Haitink und das Concertgebouw Orkest mit Mahler – das ist schon fast eine Institution, die man schwerlich übergehen kann. Haitink verbindet die Mahlerschen Tugend der „Deutlichkeit“ mit einer sachlichen Haltung, die sich vor jeder Art von Übertreibung und Effekthascherei, die zum Star-Dirigentenkult gehört, mit beeindruckender Souveränität fernhält. So äußert sich der inzwischen 80jährige Haitink in einem Interview mit Phillip Husher, die für seine musikalische Ehrlichkeit bezeichnend ist:
Husher: “How do you keep this music sounding fresh and hold, especially to audiences today who already know it, without overemphasizing things?”
Haitink: “I think that overemphasizing things will kill the real sentiment. Music becomes distorted and doesn´t speak the way I think it should speak. Every interpreter has to make his choices. And when you have made your choices and when you believe in them, then you have to stick to them.”
Ich hatte im Juni das Vergnügen, anläßlich eines Besuchs der „University of Chicago“ ein Konzert von ihm mit dem Chicago Symphony Orchestra zu hören, deren „Principal Conductor“ er derzeit ist. Auf dem Programm standen die 2. und 3. Symphonie von Beethoven. Haitink und Chicago, das ist eine wahrlich glückliche Paarung. Ich habe noch nie ein Orchester gehört, das derart homogen und geschlossen spielt. Den speziellen Chicago-Ton, den man sonst nur von der CD kennt, den kann man dort wirklich miterleben: dieser volle und satte Klang, die Schönheit der Bläser und virtuose Leichtigkeit des Orchesterspiels, die keine technischen Schwierigkeiten zu kennen scheint. Gegenüber der Ära von Fritz Reiner und Georg Solti, wo das Orchester zu virtuosem und brillianten Spiel erzogen wurde, hat es unter Haitink eine neue Dimension hinzugewonnen: die betörende Klangsinnigkeit und Subtilität in der Behandlung von Details. Nacherleben kann man diese beeindruckende Dimension erlesender Orchesterkultur in der Chicagoer Aufnahme der 3. Mahler, sie stammt aus dem Jahr 2006. Daß Haitink alles andere als ein reservierter alter Herr ist, zeigt der glühend-leidenschaftliche, leuchtende Vortrag des Finales. Beeindruckend! Auch die tänzerische Beschwingtheit des Chores des mit „Lustig im Tempo und keck im Ausdruck“ überschriebenen 4. Satzes beglückt. Ein kleiner Wehrmutstropfen: das etwas manierierte Vibrato von Michelle de Young im Misterioso-Satz. Mit dem CSO erschienen sind neben der 3. Aufnahmen der 1., 2. und der 6. Symphonie – die 6. ist leider schon vergriffen, wegen der begrenzten Auflage des CSO eigenen Labels. Von der 4. erhältlich ist ein Mitschnitt mit dem Concertgebouw Orkest (sein Jubiläumskonzert), ebenfalls von 2006 mit der Solistin Christine Schäfer, erschienen beim Label des Orchesters (RCOlive). Immer noch gibt es Amsterdamer Musiker, die am liebsten unter ihrem vormaligen Chef Haitink spielen, wie mir neulich berichtet wurde.
Beste Grüße
Holger