Schumann, Robert: Liederkreis op. 24

  • Heinrich Heines „Buch der Lieder“ erschien im Jahre 1827. Neu war darin das wenigste, zum überwiegenden Teil bestand das Werk aus früher gedichteten und auch bereits veröffentlichten Gedichten. Es besteht aus folgenden Zyklen: Junge Leiden – Lyrisches Intermezzo – Die Heimkehr – Aus der Harzreise – Die Nordsee. Einige davon sind nochmals mehrteilig.


    Wann Schumann aus diesem Buch – genauer: aus dem Zyklus „Junge Leiden“ - die Texte für sein op. 24 wählte und vertonte, ist nicht ganz klar. Der überwiegende Teil der Komposition scheint jedoch in die Monate Januar und Februar seines Liederjahres 1840 zu fallen. Am 23. Februar 1840 sendet Schumann das Manuskript an Breitkopf & Härtel in Leipzig, welcher die Lieder sogleich herausgibt.


    Die Textauswahl kann man durchaus zyklisch verstehen, d. h. im novellistischen Sinne aufeinander beziehbar und zusammenhörbar. In einigem mag Schumann seine eigene schwierige Situation wiedergefunden haben. Es war die Zeit, in der Schumann die Klage gegen Claras Vater Friedrich Wieck zwecks Erzwingung der Einwilligung in die Ehe vorantrieb. Er schreibt an seine Geliebte: „Bin überhaupt selig, wenn ich schaffen kann, und vergessen dann wohl den bösen Mann auf Stunden lang, der mein Leben vergiftet.“


    Auch musikalisch bilden die Lieder einen Zyklus: Die Titel und Tonarten der neun Lieder sind:


    1. „Morgens steh‘ ich auf und frage“ - D-Dur
    2. „Es treibt mich hin“ – h-moll
    3. „Ich wandelte unter den Bäumen“ – H-Dur
    4. „Lieb‘ Liebchen“ – e-moll
    5. „Schöne Wiege meiner Leiden“ – E-Dur
    6. „Warte, warte, wilder Schiffmann“ – E-Dur
    7. „Berg und Burgen schau‘n herunter“ – A-Dur
    8. „Anfangs wollt’ ich fast verzagen“ – d-moll (mit offenem Ende auf der Dominante A-Dur)
    9. „Mit Myrthen und Rosen“ – D-Dur.


    Am reichsten musikalisch ausgestaltet sind die beiden zentralen E-Dur-Lieder sowie das letzte Lied.


    Der Liederkreis op. 24, manchmal „der kleine Heine-Liederkreis“ im Gegensatz zur „Dichterliebe“ op. 48 genannt, ist zwar Schumanns erste größere Komposition im Bereich der Vokalmusik. Doch die Charakteristika seines Liedschaffens sind alle schon voll ausgeprägt: Zyklische Anordnung der Tonarten, thematischer Zusammenhang der gewählten Texte, wohlbedachte Tempofolge, reicher Klaviersatz mit teilweise gewichtigen Nachspielen, präzises Herausarbeiten der jeweiligen Emotionalität in Form der Miniatur.


    Soweit eine kurze Einführung in op.24 – demnächst mehr zu einzelnen Einspielungen. Welche gefallen Euch, welche gefallen Euch weniger und warum?

  • Lieber Wolfram,
    Dein Beitrag war ein Grund meine Schumann Lieder-Liste einmal kritisch durchzusehen. Ich war erstaunt, dass ich von Opus 24 so wenige Aufnahmen habe, während Opus 48 in vierzehn verschiedenen Aufnahmen vorhanden ist. Die Lieder aus Liederkreis Opus 24 sind mir eher aus der LP-Zeit bekannt. Sicher gibt es von Fischer-Dieskau und Prey gute Aufnahmen, aber das Beste was ich auf CD habe, ist eine Aufnahme Christoph Prégardien / Michael Gees aus dem Jahre 1995, die ich mit Jochen Kupfer / Reinild Mees und Bo Skovhus / Helmut Deutsch verglichen habe.
    Natürlich ist das ein Vergleich einer Tenorinterpretation mit zwei Baritonstimmen. Aber ich bin gespannt, welche Vorschläge zu Opus 24 noch kommen, sicher haben diese Lieder ein breiteres Interesse verdient.

  • Peter Schreier, Andras Schiff live Lukaskirche Dresden, 9./10. Juli 2002

    Dass Peter Schreier zum Zeitpunkt der Aufnahme fast 67 Jahre alt war, ist einerseits nicht zu überhöhen. Seine Eigenheiten haben sich im Alter eher verstärkt: eine sehr helle, obertonreiche Stimme, teilweise extrem hellgefärbte Vokale – wer frühere Aufnahmen deswegen weniger oder gar nicht mag, der wird diese CD erst recht nicht mögen. Es kommt hinzu, dass die Höhe nicht mehr so frei schwingt wie in früheren Jahren. Andererseits: Wie viele Fachkollegen mussten weit früher ihre offizielle Sängerkarriere beenden - geschweige denn, einen so grandiosen Liederabend hinzulegen? Zu bestaunen gibt es auch bei dieser Aufnahme viel. Liebhaber werden diese Aufnahme alleine schon als Dokument aus dem Herbst der aktiven Zeit eines großen Liedsängers schätzen.


    Im ersten Lied sind Schreier und Schiff eher auf der schnellen Seite („Allegretto“ ist vorgeschrieben“), übersingen bzw. überspielen die Ritardandi. Dies setzt sich in den anderen Lieder des Zyklus‘ fort, für jedes Lied wird hier die schnellste Interpretation dieses kleinen Vergleichs geboten. Ungeachtet der objektiven Spieldauern klingen die Tempi für meine Begriffe schlüssig und durchaus natürlich. In Nr. 4 („Lieb‘ Liebchen“) schreibt Schumann „nicht schnell“, hier scheint die Wahl des Metrums grenzwertig im Lichte der Vortragsbezeichnung. – In Nr. 5 („Schöne Wiege meiner Leiden“) höre ich anfangs nur die „schöne Wiege“, aber nicht die „Leiden“. Da fehlt etwas. – Nr. 6 („Warte, warte wilder Schiffmann“) hat mich sehr an Schreiers Aufnahme des David der Meistersinger unter Karajan erinnert („gleich, gleich“ – vgl. mit „Gleich, Meister!“) – es hat etwas Skurriles. - Große Innerlichkeit des Vortrages ist in Nr. 9 („Mit Myrthen und Rosen“) zu hören. Hier singt der Meister unter den deutschen Liedsängern des Tenorfachs seiner Generation (neben Fritz Wunderlich).


    Diese Aufnahme profitiert stark vom Pianisten Andras Schiff – wie wertvoll es ist, wenn ein Pianist nicht nur sein Handwerk perfekt beherrscht, sondern es auch in den Dienst an einer gemeinsamen Sache zu stellen weiß, ist hier zu hören. Leider kenne ich nicht Schreiers frühere Aufnahme von op. 24. Da ich opp. 39 und 48 von dieser live mitgeschnittenen CD mit den Studio-Aufnahmen aus den 1970er Jahren (mit Norman Shetler) vergleichen kann und für diese beiden bekannteren Zyklen die älteren Aufnahmen vorziehe, wage ich die Vermutung, dass dies auch für op. 24 gelten könnte. Dies ist vielleicht doch eher eine CD für Schreier-Fans als eine zum Kennenlernen der drei Zyklen, wenngleich sie durch diese Kopplung sehr attraktiv ist – die meisten Schumann-Lied-CDs bieten höchstens zwei Zyklen und eventuell einige einzelne Lieder. Das für mich entscheidende Argument gegen eine Empfehlung ist: Sowohl für den Liedkomponisten Robert Schumanns als auch für den Liedsänger Peter Schreier gibt es klar bessere Zeugnisse ihrer Kunst.



    Gérard Souzay, Dalton Baldwin, April 1956


    Es ist nicht zu überhören, dass Souzay Probleme mit der Aussprache der deutschen Sprache hat. Ich finde es allerdings – etwa im Gegensatz zu Placido Domingos diesbezüglichen Versuchen – durchaus erträglich. Was aber viel mehr gefangen nimmt, ist die schiere Schönheit der Stimme. Mit größtmöglicher Noblesse formt der französische Bariton seine Töne. Die Schattenseite dieses Stimmadels ist die dadurch erzeugte Distanz von Lied und Sänger, es bleibt manchmal eine Demonstration des Liedes, wird aber nicht zur Identifikation, es führt nicht zur Verschmelzung von Werk und Vortragendem.


    Waren Schreier/Schiff die schnellsten, so sind Souzay/Baldwin jeweils die langsamsten (Ausnahme: Bei „Ich wandelte unter den Bäumen“ lassen sich Fassbaender/Gage fast noch eine halbe Minute mehr Zeit). Dies kommt der Entfaltung der Schönheit der Stimme zugute, doch die Dramatik, die diesen Liedern auch eigen ist, bleibt ab und an auf der Strecke. Es hat die Tendenz zum Eindimensionalen.


    Aber es gibt immer wieder lyrische Inseln, auf denen Souzay eben doch durch verschwenderische Schönheit den Hörer in seinen Bann schlägt, etwa in Nr. 5 („Schöne Wiege meiner Leiden“) oder auch in Nr. 7 („Berg‘ und Burgen schau’n herunter“). Mit feinen Andeutungen und Schattierungen sagt er dort alles – da ist große lyrische Liedkunst zu hören.


    Insgesamt ist dies also eine Aufnahme von op.24, bei der sehr Gelungenes, ja: Berückendes neben offensichtlich Defizitärem steht. Dies ist meine erste CD mit Souzay – ich bin auf weitere gespannt, insbes. auf die hochgelobte „Schöne Müllerin“ nebst „Pélleas et Mélisande“ unter Cluytens.



    Fischer-Dieskau/Hertha Klust September 1956


    Ein interessante Detail überrascht gleich beim ersten Lied: Die nachschlagenden Achtel in der rechten Hand des Klaviers werden ganz leicht verzögert gespielt, die linke Hand eher legato – damit wird die Ungeduld umgesetzt, ohne vom Tempo her zu überziehen („Allegretto“). – Ansonsten ist vieles von dem zu hören, was man von Dietrich Fischer-Dieskau erwarten darf: textorientierte Interpretation (prima le parole), perfekte Aussprache, eine große Bandbreite an Klangfarben und Schattierungen, viele kleine herausgearbeitete Details, die das Hören auch dann zum Erlebnis machen können, wenn man den Zyklus gut kennt.


    Die Frage ist, ob man diese reiche Differenzierung mit Genuss nachzuvollziehen bereit ist – oder ob das Maß des Sinnvollen hier überschritten wurde. Wenn in jedem zweiten Lied eine Ausdrucksskala eingesetzt wird, wie man sie dem Vortrag des „Erlkönig“ noch zubilligen mag (besonders etwa Nr. 6 „Warte, warte, wilder Schiffmann“), lässt die Wirkung der eingesetzten Mittel mit der Zeit nach. Wäre nicht mit bloßer Andeutung eventuell mehr zu erreichen gewesen? Ist man bereit, 25 Minuten aktiv das molto espressivo mitzuhören, so ist diese Interpretation sicher aufregend. Wenn man sich am Dauerhochdruck stört, wird man diese Art des Singens nach einigen Liedern ermüdend finden. Für mich ist das an der Grenze zur Aufdringlichkeit.


    Die Meinungen über den Liedsänger Fischer-Dieskau werden auch über dieser Aufnahme verschieden sein. Man kann im Vergleich mit der oben genannten CD von Gérard Souzay gut verstehen, warum der Franzose als Gegenpol zur deutschen Liedikone gehandelt wurde.



    Brigitte Fassbaender, Irwin Gage, Oktober 1984
    Offenbar vergriffen, nur eines LP-Covers konnte ich habhaft werden:


    (Irgendwie klappt weder die ASIN noch die IMG-Variante - wenn jemand das reparieren könnte, wäre ich dankbar!)


    Ebenfalls eine hochdifferenzierte Interpretation – zahllose Rubati, vorgeschriebene Ritardandi werden ausgekostet. Frau Fassbaender und Herr Gage suchen die Extreme, suchen Kontraste darzustellen. Nr. 2 („Es treibt mich hin, es treibt mich her“) – ein Parforceritt. Nr. 3 („Ich wandelte unter den Bäumen“) – ein tranceartiges Idyll. Dieses Konzept wird von beiden gleichermaßen vertreten, auch in den ausführlichen Nachspielen setzt der Pianist die Beweglichkeit des Tempos schlüssig fort.


    Doch anderes als bei Fischer-Dieskau finde ich diesen Zugang keineswegs aufdringlich. Es ist hier kein Zeigefinger zu hören, der belehrend von oben auf Details im Notentext hinweist. Die Darstellung bleibt bei aller Herausarbeitung von Gegensätzen stets verinnerlicht und sucht die Lieder aus der Innenschau heraus zu präsentieren.


    Dies ist wohl auch der einzige Weg, diesen Männerzyklus als Frau überzeugend zu singen. In dieser Weise lasse ich mir das auch gerne gefallen. Nur auf dem Wege der Identifikation mit den Texten von innen ist der Zyklus glaubhaft transportierbar. Darüber hinaus ist das alles technisch (für meine Ohren) unanfechtbar – Atemkontrolle, Aussprache, Vokalbildung, ein reiches Spektrum von Klangfarben. Insgesamt ist dies für mich die bemerkenswerteste Aufnahme unter den vieren.


    Auf dem Wunschzettel stehen eine frühere Aufnahme mit Peter Schreier und eine spätere mit Fischer-Dieskau. Ferner wurde oben schon erwähnt, dass Christoph Prégardien das op. 24 ganz vorzüglich aufgenommen haben soll (leider vergriffen).

  • Ferner wurde oben schon erwähnt, dass Christoph Prégardien das op. 24 ganz vorzüglich aufgenommen haben soll (leider vergriffen)


    Lieber Wolfram,
    vom heutigen Stand aus gesehen stimmt das "leider vergriffen" nur bedingt, denn aktuell fand ich bei Amazon 4 "gebraucht"-Angebote für stolze 34,40 Euro. Aber es besteht auch die Möglichkeit Opus 24 (von Prégardien gesungen) herunter zu laden.

  • Wer sich für Schumanns op.24 interessiert, kann bei Amazon mal hineinhören. Der Bariton Thomas E. Bauer singt das sehr kultiviert.


  • Auch auf dieser CD findet man den Liederkreis op.24 - wobei man dies vom Titel her zwar vermuten kann, aber erst die Rückseite nennt exakt den Inhalt dieser CD:


    ROBERT SCHUMANN - Liederkreis op.24 / CLARA SCHUMANN - 7 Lieder / JOHANNES BRAHMS - 10 Deutsche Volkslieder


    Wenn man Werner Güras Aufnahme mit der von Peter Schreier vergleicht, sollte man beachten, dass die Aufnahme von Werner Güra 2003 entstand, da war er etwa um die vierzig Jahre alt.

  • Hallo,


    ich bin zur Zeit an op. 39 dran. Beide Zyklen zugleich - das überfordert mein Zeitmanagement.


    Nach Beendigung von op. 39 werde ich op. 24 auf meine Weise posten.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Wenn schon keine Schreibzeiten zu Verfügung stehen, möchte ich hier kurz auf den jungen Tenor Maximilian Schmitt aufmerksam machen, der seit der
    Spielzeit 2008/2009 im nahen Nationaltheater Mannheim Ensemblemitglied ist. Auf der gezeigten CD singt er Dichterliebe op.48, drei Lieder von Clara Schumann
    und Liederkreis op. 24 - wie ich finde, eine recht ordentliche Interpretation dieser Heine-Lieder.