"Avantgarde" - Minderheitenprogramm?

  • Ich stelle gerade überrascht fest, dass eine jpc-Suche nach John Cage 110 Artikel aufführt, die unter seinem Namen einsortiert sind.
    (Der in diesem Forum gerne als populärer Aufsteige-Frühromantiker geführte Ferdinand Ries kommt dagegen nur auf 32).


    Diese Information ist natürlich noch zu mager. Es könnte sein, dass ein paar wenige eher konventionell klingende Werke wie "In a Landscape" diese scheinbare Cage-Popularität suggerieren, oder dass die CDs sehr kleine Auflagen haben und sehr lange im Angebot sind. (Letzteres gilt für die vielen WERGO-Veröffentlichungen, die schon länger als 10 Jahre gekauft werden können.)


    Bemerkenswert sind für mich aber die Veröffentlichungen der Billig-Labes NAXOS und BRILLIANT - Naxos hat in den 90ern Werke für Präpariertes Klavier auf den Markt gebracht, auch die berühmten "Sonatas and Interludes", deren Zugehörigkeit zur "Avantgarde" recht unzweifelhaft sein dürfte, Brilliant nun 3 Boxen zu je 3 CDs, wobei einmal wiederum das präparierte Klavier vorgestellt wird. Und wenn ich die Listen mit den erwerbbaren CDs durchscrolle, scheint der Titel "In a Landscape" nicht besonders oft auf (das wegen seiner Tonalität populärer sein könnte).


    Wie ist also die Lage?

  • Ahhhh-
    Ich bin sehr froh, daß NICHT ICH diesen Thread starten mußte - denn genau um das zu tun bin ich hier in den Bereich "Neue Musik" gekommen.


    Anlass war das Statement von Wolfram


    Zitat

    Wir leben in der historisch einmaligen Situation, dass die meisten Hörer klassischer Musik keine Schöpfungen ihrer Gegenwart hören wollen, sondern Werke, die hundert oder mehr Jahre älter sind. Das finde ich skandalös.


    welches aus Sicht eines Forenbetreibers eine Menge Spreng - und Diskussionsstoff bietet - was ich als Forenbetreiber natürlich begrüße. Hätte jedoch ICH diesen Thread gestartet, so wäre mir das in der Art ausgelegt worden, daß ich wieder einen meiner Angriffe auf die Moderne starte.


    Ich wäre in der verzwickten Lage gewesen gar nicht wirklich widersprechen zu können, denn der um Neutralität bemühte Forenbetreiber und der Verächter der Moderne (Das Regietheater klammern wir hier erst mal aus) - das ist zwar ein und die selbe Person - aber - salopp ausgedrückt zwei paar Schuhe.


    Ich habe natürlich meine Strategie für diesen Thread, möchte ihm aber zunächst freien Lauf lassen.


    Dann werde ich das von Kurzstückmeister beschriebene Phänomen zu erklaren versuchen und - so es sich ergibt -zu weiteren Aspekten Stellung nehmen.


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich möchte das Cage-Angebot etwas genauer aufgliedern:
    Artikel (Cds, DVDs, Boxen)
    Neue-Musik-Labels:
    Mode: 22
    wergo: 21
    col legno: 10
    Neos: 4
    Megadisc: 4
    usw.
    prominente Hochpreis-Labels, die nicht auf Neue Musik spezialisiert sind:
    Darbinghaus&Grimm: 9
    Hungaroton: 7
    ECM: 3
    usw.
    Billiglabel:
    Brilliant: 3 (Boxen)
    Naxos: 2


    Mode ist ein amerikanisches Label, das auf Neue Musik spezialisiert ist. Cage steht natürlich an erster Stelle:
    http://www.moderecords.com/


    Das deutsche Neue-Musik-Label wergo wurde 1962 gegründet. Ich kann mich an einen älteren CD-Katalog erinnern, in dem Cage womöglich der am stärksten vertretene Komponist von allen war.
    http://www.wergo.de/shop/


    Col legno ist offenbar österreichisch(?) und existiert offenbar länger als 25 Jahre
    http://www.col-legno.com/
    Nachdem Wulf Weinmann das Label in andere Hände abgegeben hatte, gründete er ein neues Label, das manche col-legno-Reihen, die vom neuen Team fallengelassen wurden, fortsetzt (CD-Reihe zu den Donaueschinger Musiktagen!)
    https://neos-music.com/


    Megadisc ist belgisch.
    http://www.megadisc-classics.com/

  • Als zweiten wähle ich den am "reinsten" modernen Nachkriegsklassiker, einen der Fixsterne: Nono. Ebenso wie Cage vor etwas über 20 Jahren gestorben, also "historisch".
    Ich finde bei jpc 22 Artikel, bei Cage waren es 5x so viel.
    Die Billiglabels haben sich offenbar an Nono noch nicht herangetraut.


    col legno: 6
    wergo: 4
    Teldec: 2 (Opern)
    Kairos: 2
    je eine von Deutsche Grammophon, Sony, Berlin records, Stradivarius, Hänssler, Disc Montaigne, Neos, Edition RZ


    Gibt es eigentlich keine italienischen Labels?
    ?(

  • Hallo liebe TaminoanerInnen


    Gibt es eigentlich keine italienischen Labels?


    Natürlich gibt es auch in unserem südlichen Nachbarland Italien zahlreiche Labels. Wir denken da zum Beispiel an das grossartige Label „stradivarius“. Zahlreiche zeitgenössische Komponisten aber auch Komponisten des 20 Jahrhunderts sind bei diesem Label veröffentlicht worden. Wir möchten hier nur mal ein Dutzend Komponisten nennen:
    Andre, Marc
    Bussotti, Sylvano
    Cage, John
    Casablancas, Benet
    Charles, Agustin
    Donati, Franco
    Fedele, Ivan
    Feldman, Morton
    Maderna, Bruno
    Nono, Luigi
    Pablo, Luis, de
    Verrando, Giovanni


    In unserer Sammlung haben wir eine recht grosse Anzahl CD’s dieses Labels, als Liebhaber von Cage, Fedele oder auch Maderna kommt man an diesem Label nicht vorbei. Nachfolgend vier Beispiele:



    Ivan Fedele: Scena/Ruah/Conc.P.Vl.'Cello



    Bruno Maderna. Kammermusik



    John Cage: In a Silent Way



    Luigi Nono: Quando Stanno Morendo


    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • Ich möchte diesen Thread - nach kurzer Zeit scheint er "entschlummert" zu sein, gerne wiederbeleben.
    Nun mag man sich die Frage stellen, warum ich das tue, wo sich offensichtlich niemand für das Thema interessiert.


    Aber das Interesse am Thema (nicht an der zur Diskussion stehenden Musik) ist offenbar doch vorhanden. In einem INTERNEN
    Thread zu einem anderen Thema wurde es wieder aufgegriffen und relativ interessant weitergeführt. Was schade ist. Ich ermuntere hiemit alle jene die dort Grundlegendes gepostet haben, ihre Beiträge in an diesen Thread angepasster Weise ausschnittweise oder ganz, abgeändert oder unverändert hier einzustellen.


    Das Thema hier ist allerdings von einer eigenartigen - aber vielleicht gerade deshalb interessanten - Seite angegangen worden. Kurzstückmeister belegt an Hand von Fakten, daß hier mehr Beiträge über einen avantgardistischen Komponisten zu finden sind, als über einen relativ spät wiederentdeckten des 18. bzw frühen 19. Jahrhunderts.
    Warum das so ist wäre schon eine Analyse wert, und ich bin durchaus nicht abgeneigt mich an einer solchen Diskussion - so sie denn realisiert wird - zu beteiligen.


    Mehr jedoch möcht ich meine künftigen Beiträge in diesem Thread an folgendem Satz von Wolfram aufhängen:


    Zitat

    Wir leben in der historisch einmaligen Situation, dass die meisten Hörer klassischer Musik keine Schöpfungen ihrer Gegenwart hören wollen, sondern Werke, die hundert oder mehr Jahre älter sind. Das finde ich skandalös


    Ich sehe das natürlich anders, habe eine dezidierte Meinung dazu, werde sie auch äussern - möchte aber anderen Forianern den Vortritt lassen, um mir den Vorwurf zu ersparen, hier meinungsbildend einzugreifen.
    Ein Teil der Problematik eines Forenbetreibers der gleichzeitig am Forum mitwirkt, ist ja, daß jedes seiner Worte auf die Goldwaage gelegt wird, und daß er sich oft nicht traut seine Ansichten so konsequent (andere würden sagen: "radikal") zu formulieren wie er eigentlich möchte.


    Um nochmal auf die oben zitierte Aussage von Wolfram zurückzukommen:
    Egal wie man dazu steht wirft sie ein Paket von Fragen auf, das - wenn die geeigneten Diskussionspartner hier dabei sind - uns Stoff für einige Tage, wenn nicht Wochen bieten kann.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Kurzstückmeister belegt an Hand von Fakten, daß hier mehr Beiträge über einen avantgardistischen Komponisten zu finden sind, als über einen relativ spät wiederentdeckten des 18. bzw frühen 19. Jahrhunderts.


    Nein, ich schrieb, dass es mehr Veröffentlichungen von Cage-Werken bei unserem Werbepartner zu erwerben gibt als von Ries-Werken.
    Dass Cage lustiger zum darüber diskutieren ist, versteht sich von selbst.


    Wer kauft das? Die Alfreds ;) um sagen zu können, dass sie diese Musik tatsächlich kennen und daher eine fundierte (negative) Meinung dazu haben? Oder ist Cage einfach beliebter als Ries?

  • Wer kauft das? Die Alfreds um sagen zu können, dass sie diese Musik tatsächlich kennen und daher eine fundierte (negative) Meinung dazu haben? Oder ist Cage einfach beliebter als Ries?


    Nun - ich weiß nicht wie viele Alfreds Cage kaufen - und auch nicht warum. Ich selbst kaufe höchstens ein oder zwei Werke - aus historischem Interesse - und mit Sicherheit nicht aus Freude an der Musik. Aber Freude ist ja . so hoffe ich wenigstens, das Letze was zeitgenössische Musik machen will. Sollte das jedoch der Fall sein, so würde ich sagen, daß im allgemeinen dieses Ziel verfehlt wurde. Ich würde auch nicht sagen, daß ich zu irgendeinem Stück der Gegenwart eine fundierte Meinung abgeben könnte - oder möchte. Es bedarf aber keiner allzugroßen Kenntnisse der Materie um festzustellen, daß Mozart und Beethoven wesentlich angenehmer zu hören sind als irgendetwas das in unserer Zeit komponiert wurde. Hier rechne ich mit breiter Zustimmung.


    Zurück zur Frage: Wer kauft das ?


    Diese Frage unterstellt die unbewiesene Tatsache, daß hier einigermaßen große Stückzahlen verkauft würden - was ich nicht glaube.
    Die Frage ist eher: WARUM wird das gekauft und von wem ?
    Ich vermute hier eher weltanschauliche und "politische" Ursachen, als musikalische.
    Beweisen lässt sich das natürlich nicht, und man sollte das Wort "politisch" nicht zu eng sehen.
    Manche Leute meinen, es wäre ZEITGEMÄSS Musik und generell Kunst unserer Zeit zu konsumieren - egal ob sie hässlich ist oder nicht. Ausdruck unserer Gesellschaft.


    Denjenigen die das so sehen kann ich nicht widersprechen -
    aber GENAU AUS DIESEM GRUND meide ich die zeitgenössische Musik
    und igle mich auf dem Elfenbeinturm ein, wo die alten Meister federführend sind.



    Warum wird weniger Ries angeboten als Cage ?
    Auch hier kann ich wieder nur eine Interpretation meinerseits anbieten.


    Ries ist ein (relativ) unbekannter Komponist einer Stilrichtung, die über Giganten wie Beethoven, Schubert, Mozart - und von mir aus - Haydn verfügt. Die Anhänger dieses Stils neigen tendenziell dazu, sich nur für die Flaggschiffe zu interessieren, Nischenrepertoire hat für viele Klassikhörer keinen Stellenwert.
    Ries ist ein Komponist für Insider, ohne daß man sich mit der Kenntniss seiner Werke brüsten kann. Er eignet sich weder als Diskussionsgegenstand von hohem Rang, noch als Imagetrager, daß man ein Mensch mit "Bezug zur Gegenwart" ist - und ausserdem - ich sagte es schon weiter oben - ist er kein "Flaggschiff" seiner Epoche.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zurück zur Frage: Wer kauft das ?


    Diese Frage unterstellt die unbewiesene Tatsache, daß hier einigermaßen große Stückzahlen verkauft würden - was ich nicht glaube.

    Das mit der Auflagenstärke wäre wirklich ein interessanter Punkt. Sind die Cage-Veröffentlichungen von naxos mit geringerer Auflage produziert als die Ries-Veröffentlichungen von naxos?



    Zitat

    Ries ist ein (relativ) unbekannter Komponist einer Stilrichtung, die über Giganten wie Beethoven, Schubert, Mozart - und von mir aus - Haydn verfügt. Die Anhänger dieses Stils neigen tendenziell dazu, sich nur für die Flaggschiffe zu interessieren, Nischenrepertoire hat für viele Klassikhörer keinen Stellenwert.

    Daher könnte es ja sein, dass Cage, der in seinem Stil ein Flagschiff ist, vergleichsweise ein breites Publikum hat.



    Zitat

    Manche Leute meinen, es wäre ZEITGEMÄSS Musik und generell Kunst unserer Zeit zu konsumieren - egal ob sie hässlich ist oder nicht. Ausdruck unserer Gesellschaft.

    "Ausdruck unserer Gesellschaft" - hm - damit kann ich nicht so viel anfangen und gerade in Bezug auf Cage noch weniger.



    Zitat

    Es bedarf aber keiner allzugroßen Kenntnisse der Materie um festzustellen, daß Mozart und Beethoven wesentlich angenehmer zu hören sind als irgendetwas das in unserer Zeit komponiert wurde.

    Ich habe im Gedächtnis, dass im "Radio Stephansdom" öfters Ries gespielt worden sein soll. Gerade habe ich deren Programm überflogen - das scheint eine Programmgestaltung zwecks Berieselung im Hintergrund zu sein, nicht, um konzentriert Musik zu hören. Bei letzterem (nämlich dem konzentrierten Hören ohne sonst etwas nebenbei) ist die Frage, was "angenehm" zu hören ist, natürlich nicht so klar, sondern allein vom Geschmack des Hörers abhängig.

  • Nun - ich weiß nicht wie viele Alfreds Cage kaufen - und auch nicht warum. Ich selbst kaufe höchstens ein oder zwei Werke - aus historischem Interesse - und mit Sicherheit nicht aus Freude an der Musik. Aber Freude ist ja . so hoffe ich wenigstens, das Letze was zeitgenössische Musik machen will. Sollte das jedoch der Fall sein, so würde ich sagen, daß im allgemeinen dieses Ziel verfehlt wurde. Ich würde auch nicht sagen, daß ich zu irgendeinem Stück der Gegenwart eine fundierte Meinung abgeben könnte - oder möchte. Es bedarf aber keiner allzugroßen Kenntnisse der Materie um festzustellen, daß Mozart und Beethoven wesentlich angenehmer zu hören sind als irgendetwas das in unserer Zeit komponiert wurde. Hier rechne ich mit breiter Zustimmung.


    Die Frage ist eher: WARUM wird das gekauft und von wem ?
    Ich vermute hier eher weltanschauliche und "politische" Ursachen, als musikalische.


    Ich versuche vorsichtige Antworten und bemühe darum nicht gleich Webern, Strawinsky, Boulez und Stockhausen, sondern Mahlers 6. Sinfonie. Bestimmt kein "angenehm" zu hörendes Stück.


    Trotzdem höre ich es lieber als etwa Mozarts Sinfonie Nr. 39. Die große Es-Dur-Sinfonie Mozarts ist sicher ein angenehm zu hörendes Werk, mit einer spannenden, geradezu sensationellen Einleitung. Aber es hinterlässt keine tieferen Spuren nach dem Hören.


    Ganz anders Mahler: Seine Sechste hat etwas Kathartisches. Ich darf dieses Werk nicht zu oft hören, sonst nützt sich das ab. Ein Erlebnis, das ist eigentlich nur bei diesem Stück in dieser Intensität habe.


    Hier nehme ich durchaus musikalische Ursachen in Anspruch - und keine weltanschaulichen oder politischen. - Es wäre ein Leichtes, andere Werke aus Zeiten nach Mahler anzuführen. Und nicht nur Sacré du Printemps oder ähnliche Reißer.

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  • Zitat

    Trotzdem höre ich es lieber als etwa Mozarts Sinfonie Nr. 39. Die große Es-Dur-Sinfonie Mozarts ist sicher ein angenehm zu hörendes Werk, mit einer spannenden, geradezu sensationellen Einleitung. Aber es hinterlässt keine tieferen Spuren nach dem Hören.

    ist eine Frage der Wiedergabe von Mozarts großartiger Sinfonie Nr. 39. Entsprechende Wiedergabe und dem Hörer werden in dieser Musik auch Abgründe (nicht nur in der Einleitung) gewahr, die denen von z.B. Mahlers Sinfonien, Schönbergs Violinkonzert, Nonos späte Orchestermusik etc.. in nichts nachstehen..
    :hello:

  • Lieber Amfortas,


    das mag sein. Aber die Abgründe bei Mahler und Nono sind mir näher als diejenigen Mozarts, die doch im Rokoko-Kostümchen daherkommen.


    Im Übrigen will ich das gar nicht bestreiten. Ich bedaure nur, dass es so viele Menschen gibt, die diese Abgründe bei Mozart nicht wahrnehmen wollen, und andere (neuere) Musiken, die solche Abgründe deutlicher offenlegen, gleich ganz ablehnen.

  • Mahler, Nono, Schönberg sind mir auch näher...
    ich denke, durch die Erfahrung der Moderne ändert sich auch unser Zugang zu Mozarts Musik (die ich aber auch mag) über das "Rokkoko-Kostümchen" hinaus

    Zitat

    Ich bedaure nur, dass es so viele Menschen gibt, die diese Abgründe bei Mozart nicht wahrnehmen wollen, und andere (neuere) Musiken, die solche Abgründe deutlicher offenlegen, gleich ganz ablehnen.

    ja, so sehe ich das auch: alle große Musik trägt Abgründe in sich, auch Bach ...
    :hello:

  • alle große Musik trägt Abgründe in sich, auch Bach ...


    Stimmt! Vielleicht nicht gerade jeder einzelne Satz der französischen Suiten usw. Aber z. B. in der h-moll-Messe gibt es ein paar Stellen, da ist das Wetterleuchten unüberhörbar. Etwa die Überleitung zum "Et expecto resurrectionem".


    Aber bei Bach scheint mir die Aussage oft eher in der Architektur zu finden (z. B. Aufbau der ersten Kyrie-Fuge der h-moll-Messe). Darin berührt er sich z. B. mit dem Finale aus Mahlers Sechster. Singuläre Stellen, die als Abgrund zu bezeichnen wären wie die Posaunenstelle im Finale Mahlers Neunter oder dem Einsatz der Männerstimmen im Lux aeterna (Ligeti), sind bei ihm seltener. Es ist alles viel mehr in eins (Eins) integriert.

  • Wenn schon über Abgründe die Rede ist, möchte ich mal grade heraus sagen, was ich denke:
    Also ich denke, dass Cage gut läuft. Punkt.
    Da kann jemand, der sonst keine Ahnung (oder wirklich Interesse) hat, sich mal was Modernes zulegen, und auch einigermassen Anerkennung dafür bekommen. Ah, Käädch.
    Und muss nichts riskieren: etwa eine (möglicherweise noch teure) CD von einem 1-CD-Komponisten kaufen, es ev. bereuen und zeitlebens niemanden kennenlernen, dem diese Musik auch bekannt, gar lieb ist.
    Ich wette, über die 112 jpc-Titel und die ganze Diskussion, da hätte er sicher gelacht.


    Liebe Grüsse
    Julius

    Julius

  • Die Frage ist eher: WARUM wird das [Anm. Wolfram: Gemeint ist Musik von John Cage im Speziellen und Musik des 20. Jhds. im Allgemeinen] gekauft und von wem ?
    Ich vermute hier eher weltanschauliche und "politische" Ursachen, als musikalische.


    Nun, Alfred, ich habe oben versucht, am Beispiel von Mahlers Sechster aufzuzeigen, dass ich meine Motive für das Hören neuer Musik anders wahrnehme, als Du sie beschreibst. Aber wer weiß - wer kann schon in sich selbst hineinblicken. Erst recht kann ich natürlich nichts über die Motive anderer sagen.


    Ich meine mich allerdings zu erinnern, dass Du Deine Vorliebe für alte Musik gelegentlich mit Deiner Abneigung gegen Neuerungen begründet hattest. Falls ich mich richtig erinnere: ist es denn dann nicht eher umgekehrt? Das heißt: Du hast weltanschauliche Gründe, warum Du alte Musik bevorzugst. Dass kein falscher Eindruck entsteht: Ich will das nicht verurteilen - dazu habe ich auch gar kein Recht.


    Aber wenn Du anderen Menschen, die eventuell aus ehrlichem Interesse an der Musik und auf der Suche nach neuen Erfahrungen durch Musik sich der Mühe unterziehen, Unbekanntes kennenzulernen, von vorneherein politische und/oder weltanschauliche Motive unterstellst, dann halte ich das doch für gewagt. Woher kommt diese negative Sicht auf die Antriebskräfte anderer Menschen?

  • Ich finde, das Thema entwickelt sich ganz gut - und hier meine ich das wertneutral - nicht in dem Sinne daß jemand "Recht" behalten wird.
    Sehen wir es also unter dem Aspekt OB und WARUM die Avantgarde von den Liebhabern klassischer Musik abgelehnt wird.
    Ich gestehe, daß mein Kardinalfehler in dier Angelegenheit einst war, daß ich felsenfest davon überzeugt war, daß überhaupt kein Mensch diese Musik freiwillig hören würde. Diese Fehleinschätzung habe ich inzwischen revidiert, und somit begnüge ich mich mein negatives Urteil als subjektive Meinung zu sehen.
    Es wäre aber niemandem gedient, wenn man die überwiegende Ablehnung die zeitgenössische Musik heutzutage erfährt - und das sein nunmehr beinahe 80 Jahren - leugnen würde.
    Ich würde mal vorsichtig den Versuch einer Antwort riskieren (und werde dann auf Teilaspekte von Wolframs Aussagen eingehen)
    Ich behaupte mal, daß die zeitgenössische Musik . sei sie tonal - oder nicht - sich von den Gesetzen der Ästhetik gelöst hat.
    Wenn ich im Forum den Begriff "angenehme" Musik schreibe, dann ist das natürlich eine "Provokation" die Widerspruch hervorrufen soll - aber Wolfram und einge andere wissen das natürlich und schätzen es entsprechend ein ein.


    Genauso sehe ich andrerseits das Wort "Rokoko-Kostümchen" Rokkoko war die eleganteste Zeit der gesamten abendländischen Kultur - man sprach in gehobenen Kreisen vorzugsweise französisch, auch den Herren war es gestatte sich zu parfümieren und zu schminken, alles war lieblich und geschönt. Und mitten in diese Zeit fällt Mozart (als Spitze des Eisbergs), der vermutlich vielseitigste und (neben Beethoven) genialste Komponist der Musikgeschichte. Ihn mit Nono in einem Atemzug zu nennen empfinde ich persönlich als Sakrileg - aber seis drum.



    Zitat

    Ich habe im Gedächtnis, dass im "Radio Stephansdom" öfters Ries gespielt worden sein soll. Gerade habe ich deren Programm überflogen - das scheint eine Programmgestaltung zwecks Berieselung im Hintergrund zu sein


    In gewisser Hinsicht ja.
    Aber der Einfluß von Radio Stephansdom auf das Kaufverhalten der Wiener in Bezug auf "klassische Musik" ist ein gewaltiger - zumindest nach Aussage einiger Wiener Klassikhändler,
    Zu Beginn wurde der Sender von allen belächelt, dessen Moderatoren (damals) sehr amateurhaft agierten, und dessen Programm vorzugsweise von Geschenken der Tonträgerindustrei gespeist wurde, die man sich erbeten hatte. Das Erwachen war dann unangenehm. Die Plattenfirmen hatten Restbestände verschenkt, Einzelstücke von gestrichenen Aufnahmen - und nun stürmten die Klassikhörer die Schallpattengeschäfte und wollten die gehörten CDs kaufen. Aber es gab sie nicht mehr ....!
    Radio Stephansdom-wie ich es sehe - ist ein idealer Sender um in Häppchen hineinzuhören - und auf diese Weise seine Entscheidungen für den nächsten CD-Kauf zu treffen.



    Zitat

    Das mit der Auflagenstärke wäre wirklich ein interessanter Punkt. Sind die Cage-Veröffentlichungen von naxos mit geringerer Auflage produziert als die Ries-Veröffentlichungen von naxos?


    Eigentlich glaube ich das nicht.
    Es ist natürlich ein "Durchbruch" für Ries, wenn innerhalb eines Jahrzehnts von einem Komponisten dessen Diskographie vor geraumer Zeit bei null lag. etwa 30 Veröffentlichungen - die offenbar auch auf positive Resonanz . stiessen - erschienen sind - aber der Mehrheit der Musikfreunde sagt Ries genausowenig wie Cage. Ries ist - ich sagte es schon - in diesem Zusammenhang zum Vergleich ungeeignet. Er wurde nur gewählt, weil man weiß, daß mir dieser Komponist am Herzen liegt.



    Zitat

    Die große Es-Dur-Sinfonie Mozarts ist sicher ein angenehm zu hörendes Werk, mit einer spannenden, geradezu sensationellen Einleitung. Aber es hinterlässt keine tieferen Spuren nach dem Hören.


    Wäre man irgendwann für eine solche Aussage gesteinigt worden ? Ich glaube schon ;):P


    Aber im Ernst. Ist es Aufgabe der Musik "tiefe Spuren zu hinterlassen" ?
    Oder "Abgründe freizulegen"?


    Ich bin der ehrlichen Überzeugung, daß solche Musik mehrheitlich auf Ablehnung stösst, weil sie nämlich der Natur des Menschen wiederspricht.
    Mein Problem, das zu dokumentieren , liegt darin, daß genau jene Gruppe, die beim Lesen meiner Statements beifällig nickt - nicht im Traum daran denkt einem Internetforum beizutreten, weil das viel zu stressig für sie wäre.


    Und jene anderen, die streitbar ihr Sicht auf die Musikalische Welt von heute verkünden - tendieren zur Moderne.



    Zitat

    Ich meine mich allerdings zu erinnern, dass Du Deine Vorliebe für alte Musik gelegentlich mit Deiner Abneigung gegen Neuerungen begründet hattest. Falls ich mich richtig erinnere: ist es denn dann nicht eher umgekehrt? Das heißt: Du hast weltanschauliche Gründe, warum Du alte Musik bevorzugst


    Es ist sicher nicht ganz so, ein Teilaspekt kann allerdings nicht geleugnet werden.
    Musik - und insbesondere jene des 18. und beginnenden 19 Jahrhunderts ist ein willkommener Gegenpol zur heutigen Welt in den man sich gerne flüchtet. Dazu gehört natürlich auch das Umfeld.
    Ein erlesener Kreis von Menschen hört in erlesener Umgebung erlesene Musik.


    Aber das ist natürlich nicht alles - Daheim vor dem CD - Player gelten natürlich andere Gesetze.



    Zitat

    Woher kommt diese negative Sicht auf die Antriebskräfte anderer Menschen?


    Ich bin eine skeptischer, negativer Mensch, erwarte stets das schlechteste - und behalte leider meistens Recht.


    Aber im konkreten Falle sehe ich das nicht als "negativ", wenn jemand meint, die "neue" Gesellschaft bräuchte ihre "eigene" Musik". Das ist ein durchaus legitimer Gedanke - aber er hat in meiner Vorstellungswelt keinen Platz.


    mit freundlichen Grüßen


    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Aber im Ernst. Ist es Aufgabe der Musik "tiefe Spuren zu hinterlassen" ?
    Oder "Abgründe freizulegen"


    Ja. Genau das ist die Aufgabe jeder Kunst.


    Manchmal kommen mir die Diskussionen über diese Dinge so albern vor wie der Versuch, einem Kind erklären zu wollen, warum Mann und Frau gerne zusammen sind - über den Grund hinaus, dass sie sich vielleicht "ganz doll lieb haben". - Entweder man hat es erfahren, und weiß, worum es geht, oder eben nicht. - "Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen."


    Ein paar Zitate:


    Gustav Mahler: "Dass die Menschen immer meinen, die Natur liege an der Oberfläche! Was das Äußerlichste an ihr betrifft, ja! Aber die sind ihr noch nicht auf die Spur gekommen, die nicht alle Schauer eines unendlichen Geheimnisvollen, Göttlichen im Angesichte der Natur ergreift, das wir nur ahnen, nicht begriefen und durchdringen können. - Und eine Spur dieses Unendlichen in der Natur muss in jedem Kunstwerk, das ein Abbild von ihr sein soll, liegen." (Brief an Natalie Bauer-Lechner, Juli 1900)


    L. v. Beethoven: "Ich habe niemals daran gedacht, für den Ruf und die Ehre zu schreiben: Was ich auf dem Herzen habe, muß heraus, und darum schreibe ich."


    L. v. Beethoven: "Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie."


    Victor Hugo: "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist."


    Artur Schopenhauer: "Keine Kunst wirkt auf den Menschen so unmittelbar, so tief, wie die Musik – eben weil keine uns das wahre Wesen der Welt so tief und unmittelbar erkennen läßt."


    Yehudi Menuhin: "Gute, wahre, echte Musik spiegelt die Abgründe und Frustrationen, die Leiden und Leidenschaften der Menschen wider und hebt sie auf eine andere Ebene."

  • Es ist natürlich ein "Durchbruch" für Ries, wenn innerhalb eines Jahrzehnts von einem Komponisten dessen Diskographie vor geraumer Zeit bei null lag. etwa 30 Veröffentlichungen - die offenbar auch auf positive Resonanz . stiessen - erschienen sind - aber der Mehrheit der Musikfreunde sagt Ries genausowenig wie Cage. Ries ist - ich sagte es schon - in diesem Zusammenhang zum Vergleich ungeeignet. Er wurde nur gewählt, weil man weiß, daß mir dieser Komponist am Herzen liegt.


    So ähnlich ... er wurde gewählt, weil Du hier oft vermittelst, dass Ries sehr beliebt sei und andererseits behauptest, dass Cage sehr unbeliebt sei. Und ich versuche gerade hier einzuhaken und Zweifel anzumelden. Vielleicht ist Cage der beliebtere Komponist?


    Aber man kann natürlich Ries durch Duphly ersetzen und Cage durch Nono etc. Von Duphly habe ich beispielsweise eine alte Leonhardt-Einspielung, der ist also schon seit Nonos Zeiten am Tonträgermarkt präsent. Ob Duphly jetzt in Fachkreisen mehr oder weniger gilt als Ries, kann ich schwer einschätzen. Aber darum geht es ja hier eigentlich nicht.

  • Zitat

    Und mitten in diese Zeit fällt Mozart (als Spitze des Eisbergs), der vermutlich vielseitigste und (neben Beethoven) genialste Komponist der Musikgeschichte. Ihn mit Nono in einem Atemzug zu nennen empfinde ich persönlich als Sakrileg - aber seis drum

    Man könnte es polemisch umdrehn:
    Ihn - also den großen Luigi Nono oder den großen Schönberg - in einem Atemzug mit Mozart zu nennen wäre Sakrileg , denn welches der Mozartquartette reicht denn an das Nono-Quartett heran oder an das Streichtrio bzw. die beiden letzten Quartette von Schönberg ... oder kann das Mozart-Requiem dem Canto sospeso überhaupt das Wasser reichen .. welches der Mozart Violinkonzerte kann sich mit dem Schönbergschen Violinkonzert messen etc...?

    Zitat

    Ich bin der ehrlichen Überzeugung, daß solche Musik mehrheitlich auf Ablehnung stösst, weil sie nämlich der Natur des Menschen wiederspricht.

    Gegengefragt: Welche Art Musik entspräche eher der "Natur" des Menschen. ? Rap-Songs von Bushido oder Massiv oder Satellit von Lena ? Die haben größere Hörerschar als Mozart.
    Ganz grob: Kunst bzw. Musik ist als solches „unnatürlich“, sie ist Kunst und nicht Natur..

    Zitat

    Musik - und insbesondere jene des 18. und beginnenden 19 Jahrhunderts ist ein willkommener Gegenpol zur heutigen Welt in den man sich gerne flüchtet. Dazu gehört natürlich auch das Umfeld.
    Ein erlesener Kreis von Menschen hört in erlesener Umgebung erlesene Musik.

    Obwohl ich eher davon absehe, die Intentionen der Komponisten mit dem Werk unmittelbar in Verbindung zu setzen, Beethoven würde sich bei dem Wort „erlesen“ im Grabe umdrehen.
    Nach Beeethovens Selbstverständnis sollte seine Musik „Feuer aus der Seele“ des Hörer „schlagen“ Außerdem beharrte er auf den Wahrheitsanspruch von Kunst ...siehe Wolframs Zitat: „höhere Offenbarung ..“ etc.. . Beim Reinziehn der z.B. Diabellivariationen, des Cis-Moll-Quartetts oder der Eroica , wäre „erlesen“ so ziemlich das Unangemessenste was mit dieser Musik in Verbindung zu bringen wäre ..... außer eine durchschnittlich-routinierte Aufführungen der genannten Werke erschöpfte sich in „erlesener“ Belanglosigkeit und gllitte damit am Werk ab. (Von politischen Implikationen der Beethovenschen Sinfonik mal ganz zu schweigen, darin liegt manch Gemeinsames mit Werken von z.B. Chopin, Luigi Nono und das ist auch nicht gerade „erlesen“..)

    Zitat

    Aber im Ernst. Ist es Aufgabe der Musik "tiefe Spuren zu hinterlassen" ?
    Oder "Abgründe freizulegen"

    Es ist vermutlich keine „Aufgabe“ der Kunst bzw. Musik, sondern etwas bereits Gegebenes .Ob Kunst überhaupt Aufgaben hat, sei mal dahin gestellt. Aber „Abgründe“ sind Phänomen aller großen Kunst ( spätestens seit der Antike), ob mans wahrhaben will oder nicht...
    :hello:

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  • Lieber Amfortas,


    ich stimme Dir in jedem Wort zu!


    Zum letzten Absatz:


    Du hast natürlich Recht: Nicht ist es Aufgabe der Musik, Abgründe zu erzeugen bzw. freizulegen, sondern, wie es Menuhin so treffend sagte, Abgründe der Menschen widerzuspiegeln und auf eine andere Ebene zu heben.


    Es geht also um die sublimierte Darstellung eines schon vorher existenten Abgrunds. Nämlich eines Abgrundes in uns. Wenn wir denn den Mut haben, uns diesen Abgründen zu stellen.


    Danke für die Präzisierung!

  • Zitat

    Es geht also um die sublimierte Darstellung eines schon vorher
    existenten Abgrunds. Nämlich eines Abgrundes in uns. Wenn wir denn den
    Mut haben, uns diesen Abgründen zu stellen.

    man könnte sogar darüber spekulieren, ob in der - vor allem zeitgenössischen - Musik - etwas sehr "archaisches" "altes" mitgetragen wird.


    Es gibt - wenn ichs in zutreffender "Erinnerung" habe grimmige Masken von Naturvölkern, die durch ihre Grimmigkeit "böse" Dämonen vertreiben sollten.


    Naheliegend wäre es, dass die neue Musik/Kunst, (selbst wenn sie den realen "Schrecken" - wie du sagst - ästhetisch "sublimiert" und ihn damit "verkleinert/verharmlost") eine ähnliche Intention verfolgt: allerdings nicht um Dämonen zu bannen, sondern mit ihrer "Negativität" "ihren bösen Ton" "bösen Blick" versucht realen Schrecken/Grauen abzuwenden (was sie natürlich real gar nicht vermag) ...


    .. sind aber sehr spekulative Überlegungen..
    :hello:

  • Wenn Zitate von Komponisten als Argumente herhalten sollen, dann benötige ich nur eines:


    Zitat

    Musik darf das Ohr nie beleidigen, sondern muss vergnügen


    von Wolfgang Amadeus Mozart


    Hieraus ergibt sich die Frage: Hat Mozart die Avantgarde vorausgeahnt ? :P


    Bergs Violinkonzert mit jenen von Mozart zu vergleichen und sie sogar darüber zu stellen halte ich persönlich für sehr gewagt - um höflich zu bleiben.
    Aber es geht hier gar nicht um meine subjektive Meinung.
    Die meisten Leute diskutieren gar nicht über die Musik nach 1910. Sie hören sie einfach nicht.......


    Wenn KSM nun meint - oder es für möglich hält - Cage wäre beliebter als Ries, dann kann ich das weder bestätigen, noch verneinen.
    Aber wie gesagt, Ries ist kein Aushängeschild für seine Generation - sondern Nischenrepertoire
    (wenngleich eines mit Zukunftspotential)


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred


    ich höre sehr wohl Musik der letzten Jahrzehnte.


    Cage höre ich nicht, aber ich achte ihn. Er ist für mich eher ein Grundlagenforscher, der zeigt, wie brüchig der Boden wird, wenn man beginnt nachzuforschen, was "wahre Musik" ist. Meines Erachtens war Scelsi auch so einer, nur seine Ergebnisse finde ich viel angenehmer zu hören.


    Viele Grüsse
    Julius

    Julius

  • Es bedarf aber keiner allzu großen Kenntnisse der Materie um festzustellen, daß Mozart und Beethoven wesentlich angenehmer zu hören sind als irgendetwas das in unserer Zeit komponiert wurde. Hier rechne ich mit breiter Zustimmung.


    Das stimmt ja gar nicht! Arvo Pärts Spiegel im Spiegel z.B. ist ein Ohrwurm von jener Sorte, die einem drei Tage nicht aus dem Sinn gehen können.


    Allerdings dürfte so ein Werk bei den Theoretikern auf keine allzu große Gegenliebe stoßen - wie das meiste, das landläufig gut gefällt...


    ;)



    PS: Aus irgendeinem Grund fällt mir jetzt dazu Friedrich Guldas Cellokonzert ein. Obwohl darin durchaus schräge Sequenzen vorkommen, ist es in Summe doch gut hörbar. Aber vielleicht erinnere ich mich deshalb daran, weil ich einmal ein Fernseh-Interview mit Gulda über dieses Werk gesehen habe. Er hielt nichts von Moderner Musik, weil sie für ihn weder modern noch Musik war...


    :D

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!



  • Ja. Genau das ist die Aufgabe jeder Kunst.
    ...


    Natürlich NICHT!


    Man sollte allerdings die beiden Punkte differenzieren.


    Soll Musik oder Kunst im Allgemeinen "tiefe Spuren hinterlassen"?
    Allgemein gesagt - nein. Schon deswegen, weil die Rezeption eines Kunstwerkes eine weitgehend individuelle Angelegenheit ist. Was den einen tief bewegt, kann bei einem anderen eine sehr oberflächliche Empfindung auslösen. Natürlich will jeder Künstler mit einem Kunstwerk beim Publikum Reaktionen auslösen - aber ein Kunstwerk ist immer nur ein ANGEBOT, es hat keinerlei Aufgaben!


    Soll Musik oder Kunst im Allgemeinen "Abgründe freilegen"?
    Mit Sicherheit NICHT! Oder eröffne mir die Abgründe bei der Venus von Milo, der Nike von Samothrakis, Michelangelos David oder z.B. der Mona Lisa. Natürlich kann es sein, dass ein Kunstwerk so etwas anstrebt. Aber Kunst ist ein weites Feld, sie kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, alles mögliche bezwecken. "Abgründe freilegen" kann durchaus dabei sein, ist aber nur eine von vielen Möglichkeiten...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hier werden mindestens drei Aspekte verquickt, die erst einmal unabhängig sind:


    1. Ist bestimmte Musik ein Minderheitenprogramm?
    Das kann man statistisch-soziologisch beantworten: Selbstverständlich ist Avantgarde ein Minderheitenprogramm. Aber "Mainstream"-Klassik ist ebenfalls ein Minderheitenprogramm, verglichen mit Popularmusik. Mozarts Quintett K 593 ist ein Minderheitenprogramm verglichen mit "Eine Kleine Nachtmusik" (immer rein statistisch, nach Bekanntheit, Aufführungshäufigkeit usw.). Und ein Kammermusikstück von Ries oder ein Werk von Cage ist ein Minderheitenprogramm verglichen mit Mozarts 593 usw.
    Das ist m.E. alles weitgehend unstreitig und nicht sehr erhellend. Hörer haben unterschiedliche Interessen und selbst bei breitgefächertem Interesse keine Zeit, alles zu hören. Und es ist kein gutes Argument, Mozarts KV 593 gegen ein Stück von Cage oder Ries auszuspielen, weil ein paar mehr Leute dieses Quintett kennen und hören. Denn wir wollen doch auch nicht "Tosca" gegen KV 593 ausspielen oder "Let it be" gegen "Tosca", weil das eine jeweils viel populärer ist als das andere? (Schon gar nicht wenn wir von "erlesener Musik für einen erlesenen Kreis" sprechen)


    2. Aus welchen Gründen hören Leute bestimmte Musik?


    Sicher aus unterschiedlichen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die wenigsten Leute aus "nichtmusikalischen" Gründen Musik hören. Die meisten hören Musik, weil sie ihnen "gefällt"(Platzhalter für "bewegt,begeistert, erfreut, interessiert, intellektuell stimuliert" usw.) Natürlich mag es auch Fälle geben, in denen jemand Musik hört, um zu einer bestimmten Gruppe dazuzugehören, weil es eben en vogue ist. Ich vermute allerdings, dass das auf viel mehr "Mainstream"-Hörer zutrifft (oder zutraf), weil "man" eben ein Opernabo hat usw. ("Auch Herr Blau, weiß genau, warum er hier ist, nämlich wegen seiner Frau.") Schon bei Ovid steht, dass sie ins Theater nicht nur gehen, um zu sehen, sondern, um gesehen zu werden. Dass dieser Umstand in besonderem Maße beim Publikum der musikalischen Avantgarde des 20./21. Jhds. relevant sein sollte, halte ich erst einmal für unwahrscheinlich. (Erstens, weil es eine zu kleine Nische ist, um damit irgendwo punkten zu können, zweitens, weil sie oft tatsächlich so sperrig ist, dass großes Interesse und jedenfalls Aufgeschlossenheit notwendig sein dürften.)


    Dass man nicht versteht, warum sich jemand bestimmte Musik freiwillig anhört, und daher nach nichtmusikalischen Ursachen sucht, ist nachvollziehbar, aber voreilig. Ebenso denkt der Popmusikhörer, der wohl kaum nachvollziehen kann, wie sich jemand stundenlanges "Gejodel" in der Oper oder "Gefiedel" von Streichquartetten anhören mag (und meint, dass das wohl nur geschehen könnte, weil man sich etwas besseres oder schlauer dünke). Auch innerhalb der Klassik wird der Freund italienischer Oper vielleicht dem Hörer mit kammermusikalischem Schwerpunkt häufig mit Unverständnis begegnen oder der Fan von Chormusik der Renaissance dem, der sich besonders auf Bruckner, Mahler, Strauss gelegt hat.



    3. Was soll Musik/Kunst und soll sie zu allen Zeiten Gleiches oder Ähnliches?


    Diese Frage ist kaum pauschal zu beantworten. Mit Recht lassen sich Kunstausübende schon lange nicht mehr vorschreiben, was Kunst soll. Aber auch schon vorher hatten die Künste natürlich eine Eigendynamik, die nicht von Aufträgen, etwa der Kirche oder des Adels, festgelegt wurde. Sicher gab es auch Konflikte. Aber wie eine Messe oder eine Festmusik repräsentativ umgesetzt werden, ist ja viel mehr durch die musikalische Entwicklung bestimmt als durch die Tatsache, dass es äußerliche Anlässe für diese Musik gab. Dass Musik und Kunst Menschen tief beeindrucken, Spuren hinterlassen kann, ist unbestritten. Ebenso kann sie, muss aber nicht, "Abgründe" enthüllen. Je nachdem, was mit den Abgründen (emotionale? psychologische?) gemeint ist, kann das auch wieder in unterschiedlicher Weise geschehen. Ein "kühler", distanzierter Stil der Darstellung wie in Flauberts Madame Bovary kann dies ebenso leisten wie ein atemloser, "hysterischer" bei Kleist oder Dostojewskij.
    Humorvoll-komische Darstellungen menschlicher Leidenschaften und emotionaler Verwicklungen in einer Komödie von Shakespeare oder in Mozarts/Da Pontes Figaro sind nicht weniger "tief", wertvoll oder genuin als eine Tragödie von Sophokles oder Wagners Tristan. Es können auch sprachliche oder musikalische Brillanz, überraschende Pointen usw. im Mittelpunkt stehen, ohne das Ideen oder Emotionen von besonderem Gewicht verhandelt werden. Oder was weiß ich noch.


    Mozart ist 1788 mindestens so avantgardistisch wie Mahler am fin de siecle. Daher sehe ich auch nicht, warum Mozarts 39. weniger Spuren hinterlassen sollte als Mahlers 6. Klar, die emotionale (oder rein klangliche) Überwältigung des beinahe dreimal so langen Stückes ist ein andere. Das sind aber nicht die einzigen Parameter, die Spuren hinterlassen. Rilke vernimmt die Botschaft "Du musst Dein Leben ändern" angesichts eines archaischen Marmortorsos, vermutlich kein Kunstwerk, das beim typischen Betrachter emotionale Überwältigung (von der bei Rilke ja auch nicht die Rede ist) auslöst.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)


  • In der Tat. Mozart war ein weiser Komponist. Er hat auch für Unmusikalische mitkomponiert, so dass auch diese eine gewisse Befriedigung aus seiner Musik ziehen konnten. Sein Vater hat ihn dazu angehalten, wie aus einem Brief hervorgeht, der aus der Zeit stammt, in der Mozart seinen Idomeneo entwarf:


    „Ich empfehle dir Bey deiner Arbeit nicht einzig und allein für das musikalische, sondern auch für das ohnmusikalische Publikum zu denken, – du weist es sind 100 ohnwissende gegen 10 wahre Kenner, – vergiss also das so genannte populare nicht, das auch die langen Ohren kitzelt


    Mozart beherzigte solche Ratschläge. In späterer Zeit schreib er an seinen Vater:


    "Die (Klavier-) Konzerte sind ein Mittelding zwischen schwer und leicht, ... hie und da können auch Kenner Befriedigung erhalten – doch so, dass Nichtkenner damit zufrieden sein müssen, ohne zu wissen , warum."


    Mozart berechnete also in der Tat die Wirkung seiner Werke. Und mit Erfolg. Wie man auch in diesem Thread sieht, gibt es bis heute Menschen, die die Existenz gewisser tieferer Dimensionen der Musik leugnen und dennoch Mozarts Musik schätzen. Offenbar enthält seine Musik genug von dem, was die langen Ohren (Esel) kitzelt und die Nichtkenner zufrieden macht.


    Dass Mozart sehr wohl avantgardistisch komponieren konnte und dies auch tat, zeigen Beispiele wie der Beginn der Dissonanzenquartetts - nicht einmal sein Vater lehnte diese extrem gewagte Stelle ab. Aber das Dissonanzenquartett komponierte er ja nicht, um irgendwelche langen Ohren zu kitzeln, sondern um Joseph Haydn sein Können unter Beweis zu stellen. - Es seien auch die Worte des Komturs beim Gastmahl des Don Giovanni erwähnt. Diese Musik wurde gelegentlich als die erste Zwölftonmusik der Musikgeschichte bezeichnet. Ein Bonmot, gewiss, aber nicht unberechtigt. Oder man sehe sich die Fantasie für Klavier in c-moll an. Oder oder oder. Ein Thread über das Thema "Avantgardistische Tendenzen in der Musik W. A. Mozarts" wäre recht leicht zu füllen und würde diesem Forum und seinem Anspruch auf Qualitätsführerschaft (was etwas anderes ist als Masse) sicher gut zu Gesicht stehen. Andersherum formuliert: Wem immer an der Reputation des Forums gelegen ist, müsste m. E. sehr vorsichtig vorgehen, wenn er den Begriff "Avantgarde" und den Komponisten "W. A. Mozart" auseinander dividieren wollte. Ein Beleg für musikalische Kennerschaft wäre das jedenfalls in meinen Augen nicht.


    Dass Mozart eine hohe Faszination auf im Grunde unmusikalische Menschen (oder solche, denen gewisse Dimensionen in der Musik fremd sind) ausübt, ist ja nicht unbekannt. Diese Menschen zögern dann auch nicht, die Musik von Salieri, Dittersdorf, Paisiello, Cimarosa usw. usw. als mehr oder weniger gleichwertig hinzustellen, da diese Komponisten die von ihnen wahrgenommen Wesenszüge von Musik in der Tat fast genauso gut aufzuweisen haben und ihnen dieselbe Befriedigung zu gewähren in der Lage sind.


    Beethoven wird natürlich auch noch von diesen Menschen akzeptiert. Mit Vorliebe die weniger revolutionären Werke. Werke wie die Eroica, die Appassionata, das Quartett op. 95 u. ä. bedürfen dann schon eines Zugangs der apollinischen Art, wie ihn etwa Karl Böhm und Wilhelm Kempff pflegten. Ein Zugang, der die Brüche und Härten in der Musik mildert (wenn nicht gar kittet) und das klassische, angenehme, ungebrochene hervorhebt. Dann finden diese Menschen auch in dieser extremen Musk wiederum die Bestätigung ihres musikalischen Weltbildes. - Dass Böhm auch eine Elektra, einen Wozzeck, eine Lulu erfolgreich dirigiert hat, erschließt sich diesen Menschen weniger leicht.


    Mozart war also nicht dumm und hatte etwas Berechnendes in seinem Komponieren. Beethoven war da - so gesehen - ungeschickter. Von Schönberg, Berg, Webern, Nono, Ligeti, Boulez usw. ganz zu schweigen, denen es vermutlich furchtbar egal ist, was in ein paar Internetmeldungen zu ihren Werken geschrieben steht.

  • Nochmal zurück zum Thema des Threads.


    Avantgarde ("Vorhut") ist per definitionem eine Angelegenheit einer Minderheit. Damit wäre die Frage des Threads eigentlich erledigt.


    Die Frage ist eigentlich vielmehr, in wie weit der Begriff "Avantgarde" heute noch angemessen ist für irgendwelche Entwicklungen der zeitgenössischen Musik.


    Der Begriff "Avantgarde" setzt nämlich ein lineares Fortschrittsdenken voraus. M. a. W.: Die Idee ist, dass sich die gesamte Musik logisch stringent in eine bestimmte Richtung entwickelt. Einige wenige sind dabei den anderen voraus - diese sind dann die Avantgarde.


    Die Einleitung von Mozarts Dissonanzenquartett war Avantgarde. Beethovens op. 106 war Avantgarde. Wagners Tristan war Avantgarde. Schönbergs opp. 10 und 11 waren Avantgarde. Serielle Musik war Avantgarde. Elektronische Musik war Avantgarde.


    In unserer Zeit, in der ganz verschiedene Stile nebeneinander komponiert werden - neue Tonalität, neue Einfachheit, minimal music, aber auch nach wie vor hochkomplexe Werke - ist aber völlig unklar, worin "Avantgarde" noch bestehen soll. Wo wäre das "völlig neue", das die Entwicklung anderer vorwegnimmt? Was wäre denn überhaupt noch nicht dagewesen, aber richtungweisend zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung?

  • Die Frage ist eigentlich vielmehr, in wie weit der Begriff "Avantgarde" heute noch angemessen ist für irgendwelche Entwicklungen der zeitgenössischen Musik.


    Ich meinte ja mit Avantgarde auch keine Entwicklungen der zeitgenössischen Musik, sondern eher die Nachkriegsklassiker, die zum großen Teil bereits verstorben sind, und deren Werk vor allem etwa 1950-1980 "Avantgarde" war.
    Scelsi, Messiaen, Cage, Zimmermann, Xenakis, Ligeti, Nono, Berio, Stockhausen, Kagel
    weilen alle nicht mehr unter uns.

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