Europa gekommen: die Rohrblattinstrumente (Oboe, Fagott) gehen auf die SChlamei zurück, die heute noch ein beliebtes Musikinstrument im Orient, ion Chinba und Indien ist, die Streichinstrumente gehen auf die rebec zurück, die Zupfinstrumente auf die Ud, die arabische Laute etcd. Auch was die Melodie-Bildung und die Mikrointervallig des Mittelalters betrifft, sind die orientalischen Vorbilder kaum zu übersehen. Die arabische Kultur war der des mittelalterlichen Abendlandes weit überlegen, so auch die Musik!

  • zwei schöne Aufnahmen will ich hier vorstellen:



    - dies sind Liebesdichtungen aus der Provenzalischen Kultur. Das andere:




    entstand unter Mitwirkung von Arianna Savall und enthält u.a. gesungene Ausschnitte aus dem Nibelungenlied.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Ich möchte hier nur zwei Dinge beitragen:
    Ich möchte Joseph II. (Beitrag 3) unterstützen, wenn er die Messe de Notre Dame von Machaut in der alten Dellerschen Aufnahme preist. Ich habe sie damals sogar beim Kölner Kirchentag live gehört: eine solche Wucht und Kühnheit weisen die anderen Aufnahmen tatsächlich nicht auf. Ein Freund, der in der Musikgeschichte gut bewandert ist außer dem Mittelalter hielt es für - Strawinski!!
    Daneben möchte ich aus eigener Erfahrung sagen, wie großartig Gregorianik sein kann. Unser Kantor in unserer evangelischen Gemeinde machte vor 30-40 Jahren eine Evangelische Choralschola auf, bei der ich im Tenor mitsingen durfte. Gregorianik ist sehr schwer zu singen, weil alles einstimmig ist und man niemanden heraushören darf. Aber es hat eine ungeheure Sogwirkung und hat mich regelrecht süchtig gemacht (wie ich sonst nur nach Schütz und dem Singen von flämischer Polyphonie süchtig bin).

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)


  • Wenngleich schon im "alten" Mittelalterthread von mir empfohlen, weise ich dennoch erneut auf die abgebildete CD hin, welche an Hand ausgewählter Musikbeispiele zahlreiche, für das Mittelalter und die Renaissance typische Musikinstrumente vorstellt. Erstaunlicherweise ist die CD auch nach Jahren noch am Markt - noch dazu zum Budgetpreis....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ...mit Musikbeispielen der Troubadours, auch Adam de la Halle, Leonin und Perotinus magnus. Ich erinnere mich, daß mir die - zumeist geistliche - Musik wenig bis überhaupt nichts sagte; daran hat sich auch nichts geändert.


    Je weiter ich dann aber vorangehe und Namen wie Ockeghem, Josquin Desprez, Heinrich Isaac aus dem Dunkel der Zeit auftauchen, wird mein Interesse dann auch wieder größer.


    Ich habe inzwischen auch etliche Komponisten des Mittelalters mit etlichen Werken auf youtube gehört, und ich sehe es so ähnlich wie Du: die Musik hat teilweise einen durchaus hypnotischen Charakter, aber im Großen und Ganzen sind es keine Stücke, die ich immer wieder hören wollte. Es ist gut, sie zu kennen, aber es gibt Stücke, die meine Aufmerksamkeit stärker in Anspruch nehmen.


    Richtig gut wird es so ab ca. 1500, also zu Beginn der Hochrenaissance - Leonardo, Dürer und Michelangelo verändern die Welt der Malerei (und mehr), Kolumbus hat gerade die neue Welt entdeckt, die Pest läuft rauf und runter durch Europa, Heinrich der 8. steht kurz vor der Übernahme des englischen Throns und der Ablösung von Rom, in wenigen Jahren wird Luther seine Thesen in Wittenberg veröffentlichen, Taverner und Tallis werden demnächst ihre perfekt polyphone Musik komponieren. Hundert Jahre vorher war es in allen möglichen Künsten noch weitgehend dunkel.

  • Da die Übergänge fließend sind, wird uns oft Musik der frühen Renaissance als "mittelalterlich" verkauft. Generell ist es kaum möglich hier einen Überblick zu behalten. Wie soll man denn einteilen? Trennen wir geistlicher von weltlicher Musik, oder Vokal versus Instrumental? Dann gibt es nicht die diversen länderspezifischen Unterschiede, aber aus sonst gibt es generell keine "mittelalterliche Musik", die man als Einheit sehen könnte, sie war über die Zeit, welche diese Epoche andauerte, einem ständigen Wechsel unterworfen, Wir werden daher hier im Forum nicht in der Lage sein, eine einigermaßen brauchbare Struktur zu finden und aufrecht zu erhalten, so werden wir eben immer ein wenig improvisieren müssen. Allein die Einteilung der Minnesänger und die Abgrenzung der verschiedenen Unterarten ist eine Wissenschaft für sich. Dazu kommt noch, dass viele der heute erhältlichen Aufnahmen Anthologien sind, wo bunt gemischt wurde. Dennoch werden wir uns bemühen das Interesse an dieser Musik zu wecken, bzw zu vertiefen. Mittelalterliche Musik ist oft sperrig und schwer zugänglich - zumindest für unsere Ohren, ob das im Mittelalter ebenso geklungen hat ist fragwürdig, denn im Gegensatz zu manch schwer zu verdauendem Stück gibt es oft außergewöhnlich mitreissendes oder lyrisches. Ich habe mich oft gefragt, ob es nicht von den Interpreten abhängt, wie das heute letztlich klingt, denn es gibt zwischen den einzelnen Gruppen oft erhebliche Unterschiede. Mal sehen was da auf uns zukommt....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Gehört die "Musik der Renaissance" zum Mittelalter?


    Da die Übergänge fließend sind, wird uns oft Musik der frühen Renaissance als "mittelalterlich" verkauft.


    Es ist nicht einmal unsinnig, die Musik der Renaissance insgesamt als mittelalterlich zu “verkaufen”.
    Wo wäre denn jene Zäsur, die im fraglichen Bereich der Musikentwicklung so prägnant wäre, dass sie sich als Epochenwende unwiderstehlich aufdrängte? Und wo bleibt das Renaissance-Element jener musikalischen “Renaissance”?


    Jenes nur mehr mittelbare, historisierende Verhältnis zur Antike, wie es den in der Tradition der Humanisten stehenden Musiktraktaten des späten 16. und frühen 17. Jahrhundert zu entnehmen ist, dürfte den eigentlichen “Renaissance-Komponisten” noch überwiegend fremd gewesen sein.
    Eine “Wiedergeburt des Altertums“ anzustreben hätte also kaum auf der Agenda der Musiker des 15. Jahrhunderts stehen können, da sie nicht jenen Kontinuitätsbruch wahrnahmen, welcher später in Form einer zweifachen Zäsur rückprojiziert wurde.


    Paradoxerweise bedeutete die Forderung nach Wiedergeburt ja eigentlich das Ende der Kontinuität zur Antike, die der mittelalterlichen Weltanschauung noch inhärent ist. Dies betrifft etwa die Naturwissenschaften und Geographie ebenso wie Theologie und Philosophie. Als letzte grosse Zäsur der Weltgeschichte galt Jesu Wirken (aus heutiger Sicht inmitten der Antike, fast fünf Jahrhunderte vor dem Ende des Weströmischen Reiches), als dessen “Zeitaltersgenossen” man sich noch immer sah, die kirchlichen Strukturen waren seit den spätantiken Konzilen weitgehend tradiert, die Philosophie platonisch und nachplatonisch, dann auch zunehmend aristotelisch geprägt. Die Kontinuität der römischen Kaisertümer galt durchaus als substantiell und gegeben. Das Fortleben von Latein als Lingua franca (als quasi noch lebendige Sprache, nicht als möglichst korrekte Rekonstruktion wie von den späteren Humanisten gedacht) wirkte sich auch semantisch auf die zeitgenössischen Diskurse aus.


    Einstmals wurde der Renaissance-Begriff durch die Kunstwissentschaften enthusiastisch aufgegriffen und wegen der positiven Konnotation schliesslich auch von der Musikwissenschaft adaptiert (wenn auch nicht von sämtlichen Autoren, unter den Deutschen muss etwa Riemann und wohl auch Finscher genannt werden). Die prägend gewordene Idee der “niederländische Renaissance” beispielsweise ist wesentlich durch eine nationalistisch geprägte Kulturgeschichtschreibung kreiert, die sich vor allem von Frankreich abzusetzten gedachte (mit Seitenblick auf Belgien) und nebenbei auch der übermächtig scheinenden barock-klassisch-romatischen Musiktradition Deutschland etwas Eigenständiges entgegenzuhalten trachtete. Dass die fraglichen Komponisten ganz überwiegend in“gotischen Landschaften” gelebt hatten, war nicht erheblich…


    In vielen Bereichen drang das, was wir als klassischen Kunststil der Renaissance betrachten, nur langsam, sporadisch oder gar nicht über Nord- und Mittelitalien hinaus. Vieles war ohnehin nicht gerade grundlegend neu. Die Architekten der florentinischen Sakralbauten des 15. Jahrhunderts beriefen sich auf die Antike und orientierten sich an Vitruv; die Architekten der rheinischen Kaiserdome des 11. Jahrhunderts taten offenkundich nichts wesentlich anderes. Die Bildhauer im Rom des 16. Jahrhunderts ahmten antike Vorbilder nach; die Skulpteure an der Kathedrale von Reims taten im 13. Jahrhundert nichts grundlegend anderes.
    War der künstlerische Einfluss Italiens auf das übrige Europa nur ein partieller, aber immerhin tendentiell einseitiger, so verlief er im musikalischen Bereich bis ins 16. Jahrhundert hinein eher umgekehrt: der Norden gab stärker als er nahm.


    Noch die Komponisten der “Hochrenaissance” verehrten nicht nur Dufay, sondern hatten etwa auch Machaut keineswegs vergessen und kannten nebenbei ihren Augustinus. Die traditionenellen monodischen und homophonen Gesänge des plainchant schienen ein Band zu knüpfen bis in die Zeit des Urchristentums (also in die Antike). Der kontinuierliche “Fortschritt” schien in einer Zunahme von Komplexität - hinsichtlich Harmonik, Polyphonie, Werkdramaturgie - zu bestehen.


    Auch aus heutiger Sicht lässt sich sowohl bei “vertikalen” wie “horizontalen” Elementen der Satztechnik eine deutliche, die tradierte Epochengrenze zwischen Mittelalter und Renaissance überbrückende Kontinuität feststellen.


    Die Kirchentonarten, mittelalterlichen Autoren zufolge antiker Herkunft, entspringen der einstimmigen Musik des Frühmittelalters. Aus moderner, funktionsharmonisch geprägter Sicht hätten die Modi durch die sich entfaltende Polyphonie eigentlich obsolet werden müssen. Das traf aber keineswegs zu, selbst die vermeintlichen Renaissancekomponisten verblieben beim frühmittelalterlichen System (mit dem Resultat, dass die Modusbestimmung heutzutage eine umstrittene Angelegenheit sein kann :wacko: ). Erst im Verlauf des späteren 16. Jahrhunderts wurde einerseits das System der Kirchentonarten erweitert, andererseits zunehmend jene Tonarten bevorzugt, welche den Weg zur Dur-Moll-Tonalität bereiteten b.z.w. zur modernen Funktionsharmonik führten.


    Mit Blick auf die Polyphonie lässt sich die obgenannte Zunahme an Komplexität beobachten, von den Anfängen im 9.-12. Jahrhundert, über Ars nova und Fauxbourdon bis hin zum überaus differenzierten Kontrapunkt der Josquin-Schüler-Generation. Diese geradlinig erscheinende Entwicklung wird ebenfalls erst gegen Mitte des 16. Jahrhunderts retardiert, als sich die Komponisten als Meister vieler Genres erwiesen und parallel hochimitatorische Tenormotetten, Madrigale und einfache Chansons schreiben mochten (etliche Dekaden nach Cipriano de Rores Tod würde Giulio Monteverdi diesem die Wiederbelebung der vermeintlich griechischen Tradition der seconda practica zuschreiben). Dies fällt zeitlich genau zusammen mit der Prägung des Renaissance-Begriffs durch Vasari. Vielleicht hätte man sich tatsächlich an diesem Autoren orientieren sollen: entweder der Etymologie folgend, also den Epochenbeginn auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts taxierend, oder aber Vasaris eigener Definition, der den Beginn auf das 13. Jahrhundert verortet.


    Stattdessen wurde die etablierte kunsthistorische Datierung auf die Musikentwicklung projiziert, wodurch im Allgemeinen die Zeit bald nach 1400 als Beginn der Renaissancemusik gilt. Zwar stellt die Entwicklung der jüngeren Mensuralnotation, die metrische Ausdifferenzierung sowie die Tradierung eines aus mehreren, “dramaturgisch” aufeinander abgesimmten Teilen bestehenden Werkes einen Zenit der Musikgeschichte dar. Doch steht die Generation um Power, Dunstable oder Dufay mehr für eine ausserordentliche kreative Eruption als für eine markante Zäsur, wie sie rund zweihundert Jahre später stattfinden wird.


    Eine eigentliche Renaissance im Sinne des dezidierten Anspruchs einer Wiederbelebung antiker Traditionen findet erst mit jenem tiefgreifenden Umbruch um 1600 statt: die “neue, alte” seconda practica, die latente Idee einer Reinkarnation des antiken Dramas in Form der Oper. Ironischerweise ist die Renaissance in der Musik barock …


    Auch wenn die tradierten Mittelalterdefinitionen im Bereich der historischen Wissenschaften als wesentlich obsolet gelten (jene Idee der Annales-Schule, das Ende des MA eher im Bereich der französischen Revolution zu verorten, ist mittlerweile auch schon rund 40 Jahre alt), so scheinen sich doch gerade die direkten und indirekten Folgen der Reformation als Epochen-Zäsur anzubieten. Da sich eine eigenständige protestantische Musik erst entwickeln musste und auch die katholische Antwort mehrerer Dekaden bedurfte, um Wirkung in den künstlerischen Bereichen zu zeitigen, bietet sich die Zeit zwischen etwa 1570 und 1600 an, als Endpunkt des musikalischen Mittelalters zu fungieren.
    Die komplexe Vokalpolyphie war nunmehr an Grenzen gestossen (ähnlich wie die Dur-Moll-Tonalität zur Zeit einer späteren Jahrhundertwende). Dies also weniger durch vermeintlich “natürliche” Entwicklung, sondern durch äussere Umstände, wie etwa der Forderung nach Simplifizierung der Sakralmusik zur Zwecke besserer Textverständlichkeit, von beiden Konfessionen erhoben. Die Zäsur umfasst alle möglichen Bereiche, Harmonik, Wort-Ton-Verhätnis und eben auch jenen Mentalitätswandel: Luthers Vorstellung von einer Rückkehr zum Urchristentum setzt eine Diskontinuität voraus. Nun erst setzt sich der Gedanke auf breiter Ebene durch, welcher zuvor nur in wenigen Gelehrtenkreisen in Form des aetas obscura b.z.w. medium aevum zirkulierte und die wichtigsten musiktheoretischen Traktate zunächst unbeeinflusst lies.

    Überträgt man die übliche historische Unterteilung des Mittelalters auf die Musikgeschichte, wäre eine sinnvolle Variante: Frühmittelalter bis zur Entfaltung der Polyphonie im späten 12. Jahrhundert, Hochmittelalter ungefähr von der entwickelten Ars Nova über Machaut bis zur späten Ars subtilior, Spätmittelalter von Dunstable/Dufay bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. So werden auch jene Disproportionen und Verrenkungen gespart, nach denen das Frühmittelalter über 700, das Spätmittelalter aber nur rund 50 Jahre währt...

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  • Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist tatsächlich unmöglich auf irgendein prägnantes Jahr zu datieren. Ernsthafte Versuche, an dergleichen festzuhalten, gibt es zumindest in der seriösen Geschichtswissenschaft heute auch nicht mehr, auch wenn gewisse Schulbücher und populärwissenschaftlichen Darstellungen noch immer mit Vorliebe ausgerechnet das Jahr 1492 mit der Entdeckung Amerikas durch Columbus nennen, die von Zeitgenossen oftmals gar nicht wahrgenommen wurde. Deutlich einschneidender, und das klang auch in Gomberts hochgradig interessanten Ausführungen schon an, ist sicherlich der Beginn der Reformation, die mit Luthers (angeblichem) Thesenanschlag von 1517 vollumfänglich beginnt und so auch bereits zeitgenössisch als bahnbrechend aufgefasst wurde. Freilich wird gerade in der jüngeren Zeit, m. E. zurecht, die Kontinuität zu Wyclif und Hus betont, so dass man eine protoreformatorische Bewegung mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurückdatieren kann (um 1350 auch die Geißlerbewegung), eigentlich sogar noch deutlich früher (Katharer, Waldenser). Der Fall Konstantinopels 1453 und die Geburt des modernen Europabegriffes durch Enea Silvio Piccolomini alias Papst Pius II. kurz darauf kann m. M. n. als erstes griffiges Ereignis für einen langsamen Epochenübergang gelten. Dass im selben Jahr zudem der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich de facto (nicht de iure) endete, verleiht diesem "Epochenjahr" noch eine weitere Komponente. Gleichwohl würde ich mich davor hüten, ein Ende des Mittelalters bereits für die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zu postulieren. Natürlich kommt es zudem auf die Region an. In Italien ist dies deutlich eher denkbar als etwa in Deutschland, England oder Skandinavien. Für das Reich wurde vor nicht allzu langer Zeit auch eine eigene Epoche zwischen 1470 und 1520 angeregt, die das letzte Drittel der langen Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. (1440—1493) und die gesamte Regierungszeit seines Sohnes Kaiser Maximilian I. (1493—1519) umfasst und stark von der Reichsreform geprägt war. Weitere wichtige Ereignisse, die für den Übergang stehen, sind das Augsburger Bekenntnis 1530, vor allem aber der Augsburger Religionsfrieden 1555 und im weitesten Sinne auch die Grumbachschen Händel 1567 als letzter mittelalterlich anmutender Bruch des seit 1495 als "ewig" geltenden Landfriedens im Heiligen Römischen Reich. Dass die universale Kaiseridee des Mittelalters in Karl V. (1519—1556) ihren letzten Verfechter hat, ist ein weiterer Faktor, der für eine Datierung eher in die 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts spricht. Zusammengefasst kann man wohl sagen, dass das Mittelalter "irgendwann zwischen etwa 1450 und etwa 1550" in die Frühe Neuzeit überging.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Gombert,


    ich danke für deinen exzellenten, ausführlichen und vor allem erhellenden Beitrag. Wie man unschwer erkennen kann plane ich den Bereich "alte Musik" (und natürlich auch "frühe Musik") moderat auszubauen. Wir werden dadurch kaum neue Mitglieder bekommen, aber es ist eben ein interessantes Thema. Ich habe mich zu diesem Zweck mit ungefähr 20 CDs eingedeckt, was einer Aufstockung meiner vorhandenen Bestände um ca 50% entspricht. Weitere 10 CDs stehen auf meiner Liste. Soviel werde ich gar nicht hören können (und wollen ?) , aber auch wenn ich nur ein oder das andere Stück für einen Thread brauche, dann muß ich doch die gesamte CD kaufen. Fürs erste möchte ich mich weiter mit der Carmina Burana in den "originalen" Darbietungen befassen uns sie vergleichen, Man glaubt gar nicht, wer sich aller damit befasst hat. Carl Orffs sicher interessantes und eindrucksvolles Werk hat vieles davon in den Hintergrund gedrängt, was ich eigentlich sehr schade finde, Manchmal frage ich mich, ob nicht die "Rekonstruktionen" nicht tendenziell ebensolche "Eigenkompositionen" sind, wie jene von Orff (??)
    Dann mochte ich mich mit den Minnesängern befassen, die schon einen pauschalen Thread haben, der einen groben Überblick ermöglicht, aber unbedingt durch Einzelthreads ergänzt werden muß. Man könnte diese Einzelthreads optisch so gestalten, wie die Beiträge in diesem Sammelthread, die Texte könnte man übernehmen, sie stammen teilweise von der deutschen Wikipedia, aber eigene Texte wären natürlich auch sehr willkommen. Natürlich wird man versuchen in Einzelbeiträgen lieferbare Einspielungen vorzustellen, aber in weiterer Folge dann - so vorhanden - auch verschiedene Rekonstruktionsversuche (zb. via Youtube oder Hinweise auf Einzeltracks zu vergleichen und idealerweise zu kommentieren. Ich möchte ein Mäuschen sein, wenn die Spezialisten unter den Musikwissenschaftern sich gegenseitig über ihre jeweiligen Lesarten äussern :stumm:
    Wie dem auch sei - ein interessantes Feld, und zumindest die Texte sind authentisch und liefern uns eins Stück Mittelalter ins Haus. Achtung bei Übersetzungen in heutige Sprache: Es mag sein, daß hier Urheberrechte bestehen. Um allen Schwierigkeiten auszuweichen empfehle ich auf die jeweilige Textseite zu verlinken oder aber auf nachweislich alte Übersetzungen zurückzugreifen, wo der Autor schon mindestens 70 Jahre tot ist.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred


    PS: Ich sehe soeben, daß auch Joseph II bereits geantwortet hat, es war zeitgleich mit meinem Beitrag, deshalb keine Antwort von mir möglich. Hier in Aller Kürze; Der Aufruf nach einer neuen Serie über Minnesänger (und Troubadure) war auch an ihn gerichtet.

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich möchte nur ganz kurz zur Abgrenzung etwas ergänzen. Das Jahr 1492 (Kolumbus) war für die Zeitgenossen lange nicht so entscheidend wie der Sieg der spanischen Reyes Católicos (Fernando und Isabella) über die letzte Bastion der Mauren in Spanien, Granada (es gibt irgendwo in einer CD von Jordi Savall einen villancico darüber). Damit war die Reconquista abgeschlossen; unmittelbar danach folgte die Vertreibung aller Mauren und Juden, die sich nicht taufen lassen wollten.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Zu dem Beitrag von Gombert.
    Es ist nicht nur, wie Alfred Schmidt völlig zu Recht anmerkt ein "exzellenter, ausführlicher und vor allem erhellender Beitrag", es ist ein sachlich-historisch höchst fundierter und in seiner einleitenden These "Es ist nicht einmal unsinnig, die Musik der Renaissance insgesamt als mittelalterlich zu “verkaufen” argumentativ detailliert und überaus sachkundig untermauerter.
    Da schlägt einem das Historiker-Herz, und man möchte sich bei Gombert bedanken.
    Was ich hiermit auch ausdrücklich tue!

  • Gehört die "Musik der Renaissance" zum Mittelalter?Doch steht die Generation um Power, Dunstable oder Dufay mehr für eine ausserordentliche kreative Eruption als für eine markante Zäsur, wie sie rund zweihundert Jahre später stattfinden wird.


    Eine eigentliche Renaissance im Sinne des dezidierten Anspruchs einer Wiederbelebung antiker Traditionen findet erst mit jenem tiefgreifenden Umbruch um 1600 statt: die “neue, alte” seconda practica, die latente Idee einer Reinkarnation des antiken Dramas in Form der Oper. Ironischerweise ist die Renaissance in der Musik barock …


    Auch wenn die tradierten Mittelalterdefinitionen im Bereich der historischen Wissenschaften als wesentlich obsolet gelten (jene Idee der Annales-Schule, das Ende des MA eher im Bereich der französischen Revolution zu verorten, ist mittlerweile auch schon rund 40 Jahre alt), so scheinen sich doch gerade die direkten und indirekten Folgen der Reformation als Epochen-Zäsur anzubieten. Da sich eine eigenständige protestantische Musik erst entwickeln musste und auch die katholische Antwort mehrerer Dekaden bedurfte, um Wirkung in den künstlerischen Bereichen zu zeitigen, bietet sich die Zeit zwischen etwa 1570 und 1600 an, als Endpunkt des musikalischen Mittelalters zu fungieren.
    Die komplexe Vokalpolyphie war nunmehr an Grenzen gestossen (ähnlich wie die Dur-Moll-Tonalität zur Zeit einer späteren Jahrhundertwende). Dies also weniger durch vermeintlich “natürliche” Entwicklung, sondern durch äussere Umstände, wie etwa der Forderung nach Simplifizierung der Sakralmusik zur Zwecke besserer Textverständlichkeit, von beiden Konfessionen erhoben. Die Zäsur umfasst alle möglichen Bereiche, Harmonik, Wort-Ton-Verhätnis und eben auch jenen Mentalitätswandel: Luthers Vorstellung von einer Rückkehr zum Urchristentum setzt eine Diskontinuität voraus. Nun erst setzt sich der Gedanke auf breiter Ebene durch, welcher zuvor nur in wenigen Gelehrtenkreisen in Form des aetas obscura b.z.w. medium aevum zirkulierte und die wichtigsten musiktheoretischen Traktate zunächst unbeeinflusst lies.

    Überträgt man die übliche historische Unterteilung des Mittelalters auf die Musikgeschichte, wäre eine sinnvolle Variante: Frühmittelalter bis zur Entfaltung der Polyphonie im späten 12. Jahrhundert, Hochmittelalter ungefähr von der entwickelten Ars Nova über Machaut bis zur späten Ars subtilior, Spätmittelalter von Dunstable/Dufay bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. So werden auch jene Disproportionen und Verrenkungen gespart, nach denen das Frühmittelalter über 700, das Spätmittelalter aber nur rund 50 Jahre währt...


    Musikalisch ist aber doch gerade in Deutschland keine rechte Zäsur um 1600 zu spüren, der bezifferte Bass wurde eher als Notlösung und Sparprogramm angesehen, bevorzugt wurde eine saubere polyphone Darstellung auch am Continuoinstrument, jedenfalls habe ich mal gelesen, dass es dazu Aussagen von Komponisten der nach-Schütz-Generation gibt. In der Tat tue ich mich schwer, die Zäsur um 1420 als so gravierend zu sehen, aber die anderen Zäsuren finden auch meist nur für kleinere Bereiche statt.


    Man muss einfach damit leben, dass verschiedene Menschen mit den üblichen Begriffen etwas unterschiedliches meinen, konkurrenzlos Recht hat dann niemand.

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