Kap der Angst: "Hoffmanns Erzählungen" in Osnabrück (Premiere, 15. Januar 2011)

  • Kap der Angst: „Hoffmanns Erzählungen“ in Osnabrück (Premiere, 15. Januar 2011)


    „Hoffmann“ in Osnabrück ist vieles – nur nie langweilig. Die Spannung hält den ganzen Abend über an, und am Ende gibt es für alle Beteiligten großen Beifall, auch für das Regieteam, die jede Sekunde in Offenbachs Oper nachvollziehbar und teilweise befremdend gedeutet haben.




    Genadijus Bergorulko, Hans Hermann Ehrich




    Bernardo Kim, Tadeusz Jedras, Natalia Atamanchuk, Genadijus Bergorulko


    Alle Fotos (C) Theater


    Kommen wir zunächst zum musikalischen Teil. Hermann Bäumer ließ es im Graben oft ordentlich krachen, ohne aber jemals die Sänger zu gefährden. Er leitete den Abend in bester kapellmeisterlicher Manier – was ja heute auch schon viel wert ist. Der von Holger Krause einstudierte Chor zog sich gut aus der Affäre und zeichnete sich zudem durch große Spielfreude aus. Auch alle kleinen Partien waren rollendeckend besetzt – besondere Erwähnung verdienen hier Tadeusz Jedras als Crespel und Mark Hamman, der jedem der Diener ein eigenes, herrlich überdrehtes Profil gab. Von Daniel Moon, der Schlemihl und Hermann seinen Luxusbariton leiht, ganz zu schweigen.
    Als Hoffmann debütierte Bernardo Kim. Dem 35-jährigen Koreaner hörte man im vierten Akt dann doch einige Ermüdungserscheinungen an, aber das ist bei der Partie kein Wunder, und er ist ja noch jung – er wird sie sich bestimmt bald besser einteilen können. Im Großen und Ganzen aber war das ein tolles Debüt: Sein strahlender Tenor zeigt allenfalls in der Höhe ein kleines Flattern, und auch darstellerisch steigt er voll in die Produktion ein.
    Die Muse, die hier raumspraysprühend im Takt zu Olympias Arie über die Bühne flirrt und auch noch weitere Rollen übernimmt, gibt Eva Schneidereit mit hoher Bühnenpräsenz und veritablem Mezzo. In die Rollen der vier Bösewichte schlüpfte Genadijus Bergorulko, der stimmlich leider einen rabenschwarzen Tag erwischt hatte. Viele Töne wurden nur markiert, und auch sonst fiel er eher durch Mut zur Hässlichkeit auf. Doch seine phänomenale Bühnenpräsenz und -beherrschung machten da alles wieder wett. Die Olympia war mit Ani Taniguchi besetzt. Gesanglich kann man nicht mehr erwarten, und schauspielerisch wurde ihre Arie ein großer Spaß – sie ist kein Roboter, aber Alkohol und Drogen haben sie zur Maschine gemacht. Ob sie da nun in sich zusammensackt, Hoffmann angrabbelt oder über den Balkon kotzt – das hat was. Natalia Atamanchuk stand als Antonia auf der Bühne. Was macht diese Frau mit der großen, facettenreichen, gut geführten Stimme in Osnabrück? Die gehört an alle großen Häuser der Welt! Zudem schaffte sie es, durch hohe Präsenz den Zuschauer für sich einzunehmen, doch dazu später mehr. Allenfalls ein paar kleine Schärfen ließ Sabine Ritterbusch als Giulietta hören. Da auch am Tag der Aufführung noch nichts im Internet stand und die Partie auch im Programmheft fehlt, habe ich keine Ahnung, wer die Stella gesungen hat – eventuell wurde sie von Frau Schneidereit übernommen. Die Dame war aber mehr als gut.


    Zum szenischen Teil: Regisseur Lorenzo Fioroni hatte sich Ende Dezember mit dem Fahrrad lang gelegt (am Ende kam er mit Krücken auf die Bühne und hatte sichtliche Schmerzen) und musste als Co-Regisseur Jan-Richard Kehl engagieren, der laut eigener Aussage „die meisten Szenen nach der Pause“ inszeniert hat. Das Bühnenbild stammt von Paul Zoller, die Kostüme von Annette Braun, für die sparsam eingesetzten Videoprojektionen zeichnete Xavier Ballester verantwortlich, und mit Atef Vogel wurde gar ein Kampfchoreograf engagiert.


    Die ersten drei Akte spielen im Einheitsdrehbühnenbild einer fast leeren Etage einer Mietskaserne. Hoffmann beschließt, auszuziehen – aus dem Leben zu gehen. Der Chor packt fleißig mit an, und zur Ballade von Kleinzack (die Bäumer sehr langsam nimmt) hält sich Hoffmann den Spiegel vors Gesicht. Im zweiten Akt sehen wir in Spalanzanis Haus eine steile, alberne, lustige, aber auch verstörende Karnevalsparty – jeder ist besoffen. Fioroni zeigt das radikal, aber nie übertrieben. Coppelius ersticht Olympia im Exzess (passt ja – er singt „Ich werde jemanden töten“, wen und wie, das lässt er offen). Der dritte Akt sorgt für unfassbare Gänsehaut, für Atemnot, ja: für Angst. Fioroni ersetzt weite Teile durch gesprochene deutsche Dialoge (auch Frantz singt sein Liedchen auf Deutsch), die teilweise bis an die Schmerzgrenze mit Echo unterlegt oder verstärkt werden. Das hat einen kaum zu beschreibenden Effekt. Ich jedenfalls konnte, als während der Pausenzigarette meine Mutter anrief, kaum sprechen, nachdem ich gesehen hatte, wie Antonia sich mit Tabletten vollstopft und am Ende merkwürdig verrenkt vom Schnürboden gelassen wird. Das war mitreißend, man war Teil der Handlung.
    Vierter Akt: Weniger Venedig geht nicht. Es gibt einen Rückvorhang mit Tür, zwei Absperrseile und im hinteren Bühnenmittelfeld eine Pfütze, in der Hoffmann Schlemihl ertränkt und an der er erkennt, dass er sein Spiegelbild verloren hat (was am Premierenabend nicht ganz funktionierte, da man Bernardo Kims Hände noch aufblitzen sah – das muss noch besser werden). Spaßig die Szene, in der Hoffmann den Wein in die Pfütze gießt und wieder herausnimmt (!). Im Exzess verprügelt er Giulietta. Leider wird die Spiegelarie nicht gespielt.
    Der fünfte Akt schließlich setzt dem Ganzen die Krone auf. Hoffmann geht die Treppe hoch und verschwindet, nachdem der Chor einen Trauerkranz vor seine Tür gehängt hat. Und am Ende – einer der genialsten coupes d'theatre, die mir je untergekommen sind – geht der Hausmeister in Hoffmanns leerstehende Wohnung. Musik vom Band setzt ein, aber nicht Offenbachs, sondern die Komturszene aus „Don Giovanni“. Da klingelt das Telefon, der Hausmeister nimmt ab: „Hoffmann? Kenn ich nicht. Gibt’s hier nicht.“ Giovanni fährt zur Hölle, der Vorhang fährt herunter, und es endet die Premiere einer der wohl spannendsten und durchdachtesten Produktionen, die derzeit auf deutschen Bühnen zu erleben sind und deren Besuch ich jedem wärmstens empfehle. In den großen Beifall für alle Beteiligten mischten sich nur ein, zwei Buhs für die Regie.
    Völlig verstört, mit zerrissenen Nerven, Atemnot und Herzrasen verließ ich das Theater, im Bewusstsein, eine der beeindruckendsten Opernabend meines Lebens gehabt zu haben, den ich so schnell nicht vergessen werde.



    THEATER AM DOMHOF, OSNABRÜCK
    Jacques Offenbach: Hoffmanns Erzählungen. Premiere am 15. Januar 2011. Solisten: Bernardo Kim (Hoffmann), Eva Schneidereit (Muse/Bibliothekarin/Haushälterin/Nachbarin/Prostituierte/Bestattungsunternehmerin), Genadijus Bergorulko (Lindorf/Coppelius/Dr. Miracle/Dapertutto), Mark Hamman (Cochenille/Frantz/Pitichinaccio), Ani Taniguchi (Olympia), Natalia Atamanchuk (Antonia), Sabine Ritterbusch (Giulietta), ? (Stella), Sang-Eun Shim (Nathanael), Hans Hermann Ehrich (Spalanzani), Daniel Moon (Schlemihl/Hermann), Marcin Tlalka (Luther), Tadeusz Jedras (Crespel), Irina Neznamova (Die Stimme). Inszenierung: Lorenzo Fioroni, Co-Regie: Jan-Richard Kehl, Bühne: Paul Zoller, Kostüme: Annette Braun, Video: Xavier Ballerster, Dramaturgie: Stefan Klawitter. Chöre: Holger Krause. Musikalische Leitung: Hermann Bäumer.

  • Danke dir für den Bericht, deckt sich mit dem was ich anderen Bekannten gehört habe. Ich werde bei Gelegenheit dann doch noch nach Osnabrück fahren müssen.

  • Hallo, Basti!


    Es freut mich, mal wieder etwas von Dir zu hören und zu lesen. Leider sind dies genau die Inszenierungen, die mich aus den Opernhäusern langsam vertreiben! Ich gönne Dir aber diesen Genuß! Aber in so etwas bekommt mich niemand rein, noch nicht einmal mit Kaiserschmarrn oder Topfenstrudel! Da sehe ich mir lieber eine DVD in entsprechender "antiquierter", aber dem Libretto folgender Inszenierung an. Nichts für ungut Basti, aber die Geschmäcker und auch die Ansichten sind halt verschieden.



    Gruß Wolfgang

    W.S.


  • Genau derselbe Meinung bin ich auch, aber danke Basti :yes:

    Pourqoi me reveiller....

  • Auch ich danke Dir Basti für die tolle Besprechung und das Einstellen der Photos von der Inszenierung. Mir geh s nun genau andersherum als meine beiden Vorredner, so, wie Du den Opernabend beschrieben hast, muss Oper sein, das man aufgefühlt und mit Herzrasen anch hause geht, wo Musik und Handlung sich zu einem sich Packenden Ganzen verindet und nicht ur ein kostumiertes Aufführen von Arien.
    Gruß Wenzeslaus :hello:

  • Dank Bastis Schilderung bin ich etwas ratlos, was da alles in diesem Hoffmann vorgeht. Ich glaubte, schon viele gute und einige weniger gute Varianten zu kennen, aber nach Bastis Beschreibung gibts wieder Neues zu sehen.


    Antonia mit Tabletten vollgestopft hängt runter ? Hat sie vor ihrem Tod nicht noch zu singen, auch in der Schlußszene ??? etc.


    Fragt sich der ratlose Operngernhörer

  • Ich warte auf eine Produktion dieser Oper, bei der Hoffmann mit Stella im Keller des Weinhauses Lutter & Wegner eingemauert wird. Was werden die beiden dann wohl singen ?

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  • Nix für ungut, basti. Dass mir eine solche Produktion am A... vorbeigeht, kannst Du Dir ja denken. Eine Frage habe ich aber dennoch: Habe ich Dich richtig verstanden, dass auf deutsch gesungen wurde?

  • Teils - im dritten Akt. Es gab deutsche Dialoge, Frantz sang sein Liedchen auf Deutsch (auch sympathisch), und ansonsten war alles französisch, so weit ich mich erinnere (was jetzt nur für den dritten Akt gilt - beim Rest bin ich sicher).


    :thumbup:

  • Wenn ich allein die Szenenbilder sehe wird mir übel.


    Es handelt sich hier um die Vernichtung eines der interessantesten und wirkungsvollsten Werken der Operngeschichte.


    Wer meine Rezensionen über 3 rundverschiedene Inszenierungen (auf DVD erhältlich) , jene von Felsenstein, dann die Londoner Eiinspielung von 1981, und die neue Inszenierung von Pier Luigi Pizzi aus dem Jahre 2005 aus der Arena Macerata gelesen hat, der weiß, daß ich ein breites Spectrum an Deutungen toleriere, bzw schätze.


    Offenbach: Hoffmanns Erzählungen - Potsam Babelsberg 1970 (deutsch)


    http://www.tamino-klassikforum…rm=PostAdd&threadID=12944


    Offenbach: Hoffmanns Erzählungen - Macerata Opera 2005 (französisch)


    Keine dieser Fassungen hat mich gelangweilt oder erschien mir nicht ädiquat. Der Felsenstein-Inszenierung merkt man freilich ihr Alter an, auch wirkt das ganze durch die deutsche Sprache ein wenig "betulich" - aber schliesslich waren sowohl E.T.A. Hoffman als auch Offenbach Deutsch - somit ist das hier durchaus vertretbar.


    Ich will hir nicht in meinen Threads geschriebenes wiederholen und verweise deshalb für Interessierte mittels Link dorthin


    Diese 3 Deutungen sind sicher nicht die Einzigen, ich kenne mindestens 2 weitere Inszenierungen - und es wären hier auch für heutige Regisseure zahlreiche Möglichkeiten Neues anzubieten, so z.B eine Puppe Olympia, die eine Laserprojektion ist, ditto einige Bldschirme im Kabinett des Physikers Spalanzani.... (er könnte sie ja schon damals - seiner Zeit voraus - erfunden haben)


    ABER - was ich HIER OBEN im Thread zu sehen bekpmme - das ist meines Erachtens allerester Schund.
    So vergrault man das reguläre Opernpublikum, es ist, als wollte man Klassische Literatur durch Schundhefte ersetzen - damit die Auflage stimmt.
    Ausstattung und Kostüme - wie ich sie im obersten Bild geboten bekomme - assoziiere ich allenfalls mit einem "Gschnasfest" in einer Sozialbau -Neubauwohnung der 60er Jahre.
    Wer solche Inszenierungen an seinem Haus duldet, der würde meiner Meinung nach verdienen , daß es leer bleibt....



    Zitat

    Dem 35-jährigen Koreaner hörte man im vierten Akt dann doch einige Ermüdungserscheinungen an, aber das ist bei der Partie kein Wunder, und er ist ja noch jung


    Ich muß mich schon seeeehr wundern, welche Ausreden es stets für Mittelmaß gibt. (wobei ich davon ausgehe, daß hier nicht geschönt wurde - und es sich wirklich nur um "einige Ermüdungserscheinungen" handelte)
    Mit 35 ist ein Sänger nicht mehr "jung" - sondern er sollte am Zenith seiner Karriere stehen....



    Zitat

    In die Rollen der vier Bösewichte schlüpfte Genadijus Bergorulko, der stimmlich leider einen rabenschwarzen Tag erwischt hatte. Aber.....


    Aha. Glücklicherweiese gibt es auch hier eine Entschuldigung.


    Daß die Spiegelarie nicht gespielt wurde ist historisch korrekt (komisch, daß gerade die entstellendsten Inszenierungen dort korrekt sind, wo es den Zuschauer verstört 11) - aber aus Sicht der Theaterpraxis ein Fehler. Vielleicht aber auch nicht, weil beabsichtigt war, jegliche Zutat die das Stück zu bieten hat, ein Publikum zu fesseln, systematisch zu entfernen.


    Nein - vielleicht nicht ganz - es scheint doch einige "Höhepunkte" gegeben zu haben.
    Beispielsweise die Regieeinfälle zur Gestaltung der Puppe "Olympia"



    Zitat

    Ob sie da nun in sich zusammensackt, Hoffmann angrabbelt oder über den Balkon kotzt – das hat was.


    Das kann schon sein.
    Aber dazu brauche ich keine Eintrittskarte für ein Opernhaus zu kaufen.
    Derlei kann man GRATIS fast täglich im Drogenmileu ansehen - wems gefällt..



    Zitat

    In den großen Beifall für alle Beteiligten mischten sich nur ein, zwei Buhs für die Regie.


    Vermutlich haben die Regietheatergegner das Haus schon in der Pause verlassen - oder sind - vorgewarnt-
    erst gar nicht hingegangen



    Zitat

    Völlig verstört, mit zerrissenen Nerven, Atemnot und Herzrasen verließ ich das Theater.....


    Das kann ich gut verstehen..
    MIR wäre es vermutlich genauso ergangen....... :P


    LG
    aus Wien
    Alfred




    PS:
    Ungeachtet unseres Auffassungsunterschiedes möchte ich Basti für diese -
    subjektive - aber sehr plastische - Darstellung danken.
    Sie ist ein Farbtupfer, den ich nicht missen möchte

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Warum so hart, Alfred? :)
    Jeder Sänger kann mal einen "rabensschwarzen Tag" erwischen, von Mittelmaß hat Basti ja auch nichts geschrieben. Fakt ist ja wohl, dass selbst Sänger, die ganz und gar nicht Mittelmaß sind, in dieser Partie zum Ende hin etwas schwächeln.



    Zitat

    Das kann schon sein.
    Aber dazu brauche ich keine Eintrittskarte für ein Opernhaus zu kaufen.
    Derlei kann man GRATIS fast täglich im Drogenmileu ansehen - wems gefällt..

    Nicht nur im Drogenmileu, das gibt es heute schon viel näher dran auf fasst allen "normalen Partys" (leider). Und wenn ich mir dann solche "Püppchen" anschaue, die betrunken tanzend sich die Männer angeln, dann ist die Olympia gar nicht so weit weg.
    Ich merke ja nach und nach, dass ich mit Regieexsessen immer weniger anfangen kann, aber nicht nur Bastis Beschreibungen lassen mich darauf schließen, dass hier eine interessante Neu-Deutung (so neu auch nicht: viele Ideen gab es ja schon mal woanders) vorgenommen wurde. Und die muss ja auch mal erlaubt sein, solange die Musik nicht darunter leidet.