Wie, wann und warum entsteht ein bedeutendes Kunstwerk?

  • Wie, wann und warum entsteht ein bedeutendes Kunstwerk?


    In einem anderen Thread wird gerade trefflich über den Begriff „Bedeutung“ (im Sinne von: Wichtigkeit, Relevanz) von Werken der Musik gestritten:
    Wird denn Bedeutung per Plebiszit entschieden?


    Ich möchte hier zur Diskussion stellen, wie es denn überhaupt dazu kommen mag, dass (musikalische) Werke entstehen, die in späteren Zeiten für „bedeutend“ erklärt werden.


    Was ist wichtiger: Der Geist, der zur Entstehungszeit des Werkes vorherrschte oder der schöpferische Einfall und die Genialität des Komponisten? Was hat mehr Einfluss auf die Gestalt des Werkes?


    Vielleicht ist es mit Kunstwerken wie mit Schnee. Zur Entstehung von Schnee in seinen Myriaden von wunderbaren, immer wieder individuellen Kristallformen bedarf es einerseits gewisser Umgebungsbedingungen (richtige Luftfeuchtigkeit, rasche Abkühlung), aber auch eines Kristallisationskernes (z. B. ein Staubpartikel). Fehlt eine der beiden Voraussetzungen, so gibt es keinen Schnee.


    Ist es so ähnlich auch mit Kunstwerken? Die Umgebungsbedingungen wären – um im Bilde zu bleiben - der Zeitgeist, das Staubpartikel der Komponist (nicht sehr schmeichelhaft, ich weiß … ).


    Gibt es denn Werke, für die ein Komponist nur das Medium war, durch das sich der Zeitgeist materialisierte? Lag das eine oder andere Werk „in der Luft“ und es musste nur jemand niederschreiben? Gibt es andererseits Werke, die fast völlig unabhängig von den Bedingungen der Entstehungszeit alleine durch den Genius eines Komponisten entstanden?

  • Ich möchte hier gar nicht erst versuchen eine allgemein gültige Antwort auf diese Frage zu geben, sondern einige sehr subjektive Gedankengänge zu diesem Thema ins Spiel zu bringen, die ebenso flüchtig sind, wie musikalische Kunstwerke selbst.


    Ich meine, daß es in Wirklichkeit gar keine "musikalischen Kunstwerke" gibt, sondern nur zu bestimmten Zeiten, aus bestimmten Winkeln von einer gewissen Gruppe von Leuten als solche betrachtet werden (oder wurden)


    Ab wann ist ein Kunstwerk denn nun wirklich ein Kunstwert ?
    Wenn es vom Publikum bejubelt wird Wenn "Fachleute" es als solches bezeichnen? - und dann kommt noch die Frage: In welchem Jahrhundert. Musik des Mittelalters wird von vielen als Gejaule empfunden, andere finden sie beeindruckend. Mozarts Figaro kam in Wien bei den Zeitgenossen nicht allzu gut an, seine Cosi noch viel weniger. Über den veritablen Skandal bei der Uraufführung von Strawinskis "Sacre du Printemps" möchte ich erst gar nicht reden. Was hat man noch vor 40 Jahren über die Musik von Gustav Mahler gesagt, und welches Statement hat Robert Schumann über Joseph Haydn von sich gegegeben. All das aber wird getoppt von Musikstücken, deren Meisterschaft so verborgen ist, daß man erst durch das Lesen der Noten die Genialität erkennen kann (Habe ich das erst neulich im Zusammenhang mit Werken von Schönberg hier gelesen ??)


    Andere Musik, die von ihren Zeitgenossen hoch geschätzt wurde, und von den einstigen Kritikern als Maß aller Dinge angesehen wurde - ist heute vergessen oder steht in der zweiten Reihe. Kaum vorstllbar, daß Raff dereinst zu den führenden Sinfonikeren seiner Zeit gezählt wurde..


    Es gibt aber auch Kunstwerke, die allgemein als solche angebetet und verehrt werden, jedoch hören möchte sie eigentlich niemand mehr....


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich glaube, Alfred hat den Eröffnungsbeitrag nicht gelesen?

    Zitat:
    Original von Wolfram
    Gibt es denn Werke, für die ein Komponist nur das Medium war, durch das sich der Zeitgeist materialisierte? Lag das eine oder andere Werk „in der Luft“ und es musste nur jemand niederschreiben? Gibt es andererseits Werke, die fast völlig unabhängig von den Bedingungen der Entstehungszeit alleine durch den Genius eines Komponisten entstanden?


    Ich habe diese Frage eine Weile in meinem Hirn hin- und hergeschoben, aber viel ist nicht herausgekommen ... all die Neuerungen, die oft mit bestimmten Namen und Werken in Verbindungen gebracht werden, lagen in der Luft und wurden in unterschiedlicher Weise unabhängig voneinander von verschiedenen Komponisten begangen (-> "Zeitgeist") - allerdings hat jeder Komponist seine persönliche Lösung gefunden und diese wurden dann extrem unterschiedlich eingeschätzt (besonders markant etwa bei den konkurrierenden Zwölftönern, unter denen von der breiten Masse nur noch Schönberg wahrgenommen wird - weshalb sie fälschlicherweise glaubt, dass er so berühmt sei, weil der die Zwölftonmusik erfunden hätte).


    In der Luft liegen nur die Tendenzen, nicht die Werke. Dabei spreche ich jetzt ohnehin nur von dem Bereich der Produktion, der von Epigonentum weit entfernt ist.


    Naja, mal sehen, ob das ein funktionierender Thread wird.

  • Möglicherweise schwebt Wolfram ja ein Werk vor wie "America" von Ernest Bloch.


    Bloch hatte relativ frisch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erlangt und war voller vorauseilender Liebe für diese seine neue Heimat, beseelt von so etwas wie Patriotismus, und traf ein Land und Landsleute, die 1926 in der Nachkriegs- und Aufschwungzeit genau diesen Patriotismus ausstrahlten, pflegten und bejubelten. Für einen von einer Musikzeitschrift ausgeschriebenen Wettbewerb schrieb er das Werk und gewann - vor über 70 amerikanischen Komponisten, die sämtlich sehr viel länger als er US-Amerikaner waren.


    Bejubelt wurde sein Werk von den Größen der US-Musikszene, vielfach aufgeführt von den renommiertesten Dirigenten und Orchestern, Stokowski fertigte die erste Stereo-Aufnahme - heißt also auch: der Erfolg war nicht bloß von kurzer Dauer.


    Ob "America" von Bloch nun groß oder schlicht beliebt war, mag dahinstehen. Aber dass Bloch hier nur Medium war und sich vermutlich auch als solches und als Staubpartikel empfand, durch dessen Hände "sich der Zeitgeist materialisierte" - einiges spricht dafür, dass es so war.

  • Ich bin immer etwas skeptisch gegenüber einem anonymen Zeitgeist. Vielleicht klingt das zu reduktionistisch, aber selbst wenn der mehr ist als die Summe der einzelnen Geister, so ist er jedenfalls von denen abhängig (ohne einzelne Kunstschaffende, Rezipienten, Theoretiker usw. gibt es gar keinen Zeitgeist). Und wie KSM sagt, schafft letztlich ein einzelner kreativer Geist ein Werk, anonyme Tendenzen reichen dazu nicht aus.


    Ich hatte in einem anderen Thread vor Jahren schonmal den Vergleich zum wissenschaftlichen Problemlösen herangezogen. Auch in der Kulturgeschichte entstehen künstlerische "Probleme" oder gar "Krisen" und es liegen unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten in der Luft. Es gibt viele kreative Möglichkeiten. Vielleicht gibt es auch Richtungen, die bezweifeln, dass überhaupt eine "Krise" besteht (so wie ja einige bis weit ins 20. Jhd. unbekümmert spätromantisch komponiert haben). Die geraten allerdings meist schnell ins Abseits, weil die kreativen Lösungen ihrerseits viel mehr Impulse provozieren und entsprechende Werke befruchten.


    Da sehr schnell nur wenige "Leuchttürme" übrigbleiben, vergessen wir auch, dass die Zeiten vielfältiger waren als sie erscheinen mögen. Wenn wir heute an Instrumentalmusik zwischen 1800 und 1825 denken, denken wir an Beethoven und ab ca. 1820 noch an Schubert, dann lange nichts. Aber Hummel, Spohr, Weber usw.waren vielleicht sogar "typischer" für diese Epoche. Bezeichnenderweise war Beethovens Musik schon ab der "mittleren" Periode diesen jüngeren(!) Zeitgenossen oft zu extrem. Insofern hat jemand wie Beethoven den "Zeitgeist" zum einen massiv geprägt, war natürlich auch selbst von anderen Zeitgenossen beeinflusst, aber andererseits "quer" zum Zeitgeist gestanden.


    Außerordentlich einflußreiche Werke wie zB Beethovens 5. Sinfonie bieten einerseits mehr oder weniger mustergültige Exemplare einer Gattung wie sie bis dahin gepflegt wurde (daher können sie "Klassizisten" als Vorbilder dienen). Andererseits eröffnen sie weit über die Tradition hinausgehende Perspektiven. So konnten auch Verfechter poetischer Programme, freierer Sinfonischer Dichtung hier anschließen, oder im Extremfall sogar Musikdramatiker, wie Wagner, der ja in der 9. Sinfonie das Ende der reinen Instrumentalmusik gesehen hat.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Ich verstehe nicht, wie KSM auf die Idee kommen kann, ich hätte den Einführungsbeitrag nicht gelesen.
    Zitat:


    Zitat

    Gibt es denn Werke, für die ein Komponist nur das Medium war, durch das sich der Zeitgeist materialisierte? Lag das eine oder andere Werk „in der Luft“ und es musste nur jemand niederschreiben? Gibt es andererseits Werke, die fast völlig unabhängig von den Bedingungen der Entstehungszeit alleine durch den Genius eines Komponisten entstanden



    Ich würde eher meinen, es wurden viele Werke GEGEN den vorherrschenden Zeitgeist geschrieben - und spätere Zeiten haben das "bedeutende Kunstwerk" dann erst "entdeckt"


    Umgekehrt wurden viele einstige "Meisterwerke" auf den Grabbleltisch" der Musikgeschichte geworfen.


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred, liebe Taminoianer,


    Zitat


    Original von Slfred.Schmidt
    Ich würde eher meinen, es wurden viele Werke GEGEN den vorherrschenden Zeitgeist geschrieben - und spätere Zeiten haben das "bedeutende Kunstwerk" dann erst "entdeckt"


    Da gibt es wohl Beispiele und Gegenbeispiele. Ein Großteil des Werkes von Joh. Seb. Bach, zumal das Spätwerk, war seinerzeit hoffnungslos antiquiert. Also klar gegen den vorherrschenden Zeitgeist geschrieben und erst später "entdeckt".


    "Le nozze di figaro" wurde gemischt in Wien aufgenommen, in Prag war die Oper ein Triumph.


    Beethovens 9. wurde bei ihrer UA vom Publikum enthusiastisch gefeiert, von Experten gab es (auch) kritische Stimmen.


    Bruckner ... ? Hanslick et al.?


    Schönbergs Streichquartette, insbes. Nr. 1 und 2 sind sicher schöne Beispiele für Werke, die erst später "entdeckt" wurden. Natürlich auch "Sacré du printemps".


    Ligetis "Atmosphères" waren ein Sensationserfolg. Allerdings sozusagen unter Eingeweihten: In Donaueschingen 1961.


    Halten sich Beispiel und Gegenbeispiele im Großen und Ganzen die Waage?

  • Spätwerke sind meistens nicht dem aktuellsten Zeitgeschmack verpflichtet. Dass Johann Sebastian Bach "hoffnungslos antiquiert" war, halte ich für eine ziemliche Entstellung der tatsächlichen Lage. Die heute noch berühmten Komponisten seiner Generation aus deutschem Bereich, die 1750 noch lebten, wären Telemann, Graupner, Händel, Weiss, Pisendel, Fasch, Stölzel und Gottlieb Muffat. Dass Bach da als besonders altmodisch herausfallen würde, kann ich nicht bestätigen. Eher würde ich bei einem Komponisten wie Johann Gottlieb Graun, der noch in den 60er Jahren ziemlich rein barocke Concerti schreibt, von einem altmodischen Stil sprechen, der war aber bei Friedrich II sehr gut aufgehoben - und unter den weniger berühmten Komponisten gibt es sicher noch viel extremere Fälle.


    Allerdings muss ein sehr konservativer Kompositionsstil ja keineswegs gegen den Zeitgeist anlaufen, gerade am Hofe Friedrich II war der Zeitgeist für JG Graun sehr günstig. Im Bereich der bildenden Kunst könnte ich noch wesentlich krassere Beispiele nennen. "Zeitgeist" hätte für mein Verständnis nicht zwingend mit modern oder altmodisch zu tun.


    Aber ich merke, dass ich offenbar Wolfram doch nicht so ganz verstanden habe.

  • Lieber Kurzstückmeister,


    Telemann hatte sich um diese Zeit bereits deutlich dem galanten Stil genähert. Zu Graupner, Weiss, Pisendel, Fasch, Stölzel und GOTTLIEB Muffat kann ich nichts sagen, außer, dass sie keinen wesentlichen Einfluss auf die musikgeschichtliche Revolution hatten.


    Spätetens ab 1742 war Johann Stamitz in Mannheim. bald darauf auch in leitender Funktion. Holzbauer war ab 1753 in Mannheim.


    Aber noch deutlicher sieht man die Parallelwelten Spätbarock/Frühklassik vielleicht bei einem Werk wie "La serva padrona", 1733 von Pergolesi komponiert. C. Ph. E. Bachs "Württembergische Sonaten" sind von 1744. Das alles ist meilenweit entfernt von einer "Kunst der Fuge", von den "Kanonischen Variationen", von dem "Dritten Teil der Klavierübung". - In den Triosonaten für Orgel von J. S. Bach findet man vielleicht am ehesten frühklassische Elemente (insbes. Sonaten 1, 5, 6).


    Aber das ist eigentlich auch off topic.


    Ich wollte in diesem Thread eher zeitliche Einflüsse auf kreative Prozesse thematisieren. - In der Mathematik entwickelten Newton und Leibniz parallel und unabhängig voneinander die Differentialrechnung.


    Schönberg war nicht der einzige "Erfinder" der Zwölftontechnik. Auch Josef Matthias Hauer kam bekanntlich unabhängig von Schönberg auf diesen Gedanken.


    Ein ausgedehntes Kantatenwerk wie das J. S. Bachsche kann natürlich nur in einem evangelisch-lutherischen Umfeld entstehen. Ein Requiem nur in katholischer Umgebung. Eine Zauberflöte wurde deswegen geschrieben, weil es eine kleine Tradition von Wiener Kasperl- und Zauberopern gab (nebst freimaurerischem Denken).


    Meine Frage ist: Schwebt manchmal nicht etwas "in der Luft" und wird dann zu einer Komposition? Wie das Finale von Beethoven 9., das vom Publikum unmittelbar verstanden wurde? Wie der Gefangenchor in Nabucco, den das Publikum sofort verstand und auf seine Situation übertrug?


    Aber auch: Geht der Erfolg der klassisch-romantischen Sinfonie nicht Hand in Hand mit dialektischem Denken und dem Zeitalter des Idealismus?

  • Zitat

    Original von Wolfram
    Telemann hatte sich um diese Zeit bereits deutlich dem galanten Stil genähert. Zu Graupner, Weiss, Pisendel, Fasch, Stölzel und GOTTLIEB Muffat kann ich nichts sagen, außer, dass sie keinen wesentlichen Einfluss auf die musikgeschichtliche Revolution hatten.
    Spätetens ab 1742 war Johann Stamitz in Mannheim. bald darauf auch in leitender Funktion. Holzbauer war ab 1753 in Mannheim.


    Zitat

    Aber noch deutlicher sieht man die Parallelwelten Spätbarock/Frühklassik vielleicht bei einem Werk wie "La serva padrona", 1733 von Pergolesi komponiert. C. Ph. E. Bachs "Württembergische Sonaten" sind von 1744. Das alles ist meilenweit entfernt von einer "Kunst der Fuge", von den "Kanonischen Variationen", von dem "Dritten Teil der Klavierübung". - In den Triosonaten für Orgel von J. S. Bach findet man vielleicht am ehesten frühklassische Elemente (insbes. Sonaten 1, 5, 6).


    Ja. "Hoffnungslos veraltet" ist etwas anderes.

    (Bei den Ultramodernen ist unbedingt noch Giovanni Battista Sammartini zu ergänzen.)

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