AUERBACH, Lera: DIE KLEINE MEERJUNGFRAU

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    Lera Auerbach (geb. 1973)
    Die kleine Meerjungfrau


    Ballett in zwei Teilen mit einem Prolog und einem Epilog


    Libretto von John Neumeier nach dem Märchen von Hans Christian Andersen
    Verlag: Sikorski, Hamburg
    Uraufführung am 15. April 2005 in Kopenhagen,
    Anlass ist der zweihundertste Geburtstag des dänischen Dichters Hans Christian Andersen
    Gewidmet: Ihrer Majestät, Königin Margarethe II. von Dänemark


    Premiere der Hamburger Fassung am 1. Juli 2007
    Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept von John Neumeier
    Darsteller: Silvia Azzoni, Carsten Jung, Lloyd Riggins


    Charaktere:
    Die kleine Meerjungfrau
    Der Dichter
    Der Prinz
    Der Meereshexer
    Matrosen
    Hochzeitsgesellschaft


    Das Handlungsgeschehen zeigt die Welt über Wasser und unter Wasser



    HANDLUNG


    Prolog


    Nach der Vorstellung des Ballettmeister ist die „Kleine Meerjungfrau“, die der Kopenhagen-Tourist als zierliche Steinskulptur in sein Herz geschlossen hat, nichts weiter als die Inkarnation, einer vergossenen Träne. Diese Träne lässt der Dichter – gedacht ist an Hans Christian Andersen – anlässlich einer Kreuzfahrt von der Reling des Luxusdampfers in den Gischt fallen. Der Tropfen schließt die Schwärmerei für den lieben Freund Edvard ein, die dieser aber nicht erwidert, sondern sich mit der Absicht trägt, Henriette zu heiraten. Auf metaphysischem Weg verwandelt die Träne sich in eine kleine Meerjungfrau, von deren überdimensionalen Emotionen - in der Hauptsache sind es Schmerzen - im Ballett die Rede sein wird.


    Um die Größe der Seele, die in dem kleinen Körper eingeschlossen ist, darzustellen, türmt die sibirische Komponistin Lera Auerbach in Erinnerung an ihre kalte Heimat gewaltige Klangmassen auf, damit der Zuschauer sich in der Seelenlandschaft der Nixe zurechtfinden kann und tatsächlich mitleidet. Die Stürme im Orchestergraben toben teils mit Windstärke 8.


    Teil 1


    Die Meerjungfrau liegt verträumt tief unten im Wasser, als über ihrem Kopf ein Kreuzfahrtschiff vorübergleitet. Auf Deck wird Tennis gespielt. Unvorsichtigerweise schlägt der Prinz – die Gattung ist nicht ausgestorben, verfügt aber nicht mehr über den Glanz vergangener Zeiten - den Ball über die Reling. Flugs stößt die Meerjungfrau an die Oberfläche und sammelt das Gummibällchen ein. Sie kann sich aber nicht erklären, weshalb ihr Gemüt dabei in Wallung gerät. Poseidon – im Ballett gehässig als Meereshexer betitelt – lässt einen Sturm aufkommen, damit das Schiff kentert. Mann und Maus stürzen über Bord. Die Namenlose rettet dem Prinzen das Leben, gleitet mit ihm an die Oberfläche und gibt ihm einen Kuss. In Wahrheit ist der Verstörten die Ursache ihrer Seelenverwandtschaft mit dem Jüngling, der aussieht wie Edvard, nicht bewusst, weil niemand ihr gesagt hat, dass sie aus der Träne desjenigen Dichters geboren wurde, welcher für den Genannten überschwängliche Empfindungen hegte.


    Ganz in der Nähe der Küste, wohin die Nixe den Prinzen transportiert, befindet sich ein Kloster. Klosterschülerinnen, unter ihnen Henriette, strömen herbei und nehmen das gestrandete Mannsbild in Augenschein. Die Nixe, hat vor den körperlich Andersgearteten verständlicherweise eine gewisse Scheu und lässt sich schnell ins Wasser gleiten. Der einfältige Prinz hat nun die Vorstellung, dass die Anführerin der Novizinnen ihm das Leben gerettet hat, obwohl diese gar nicht schwimmen kann. Da sie gut aussieht, verliebt er sich sofort in sie und will sie aus Dankbarkeit sogar heiraten. Zum Atemschöpfen hebt die Seejungfrau hin und wieder den Kopf aus den Wellen und erkennt die aufkeimende Zuneigung zwischen den beiden Menschenkindern. Das verliebte Getue irritiert sie, macht sie traurig und verzagt.


    Sie hat sich entschlossen, ein Menschenkind zu werden, damit sie der Rivalin das Objekt ihrer Zuneigung abjagen kann. Dazu muss sie sich erst einmal auf Füßen bewegen, denn mit ihrer Schwanzflosse kann sie zwar die Richtung steuern, kommt aber nicht recht vom Fleck. In ihrer Verzweiflung geht sie zum Meereshexer, der ihr Beine machen soll. Erstaunlicherweise ist der Zauberkundige ihren Wünschen zugänglich, doch die Prozedur der operativen Verwandlung ist äußerst schmerzhaft. Das Laufen mit den neuen Extremitäten fällt ihr schwer – Tempo kann sie nicht vorlegen! Der junge Prinz findet die verwandelte Nixe nackt am Strand, neigt sich der Hilflosen voller Mitleid zu und schleppt sie auf sein Schiff, welches in der Zwischenzeit wieder senkrecht gestellt und seetüchtig gemacht wurde.


    Teil 2


    Die Klosterschülerin hat sich als Prinzessin entpuppt, gewinnt an Begehrlichkeit für den Prinzen und setzt mit ihm die Vergnügungsreise fort. Der kleinen Meerjungfrau fällt es immer schwerer, mit ihrer Enttäuschung fertig zu werden und sehnt sich oft nach der Unterwasserwelt und den Korallenriffen zurück. Zu allem Ärger ist der Hochzeitstermin mit der Prinzessin auch schon festgesetzt. Die Kleine aus dem Wasser darf sich vornehm kleiden, um die Brautjungfer zu spielen. Ein kleines Küsschen in Ehren ist für die Verzweifelte noch drin – und das war es dann. Der Meereshexer sieht, welches Chaos er angerichtet hat und erscheint auf der Hochzeitsfeier. Er hat ein scharfes Messer mitgebracht und mutet der zerbrechlichen kleinen Nixe zu, den Prinzen zu erstechen. Automatisch würde sie dann als Belohnung ihre Schwanzflosse zurückbekommen. Auch wenn sie von ihm enttäuscht wurde, will sie dem Prinzen kein Leid zufügen und weist die Ausführung einer Mordtat zurück. Während die beiden Blaublütigen ihre Hochzeitsnacht zelebrieren, zieht sich die Unglückliche in den Wellenbereich zurück.


    Epilog


    Der Dichter tröstet sich, dass eine vergossene Träne ihm Ruhm verschaffte. Er nimmt sich seines umgewandelten Produktes an und beide begeben sich auf den Weg in eine andere Welt.


    Anmerkung:


    Das abendfüllende Ballett erfreut sich großer Publikumswirksamkeit. Unterschwelliger Sadismus taucht aus den Abgründen der Seele auf, denn alle wollen erleben, wie die zarte kleine Meerjungfrau zu leiden hat.


    Nicht nur die Ohren werden mit modernen Orchesterklängen verwöhnt, sondern auch das Auge erfreut sich an den weiten Beinkleidern der Ballerina, wenn sie diese über den Boden schleift oder im Kopfstand durch die Lüfte wirbelt. Die stimmungsvolle dezente Bühnendekoration der Hamburger Aufführung gefällt auch dem konservativ eingestellten Zuschauer.


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