Reich, Steve: Different Trains (1988)

  • Steve Reich: Different trains (1988 ) für Streichquartett und Tonband


    Natürlich ist dies nicht die erste komponierte Eisenbahnfahrt der Musikgeschichte, man denke an Pacific 231 oder den Schluss des ersten Aktes aus „Porgy and Bess“. Bemerkenswert ist sie allemal.


    Das Stück beginnt – in voller Fahrt. Unterlegt mit Eisenbahngeräuschen spielen die Streicher repetierende rhythmische Figuren. Dazwischen das lustvolle Pfeifen mehrerer Lokomotiven. Eine gute halbe Minute geht das, dann Tempowechsel (gefühlte Beschleunigung) und Wechsel der Harmonien, dazu die Stimme einer Frau: „From Chicago … from Chicago … from Chicago … from Chicago to New York“. Knapp eine Minute später – die Musik hat entschleunigt – ein neuer Text: „One of the fastest trains“ mit einem verblüffenden Effekt: Gefühlt hat sich das Tempo erhöht! Weitere Texte folgen mit weiterer Verlangsamung der Musik, Ansage „The crack train to New York“ – „Der Schnellzug nach New York“ – es ist als ob wir immer schneller fahren und es im Zug dennoch immer gleichmäßiger, stiller, gleichförmiger wird.


    Nach insgesamt gut sechs Minuten wieder schnelle Bewegung und ein neuer Text: „In nineteen-thirty-nine“ (Im Jahre 1939), und es wird klar: Dies ist eine Zeitreise. Weitere Beschleunigung - „nineteen-forty“ (1940). Wo geht es hin? Noch eine harmonische Rückung – „nineteen-forty-one“ (1941) – die Pfeifen werden bedrohlich.


    Übergangslos geht es vom ersten Satz („America - before the war“) in den zweiten („Europe – during the war“). Luftalarmsirenen sind zu hören. Wir haben Zeit und Raum überwunden. Die Musik verlangsamt stark, scheint fast einzufrieren. Wortfetzen, authentische Berichte von Juden während des zweiten Weltkriegs („The Germans walked in“ - „walked into Holland“ - …. „No more school“ … „you must go away“. Weiter Alarmsirenen im Hintergrund. Schneidendes Pfeifen von Lokomotiven. “Lots of cattle wagons there” (da waren viele Viehwaggons) - “They were loaded with people” (sie waren voll mit Leuten) – “They shaved us” (Sie rasierten uns) - … musikalischer Stillstand als äußerster Grenzfall von Bewegung. “Flames going up to the sky – it was smoking” (Flammen stiegen in den Himmel – es rauchte).


    Nach einer Pause der dritte Satz (“After the war”). Nacheinander, suchend, tastend setzen die Streicherstimmen ein. Noch passt nichts zusammen. Eine Stimme „and the war was over“ (und der Krieg war vorbei). Wechsel in der Bewegung, langsam, es klingt (relativ zum Vorhergehenden wie ein Lamento – „are you sure?“ (bist du sicher?). Wieder Beschleunigung. „Going to America“ – „to Los Angeles“ – „from New York to Los Angeles“ – Spiegelung des Anfangs. Die Pfeifen klingen wieder so lustvoll wie zu Anfang des Werkes („One of the fastest trains“). – Wieder deutliche Verlangsamung („But today, they’re all gone“ – aber heute sind sie alle weg). „There was one girl with a beautiful voice“ – „and they loved to listen tot he singing, the Germans“ – „and when she stopped singing they said, ‚more, more‘ and the applauded” (da war ein Mädchen, das eine schöne Stimme hatte – und sie liebten es, dem Singen zuzuhören, die Deutschen – und wenn sie aufhörte zu singen, sagten sie ‘mehr, mehr’ und applaudierten) – offenes Ende.


    Eine aufregende Zeitreise, von der ich hier nur den kleinsten Teil wiedergeben kann, ging nach einer halben Stunde zu Ende.


    Entstanden ist die Aufnahme in mehrfachem Überlagerungsverfahren: Streichquartett (eventuell mehrfach?), Lokomotivpfeifen und verschiedene Eisenbahngeräusche, authentische Sprechstimmen. Eine Live-Aufführung scheint so gut wie unmöglich. Für die Aufnahme mit dem Kronos Quartet gab es in 1989 einen Grammy für die beste Aufnahme zeitgenössische Musik.


  • Dass ich mit Tonbandeinspielungen nicht viel anfangen kann, tut nichts zur Sache: Wer sich auf die emotionale Zugfahrt von "Different Trains" einlassen will und kann, erlebt, wie Wolfram richtig geschildert hat, eine aufregende Reise.


    Ich finde, dass Reichs Stück keine Musik ist, die geeignet ist, durch das "Von-Außen-Hereinhören" ihre Wirkung zu erzielen, sondern eher durch das aktive "Mitreisen". Das imaginäre Dabeisein und damit Selbsterleben in diesen "Different Trains" erzielt besonders vor dem Hintergrund des laufend präsenten Bewusstseins der von Reich geschilderten außermusikalischer Inhalte des Stücks eine große Ausdruckskraft; erheblich weniger kommt bei der Erwartung "reiner", programmfreier Musik rüber. Also: unbedingt mitfahren...


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)