Bruckner 9: Finale/Aufführungsfassung - - -(Samale - Philips - Cohrs - Mazzuca )

  • Liebe Musikfreundinnen und Musikfreunde!


    Da mein Forum zum Thema Finale der IX. Sinfonie Anton Bruckners, das ich im März 2003 bei http://www.klassik-heute.com eingerichtet hatte, leider inzwischen ganz vom Netz verschwunden ist, möchte ich nun hier ein solches Forum anbieten, da das Interesse an diesem Thema doch recht groß erschien (zuletzt 1400 Besucher) – zumal bis heute nurmehr viele widersprüchliche und unvollständige Informationen durch die Öffentlichkeit geistern. Doch gibt es aufgrund der Quellenforschungen und Veroeffentlichungen der letzten Jahre etliches Neue.


    Insbesondere stellte sich heraus, dass der 4. Satz, an dem Bruckner 1895/96 arbeitete, wohl noch weitgehend fertig geworden ist, aber nach seinem Tod fragmentiert wurde. Nicola Samale hat 1983 mit der Rekonstruktion und Vervollständigung begonnen; seitdem wurde der Satz in einem komplexen Teamwork, an dem neben Samale auch Giuseppe Mazzuca, John Phillips und ich selbst beteiligt waren bzw. sind, als ‘work in progress’ in mehr als 20 Jahren tätiger Forschung optimiert und in mehreren Stadien realisiert und veröffentlicht.


    In diesem Forum soll es primär um unsere Aufführungsfassung gehen, die als bisher einzige auf gründlicher Quellenforschung beruht; ein ausführlicher Kommentar in Deutsch und Englisch erscheint 2005 gemeinsam mit einer revidierten Neuausgabe im Druck.. Eine Übersicht aller bisher bekannt gewordener Aufführungfassungen findet sich in dem Musik-Konzepte Dreifachheft 120–2 ‘Bruckners Neunte im Fegefeuer der Rezeption’ (edition text + kritik 2003). Im Nachfolgenden finden Sie zunächst grundlegenden Fakten sowie einige Hinweise zu Einspielungen und Veröffentlichungen, Auswahlbibliograhpie und Links. Ich bitte im Voraus für den Umfang um Verzeihung; nötigenfalls können Sie sich den Text gern herauskopieren.


    Sodann bitte ich um vielfältige Stellungnahmen und Meinungen. Hier einige Anregungen:
    —Wie stehen Sie persönlich zum Versuch, den Finalsatz posthum zu vervollständigen?
    —Warum meiden viele große Dirigenten solche Vervollständigungen?
    —Welche Hörerfahrungen haben Sie mit Bruckners Neunter?
    —Wie gefallen Ihnen Einspielungen von Vervollständigungen?
    —Haben Sie Kritik, Anregungen, Gedanken zur Aufführungsfassung mitzuteilen?


    Ich würde mich über eine rege Beteiligung freuen. Herzlichen Dank!


    Benjamin-Gunnar Cohrs [mail: bruckner9finale@web.de]



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    I. ANTON BRUCKNER, IX. SINFONIE, FINALE: GRUNDLEGENDE FAKTEN


    Anton Bruckners Neunte Sinfonie durchleidet bis heute ein Fegefeuer von Mißverständnissen, Fehldeutungen, Anmaßungen, ja sogar barbarischen Akten der Mißhandlung, und wurde dadurch längst “Beute des Geschmacks” (Adorno). Kaum hatte Bruckner den letzten Atemzug getan, stürzten sich Andenkenjäger auf seine herumliegenden Manuskripte, da sein Sterbezimmer nicht rechtzeitig versiegelt worden war. Die Nachlaß-Verwalter beauftragten später den Bruckner-Schüler Joseph Schalk, den Zusammenhang der noch 75 überlebenden Partiturbogen zum Finale der Neunten erforschen. Er starb am 7. November 1900, ohne dem Auftrag nachgekommen zu sein. Sein Bruder Franz übernahm stillschweigend die Manuskripte, die Bruckners Testament gemäß eigentlich der Hofbibliothek (heute: Österreichische Nationalbibliothek) gehörten.


    Bei den Proben zur Uraufführung der Neunten am 11. Februar 1903 in Wien schrak der Dirigent Ferdinand Löwe vor ihrer radikalen Originalität zurück: Er instrumentierte die ersten drei Sätze völlig um; das unerforschte Finale-Material blieb unberücksichtigt. “Aus Pietät vor dem Wunsch des Meisters” hat Löwe, wie er selbst mitteilte, zwar das Te Deum mit aufgeführt, aber nicht die Diskrepanz zwischen seiner veränderten Bearbeitung und dem originalbelassenen Te Deum bedacht. Er nahm nicht nur das Te Deum nicht in die von ihm betreute Erstausgabe mit auf, wie Bruckner es selbst wohl gewünscht hätte; er veröffentlichte sogar seine eigene Bearbeitung unkommentiert als Original Bruckners. Seine im Vorwort geäußerte Überzeugung, die drei fertigen Sätze wären bereits in sich ein so aufführbares, geschlossenes Ganzes, wurde zur Doktrin, denn die verfremdenden Erstdrucke verschafften sich für Jahrzehnte Geltung auf dem Konzertpodium und zementierten zunächst solche Ansichten.


    Langsam sprach sich unter Bruckner-Forschern herum, dass mit den Erstdrucken “etwas nicht stimmte”. 1929 konstituierte sich deshalb die kritische Bruckner-Gesamtausgabe. 1934 erschien darin die von Alfred Orel herausgegebene Originalpartitur der Neunten, zusammen mit einem Studienband, der erstmals Transkriptionen vieler der Finale-Manuskripte enthielt. Gleichwohl waren Orel einige der in alle Winde zerstreuten Quellen entgangen; seine Darstellung war fehlerhaft und unübersichtlich. Seine Partitur-Ausgabe enthielt ebenso wie auch der von Leopold Nowak 1951 korrigierte Reprint nur die ersten drei Sätze. Das Te Deum wurde erst 1961 separat in der Gesamtausgabe veröffentlicht, aber wieder ohne Hinweis auf seine Funktion im Zusammenhang mit der Neunten (obwohl immerhin die Universal-Edition schon vor 1920 eine Studienpartitur der Neunten mitsamt Te Deum veröffentlicht und Bruckners Wunsch entsprochen hatte).


    Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ausgabe Orels fand nie statt. Dennoch wurden immer wieder Vervollständigungs-Versuche des Finales anhand dieser fehlerhaften Grundlage unternommen. Einige wurden nie veröffentlicht oder später zurückgezogen, andere gelegentlich aufgeführt oder gar verlegt. Sie konnten sich aber zu Recht nicht durchsetzen: Keiner dieser Autoren hat einen detaillierten Rechenschaftsbericht veröffentlicht, der in solch heiklem Fall unabdingbar wäre. Außerdem weisen sämtliche Partituren gravierende methodische Fehler auf und sind verblüffend sorglos im Umgang mit Bruckners Manuskripten. Einerseits haben alle Bearbeiter auf bedeutende Original-Partien verzichtet, andrerseits ist der Anteil ‘drauflosgebrucknerter’ Passagen stets beträchtlich: Ein Bearbeiter schloß eine nachweislich sechzehntaktige Lücke mit nicht weniger als 100 Takten Eigenkomposition!


    Neue Bewegung in das Problem kam 1985, als Nicola Samale und Giuseppe Mazzuca mit ihrer “Ricostruzione” die erste stichhaltig erarbeitete und dokumentierte Aufführungsfassung des Finales vorlegten. Diese Pionierarbeit wurde zum Anstoß für jene längst überfällige Aufarbeitung aller Quellen zur Neunten, zu der der Leiter der Bruckner-Gesamtausgabe, Leopold Nowak, selbst nicht mehr gekommen war. Er betraute damit allerdings wenige Tage vor seinem Tod (1991) den australischen Musikwissenschaftler und Komponisten John A. Phillips—ein Großprojekt, das zehn Bände umfaßt. Phillips hat die verstreuten Manuskripte akribisch geordnet und systematisiert. Seine detaillierten Papier- und Schriftuntersuchungen klärten wesentliche Details zur Entstehung. Die schließlich 1991 vom Editorial-Team Nicola Samale, John Phillips, Benjamin-Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca vorgelegte gültige Aufführungsfassung des Finales verdankt ihre Stichhaltigkeit vor allem seinen Erkenntnissen, denn Phillips ist ein profunder Kenner jener Theoriesysteme, die Bruckner selbst als Fundament seines Komponierens galten.


    Der Arbeitsprozeß am Finale gestaltete sich nicht anders als bei früheren Werken. Bruckner hat viele leere Notenblätter von seinem Sekretär Anton Meißner vorbereiten lassen, der die Namen der Instrumente, Schlüssel, Vorzeichen und Taktstriche einzuzeichnen hatte. Deshalb weisen die meisten Bogen der Finale-Partitur vier Takte pro Seite auf, was für die Rekonstruktion bedeutsam ist. Zu Beginn formulierte Bruckner stets sein musikalisches Material in Skizzen und Particell-Entwürfen. Danach schrieb er auf fortlaufend numerierten, hintereinander gelegten Doppelbogen alle Streicher- und wichtige Bläserstimmen nieder. Den Periodenbau prüfte er akribisch mit sogenannten metrischen Ziffern unterhalb jedes Taktes. Systematisch wurden dann Holz- und Blechbläser fertig instrumentiert. Bruckner konnte so seine Klangvorstellungen noch bei der Ausarbeitung verfeinern, mußte allerdings mitunter Bogen ersetzen. In einem letzten Arbeitsgang hätte er schließlich das Geschriebene durchgesehen und sämtliche spieltechnische Anweisungen hinzugefügt. Es handelt sich beim Finale also keineswegs um zusammenhangslose Skizzen, wie uninformierte Autoren immer wieder unterstellen, sondern um die Reste der im vorletzten Arbeitstadium steckengebliebenen Partitur.


    Die insgesamt wohl mehr als 600 Takte umfassende Komposition war ursprünglich viel weiter gediehen als erhalten und offenbar bis zum Sommer 1896 weitgehend fertig. Bis zum Ende der Choralreprise ist ein klarer Verlauf von ungefähr 560 Takten erkennbar; einige letztgültige Partiturbogen gingen verloren. Die Instrumentation der etwa 220 Takte langen Exposition war wohl schon abgeschlossen; viele Bogen tragen Bruckners Vermerk “fertig”. Im zweiten Teil klaffen durch die verlorenen Bogen 15, 20, 25, 28 und 31 Lücken, deren Inhalt sich jedoch weitgehend aus den Entwürfen rekonstruieren ließ. Darüber hinaus fanden sich Skizzen zur verloren geglaubten Coda—eine Steigerung über das Eingangsmotiv in 24 Takten, ein kurzer, ansteigender Choral sowie die abschließende Kadenz von 24 Takten. Schließlich wissen wir aus den Memoiren von Bruckners letztem behandelndem Arzt, Richard Heller, dass für den Schluß ein Lobgesang in D-Dur vorgesehen war, den Bruckner ihm sogar am Klavier vorgespielt hat. Wenn auch im heute erhaltenen Material ein Schlußstrich nicht mehr dokumentiert ist, haben wir doch eine recht gute Vorstellung von der Gesamtgestalt des Finalsatzes. Nur für sehr wenige Takte ist gar keine Musik Bruckners erhalten.


    Bruckner selbst hatte gewünscht, man solle die Neunte mit dem Te Deum als “bestem Ersatz” zu beschließen, falls er den instrumentalen Schlußsatz nicht beenden könnte— eine Verfügung, für die man dankbar sein müßte: Welcher dem Tode nahe Komponist trifft schon derlei Vorsichtsmaßnahmen? Allein deshalb dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass eine dreisätzige Aufführung in keinster Weise Bruckners eigenen Vorstellungen entspricht. Doch zu tun, als müsse man Bruckner quasi posthum vor sich selbst in Schutz nehmen, ist Besserwisserei und gegenüber dem Komponisten und seinem musikalischen Vermächtnis ein Akt tiefster Respektlosigkeit. Auch in der überkommenen, fragmentarischen Gestalt ist der Finalsatz schließlich –ob man seine ungewöhnliche Radikalität in Form und Aussage begrüßt oder bedauert– immer noch und zu allererst Bruckners ureigene Musik und war für ihn unverzichtbarer Bestandteil seiner viersätzig angelegten Sinfonie.



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    II. DIE AUFFÜHRUNGSFASSUNG VON SAMALE-PHILLIPS-COHRS-MAZZUCA
    (1984–91 / REV. 1996 / NEUAUSGABE VON SAMALE UND COHRS 2004)


    Anton Bruckners Neunte Sinfonie d-moll nimmt in der Sinfonik des 19. Jahrhunderts eine Ausnahmestellung ein: Ausgehend von Beethovens Sinfonien als Modell (insbesondere der Eroica und der Neunten) bildet sie den Schlußpunkt einer lebenslangen, innovativen Auseinandersetzung mit dem Genre der Instrumentalsinfonie. Bruckner trieb darin Kühnheiten der Satztechnik und Harmonik auf den Grundlagen der Musiktheoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts in einzigartiger Weise bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts voran. Unglücklicherweise konnte er das Finale nicht mehr fertigstellen. Zudem begingen seine Nachlaßverwalter unverzeihliche Versäumnisse; Teile des Finales (darunter der Schluß) gingen infolgedessen verloren. Daher wird die Sinfonie meist als dreisätziges Fragment aufgeführt.


    Musikforschung und Kritik verweigerten über Jahrzehnte eine Auseinandersetzung: Lange hielt man den Eindruck aufrecht, vom Finalsatz seien nur unzusammenhängende Skizzen vorhanden. Erst die seit 1983 von dem Dirigenten und Komponisten Nicola Samale (Rom), dem Musikwissenschaftler John A. Phillips (Adelaide) und mir selbst unternommenen Quellenforschungen belegten, daß es sich bei den Manuskripten neben zahlreichen Skizzen vor allem um die erhaltenen Reste der im Entstehen begriffenen Partitur handelte. Bruckner hatte sie zwischen Mai 1895 und Juli 1896 in mehreren Arbeitsstufen ausgefeilt; davon zeugen etliche Partitur-Bogen, die ausgeschieden und durch spätere Stadien ersetzt worden waren. Er beendete die Konzeption ein halbes Jahr vor seinem Tod, konnte aber die Blasinstrumente nicht mehr fertigstellen. Eine überzeugende Ausarbeitung wurde 1985 in einer ersten Stufe von Nicola Samale und Giuseppe Mazzuca veröffentlicht und anschließend mehrmals eingespielt. 1992 erschien eine erste revidierte Neu-Ausgabe der Aufführungsfassung, mit Einverständnis der Autoren herausgegeben von John Phillips; 1996 wurden in der Dirigierpartitur einige kleine Retuschen vorgenommen. Ab 1996 wurde die Partitur von Benjamin-Gunnar Cohrs und Nicola Samale noch einmal grundlegend revidiert und stark umgearbeitet. Diese Neuausgabe wurde 2004 abgeschlossen und blieb bis 2005 unaufgeführt (siehe dazu weiter unten).


    Die komplexen, bei der Rekonstruktion verwendeten Methoden ließen sich hier kaum adäquat darstellen, wurden aber an anderer Stelle umfassend wissenschaftlich dokumentiert und publiziert. Hinweise auf den Inhalt der Lücken liefert eine Analyse der sie umgebenden Takte ebenso wie die Kenntnis von Bruckners wissenschaftlicher Tonsatz-Methodik, deren volle Tragweite bis heute von den meisten Musikologen übersehen wird. Gerade dieser Ansatz macht aber möglich, was bei wohl jedem anderen Komponisten ein vergebliches Unterfangen wäre, nämlich das Finale, wenn auch zwangsläufig in den Details spekulativ, so doch in seiner Gesamtheit schlüssig darzustellen. Die kleinen Löcher im Netz ließen sich aus den erhaltenen Skizzen und Vorarbeiten mit überraschend wenigen Fragezeichen schließen. Das fehlende Material wurde unter Verwendung von Bruckners eigenen Tonsatztechniken und dem Heranzug von Analogie-Vergleichen aus Bekanntem ‘synthetisiert’; von freier Nach-Komposition darf keinesfalls gesprochen werden.


    Im Finale fand Bruckner zu einer Form, die vom Sonatenmodell ausgeht, doch in großer Kühnheit und Originalität die motivischen Entwicklungen der ersten drei Sätze zu Ende führt und sich dadurch für das Verständnis der Sinfonie als unverzichtbar erweist. Das machtvoll daherschreitende, statische Hauptthema entzieht sich jeder Durchführbarkeit. Zugleich durchmißt es das Spektrum der zwölf chromatischen Töne und erhebt so allumfassenden Anspruch. Das zweite Thema, von Bruckner stets “Gesangsperiode” genannt, ist in einmaliger Weise direkt aus dem Hauptthema gewonnen; die sonst übliche Singseligkeit ist hier bewußt karg gehalten. Umso unvergeßlicher ist die Wirkung des dritten Themas, einer glanzvollen Auferstehung des von Bruckner im Adagio “Abschied vom Leben” genannten Chorals, begleitet von flammenden Violinfiguren. Doch zunächst verdämmert diese Vision wieder; noch ist der Schluß nicht erreicht. In der Flöte erscheint zaghaft das berühmte Eingangsmotiv aus dem Te Deum. Daraus sind wesentliche Teile der Durchführung gebaut—ein formales Indiz dafür, dass dies Motiv auch in der Coda eine zentrale Rolle spielen sollte. Anstelle einer regelrechten Reprise folgt eine wilde Fuge aus Elementen des Hauptthemas. Neu ist die Einführung eines ‘Epilogthemas’, das direkt aus der Triole des Hauptthemas der Sinfonie gewonnen ist. Die Gesangsperiode ist in der Reprise reichhaltiger; gegen Ende tritt eine Anspielung auf das Osterlied ‘Christ ist erstanden’ hinzu. Nach der Reprise des Choralthemas –nun mit der prägnanten Streicherfigur des Te Deum– greift Bruckner sein Epilogthema wieder auf. Es hätte wohl die Wiederkehr des Hauptthemas aus dem ersten Satz vorbereitet.


    Nach der von Bruckner selbst entworfenen Steigerung zu Beginn der Coda realisierten die Bearbeiter als ersten Höhepunkt eine Überlagerung aller vier Hauptthemen, die frühe Bruckner-Forscher in einer inzwischen wohl verlorenen Skizze gesehen haben wollen und die hier ein logischer Zielpunkt ist. Danach folgt in acht Takten das Choralthema –hier gewonnen aus Bruckners Streicherchoral in der Reprise der Gesangsperiode–, sowie eine achttaktige Ausarbeitung der aufsteigenden Choral-Skizze. Die Realisierung des Kadenz-Entwurfes korrespondiert mit dem Höhepunkt des Adagios und der Coda des Kopfsatzes. Danach folgt unvermittelt der letzte, von Bruckner skizzierte Orgelpunkt. Die Bearbeiter realisierten darüber als “Lob- und Preislied an den lieben Gott” eine Schlußsteigerung, die mit 37 Takten der Länge der Schlußbausteine der ersten drei Sätze entspricht und die verschiedene Hinweise aus dem Te Deum sowie dem sinfonischen Chor Helgoland (1893) auswertet. Dass Bruckners eigene Vision finaler Herrlichkeit mit ihm starb, ist unbestreitbar: Jede Aufführungsfassung zweiter Hand bleibt ein Provisorium und versteht sich als ‘work in progress’—es ist ja keineswegs ausgeschlossen, dass verlorenes Material zum Finale wieder ans Licht kommt. Eine derartige, mit Liebe und Sorgfalt erarbeitete Notlösung mag man aber vielleicht eher in Kauf nehmen, als das kühne Finale gänzlich verloren zu geben, von dem doch noch so viel erhalten ist—angesichts der Quellenüberlieferung ein kleines Wunder.


    Im Falle von Vervollständigungen zweiter Hand unvollendet überlieferter Werke geht der Geschmack des Publikums seltsame Wege: Manche konnten sich allmählich durchsetzen (Mozart/Süßmayrs Requiem; Mahler/Cookes Zehnte Sinfonie; Bartok/Serlys Bratschenkonzert; Elgar/Paynes Dritte Sinfonie), andere werden eher abgelehnt (Schubert/Newboulds ,Unvollendete‘ Sinfonien h-moll, E-Dur, D-Dur; Bach/Schulenbergs Contrapunctus XIV) oder spielen im Musikleben kaum eine Rolle (Liszt/Maxwells ,De profundis‘; Borodin/Glazunows Dritte Sinfonie; Caikovskij/Bogatryryevs Siebente Sinfonie). Dabei werden Argumente für und wider solche Versuche von der Musik-Kritik und Aesthetik ausgesprochen irrational diskutiert. Die Ergebnisse philologischer Studien spielen in solchen Debatten oft keine große Rolle. Das ist bemerkenswert, wenn man die sonstige Besessenheit der Kritiker vom "Notentext" oder sogenannter "werkgetreuer Widergabe" bedenkt.


    Sinnvoll wäre es, Aufführungsfassungen unvollendeter Werke von Fall zu Fall zu bewerten und für eine angemessene Diskussion individuelle Kriterien zu entwickeln. Dabei muß jedoch einiges grundsätzlich bedacht werden. Zunächst stellte schon der angesehene Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke heraus, daß Skizzen eines Komponisten optisch erst einmal eine Katastrophe sind, während hingegen Skizzen eines Malers sofort ohne weiteres vom Publikum rezipiert werden können: “Damit Musik überhaupt real erklingen, real vorhanden sein kann, muß sie in Partitur gebracht sein, muß der Kompositionsvorgang abgeschlossen sein. Dieser Zwang führt zum einen dazu, daß musikalische Fragmente in der Kunstästhetik ein viel geringeres Ansehen haben als Torsi aller anderen Künste. Zum anderen hat dieser von großen Musikern zuweilen stark als Last empfundene Zwang, daß Musik fertiggestellt sein muß, in vielen Fällen dazu geführt, daß Werke, die zwar fertiggestellt wurden, dennoch nicht ,vollendet‘ sind – übrigens im Deutschen ein sehr unpretentiöser Begriff: Wir sprechen von der ,Unvollendeten‘; die Engländer sind sehr viel nüchterner und nennen sie die ,unfinished‘, die un b e endete Sinfonie. Im deutschen Begriff ‘Vollendung’ ist nicht nur impliziert, daß da etwas zum Abschluß gebracht worden ist, sondern auch, daß es auf jeweils vollendete Weise zum Abschluß gebracht worden ist. Die Folge ist fast eine Hypostasierung eines Gegenstandes, der in der Sprache und in unserem begrifflichen Denken größer und radikaler ausfällt als in der Wirklichkeit.”


    In anderen Bereichen der Naturwissenschaften und Künste sind Rekonstruktionen weitaus mehr akzeptiert als im Bereich der Musik: In der Medizin sind Opfer, die Teile des Körpers verloren haben, dankbar für die plastische Chirurgie mit ihren modernen Transplantationstechniken. Auch in der forensischen Pathologie sind solche Verfahren von größtem Wert. Besonders anschaulich machte das eine beliebte Fernsehserie 1977 der breiten Öffentlichkeit verständlich: Gerichtsmediziner Dr. Quincy rekonstruierte in dem auf realer Grundlage basierenden Film “The Thigh Bone´s Connected to the Knee Bone...” anhand eines einzigen erhaltenen Oberschenkelknochens das vollständige Aussehen eines Mordopfers und kam dadurch dem Täter auf die Schliche. Solche Techniken sind auch in der bildenden Kunst und der Archäologie anerkannt: Wenn ein Gemälde oder eine Skulptur beispielsweise durch einen Säureanschlag beschädigt werden, tun Restauratoren ihr Möglichstes, den Originalzustand wieder herzustellen. Rekonstruiert und ergänzt werden auch archäologische Funde, Torsi von Statuen, Mosaike und Fresken, Schiffswracks, ja sogar ganze Schloß-, Kirchen- oder Tempelanlagen und Siedlungen.


    Der Dirigent, Komponist und Publizist Robert Bachmann hielt es deshalb in einem Interview auch bei Fragmenten in der Musik geradezu für eine Pflicht der Nachwelt, ein solches “kulturelles Erbe weiterzutragen und so weit zu sichern, wie das nach den künstlerischen Prämissen einer fundierten Aufführungspraxis erforderlich ist. [...] Eine akribische, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bewerkstelligende Rekonstruktion [...] ist nicht nur legitim, sondern das muß man tun, erst recht im Bereich der Musik, denn sie ist ein lineares Medium, das sich in der Zeit manifestiert. Man sollte deshalb ein Werk nicht abbrechen lassen, wenn man es weitgehend zu Ende gebracht vor sich liegen hat, und wenn man durch gesicherte Erkenntnisse weiß, wie der Schluß im Entwurf hätte sein sollen.” Hier sprach Bachmann bereits ein wichtiges Kriterium für eine posthume Vervollständigung an: Wie bewertet man das erhaltene Originalmaterial, und ist genug für eine ausreichend gesicherte Ergänzung vorhanden? Weitere Kriterien könnten sein: Handelt es sich um ein Fragment durch mangelnde Überlieferung oder durch biographische Umstände (Krankheit, Tod)? Und vor allem: Hatte der Komponist selbst explizit die Absicht, das Werk zu vollenden oder nicht?


    Bruckners Neunte hält einer Überprüfung anhand solcher Kriterien in allen Punkten mühelos stand: Er arbeitete mit aller Kraft über ein Jahr lang an dem umfangreichen Satz, der den Manuskripten nach den Kopfsatz der Neunten an Länge noch übertroffen hätte. Er verfügte sogar selbst, im Falle seines vorzeitigen Todes sein 1884 beendetes Te Deum ersatzhalber als Finale zu verwenden – eine Verfügung, für die man eigentlich dankbar sein sollte: Welcher Komponist hat in einer solchen Situation schon derartige Vorsichtsmaßnahmen getroffen? Dies zeigt, wie wichtig ihm eine viersätzige Darbietung der Neunten mitsamt eines finalen ,Lobgesangs‘ war. Robert Bachmann kritisierte mithin völlig zu Recht in scharfen Worten den üblichen Umgang mit der Neunten in der Musikpraxis: “Aufgrund dessen, was wir von der Geschichte des Finalsatzes kennen, mußte er unbedingt in irgendeiner Weise aufführungsfähig hergerichtet werden. Es ist nachgerade ein barbarischer Akt, es bei dieser unglücklichen Situation zu belassen und zu behaupten, das Werk wäre mit dem Torso der drei Sätze "vollendet".” Doch leider hat sich diese Praxis so fest eingebürgert, daß es nur selten zu Aufführungen der Neunten mitsamt Te Deum kommt – vom Einbezug einer Aufführungsfassung des Finales ganz zu schweigen.


    Vervollständigungs-Versuche des Finale-Fragments sind in der "musikalischen Öffentlichkeit" nachwievor umstritten, obwohl grundlegende Einzelheiten des in Teilen verloren gegangenen Finalsatzes in Text- und Noten-Veröffentlichungen, CD-Einspielungen und Aufführungen nunmehr seit Mitte der Achtziger Jahre vorliegen. Besonderer Bedeutung kommt dabei zweien im Herbst 2003 erschienenen internationalen CD-Einspielungen zu – der Ersteinspielung der von mir vorgelegten kritischen Neuausgabe der ersten drei Sätze mitsamt der (lückenhaft belassenen) ,Dokumentation des Finale-Fragments‘ von John A. Phillips (1999), gespielt von den Wiener Philharmonikern unter Nikolaus Harnoncourt sowie der komplettierten Aufführung der Neunten einschließlich der Vervollständigung durch Samale et al. (1992) mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Johannes Wildner. Zur gleichen Zeit erschien außerdem der Musik-Konzepte-Band 120-22 ,Bruckners Neunte im Fegefeuer der Rezeption‘, der die jüngeren Ergebnisse der Quellenforschung zusammenfaßt und verschiedene Aufführungsfassungen wie auch das erhaltene Material des Finales im Particell vorstellt.


    Zu diesen drei Publikationen sind allein im Deutsch- und Englisch-sprachigen Kulturraum zwischen Sommer 2003 und 2004 weit über 100 Berichte und Rezensionen erschienen [als word 2.0 Dokument per e-mail von mir erhältlich: bruckner9finale@web.de], in denen sich, wie man leider konstatieren muß, die Musikkritik überwiegend ein Armutszeugnis ausgestellt hat: Nur ausnahmsweise haben sich die Autoren gründlich informiert – wenn nicht überhaupt angesichts von Argumenten Für und Wider des Finalsatzes auf jegliche Einschätzung der künstlerischen Leistung völlig verzichtet wurde. In der Regel wird eine Debatte der Fakten weiterhin verweigert; stattdessen gibt es eine deutliche Tendenz, auf aesthetische Grundsatzerwägungen auszuweichen und Schein-Argumente auf der Ebene einer Stellvertreterdebatte anzusiedeln. Besonders auffällig: Erst die Tatsache, daß der angesehene Nikolaus Harnoncourt mit den Wiener Philharmonikern – quasi den Gralshütern abendländischer Orchestertradition – das Finale der Neunten aufgeführt und eingespielt hat, machte den Satz überhaupt erst "salonfähig": Über die Hälfte der Berichte sind allein dazu erschienen, und kaum ein Kritiker wagte in diesem Fall mehr, das Niveau von Bruckners eigener Musik oder den grundsätzlichen Wert der Dokumentation in Frage zu stellen.


    Dem entgegen steht die Tatsache, daß die immerhin seit 1994 in der Gesamtausgabe erscheinenden Quellen zur Neunten einschließlich Neuausgabe und kritischem Bericht noch immer so gut wie gar nicht rezensiert oder in Fachkreisen öffentlich diskutiert worden sind – ähnlich wie bereits 1934 der Band ,Entwürfe und Skizzen‘ von Alfred Orel, der bereits den größten Teil des Finale-Materials enthielt. Es dürfte vielmehr noch Jahre dauern, bis die hier gelieferten Informationen eine gewisse Verbreitung finden – wenn das weitgehende Desinteresse der Rezeption nicht ohnehin Ausdruck einer Kapitulation vor der Über-Fülle an neuen Informationen und Material zum Thema darstellt: Sogar die renommierte Bruckner-Forscherin Elisabeth Maier legte im Juni 2004 in einer Rezension ganz unverhohlen und sehr entlarvend nahe, daß es sicher nicht wenige Kollegen gäbe, “die sich nicht durch die insgesamt zehn Bände zur Neunten [...] durchackern können oder wollen.”


    Auch die 1992 veröffentlichte Vervollständigung von Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca hat es nicht leichter: Trotz beinahe 40 Aufführungen und Produktionen bis 2003 selbst in bedeutenden Metropolen wie Amsterdam, Brüssel, London, Moskau und Tokyo hat sich zumindest der gehobene Musikbetrieb noch nicht dafür interessiert. Sogenannte Star-Dirigenten lassen in der Regel die Finger vom Finale – warum dies so ist, sei hier dahingestellt. Als prominenteste Dirigenten der Aufführungsfassung wären bislang wohl Philippe Herreweghe und Peter Gülke zu nennen. Zwar finden Kritiker im Falle der Wiener Philharmoniker unter Harnoncourt manchmal informiert-einsichtige Worte, oft genug allerdings faktisch kaum reflektierte Lobgesänge. Die Rezensionen zur Naxos-Einspielung zeigen jedoch die seit langem bekannten Vorurteile auf – oft die Kritik an der Vervollständigung dazu benutzend, die künstlerische Qualität des live-Mitschnitts gleich mit zu erledigen, zum Teil gar mit beleidigenden Ausfällen und persönlicher Diffamierung.


    Ein abenteuerliches Spagat des Wiener Kritikers Walter Dobner bringt das naive Festhalten der Kritik am liebgewordenen Klischee auf den Punkt. In den Mitteilungsblättern der Bruckner-Gesellschaft resümierte er im Dezember 2003: “Trotzdem ist dieser von Harnoncourt gewählte Weg, aufzuführen, was vorhanden ist und daraus Perspektiven zu erschließen, nicht unproblematisch. Wird doch der Eindruck erweckt, Bruckners Neunte wäre unvollendet, was sie trotz ihrer drei Sätze ebensowenig ist [sic!] wie andere unvollendete Werke”... Zudem haben auch die Musiker, wie Harnoncourt in seiner Einführung herausstellte, noch keinerlei Spielerfahrung mit dem vierten Satz, und so ist es in gewisser Weise sicher zu früh, schon über Konsequenzen der Veröffentlichung des Finales für die Rezeption der Neunten zu reden. Andrerseits ist auch klar, daß noch enorme Aufklärungsarbeit geleistet werden muß, wenn man Bruckners eigene, von der Kritik immer noch hinweg interpretierte Absichten mit der Neunten begreifbar machen möchte.


    Das Publikum hingegen reagiert überwiegend positiv auf die Möglichkeit, die bisher verloren geglaubte Musik des Finales klingend erleben zu dürfen. Davon zeugen zahlreiche Zuschriften ebenso wie verschiedene Äußerungen gegenüber den Herausgebern nach Konzerten oder in Foren des Internet. Stellvertretend möge hier Gerd Faßbender aus Mönchengladbach zu Wort kommen, der im Sommer 2004 schrieb: “Mein Anliegen ist es, Ihnen und Ihrem Mitarbeiterteam, die Sie das Finale der 9. Sinfonie rekonstruiert haben, einmal von ganzem Herzen zu danken für diese wundervolle Arbeit. Wie alle Musikenthusiasten und Brucknerverehrer war auch ich immer der Meinung, die 9. Sinfonie würde für ewig unvollendet bleiben, was in gewisser Weise ja auch noch zutrifft. [...] Ich kann Ihnen kaum beschreiben, was beim Anhören der vollständigen Fassung in mir vorging. Ich hatte schon viel über die ursprünglichen Pläne Bruckners mit diesem Finale gelesen. Was jedoch jetzt erklang, war einfach hinreißend herrlich, vor allem der Schluß, der nach dem scheinbaren Zusammenbruch sich aus dem Nichts erhebt zu einer Schönheit, die jeden Musikhörer einfach bewegen muß. Welche Rolle spielt es da noch, daß nicht alles zu 100% von Bruckner stammt? Ganz unvoreingenommen: Wüsste man nicht, daß Bruckner das Finale nicht hat vollenden können, man würde nicht merken, daß es sich bei der Musik, die jetzt vorliegt, um eine rekonstruierte, also nicht ganz authentische Fassung handelt, so kongenial haben Sie und Ihre Mitarbeiter den Brucknerschen Ton getroffen. Ich wünsche Ihrer Arbeit jetzt vor allem viele Aufführungen, denn ich kann es mir nicht vorstellen, daß die Herren Dirigenten an dieser Finalfassung vorbeikommen können, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, besserwisserisch zu handeln, wenn sie an der bisherigen dreisätzigen Fassung festhalten. Das Te Deum, wie von Bruckner gewünscht, wird eh nie als Finalsatz gespielt. Aber hier wäre ja wirklich eine Chance, dem breiten Musikpublikum die Herrlichkeiten des ursprünglichen Finalsatzes nahezubringen.” Nur wenige professionelle Kritiker konnten sich bisher in ähnlich enthusiastischer Weise mit der Aufführungsfassung des Finales anfreunden...


    Wir haben im übrigen berechtigte fachliche Kritik an unserer Aufführungsfassung durchaus ernst genommen und schon seit 1992 verschiedene Korrekturen angebracht. Ich selbst hatte überdies die Gelegenheit, das Finale bereits mit verschiedenen Orchestern (Philharmonia Hungarica, Royal Flanders Philharmonic, Janacek Philharmonie Ostrava) aufführen und praktische Erfahrung damit sammeln zu können. Zu diesen Gelegenheiten wurden verschiedenene Varianten ausprobiert und weiterentwickelt. Nach meiner Aufführung der komplettierten Neunten in Gmunden (2002) wurde die Partitur nochmals in zahlreichen Details diskutiert und weiter ausgefeilt. Auch die Quellen wurden einer neuen Durchsicht unterzogen, was zu überraschenden neuen Erkenntnissen führte. Als Resultat dieses langjährigen Prozesses haben Samale und ich schließlich anläßlich von Bruckners 180. Geburtstag am 4. September 2004 eine kritische Neu-Ausgabe der Aufführungsfassung vorgelegt. (Dr. Phillips war daran auf eigenen Wunsch und aus persönlichen Gründen nicht mehr beteiligt.)


    Die Neu-Ausgabe hat das Ziel, der von manchen Kritikern angemerkten Blockhaftigkeit gegen Ende entgegenzuwirken und den Satz durch verschiedene Eingriffe und gründliche Überarbeitung der Ergänzungen noch stärker zu einem einheitlich wirkenden Ganzen zusammenzufügen. Des Weiteren ist es nunmehr gelungen, zwei der durch den Verlust einzelner Partiturbogen entstandenen bisherigen Lücken im Verlauf von Exposition und Fuge vollständig aus bisher unberücksichtigten Originalskizzen zu schließen. Auch Tempi, Dynamik und Artikulation wurden aufgrund der Erkenntnisse zur Aufführungspraxis bei Bruckner – die im Rahmen meiner Studien für die Neuausgabe der ersten drei Sätze und den Revisionsbericht gewonnen wurden – gründlich überarbeitet, um ein noch stil-näheres Ergebnis zu erzielen.


    Damit erhöht sich der Gesamtanteil originaler Musik deutlich: Von den 665 Takten dieser Neu-Ausgabe sind 554 Takte von Bruckner selbst (208 Takte fertige, 224 Takte noch unvollständige Partitur sowie 122 Takte Verlaufsentwürfe). Von den ergänzten 111 Takten konnten sogar noch 68 aus der Reihung, Wiederholung, Sequenzierung oder Transposition von Originalmaterial gewonnen werden; nurmehr 43 Takte wurden von den Herausgebern ohne direkte Vorlage synthetisiert, weniger als zwei Drittel des Ganzen nachträglich instrumentiert. Diese 111 Takte entsprechen ca. 17% des Finale bzw. 5,4 % der Sinfonie oder gerade einmal 4 Minuten Musik. Die unternommenen Rekonstruktions- und Ergänzungsarbeiten fallen also weit geringer aus als vergleichsweise diejenigen Franz Xaver Süßmayrs an Mozarts Requiem KV 626: Von Mozart liegen lediglich 81 Takte fertig instrumentiert sowie 596 Takte in Vokalsatz und Generalbaß vor. 187 der 864 Takte (=ca. 22% oder 11 Minuten Musik) wurden hingegen von Süßmayr komponiert, 783 Takte – also fast das gesamte Werk – von ihm orchestriert. Doch ungeachtet dieses hohen Fremdanteils ist Mozart/Süßmayrs Requiem ausgesprochen populär; mithin wird in Sachen Bruckner mit zweierlei Maß gemessen.


    Die neue Partitur der Aufführungsfassung erscheint mitsamt eines detaillierten Kommentars in Deutsch und Englisch, zahlreichen Notenbeispielen und Tabellen 2005 käuflich in der Musikproduktion Höflich, die ein breites Sortiment bisher vergriffener Partituren in lizensierten Nachdrucken anbietet. Damit wird die Aufführungsfassung des Finales erstmals einem breiten Publikum direkt und mühelos zugänglich, einem Wunsch des bekannten Bruckner-Forschers und Autors Prof. Dr. Harry Halbreich in einem Brief an die Herausgeber folgend: “Ich hatte Jahre lang Bedenken über das Unternehmen und eigentlich über den höchst problematischen Satz überhaupt. Jetzt aber scheint mir die so lange ersehnte Geschlossenheit und Einheit weitgehend erreicht [...] – musikalisch und geistig endlich ein befriedendes Ganzes. Kurzum: ich glaube, mit dem heute vorliegenden Quellenmaterial kann man kaum noch weiterkommen, es sei denn, daß neues Material noch einmal auftaucht – unwahrscheinlich, aber nicht ganz unmöglich. Jetzt ist eine Aufführung aller vier Sätze mit Minimalverlust an Spannung und Einheitsgefühl endlich keine Utopie mehr. Diese letzte Fassung muß nun dringend gedruckt und der Musikpraxis zur Verfügung gestellt werden. Viel Glück damit! Mit Bewunderung, Harry Halbreich.”



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    III. PARTITUREN UND AUFFÜHRUNGSMATERIALE


    Bruckner, Anton: IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet). Vervollständigte Aufführungsfassung von Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca (1983–1991): kritische Neu-Ausgabe (1996–2004). Studienpartitur vorgelegt von Nicola Samale & Benjamin-Gunnar Cohrs, mit Kommentar (D/E) von B.-G. Cohrs. Repertoire Explorer Study Score 444, Musikproduktion Höflich, München 2005. [Bezug des Aufführungsmaterials und Konditionen: Artium, Postfach 10 75 07, D-28075 Bremen, e-mail: bruckner9finale@web.de; artiumbremen@yahoo.de]


    Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll (1. Satz – Scherzo & Trio – Adagio), kritische Neuausgabe unter Berücksichtigung der Arbeiten von Alfred Orel und Leopold Nowak, Partitur und Stimmen, Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien 2000 [ISMN M - 50025 - 214 - 6]


    Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll (1.Satz – Scherzo & Trio – Adagio), kritischer Bericht zur Neuausgabe, Wien 2001 [ISMN M - 50025 - 222 - 1; im Buchhandel: ISBN 3 - 900270 - 53 - 8]


    Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Scherzo & Trio, Studienband zum 2. Satz, Wien 1998 [ISMN M - 50025 - 182 - 8]


    Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, 2 nachgelassene Trios zur IX. Symphonie d-moll (mit Viola-Solo), Aufführungsfassung, Partitur, kritischer Kommentar und Stimmen, Doblinger, Wien 1998 (Nr. 74015, ISMN M-012-18489-8]


    Phillips, J. A. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet), Rekonstruktion der Autograph-Partitur nach den erhaltenen Quellen, Studienpartitur, Wien 1994/99 [ISMN M - 50025 - 211 - 5]


    Phillips, J. A. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet), Dokumentation des Fragments, Partitur einschl. Kommentar & Stimmen, Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien 1999/2001 [ISMN M - 50025 - 232 - 0]


    Phillips, J. A. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet), Faksimile-Ausgabe sämtlicher autographen Notenseiten, Wien 1996 [ISMN M - 50025 - 133 - 0]



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    IV. ERGÄNZENDE LITERATUR (AUSWAHL)


    Eine vollständige Bruckner-Bibliographie von Renate Grasberger hat der Musikwissenschaftliche Verlag Wien veröffentlicht; die Musik-Konzepte-Bände zu Anton Bruckner (Heft 23/24 sowie Heft 120/121/122) enthalten eine umfangreiche Auswahl-Bibliographie.


    Backes, D. M.: Die Instrumentation und ihre Entwicklung in Anton Bruckners Symphonien, 2 Bd., Mainz 1993.


    Bruckner Symposium Linz 1996 (Bericht): Fassungen – Bearbeitungen – Vollendungen, Linz-Wien 1998.
    Cohrs, B.-G.: Licht am Ende des Tunnels? Bruckners Sinfonien und ihre Fassungen auf CD, in: Klassik Heute 4/1998, S. 30–35.


    Doebel, W.: Bruckners Symphonien in Bearbeitungen. Die Konzepte der Bruckner-Schüler und ihre Rezeption bis zu Robert Haas, Tutzing 2001


    Grandjean, W.: Metrik und Form bei Bruckner. Zahlen in den Symphonien von Anton Bruckner, Tutzing 2001


    Harrandt, A. & Schneider, O. (Hrsg.): Anton Bruckner, Briefe 1852–1886, Wien 1998.


    Harrandt, A. & Schneider, O. (Hrsg.): Anton Bruckner, Briefe 1887–1896, Wien 2003.


    Harten, U. (Hrsg.): Anton Bruckner. Ein Handbuch, Salzburg 1996.


    Hawkshaw, P. F.: The Manuscript Sources for Anton Bruckner´s Linz Works: A Study of his Working Methods from 1856 to 1868, Dissertation, Columbia University, New York 1984.


    Howie, C., Jackson, T. & Hawkshaw, P. (Hrsg.): Perspectives on Bruckner, Aldershot 2001.


    Jackson, T. & Hawkshaw, P.: Bruckner Studies, Cambridge 1997.


    Leibnitz, Th.: Die Brüder Schalk und Anton Bruckner, dargestellt an den Nachlaßbeständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Tutzing 1988.


    Maier, E. (Hrsg.): Verborgene Persönlichkeit. Anton Bruckner in seinen privaten Aufzeichnungen, 2 Bd., Wien 2001.


    Metzger, H.-K. & Riehn, R. (Hrsg.): Anton Bruckner, Musik-Konzepte, Heft 23/24, München 1982.


    Palmer, P., Howie, C. & Cox, R. (Hrsg.).: The Bruckner Journal, Nottingham 1997f.


    Phillips, J. A.: Bruckner´s Ninth Revisited: Towards the Re-Evaluation of a Four-Movement Symphony, 2 Bd., Dissertation, Adelaide 2002.


    Scheder, Fr.: Anton Bruckner Chronologie, 2 Bd., Tutzing 1996.


    Scheder, Fr.: Anton Bruckner Chronologie. Nachtrag 1996–1998. Addenda und Corrigenda, Nürnberg 1998.


    Scheder, Fr.: Anton Bruckner Chronologie. Die Jahre 1897 bis 1999, 2 Bd., Nürnberg 1999.


    Wessely, O. u. a. (Hrsg.): Bruckner-Jahrbuch 1989/90, Linz-Wien 1992.



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    V. RUNDFUNK- UND CD PRODUKTIONEN VON AUFFÜHRUNGSFASSSUNG (SAMALE ET AL.) UND DOKUMENTATION DES FRAGMENTS (PHILLIPS)


    16. & 17. 2. 1993, Linz, Brucknerorchester Linz, Kurt Eichhorn [Studio-CD-Produktion CAMERATA/Tokyo, Nr. 30 CM 275~6]


    19. 11. 1996, Manchester, BBC Northern Philharmonic, Vassily Sinaisky [BBC Rundfunkproduktion; Erstsendung am 31. 12. 1996]


    19. – 22. 4. 1998, Recklinghausen/Gelsenkirchen/Kamen, Neue Philharmonie Westfalen, Johannes Wildner [Live-CD-Produktion SonArte, Nr. SP 13; Vertrieb: Disco Center Kassel; Wiederveröffentlichung bei NAXOS 2003, CD Nr. 8.55933-34]


    15. 8. 1999, Amsterdam, Het Gelders Orkest, Lawrence Renes [Mitschnitt des Niederländischen Rundfunks; Erstsendung am 31. 8. 1999]


    13. & 14. 3. 2000, Bremen, Philharmonisches Staatsorchester Bremen, Günter Neuhold – mit Eingriffen des Dirigenten – [Mitschnitt Deutschlandradio Köln]


    20. 10. 2002, Würzburg, Münchner Rundfunkorchester, Sebastian Weigle – mit Eingriffen des Dirigenten – [Mitschnitt des Bayerischen Rundfunks und CD-Archivproduktion des BR]


    DOKUMENTATION DES FINALE-FRAGMENTS (ED. PHILLIPS 1999/REV. 2001)
    Uraufführung: 13. 11. 1999, Wien, Wiener Sinfoniker; Sprecher und Dirigent: Nikolaus Harnoncourt – ohne Coda-Skizzen – [Mitschnitt des ORF]


    Deutsche Erstaufführung und erste vollständige Aufführung: 22. 4. 2001, Düsseldorf, Philharmonia Hungarica; Sprecher und Dirigent: Benjamin Gunnar Cohrs


    14., 15. & 17. 10. 2002, Salzburg, Wiener Philharmoniker; Sprecher und Dirigent: Nikolaus Harnoncourt – ohne Coda-Skizzen – [Mitschnitt des ORF]


    Amerikanische Erstaufführung: 16., 17. & 18. 11. 2002, Houston, Houston Symphony, Hans Graf – ohne Coda-Skizzen –


    September 2002, Rundfunksinfonieorchester Berlin, Peter Hirsch – bearbeitet und gekürzt vom Dirigenten; ohne Coda-Skizzen; ohne Textkommentar – [Produktion von Deutschlandradio Berlin, Erstsendung am 2. 1. 2003, CD: Sony SK 87316]



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    VI. LINKS


    Bei Yahoo gibt es schon seit 1999 eine sehr aktive Newsgroup zum Thema Bruckner. Sie finden Sie im Web unter


    http://groups.yahoo.com/group/antonbrucknerclub



    Die Musikproduktion Höflich hat in der Reihe Repertoire Explorer zahlreiche vergriffene Partitur-Raritäten in käuflichen Neuauflagen veröffentlicht. Dort sind auch Partitur und Kommentar der Neuausgabe des Finales erhältlich. Homepage:


    http://www.musikmph.de


    Information:


    http://www.musikmph.de/musical…tion/informatdeutsch.html


    Einen interessanten Programmhefttext zu Bruckners Neunter von Christoph Schlüren finden Sie unter folgender Adresse:


    http://www.musikmph.de/rare_mu…/A-E/bruckner/5.html?nr=5



    Das British Bruckner Journal veröffentlicht zahlreiche interessante Beiträge zum Thema Bruckner. Interessenten finden es auch im Internet:


    http://www.zyworld.com/BrucknerJournal/



    Eine der umfangreichsten und best-recherchierten Bruckner-Discographien bietet der Amerikaner John Berky unter folgender URL:


    http://home.comcast.net/~jberky/BSVD.htm


    Besonders interessant: Gegen Erstattung der Selbstkosten macht Berky, der eine der umfangreichsten Bruckner-Sammlungen auf allen möglichen Tonträgern hat, von vergriffenen Aufnahmen CD-Kopien – eine einmalige Gelegenheit, an besondere Schätze zu bekommen. Die Discographie wird beständig aktualisiert und ist eine konkurrenzlose Quelle und Übersicht erhältlicher Bruckner-Aufnahmen (einschließlich detaillierter Angaben und Timing der einzelnen Sätze). Auf dieser Homepage gibt es auch einen ausführlichen englischen Artikel sowie Tabellen, Notenbeispiele und Faksimile zur Neuausgabe des Finales.


    Die Bruckner-Gesamtausgabe im Musikwissenschaftlichen Verlag Wien ist unter folgender Anschrift erreichbar:
    MWV, c/o Angela Pachovsky, Dorotheergasse 10, A-1010 Wien.
    Homepage:


    http://www.mwv.at


    **ENDE**

  • Lieber Herr Cohrs


    Ich bin begeistert, daß wir mit Ihnen einen so erstrangigen Bruckner-Fachmann im Forum haben... Ihren obigen Text muß ich nochmal mit größerer Konzentration lesen.


    Harnoncourts jüngste Aufnahme finde ich erfreulich und aufschlußreich, aber es ist eben doch nur ein "Werkstattkonzert", das nicht den Eindruck vermittelt, eine vollständige Symphonie gehört zu haben, gerade bei der umgestellten Reihenfolge...


    Ich halte Bruckners Neunte auch mit drei Sätzen für eine vollwertige Sinfonie, fände es noch besser, wenn man als vierten Satz tatsächlich öfter das Te Deum aufführen würde, was freilich ein schmerzhafter zusätzlicher Kostenfaktor wäre. Bruckners Idee, das Te Deum als Vervollständigung zu benutzen halte ich für wundervoll, gerade bei einer Sinfonie, die "dem lieben Gott" gewidmet ist und somit zu einem vollständig optimistischen Schluß findet.


    Vielleicht können wir ja in einem Nachbarthread ein bisschen über unvollendet - vollständige Werke philosophieren.


    Gruß, Markus


    Nachtrag: Nachdem ich jetzt nochmal die "Werkstatt"-Vorführung der Fragmente des Finalsatzes mit Harnoncourt gehört habe, bin ich sehr neugierig auf die volle Vervollständigung des Finalsatzes und werde mir die entsprechende Aufnahme besorgen (Naxos). Man sollte der Vervollständigung eine Chance geben, sie hat sie sicher genau so wie die Vervollständigung von Mahlers Zehnter und Bergs Lulu verdient...


    p.s.: Die Booklet-Texte zu den Aufnahmen von Bruckners Fünfter und Neunter (Harnoncourt, BMG) sind optimal, so Ausführliches, Aktuelles, Tiefgehendes möchte man öfter lesen im CD-Booklet, danke, Herr Cohrs.


    Und noch was: welches "österreichische Tauflied" meint Harnoncourt im Choral des Finalsatzes der Neunten erkannt zu haben?

  • ThomasBernhard:


    Zitat

    Ich halte Bruckners Neunte auch mit drei Sätzen für eine vollwertige Sinfonie, fände es noch besser, wenn man als vierten Satz tatsächlich öfter das Te Deum aufführen würde, was freilich ein schmerzhafter zusätzlicher Kostenfaktor wäre. Bruckners Idee, das Te Deum als Vervollständigung zu benutzen halte ich für wundervoll, gerade bei einer Sinfonie, die "dem lieben Gott" gewidmet ist und somit zu einem vollständig optimistischen Schluß findet.


    Bruckners Idee, das TE DEUM als Schlussatz einzusetzen, macht vor allem auch deshalb Sinn, weil etliche Themen aus demselben durch das unvollständige Finale der. 9. geistern. DAGEGEN sprechen die wohl schon angedeuteten Kostengründe und auch die Tatsache, daß das Werk, das Bruckner sebst als "Krone meines Schaffens" bezeichnete, beim Publikum bis heute noch nicht so recht angekommen scheint...

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Meine Lieben,


    Wen man Eure Statements liest, merkt man, daß ihr Bens Einführungsbeitrag, der ja meihr ein wissenschaftliche Bericht ist, lediglich überflogen habt (bei der Hitze und Nachrichtenflut derzei im Forum, verzeihlich).
    Die Kernsätze (aus meiner Sicht) waren ja jene:


    Zitat

    Die insgesamt wohl mehr als 600 Takte umfassende Komposition war ursprünglich viel weiter gediehen als erhalten und offenbar bis zum Sommer 1896 weitgehend fertig.


    Zitat

    In diesem Thread soll es primär um unsere Aufführungsfassung gehen, die als bisher einzige auf gründlicher Quellenforschung beruht



    Zitat

    Insbesondere stellte sich heraus, dass der 4. Satz, an dem Bruckner 1895/96 arbeitete, wohl noch weitgehend fertig geworden ist, aber nach seinem Tod fragmentiert wurde.



    *Ich habe das Wort Forum durch Thread ergänzt. Der Text stand ursprünglich in einem eigenem Forum, das aber aufgelassen wurde.


    Ben hat in seiner Eigenschaft als Musikwissenschafter (er ist zudem auch Kritiker und Dirigent) an der letzen Rekonstruktion mitgearbeitet und erklärt hier einige Aspekte dieser Rekonstruktion, die ja weitgehend das Aufspüren verschütteter Quellen (Wiederbeschaffung von in alle Welt verstreutem Notenmaterial) war, und nur in relativ geringem Maß Rekonstruktion. Die genauen Zuisammenhänge sind im Beitrag minuziüs erklärt.


    Tatsächlich ist die Durchsetzung solch einer archäologische Arbeit ein zwiespätliges Unterfangen: Von Fachleuten gerühmt , finden solche Versionen doch nur schwer Eingang in die alltägliche Aufführungs und Aufnahmepraxis.


    Hier ist natürlich das Interesse groß warum das so sein mag.


    Zitat

    —Wie stehen Sie persönlich zum Versuch, den Finalsatz posthum zu vervollständigen?
    —Warum meiden viele große Dirigenten solche Vervollständigungen?
    —Welche Hörerfahrungen haben Sie mit Bruckners Neunter?
    —Wie gefallen Ihnen Einspielungen von Vervollständigungen?
    —Haben Sie Kritik, Anregungen, Gedanken zur Aufführungsfassung mitzuteilen?


    Warum Zitiere ich hier sovieles, was sowieso zwei Beiträge weiter oben steht ?
    Ganz einfach. Gestern wurden hier 170 Beiträge geschrieben, Vorgestern waren es 140, es gab schon Tage mit über 200 !!
    Da ist nur verständlich, daß man die Beiträge "überfliegt", ich mach das aus Zeitmangel leider auch.
    Hier aber haben wir ein Thema, das sehr kostbar ist. Man stelle sich vor wir hätten Gelegenheit gehabt mit den Restauiratoren von Mozarts Requiem zu diskutieren - Im Falle Bruckners 9. haben wir es.


    Es ist mir natürlich bewußt, daß es ein sehr spezifisches Thema ist, und auch Ben ist das natürlich klar. Aber deshalb hat er ja auch schon einge Fragen an Euch gestellt, die durchaus von jedem Musikfreund beantwortet werden können, so z.B. warum Dirigenmten (und nicht nur sie) solche Vervollständigungen meiden.... (?)


    Freundliche Grüße
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ben cohrs:


    Zitat

    —Wie stehen Sie persönlich zum Versuch, den Finalsatz posthum zu vervollständigen? —Warum meiden viele große Dirigenten solche Vervollständigungen? —Welche Hörerfahrungen haben Sie mit Bruckners Neunter? —Wie gefallen Ihnen Einspielungen von Vervollständigungen? —Haben Sie Kritik, Anregungen, Gedanken zur Aufführungsfassung mitzuteilen?


    1.
    Grundsätzlich positiv, denn das überlieferte Material ist vollständiger
    und komplexer, als die Erst-Herausgeber des Werkes glauben machten !


    2.
    Im Falle Bruckners kann man die Frage dahingegend ergänzen: "warum meiden viele, auch weniger große Dirigenten, die Sinfonien 1 und 2 ?
    Mit dem Mythos des "Unvollendeten" lässt sich offenbar besser Geschäft machen und jene Maestri, denen die Selbstdarstellung das wichtigste am Musikmachen ist, weisen es wohl brüsk von sich, ein Werk das im Kanon
    wertebedingter Zuordnungen seinen Platz bereits vorgeschrieben bekam, im Kern neu zu überdenken und dann ggf. auch neu zu interpretieren !


    3.
    Hörerfahrungen habe ich live, natürlich nur die besagten 3 Sätze, mit Abbado,Giulini, Masur und Wand. Masur war in jeder Hinsicht indiskutabel, wand halte ich, besonders als Brucknerdirigenten, für maßlos überschätzt, Abbado und Giulini kamen meiner "platonischen Idee" des Werkes am nächsten.


    4.
    Die mir vorliegenden Einspielungen von Vervollständigungen sind jene unter Inbal (Mazzuca/Semele) aus 1988 und die hier an anderer Stelle
    schon erwähnte "Werkstatt-Einspielung" unter Harnoncourt, welche ich bevorzuge, weil der Dirigent einem Klangabbild auf der Spur ist, das mir, für den letztlich hybriden Charakter des Werkes angemessen scheint !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • auch für den Mut, als Wissenschaftler ein öffentliches Forum zu betreten. Ich bin sogenannter 'reiner Musikliebhaber', kann also zur Exegese der Bruckner-Sinfonie nichts Fachliches beitragen. Mein erstes Hörerlebnis mit Bruckner war im Alter von 17 Jahren das Scherzo der Neunten im Rundfunk; eine meiner ersten Klassik-Schallplatten dann die Aufnahme mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter Joseph Keilberth.


    Nach meinem 'Gefühl' steht die brucknersche Sinfonik vorerst und immer noch außerhalb der Bilder, die der Mensch von der Welt hat. Sie sieht auf eine eigentümliche Weise vom Menschen ab, ohne ihn dabei aus dem Blick zu verlieren. Sie ist die Brücke, die zum Verständnis des Welträtsels führt.


    —Wie stehen Sie persönlich zum Versuch, den Finalsatz posthum zu vervollständigen?
    Sehr positiv, wenn er sehr ernsthaft und intellektuell (!!), ohne vordergründiges kommerzielles Interesse und ohne auf den Ruhm zu schielen unternommen wird. Nach der Achten und deren Finale beunruhigen schon die ersten drei Sätze der Neunten; die Ahnung des Finalsatzes der Neunten ist gleichermaßen schrecklich wie Neugier weckend.


    —Warum meiden viele große Dirigenten solche Vervollständigungen?
    Viele werden vermutlich unbewußt von dem Gefühl geleitet, die Vervollständiger seien Imitatoren und Fälscher. Es gilt das Diktum des Originalen. Bei Bruckner vielleicht aus den bekannten Gründen besonders. Außerdem mag bei den 'Großen' in der Frage leicht so eine Art Gruppenzwang herrschen, sowas nicht zu machen.


    —Welche Hörerfahrungen haben Sie mit Bruckners Neunter?
    Nun, die besänftigende und tröstliche Oboe, die aus dem Trümmerszenario des gewaltsam niedergefahrenen tiefen Blechs im Adagio erwächst.


    —Wie gefallen Ihnen Einspielungen von Vervollständigungen?
    Ich kenne nur die von Yoav Talmi mit der London Philharmonic in der Komplettierung von William Carragan. Sie überzeugt mich nicht, was auch an der Interpretation liegen mag. Allerdings enthält sie zum Vergleich die damals bekannten Noten.


    —Haben Sie Kritik, Anregungen, Gedanken zur Aufführungsfassung mitzuteilen?
    Hier schließe ich mich der Meinung der Kritiker an, die die Anhängung des Te deums ablehnen, hauptsächlich, weil dieses viel früher entstandene Werk den Gedanken der ersten drei Sätze korrumpiert.


    Grüße aus Bonn


    Helmut Andres

  • Hallo Ben,


    um mit der 4. und 1. Frage zu beginnen: Den vierten Satz habe ich zweimal gehört (Inbal, Gülke), und war beide Mal enttäuscht mit dem resignierenden Ergebnis, mich eben damit abfinden zu müssen, dass Bruckner mit diesem Werk nicht fertig geworden ist. Bei der Inbal-Aufnahme wirkte es stellenweise fast karikaturhaft, wie jemand sich vorstellt, dass Bruckner komponiert haben könnte. Gülke hat sich auf den ersten Teil beschränkt, der weitgehend abgeschlossen ist, aber auch da fehlte einfach noch der letzte, entscheidende Schliff, den Bruckner sicher dem Werk hätte geben können. (Dagegen kann ich Gülkes Buch über Bruckner nur bestens empfehlen, wo er sich vor allem mit der 9. Sinfonie beschäftigt.)


    Damit will ich Dich aber keineswegs entmutigen. Natürlich ist es von größtem Interesse, so viel wie irgend möglich von dem hinterlassenen Werk zu retten und wenn möglich sogar zum Klingen zu bringen, und wenn es Dir gelingt, hier weiter zu kommen, ist das eine unglaubliche Leistung.


    Die von Bruckner hinterlassenen Lücken auf Grundlage der vorhandenen Werke rekonstruieren zu wollen, erscheint mir kaum denkbar. Wie stark unterscheiden sich schon die Abschlüsse der vorangegangenen Werke voneinander? Und hätte irgendjemand nach Kenntnis der vorigen Sinfonien ahnen können, wie das Scherzo der 9. aussehen würde? Mir scheint daher schlichtweg unmöglich, dies nachträglich ergänzen zu können, und ich bin überzeugt, dass auch Bruckner selbst die endgültige Gestalt erst im Prozess des Komponierens gefunden hätte.


    Hörerfahrungen mit Bruckners 9.: In diesem Forum fehlt tatsächlich ein entsprechender Thread, denn diese Sinfonie kann nicht ernsthaft ausgehend von Bernstein beurteilt werden oder nur im Rahmen einer Übersicht über den ganzen Bruckner. Wolfgang hat daher in einem anderen Forum einen Thread eröffnet, wohl weil er nicht wusste, ob hier nun noch Platz dafür ist oder nicht. Jedenfalls ging es mir so.


    Bei dieser Sinfonie darf es für mich keinerlei Kompromisse an einen wie auch immer erwarteten Hörergeschmack geben. Bruckner wusste, dass er die Sinfonie nie im Konzert hören würde und hat daher auf alles Entgegenkommen verzichtet, wie er es in den anderen Sinfonien bisweilen – und oft nachträglich und schlecht beraten – für erforderlich hielt. Dirigent und Orchester haben daher die fast nicht einlösbare Aufgabe, zu spielen, was in gewisser Weise unspielbar ist. (Das erinnert ein wenig an Beethovens „Große Sonate für Hammerklavier“).


    Unter diesen Vorzeichen zählt für mich immer Knappertsbusch zu den maßgeblichen Bruckner-Dirigenten. Besonders der langsame Satz bekommt eine eigene Deutung. Furtwängler wurde zurecht oft erwähnt. Zu ergänzen: Obwohl dies eins seiner liebsten Werke war, hat er es nach der legendären Aufnahme 1944 nicht mehr aufgeführt, für mich eine absolut konsequente und nachvollziehbare Haltung. Bruno Walter (und hier vor allem den 1. Satz) sowie Horenstein und Schuricht gehören dazu. Von den Aufnahmen aus den letzten Jahren höre ich am liebsten Skrowaczewski, sowohl mit dem Minneapolis SO wie dem Saarbrücken RSO, zuerst hatte ich ihn mit dem SWF SO gehört. (Fairerweise muss ich einräumen, dass ich in die meisten anderen neuen Aufnahmen nur kurz reingehört habe.) Wie bei Furtwängler und Skrowaczewski die Coda des 1. Satzes klingt, was hätte da im 4. Satz folgen können?


    Dank für die vielen Anregungen. Was enthält allein der Hinweis zur Bruckner-Diskographie von John Berky ... Dort sind ja auch Links zu einer Liste, wie Eure Version zusammengestellt wurde und Fotokopien des Originals von Bruckner, was einen Eindruck vermittelt, wie schwierig diese Aufgabe ist.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter: Ich kann nur sagen, bitte die Faksimile-Ausgabe studieren und dann im Vergleich unsere Partitur, die mit Kommentar ja bald verfügbar ist. Es gibt KAUM Lücken! Zudem lag der Satz ja einmal geschlossen komponiert vor und ist bereits während der Komposition mehrmals von Bruckner umkonzipiert worden! Die Lücken in der Partitur heißen NICHT (ein weit verbreitetes Mißverständnis), daß hier nicht komponiert worden sei, sondern daß komplette kompositorische Textur verlorengegangen ist. Herzlich
    Ben

  • Stimme eigentlich mit Walter.T überein. Hab das auskomponierte Finale ( weiss nicht mehr welche Version ) einmal gehört und muss sagen das mir die Symphonie mit 3 Sätzen lieber ist. Der 4te Satz machte auf mich irgendwie den Eindruck nach einem Lehrbuch "Wie komponiere ich wie Bruckner" geschrieben worden zu sein. 8-Takter und Generalpausen machen für mich noch lange keine Bruckner'sche Musik aus. Mein Professor sagte mal vor gar nicht allzulanger Zeit: "Um Bruckner zu verstehen, muss man ein bisschen Gott-Glauben und unheimliche Angst vor Frauen haben". Irgendwie fehlte mir genau dieses Gefühl bei diesem nachkomponierten Finale. Nichtsdestotrotz meine Hochachtung an jene die es versucht haben, aber man sollte doch Bruckner Bruckner sein lassen und nciht versuchen ihn zu kopieren oder zu vervollständigen.

  • Lieber Herr Flaschberger: Hier geht es ja gerade darum, "Bruckner Bruckner sein zu lassen"! Der Satz ist von ihm komponiert, und wenn Sie schreiben "wie nach dem Lehrbuch", dann treffen Sie ins Schwarze, wenn auch anders, als Sie meinen ... Denn das war Bruckners Anliegen - sein wissenschaftliches Können (denn so betrachtete er sein Komponieren ausdrücklich!) nochmals, ein letztes Mal unter Beweis zu stellen. Dazu zählt unter anderem der strenge Periodenbau und die Gliederung des Satzes. Mit freundlichem Gruß, Ben Cohrs

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  • Lieber Ben,


    der Sache nach sehe ich mich durch Deinen Hinweis bestätigt, dass Bruckner den Satz mehrmals umkonzipiert hatte und insofern alles noch offen war. Dein Vorhaben erinnert mich ein wenig an die große Ausgabe der späten Hölderlin-Gedichte, wo ebenfalls mit viel Mühe und Liebe das Spätwerk eines der mir wichtigsten Künstler so weit als möglich zugänglich gemacht wurde. Planst Du eine Faksimile-Ausgabe, in der die nachträglichen Korrekturen (z.B. farblich) kenntlich gemacht werden? Ich könnte mir auch vorstellen, das von Bruckner hinterlassene Material – in der bestmöglichen Ordnung und Zusammenstellung – so wie es ist, aufzuführen, und dann unterschiedliche Rekonstruktionsmöglichkeiten.


    Gestern abend habe ich mir noch einmal die vorliegenden 3 Sätze angehört und dabei besonders auf die Holzbläser geachtet. Dein Beitrag hat schon jetzt auf jeden Fall die Wirkung, bewusster und deutlicher zu hören, wo der Schaffensprozess von Bruckner klarer wird.


    Bestes Gelingen wünscht,
    Walter

  • Liebe Forianer!
    Zunächst einmal herzlichen Dank für das freundliche Interesse und den ebenso freundlichen Ton – das ist so erfreulich GANZ anders als in den Giftverspritzschnatterbrettern, die ich sonst so gesehen habe ... Ich bemerke vor allem, daß es zu dem Thema nicht nur viele Meinungen, sondern auch extrem viel Klärungsbedarf gibt. Freilich kann man nicht viel mehr tun als die Fakten zur Verfügung zu stellen; in diesem Sinne die ausführliche Literaturliste oben. Darf ich außerdem nochmal anregen, aufgrund der Länge des Einführungstextes sich ggf. alles herauszukopieren und in Ruhe daheim zu ‘verdauen’? Ich möchte mir gern zur Angewohnheit machen, hier immer einige Beiträge zu sammeln und dann in zusammenfassender Form Stellung zu nehmen (insofern nicht sofort ein Punkt meine Aufmerksamkeit erregt).


    THOMAS BERNHARDT: Meiner Ansicht nach ist es gefährlich, von dem dreisätzigen Torso als einer ‘vollwertigen’ Sinfonie zu sprechen, denn allein die Existenz des Finales wie auch der Notverfügung des Te Deum beweist, daß Bruckner SELBST das Werk so NICHT als vollständig betrachtete. Man sollte bei solchen Äußerungen der Ehrlichkeit halber immer dazu sagen, „ICH nehme das Werk auch in seiner Torsohaftigkeit als vollwertige Sinfonie wahr“, wie Du ja auch richtig schreibst. Das sei jedem unbenommen, aber läuft man damit nicht Gefahr, Komponisten und Werke peu a peu zu entmündigen, wenn man den eigenen Geschmack darüber stellt? Eine traurige Frucht dieser Denke ist meiner Ansicht nach schon die furchtbare neue Häppchen-Kultur bei Klassik-Sendern, aber das ist ein anderes Thema ... Welches österreichische Tauflied Herr Harnoncourt meinte, weiß ich leider auch nicht (werde ihn fragen).


    BIGBERLINBEAR hat sicher in gewisser Weise recht, daß das Te Deum noch nicht überall angekommen ist – das liegt aber meiner Ansicht nach daran, daß man in Bruckner vor allem den Sinfoniker schätzt, wobei das Sinfonische des Te Deum dabei leider völlig verkannt wird – obwohl das Stück eigentlich eine großbogige Sonatenstruktur hat. Symptomatisch dafür ist, das selbst Günter Wand mit dem Te Deum nicht viel anfangen konnte. Wer den Nur-Sinfoniker schätzt, kann oft mit den kirchenmusikalischen Werken Bruckners wenig anfangen, vor allem als Hörer. Andrerseits wird dessen ungeachtet das Te Deum sehr oft aufgeführt, sogar auch im Anschluß an den Torso der Neunten! Nur auf Tonträgern ist das so kaum zu haben – und sei es auch nur, daß die drei Sätze der Neunten so schön auf eine CD passen ... Wirklich dankbar war ich der Deutschen Grammo einmal für die Idee, der Barenboim-Einspielung des Torso den 150. Psalm folgen zu lassen; das war wenigstens eine passende Aussage. Meine Lieblingseinspielung des Te Deum ist die der Corydon Singers unter Matthew Best (trotz Orgel im Playback dazugemischt); sie scheint mir die sinfonischste Interpretation. Nett wäre es, den Namen meines Kollegen richtig zu buchstabieren: er heißt Samale und nicht Semele (oder ist das ein freudischer Lapsus auf Händels gleichnamiger Oper?).


    ALFRED bin ich dankbar für seine Erläuterungen. Er spricht einen Punkt an, der mir besonders am Herzen liegt – inwieweit sind musiktheoretische Erkenntnisse in der Praxis vermittelbar? Mir ist es persönlich immer ein besonderes Anliegen, darauf hinzuweisen, daß Musizieren nicht nur einen Akt der Hingabe an den Moment des musikalischen Durchlebens, der Hingabe an die mitmusizierenden KollegInnen und das Publikum ist, sondern auch und vor allem eine Hingabe an das Wissen um die Musik und an das Vermitteln des Inhalts. Ich halte die heutige Trennung von Musikwissenschaft und -Praxis für kontraproduktiv und äußerst gravierend; für mich bedeuten beide keinen Widerspruch. Deswegen bin ich auch allergisch darauf, nurmehr "Musikwissenschaftler" genannt zu werden; ich finde vielmehr, jeder Musiker hat die Pflicht, sich immer neue Kenntnisse zu erwerben, undzwar insbesondere die, die er für sein praktisches Musizieren benötigt. JEDE Aufführungspraxis muß für mich historisch informiert sein! Ein Resultat dieses Dilemmas: Allein das Hör-Erlebnis einer Aufnahme einer Vervollständigung des Finales erschließt uns eben leider NICHT zur Gänze die Informationen, die wir benötigen, um einschätzen zu können, was von dem Satz überlebt hat, und wie umfangreich die Vervollständigungsarbeiten sind. Zudem ist eine Aufführungspraxis bereits INTERPRETATION des überlieferten Materials (ebenso, wie wir es beispielsweise mit Süßmayrs Interpretation des Requiem-Entwurfes von Mozart oder Cookes Interpretation des Entwurfes von Mahlers Zehnter zu tun haben). Die Interpretation der Bearbeiter wird dann wiederum interpretiert von ausübenden Musikern, und schließlich durch den kritischen Hörer – kein Wunder, daß es zu vielfältigen Mißverständnissen kommt: Wie von der Mücke zum Elefanten... Mir ist ganz wichtig, nicht nur daherzukommen mit einer Aufführungsfassung des Finales, sie an die ersten drei Sätze anzuhängen und dann zu sagen, DAS ist Bruckners komplettierte Neunte – natürlich so nicht! Ich möchte am liebsten verständlich machen, womit wir es hier eigentlich zu tun haben, und war daher immer besonders glücklich über Möglichkeiten, in den von mir dirigierten und moderierten Konzerten sowohl das dokumentierte Fragment wie auch die Komplettierung des Finales nebeneinander präsentieren zu können.


    HELMUT ANDRES: Die Idee vom Gruppenzwang unter Dirigenten finde ich interessant. Vielleicht sind aber auch nur viele ältere Herren nicht mehr bereit, was dazu zu lernen? Oder es kostet ungeheure Überwindung, eigene, festgefahrene Interpretationsmodelle zu überwinden und einmal was neues auszuprobieren? Unter den sogenannten "Grossen" traue ich EINEM so viel Aufgeschlossenheit zu, auch einmal das rekonstruierte Finale wirklich zu wagen – Claudio Abbado. Aber bislang hat sich von den Supermaestri noch keiner bei mir gemeldet (mit Ausnahme von Lorin Maazel, der sich vor zehn Jahren die Partitur der Fassung 1991 kommen ließ, ohne je wieder darauf zurückzukommen). Ihre Anspielung auf die Oboen-Passage im Adagio ist interessant (wobei ich glaube, Sie meinen eher die Stelle Takt 145 ff, wo die Holzbläser die Blech-Abstürze aufstrebend beantworten, mit Flöten und Klarinetten führend, von der Oboe nurmehr kommentiert). Das ist nun besonders aufschlußreich, weil dies eine der Schlüsselstellen ist, auf die Bruckner im Finale Bezug nahm: Genau die gleiche Musik kehrt im Holzbläser-Tutti als Crescendo wieder, das in der Exposition in das Choralthema hineinführt. Die Einspielung unter Talmi mit dem Oslo Philharmonic bei Chandos halte ich für unredlich, denn die Fragmente sind nicht in der richtigen Reihenfolge, und sehr unvollständig. Freilich: vergleicht man sie mit der von Harnoncourt dirigierten "Dokumentation des Fragments", bekommt man schon einen Eindruck, wie viel Carragan hinzukomponiert hat, und in wie hohem Maße er bedauerlicherweise die Quellen falsch interpretiert hat, obwohl bei Harnoncourt die substantiellen Coda-Skizzen ganz fehlen. Leider bedarf es der Kenntnis von Carragans Partitur und der Quellenausgaben zum Finale, um das ganze Ausmaß seiner Irrtümer festzustellen. Mehr dazu im Musik-Konzepte-Band 120-2, S. 50–74. Ich finde nicht, daß das Te Deum die Ideen der ersten drei Sätze korrumpiert – ganz im Gegenteil. Es bedarf nur einer vereinheitlichenden Darstellung bei der Aufführung, um die Zusammenhänge zu erkennen. Das eigentliche Problem ist zum einen eins des Notentextes: Das theatralische Accelerando am Ende des Te Deum ist in Wirklichkeit aus dem Erstdruck von Schalk, während Bruckner die Te Deum Coda im Hauptzeitmaß gespielt wissen wollte. Und zum zweiten, aufführungspraktisch, hat das Te Deum anders als die Sinfonie nur doppeltes Holz statt dreifaches, und es gibt nur vier Hörner statt acht. Ich habe daher für eigene Zwecke eine entsprechende Adaption der Bläser vorbereitet, die auch hilft, im Falle einer fehlenden Orgel (von Bruckner wohl ganz bewußt als ad libitum gekennzeichnet!) die Holzbläser etwas farbiger herauszustellen.


    WALTER.T.: Leider hat die erste Einspielung durch Inbal mit der "Urfassung" Samale/Mazzuca 1984 viel Schaden angerichtet – zumal sie auch immer noch erhältlich ist; dagegen wäre rechtlich nichts zu machen. Den vielleicht besten Eindruck bekommt man zur Zeit durch die Wildner-Einspielung; die neueste Version ist noch unaufgeführt, und bislang gibt es auch leider keine Interessenten für eine Erstaufführung. Gülke hat zumindest bei seiner Uraufführung von SM 1985 in Berlin die gesamte Partitur gespielt. Meinen Sie sein Werkstattkonzert in Wuppertal 1995? Sein Buch Brahms/Bruckner ist alles in allem ein sehr intelligenter Doppel-Essay, aber es gibt auch seltsame Fehler. So spricht er zum Beispiel von dem Höhepunkt des Adagio als "Neuntöneklang", obwohl es sich nur um sieben Töne handelt (sicher auch eine Freudsche Fehlleistung, aus dem Adagio von Mahlers Zehnter, wo es in der Tat neun Töne sind). Du schreibst außerdem: „Bruckner wusste, dass er die Sinfonie nie im Konzert hören würde und hat daher auf alles Entgegenkommen verzichtet, wie er es in den anderen Sinfonien bisweilen – und oft nachträglich und schlecht beraten – für erforderlich hielt. Dirigent und Orchester haben daher die fast nicht einlösbare Aufgabe, zu spielen, was in gewisser Weise unspielbar ist. “ Ich gebe aber zu bedenken: aus genau diesem Grund hat er, schon sterbenskrank, 1893/94 die ersten drei Sätze spielfertig gemacht (und noch mehrmals durchgefeilt; vom ersten Satz gibt es ein rekonstruierbares Frühstadium 1892 ebenso wie zwei völlig unterschiedliche frühere Versionen vom Trio des Scherzo), aus diesem Grund hat er die Verfügung des Te Deum getroffen, und vor allem hat er aus diesem Grund auch die Konzeption des Finales schon im Komponieren weiterentwickelt! Die Exposition war mit absoluter Sicherheit in voller Partitur schon im Frühjahr 1896 beendet und mehrmals durchgefeilt worden (es gibt insbesondere zum Satzbeginn etwa fünf auseinander entwickelte, deutlich unterschiedliche Stufen in voller Partitur, die übrigens noch nie irgendwo aufgeführt wurden!). Der zweite Teil des Finales war ebenfalls konzeptuell ausgereift und mehrmals überarbeitet worden, einschließlich der Coda, und bereits in Primärstufe in Partitur gebracht (alle Streicher und Entwürfe für führende Bläserstimmen). Wenn man einen Vergleich zur Ausarbeitung der Kopfsatzes ziehen möchte, dürfte der Stand des Finales in der Konzeption ungefähr dem Stadium entsprechen, das der Kopfsatz wenige Wochen vor Abschluß erreicht hatte; dazu gehört insbesondere, daß Bruckner im Kopfsatz als letzte konzeptuelle Arbeit in letzter Minute eine Erweiterung zu Beginn der Durchführung eingefügt hat; eine ebensolche Erweiterung finden wir in den Bogen 13a und =13b des Finales. Auch den erhaltenen Quellen zufolge spricht also alles dafür, daß die Konzeption des Finales im wesentlichen abgeschlossen und weitestgehend durchgefeilt war. So stand es sogar schon im März 1896 in der Zeitung ... Du fragst außerdem: „Wie bei Furtwängler und Skrowaczewski die Coda des 1. Satzes klingt, was hätte da im 4. Satz folgen können?“ Die kannten das Finale damals ja gar nicht! Wer Bruckners Neunte ohne vierten Satz dirigiert, verleiht den ersten drei Sätzen natürlich ganz anderes Gewicht. Achtet man zum Beispiel darauf, daß die punktierten Rhythmen der Coda des Kopfsatzes im Hauptthema des Finales wieder anklingen, wird man die Coda des Kopfsatzes nicht zu langsam nehmen. Und weiß man, daß noch ein vierter Satz folgt, wird man natürlich die Coda des Adagios nicht sukzessive immer mehr verlangsamen (was nicht in der Partitur steht) und die Musik quasi ersterben lassen. Ein schönes Gegenbeispiel ist Wildner, wo am Ende des Adagio ohne übliches Verlangsamen sich das Finale bruchlos anschließt. Da hören wir überhaupt zum ersten Mal eine VON VORNEHEREIN als viersätziges Ganzes konzipierte INTERPRETATION auf CD, denn bei der früheren Eichhorn-Einspielung bei Camerata Tokyo war das Finale später nachproduziert worden, und auch bei der Inbal- und Roshdestvenskij-Produktion von SM 1985 war es so gewesen. Auch in Schurichts Wiener Einspielung könnte das Finale noch folgen, leider nur den meisten andern Einspielungen des Werkes nicht (und auch nicht das Te Deum). Das macht natürlich ein Finale für die Neunte nur umso unvorstellbarer ...


    MICHAEL FLASCHBERGER: Als Bruckner seine Neunte schrieb, ging mit der Auflösung der Verlobung mit Ida Buhz (Berlin) im Jahr 1894 auch seine Hoffnung auf letztes Glück zu Ende. DANN komponierte er das Finale. Kein Wunder, daß der Satz kein erotisches Sehnen mehr enthält und im Adagio quasi zu Grabe getragen wird. Das Finale ist nurmehr jüngstes Gericht und Hoffnung auf Erlösung. Ich persönlich habe übrigens durchaus keine Angst vor Frauen, und ich bin zudem heiterer Agnostiker mit Neigung zum Buddhismus. Macht mich das von vornherein zu einem ungeeigneten Bruckner-Dirigenten? Und wie stand es dann mit Celi – als Zen-Buddhist? Ich halte solche Klischees für schädlich.


    Beste Grüße, BGC
    [04. 06. 2005, BGC]

  • Zitat

    MICHAEL FLASCHBERGER: Als Bruckner seine Neunte schrieb, ging mit der Auflösung der Verlobung mit Ida Buhz (Berlin) im Jahr 1894 auch seine Hoffnung auf letztes Glück zu Ende. DANN komponierte er das Finale. Kein Wunder, daß der Satz kein erotisches Sehnen mehr enthält und im Adagio quasi zu Grabe getragen wird. Das Finale ist nurmehr jüngstes Gericht und Hoffnung auf Erlösung. Ich persönlich habe übrigens durchaus keine Angst vor Frauen, und ich bin zudem heiterer Agnostiker mit Neigung zum Buddhismus. Macht mich das von vornherein zu einem ungeeigneten Bruckner-Dirigenten? Und wie stand es dann mit Celi – als Zen-Buddhist? Ich halte solche Klischees für schädlich.
    Beste Grüße, BGC


    Diese Ansicht ist nicht mit Hinblick auf den Interpreten, sondern auf Bruckner selbst hingedacht der diese Eigenschaften ja in extremster Weise praktiziert hat, man sollte es sich nur etwas vorstellen können, ist auch eher ironisch gemeint. Derjenige der mir diese "Weisheit" mitgeteilt hat ist Martin Sieghart, seines zeichens ehemaliger Chef-Dirigent des Linzer Bruckner-Orchesters und anerkannter Bruckner-Interpret. Er weiss schon wovon er redet ;)

  • So wie ich den Herrn Sieghardt kennengelernt habe, wundert mich das in KEINSTER Weise... (nomen est omen, so denke ich ja oftmals...)

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    So wie ich den Herrn Sieghardt kennengelernt habe, wundert mich das in KEINSTER Weise... (nomen est omen, so denke ich ja oftmals...)


    Das müsstest mir jetzt erklären, bin jetzt seit gut einem Jahr Student bei ihm und hab ihn noch nie als "hart" ( weder musikalisch noch menschlich ) empfunden, oder wie meintest du das ?(

  • Ben:


    Zitat

    Nett wäre es, den Namen meines Kollegen richtig zu buchstabieren: er heißt Samale und nicht Semele (oder ist das ein freudischer Lapsus auf Händels gleichnamiger Oper?).


    Natürlich kenn ich den Kollegen Nicola SAMALE und es IST ein freudscher Vertipper und kam sicher dadurch zustande, daß ich mich in den vorausgegangenen Tagen intensiv mit Händels schöner "Semele" beschäftigte :D Ich hab den Vertipper auch gemerkt, leider zu spät, denn hier im Forum ist etwas nur innerhalb eines gewissen Zeitfensters korrigierbar ! Sorry...

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • BigBerlinBear schrieb:

    Zitat

    daß ich mich in den vorausgegangenen Tagen intensiv mit Händels schöner "Semele" beschäftigte


    Dann würde ich mich riesig über einen Beitrag darüber im Händel-Oratorien-Thread freuen.


    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

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  • Lieber Ben,


    auf Deine Anregung habe ich mir die Aufnahme mit Johannes Wildner gekauft – und bin tief beeindruckt. Der erste Satz wirkt stellenweise etwas statisch, ich werde es mir jedoch noch einmal intensiv und im Detail anhören. Der zweite Satz gelingt dann aber genau so, wie ich es mir schon lange gewünscht und noch nie gehört habe. Auch der dritte Satz hat eine ganz eigene Deutung. Ich finde, diese Aufnahme muss sich nicht im geringsten vor den anderen berühmten Vorgängern verstecken.



    Und so gelingt auch der vierte Satz wesentlich besser, als ich ihn früher gehört habe. Euch ist es auf jeden Fall gelungen, dass klar erkennbar wird, woran Bruckner vor seinem Tod gearbeitet hat. Es muss eine subjektive Meinung bleiben, was und wie viel Bruckner noch geändert hätte, ich sehe das Werk weniger fertig als Du. Aber als Musikwissenschaftler muss es zweifellos darum gehen, so gut wie möglich zu rekonstruieren, was vorhanden ist.


    Sehr gut zu hören die fast „wörtlichen“ Zitate aus Beethovens 9. Sinfonie.


    Bei der Coda helfe ich mir und suche „Ersatz“ bei der ersten Coda: am Ende des 1. Satzes der 1. Sinfonie in der Linzer Fassung. Auch Eure Ergänzung scheint mir in diese Richtung zu weisen.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Lieber Walter! Es freut mich, daß Dir die Aufnahme gefällt, und auch, daß Deine Vorbehalte gegenüber der Finale-Komplettierung möglicherweise etwas geringer geworden sind.
    Liebe Forianer:
    Man muß dazu sagen: Die von Johannes Wildner ist die ERSTE Einspielung der komplettierten Neunten mit unserer Finale-Bearbeitung, die auch in einem Stück vom Interpreten so konzipiert wurde. Es ist ja der komplette live-Mitschnitt einer Aufführung. Alle früheren offiziell zugänglichen Produktionen der Samale et al-Fassung (Inbal, Roshdestwenskij, Eichhorn) sind Nach-Produktionen. Es macht nun einen großen Unterschied, ob ein Dirigent beispielsweise den Schluß des Adagio wirklich zum Ersterben bringt und immer langsamer wird (was nicht in der Partitur steht), oder ob er die Coda des Adagio als Vorausbereitung der Eröffnungs-Elemente des Finale versteht und auch so dirigiert.
    Wir hoffen, daß unsere Neufassung noch kohärenter wirkt, als aus der Wildner-Aufnahme hervorgeht.
    Wir haben von dem Sibelius-File der Partitur ein midi-FIle hergestellt. Der Midi-Klavierklang ist natürlich völlig unzulänglich, vermittelt aber zumindest von der Struktur her einen guten Eindruck von der Faktur der neuen Bearbeitung. Wer Real Player hat, kann das File direkt hören. Wer Interesse daran hat, möge mir bitte ein e-mail an bruckner9finale@web.de schicken; ich schicke das midi dann als Anhang. (Notabene: Es ist allerdings WIRKLICH NICHT möglich, die Partitur aus dem Midifile in Druckqualität zu extrahieren; bitte gar nicht erst probieren...)
    Und noch eine gute Nachricht: Die Neuausgabe des Finales ist nun beim Einbinden und in wenigen Tagen verfügbar. Bestellungen der Partitur Repertoire Explorer 444 werden ab sofort entgegengenommen. Info: http://www.musikmph.de
    Beste Grüße
    Ben Cohrs

  • Liebe Forianer: Ich weiß nicht, wer von Euch den Musikkonzepteband "Bruckners Neunte im Fegefeuer der Rezeption" kennt. Gestern las ich wieder einmal das darin in Teilen abgedruckte Interview, das ich mit dem Dirigenten Robert Bachmann 2002 geführt habe, und fand darin so viel Interessantes und Wesentliches zum Thema, daß ich mich entschlossen habe, diesen Beitrag hier auch interessehalber hineinzustellen. Beste Grüße, Ben Cohrs
    ********************************
    BRUCKNERS NEUNTE UND DER ›MYTHOS DER VOLLENDUNG‹: ROBERT BACHMANN IM GESPRÄCH
    Der Dirigent und Komponist Robert Bachmann nähert sich den komplexen Phänomenen der Musik von verschiedenen Betrachtungsweisen her, die er in seine Gesamtschau integriert: Seit seinem Londoner Debut im Jahre 1980 widmet er sich als international tätiger Konzertdirigent gleichermaßen der zeitgenössischen Musik und den Werken zentral-europäischer Musikkultur – der er angehört und deren Traditionen er sich verpflichtet sieht –, insbesondere von Beethoven, Brahms und Bruckner. Mit Veröffentlichungen über herausragende Künstler-Persönlichkeiten und ähnliche Sujets hat er sich auch als Musik-Wissenschaftler und Musik-Schriftsteller einen Namen gemacht. Vor allem faszinieren ihn die Ausdrucksmöglichkeiten multikultureller, interdisziplinärer Projekte und die Vereinigung verschiedenster Elemente und Einflüsse. Musik-Ethnologische Forschungen führten ihn unter anderem nach Afrika, Nord- und Südamerika, Asien, Australien und in die Arktis; die ganz besonderen Eindrücke seiner Nordpol-Expedition sublimierte er in Rotation 90°N für tiefe Streicher. Mit seinem transmedialen Werk ULURU hat Bachmann neue Horizonte multidimensionaler Klangstrukturen erschlossen.
    Einen engeren Kontakt zu Bruckners Musik bekam Robert Bachmann zunächst durch Eugen Jochum, bei dessen legendären Plattenaufnahmen mit den Berliner Philharmonikern er in den Sechzigern hospitierte und assistierte. Auch die Dirigierkunst des ihm gut bekannten, als Künstler gänzlich uneitlen Rudolf Kempe hat ihn maßgeblich geprägt. Den Kosmos von Bruckners Symphonien hat sich Robert Bachmann kontinuierlich erarbeitet und diese Werke insbesondere in London und Moskau vorgestellt. In Ländern, in denen Bruckner eher ein Stiefkind ist, setzte er somit eine kontinuierliche Bruckner-Pflege in Gang, die aufgrund ihrer künstlerischen Resultate eine Bereicherung ist. Auch in der Wahl der Fassung einer Symphonie ist der Dirigent keineswegs dogmatisch. Um den Wert der kühnen Ursprungsversionen gegenüber den ‘Fassungen von letzter Hand’ wird unter manchen Dirigenten und Kritikern bis heute gestritten. Robert Bachmann interessiert unbefangen jede musikalische Äußerung eines Komponisten, was die Betrachtungsweise eines ›work in progress‹ ausdrücklich mit einschließt. So führt er die selten gespielte erste Version der Achten Symphonie ebenso selbstverständlich auf, wie er die so gut wie nie im Konzert zu hörende, im Revisionsbericht mitgeteilte letztgültige Schlußvariante Bruckners vom Adagio der Fünften verwendet. Ein besonderes Anliegen ist dem Dirigenten die unvollendete Neunte mitsamt ihres posthum vervollständigten Finalsatzes; Robert Bachmann hat unter anderem die britische (Royal Philharmonic, London, 17. Mai 2000) und die russische Erstaufführung (Russisches National Orchester, Moskau, 6. November 2000) der viersätzigen Neunten in der kritischen Neuausgabe dirigiert. Unser Gespräch über Bruckners Neunte und den problematischen ›Mythos der Vollendung‹ fand im Oktober 2002 in Wien statt.


    Wie denken Sie als Dirigent grundsätzlich darüber, den unfertigen Finalsatz zu Bruckners Neunter in vervollständigter Aufführungsfassung aus zweiter Hand dem Publikum vorzustellen?
    »Ihre Frage zielt auf die Rekonstruktion eines Werkes, das zu einem großen Teil ja überliefert ist. In diesem Falle habe ich ganz klar immer den Standpunkt vertreten, daß die Nachkommen verpflichtet sind, dieses kulturelle Erbe weiterzutragen und so weit zu sichern, wie das nach den künstlerischen Prämissen einer fundierten Aufführungspraxis erforderlich ist. Aufgrund dessen, was wir von der Geschichte dieses Finalsatzes kennen, mußte er unbedingt in irgendeiner Weise aufführungsfähig hergerichtet werden. Es ist nahezu ein barbarischer Akt, es bei dieser unglücklichen Situation zu belassen und zu behaupten, das Werk wäre mit dem Torso der drei Sätze ›vollendet‹.«


    Das ist allerdings die im Mainstream der Rezeption vorherrschende Lehrmeinung, die sich selbst replizierend immer wieder aufs Neue bestätigt.
    »Das ist aber eine Anmaßung, die sich aus der Ignoranz begründet und nicht aus der Liebe zur Sache im Sinne der Philosophie, auch nicht aus der Liebe zur Musik oder zum Werk, geschweigedenn aus dem Respekt vor dem Autor. Stellen wir uns das in der bildenden Kunst einmal vor: Es geht jemand in eine Nationalgalerie und bewirft ein Gemälde mit Säure. Sofort werden ohne zu zögern alle erforderlichen Anstrengungen unternommen, um dieses Bild zu rekonstruieren. Vielleicht hat man in einem solchen Fall gesicherte Erkenntnisse über das, was vorher gewesen ist, aber angenommen, es wäre nicht so und angenommen, man hätte durch die Beschädigung nun auch Vorstufen entdeckt, kommt dadurch auf eine untere Schicht, die nicht bekannt war und beginnt dann genau diesen Prozess – nämlich etwas zu rekonstruieren, über das man so genau nicht Aufschluß hatte, das sich aber rekonstruieren läßt, nach wissenschaftlichen Kriterien. Ich will das weiter simplifizieren: Nehmen wir an, es geht um die Darstellung eines Menschen. Er hat seine Glieder; er hat seinen Kopf. Man weiß, wenn der Unterarm fehlt, daß danach immer noch eine Hand mit fünf Fingern sein wird (es sei denn, der Künstler hätte ein Monstrum oder einen Krüppel darstellen wollen). Das wieder übertragen auf das, was von Bruckner übrigbleibt, ist genau daßelbe: Es ist eine akribische, nach wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen zu bewerkstelligende Rekonstruktion. Das ist nicht nur legitim, sondern das muß man tun, erst recht im Bereich der Musik, denn sie ist ein lineares Medium, das sich in der Zeit manifestiert. Man sollte deshalb ein Werk nicht abbrechen lassen, wenn man es weitgehend zu Ende gebracht vor sich liegen hat, und wenn man durch gesicherte Erkenntnisse weiß, wie der Schluß im Entwurf hätte sein sollen. Natürlich bleibt ein unaufgelöster Rest; es bleibt Spekulation. Doch diese Spekulation betrifft auch das Vorhergehende. Es gibt keine finale Version der ersten drei Sätze von Bruckners Neunter, es sei denn, das, was er hinterlassen hat, wäre bereits ›sein letztes Wort‹. Aber wir wissen durch die Aufführungspraxis, daß es dazu sehr viele ungelöste Fragen gibt – hinsichtlich der Tempo-Bezeichnungen, der Verfeinerungen in der Dynamik und so weiter. Bruckner hatte die Angewohnheit, diese Dinge am Ende einer Komposition noch einmal zu ›finisieren‹, und das fehlt hier. Wir beginnen doch stets bereits mit dem ersten Takt mit der Spekulation, und was diese Meinung bestätigt, ist Ihre eigene Aufführung in Gmunden gewesen, wo Sie schon innerhalb der ersten wenigen Takte in der Einleitung durch Ihr eigenes herausgeberisches, musikwissenschaftliches Verständnis Akzente so gesetzt haben, daß sich infolgedessen der Klang anders entwickelt, als üblicherweise zu hören ist. Schon da beginnt dieser unglaubliche Ermessens-Spielraum im Bereich der Klangwerdung von notierter Musik.«


    Halten Sie es, gerade weil man in der Rezeption den Begriff der ›Vollendung‹ so hoch schätzt, für möglich, daß etwaige implizite Schwächen eines Werkes gar nicht diskutiert und beiseite gewischt werden – einfach aus dem Wunsch heraus, daß ein fertiges Werk generell als ein ›Vollkommenes‹ betrachtet wird, auch wenn es seine Unvollkommenheiten hat?
    »Übergreifend beantwortet, ist nichts ›vollkommen‹ in dieser Welt. Es ist nurmehr eine Utopie der ›Werk-Idee‹, daß das Werk ›vollkommen‹ in Gestalt, Form und Inhalt sein soll. Das ist wahrscheinlich eine verquere Mißdeutung der Aesthetik, unter der wir ziemlich leiden. Die Sätze der Neunten sind nicht ›vollendet‹. Es ist übrigens auch das ›vollendetste‹ Werk, das wir kennen, per definitionem noch nicht vollendet. Es würde sich allenfalls vollenden in der unendlichen Vielfalt der denkbaren Verwirklichungen im Konzert. Jede Aufführung wird dann zusätzlich ein Teil dieser Verwirklichung einer Utopie der Vollendung. Es ist falsch gedacht, wenn man hier von ›Vollendung‹ spricht. Man hat etwas zum Abschluß gebracht, damit man beginnen kann, es zu verwirklichen. Denn hier geht es nur um Notation, um etwas, das schriftlich niedergelegt ist und dadurch erst für uns die Anregung gibt, es nach bestimmten Vorstellungen Klang werden zu lassen.«


    Ist ›Vollendung‹ als Konzept überhaupt sinnvoll.?
    »Das Wort, auf den Punkt gebracht, ist nicht der Frage würdig; es ist eine unsinnige Option, darüber so zu denken. Wer sich ganzheitlich versteht, wer sein Sein in der Welt als nicht etwas Abgespaltenes von der Umwelt versteht – wie es ja in den letzten Jahrzehnten schon zu einer verinnerlichten Sprachregelung gekommen ist –, wer sich als Teil der Mitwelt versteht, wird einer solchen Idee gar nicht folgen können, denn es ist alles dauernd neu in Entwicklung. So geht es auch den mit einem Doppelstrich beendeten Werken. Was ist denn ›vollendet‹ in der Neunten Bruckners? Wir stehen doch jedesmal neu vor der Aufgabe, dieses Werk erst einmal zum Tönen zu bringen, es erst einmal von der Aufführungspraxis her zu meistern. Von der geistig-seelischen Fähigkeit, die erforderlich ist, um Bruckners Musik als Zeichen göttlicher Gegenwart überhaupt Klang werden zu lassen, davon ist noch gar nicht die Rede, wenn wir die Proben beginnen. Dazu kommen noch die Unwägbarkeiten des Konzertes, und so etwas tragen Sie anschließend in den Aufnahmesaal und rennen der Utopie hinterher, daß Sie jetzt die ›perfekte, endgültige‹ Einspielung des Werkes machen: Das ist Vermessenheit, und das ist völlig an der Sache vorbei. Auch das per se abgeschlossene Werk, wo der Komponist durch den Doppelstrich sagt: ›Das ist das Werk, wie ich es mir denke‹, beginnt ja erst. Da beginnt die Suche in diesem Werk. Was soll es darstellen, und wo liegt die höhere Wahrheit darin? Und deswegen gibt es da keine Vollendung. Diese Vollendung wäre auch gar nicht zu leisten. Wir sind dauernd, immer, im besten Fall kurz davor, und beim nächsten Mal ist das Scheitern schon wieder sehr viel näher...«


    Rührt der ›Mythos vom Vollendeten‹ möglicherweise von einer Haltung her, nurmehr als ›perfekt‹ verherrlichte Konsumprodukte für ein Publikum schaffen zu wollen?
    »Es ist für mich schwierig, diese Frage zu beantworten. ›Verherrlichung‹ durch ein Publikum in der Komsumhaltung halte ich ohnehin für ein Unding, denn es hätte ja gar nicht das seelische Potential wahrer ›Verherrlichung‹: Wir verherrlichen allenfalls die Werke Gottes in der Schöpfung – sofern der Glaube noch da ist, sofern nicht die Kraft der Vorstellung einer unbegreiflichen schöpferischen Urkraft verlorengegangen ist. Solche Zuschreibungen an die völlige Verflachung, einer ›Verwurstung‹ der Kultur, halte ich für unangebracht. Aber vor dieser Art von Polemik möchte ich mich eigentlich hüten. Adorno hat auf seine Art über den Konsum in der Musik gesprochen. Das ist ein intellektueller Zugang, der sehr viel versperrt hat, auch in der nachfolgenden Diskussion in den Methoden und Moden der neueren Musikgeschichte oder Musikwissenschaft. Da habe ich große Fragezeichen. Fragen Sie bitte aus einer anderen Perspektive.«


    Ist die ›Vollendung‹, die in der Aesthetik seit dem 19. Jahrhundert eine große Bedeutung gewonnen hat und weithin als gültiges Paradigma akzeptiert wird, nicht eigentlich lediglich eine Seifenblase?
    »Ja, das ist sie. Erinnern Sie sich an das Symposium im Rahmen der diesjährigen Salzburger Festspiele; auch dort war die Frage falsch gestellt. Wenn es einen Mythos gibt, dann wäre es der ›Mythos des Vollendeten‹ und nicht der des ›Unvollendeten‹. Die Welt ist dauernd im Werden. Wir wissen nicht woher sie kommt und wohin sie geht. Wir selbst sind dauernd ›im Fluß‹; unser Leben, die ganze Welt ist in einer unglaublichen energetischen Dynamik. Die Musik erinnert uns dauernd daran, daß diese Kraft da ist. Es ist gerade das Wunder des Musizierens, daß wir dieses Erlebnis immer wieder neu evozieren können. Hier hat der Begriff ›Vollendung‹ gar keinen Platz. Wir wollen in Bezug auf das Werk Bruckners fragen: Worin liegt das ›Vollendete‹? Vollendung ist im Tod. Erst dann kann man über den Menschen reden. Und dennoch geht es darüber hinaus, weil sich dieses Werk ja verselbständigt. Auch da gibt es Vollendung nicht; allenfalls eine physische Vollendung der Präsenz der Person. Aber das Werk hat sich längst gelöst, und das Werk Bruckners ist in toto ein ›work in progess‹, wie es moderner gar nicht sein kann. Dort liegt vielleicht das Problem der Rezeption, daß man ihn auf EIN Werk festschreiben möchte, auf die EINE Symphonie und nicht auf drei oder vier, oder bearbeitete, zurückgerufene Fassungen, die aber doch auch nicht vernichtet wurden. Bruckner hat sie sein lassen; nicht, weil er sich nicht davon hat lösen können, sondern weil er sie in ihrem Bestand als eigenständige Werke hat belassen wollen und in der Findung nach anderen Lösungen eine andere Form für daßelbe Werk gefunden hat. Es ist ein ganz modernes Kompositionsprinzip, daß man mit seinem Material immer wieder Neues schafft. Das haben auch in der Musikgeschichte schon vorher Komponisten ohne jede Scheu immer wieder gemacht. Aber ich rede von Komponisten, die auch die Souveränität hatten, mit ihrem Material so frei umzugehen, wie es eben nur der wirklich schöpferische Mensch tun kann. Der nicht wirklich Schöpferische, der Nachschaffende, das ist der Kopist. Er hält sich eben an das, was er für ›vollendet‹ hält, ganz stur und prinzipientreu, und da kommen wir in das Feld der sogenannten ›Interpretation‹ des Aufführenden, denn er ist gefangen darin. Er kann sich diese Freiheit nicht mehr erlauben und ist in einem Dilemma: Was ist jetzt für mich als ›werktreu‹ anzuerkennen, und worin muß ich jetzt die ›Vollendung‹ benennen? Er darf ja nach unserem heutigen Verständnis der ›Werktreue‹ nicht darüber hinaus. Früher ist man damit ganz anders umgegangen. Da hat man gesagt: ›Ja, gut, das ist sein Entwurf.‹ Bruckner hat das selber auch erlebt: Man hat seine Werke verhackstückt; man hat sie uminstrumentiert bis zur Perversion. Es sind aber im Kern SEINE WERKE geblieben. In der Löwe-Bearbeitung der Neunten ist das ohnehin evident; bei der Achten gibt es zum Beispiel auch die Erstfassung von 1887, die ich als völlig authentische Fassung immer noch lieber schätze als die anderen, weil das der Bruckner im Hochflug seiner Potenz und seiner gerade erlebten Erfolge gewesen ist, und so gemeint, daß das jetzt sein summum opus ist, so wie es ist! Dann dieser tiefe persönliche Absturz, diese Verunsicherung durch die Rückweisung der Fassung durch Hermann Levi und die Brüder Schalk: Erst das hat ihn dazu geführt, das Werk zu überdenken, zu überarbeiten, zu adaptieren. Deswegen votiere ich so oder so für mich aus musikalischen Gründen für diese erste, unverstellte Achte, die eben die angeblichen Schwächen voll als ihre Stärken zeigt. Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt, vor dem schon die Musikwelt damals Angst hatte, war die implizite Diesseitigkeit dieser Werke, wobei man Bruckner aber dauernd immer nur die Jenseitigkeit kreditiert. Die Beckenschläge wurden als viel zu viel, viel zu diesseitig und ehrerbietig empfunden; dabei ist es ja das Preisen auch der weltlichen Macht, die sich in Bruckners Selbstverständnis erst begründet durch die göttliche Macht. Daran ist gar nichts verkehrt – ganz im Gegenteil: Man muß Bruckner endlich auch erkennen als der völlig diesseitige Mensch, der keine Umwelt, nur eine Mitwelt hatte. Er ist Teil dieses ganzen Kosmos, und das spürt man auch, wenn man seine Musik wirklich von dieser Seite liest. Diese Diesseitigkeit im Scherzo der Neunten; diese diabolischen Auseinandersetzungen: Das sind nicht dämonische Mächte der Natur, die irgendwo in der Ferne donnern und grollen; das ist die dämonische Natur des Menschen selbst, die hier ausgetragen wird. Es sind mehr diese Fragen, die wahrscheinlich die Menschen ängstigen, weil sie durch diese Musik ganz elementar auf ihre eigene, menschliche Befindlichkeit zurückgeworfen werden. Das macht ihnen Angst.«


    Ausgerechnet Eduard Hanslick bemerkte einmal scharfsinnig, es bleibe ein ›psychologisches Räthsel, wie dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen (...) im Moment des Komponierens zum Anarchisten‹ wurde.
    »Kunst ist anarchisch. Kunst ist subversiv. Die schräge Idee vom ›Schönen‹ und ›Guten‹ ist nicht zu Ende gedacht. Wir erleben das besonders heute, in unsrer interkulturellen Auseinandersetzung: Wir haben ganz große Mühe, zu verstehen, was jetzt geschieht. Die Auseinandersetzung mit dem Islam beispielsweise war hier in Wien einmal Wirklichkeit: Die Türken waren hier vor den Toren, und noch heute genießen wir ihren Kaffee, aber wir beschäftigen uns nicht mit dem Geisteshorizont dieser Religion; sie wird abgelehnt. Sobald Sie das fragen, ist eine fraktale Verstrebung in alle Teile unserer Kultur die Folge. Wir wollen über das vermeintlich Gute und Rechte in der Welt ›vollendeten‹ Bestand haben, und wir wollen darüber richten, was nun das vollendet Böse ist und was das vollendet Gute. Wir müssen lernen, das uns ›Fremde‹ und ›Andere‹ anzunehmen, und zu verstehen, daß die Grenzen zwischen dem Guten und dem Bösen nicht so messerscharf sind, wie es viele Kulturen in der Sozialisierung vermitteln, sondern daß diese Grenzen fließend sein können. In der Anmaßung, beispielsweise im Politischen zu definieren, was das Gute und was das Böse ist, sind wir nicht bereit, zu akzeptieren, daß wir im Guten selber das Böse benutzen müssen, um das vermeintlich Böse zu besiegen. Wir müssen Modelle finden, die diese Spannungen aushalten können und politische Mittel bringen, im Ausgleich zu dem, was wir ›Toleranz‹ nennen. Die Kunst wiederum ist ein Spiegelbild solcher gesellschaftlichen Prozesse. Die Konzeption von Bruckner in Bezug auf das Göttliche und das, was der Mensch in der Welt dazu beizutragen hat, ist schon in seiner Widmung der Neunten ›dem lieben Gott‹ evident. Aber wie war sein Gott, und wie stellt er sich dar in seiner Musik, wenn diese Wirklichkeit denn dort zu finden wäre? Bruckner trägt ja diesen Kampf selbst dauernd aus, diese Faust gegen Gott, der eine solch angeblich ungerechte Welt walten läßt und zuläßt. Das ist bis in die letzten Takte der Neunten hinein hörbar, denn diese Faust gegen den Himmel bricht immer wieder durch.«


    Hat Bruckner in seinem Schaffen einen Weg gefunden, innere Spannungen auszutragen? Musikwissenschaftler konnten in letzter Zeit aufzeigen, wie er in seiner Umgebung einerseits sozial aufstieg, andererseits aber auch, welchen Zwängen er dabei ausgesetzt war.
    »Sie benennen hier zwei Dinge. Sein sozialer Aufstieg ist unverkennbar eine ganz hervorragende soziale Lebensleistung, die noch heute durch die Musikforschung weitgehend nicht zur Kenntnis genommen wird, welche grosso modo noch heute an den altüberkommenen Zuschreibungen eines mißglückten Lebensentwurfes festhält, eines linkischen, ungelenken und devoten Menschen, der nicht wirklich weiß, wie er sich in der Gesellschaft zu benehmen hat. Man darf aber vielleicht nur einmal daran erinnern, wo er gestorben ist, nämlich immerhin im Kustodenstöckl des Belvedere-Schlosses und nicht irgendwo. Er war, soweit das damals in seinem Stand möglich war, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Das wird wirklich gering geschätzt. Wir sitzen hier ein paar Schritte weit weg vom Musikverein; das war auch ›sein Haus‹. Die Wiener Philharmoniker haben ihn mit Häme behandelt und mit ihm die primitivsten Späße getrieben, seine Proben gestört und ihm ganz bewußt mit den Blechbläsern den Unterricht vermasselt. Man hat ihn nicht verstanden. Man hat schon gewußt, da ist etwas Großes, aber da war auch eine ganz große Abwehr. Jetzt kann man fragen, was eigentlich diese Menschen haben abwehren müssen? Das ist das ganz Diesseitige in dieser Musik, die aber das Göttliche enthält; das ist diese immanente Erotik. Sie fragen: Wie hat er seine Spannungen ausgehalten? Wie hat er sein erotisches Liebesleben kompensiert oder verarbeitet; wie hat er diese Energieströme geleitet? Das ist alles in seiner Musik abgelegt, und wer diese Musik nicht so elementar versteht, der kann sie gar nicht aufführen. Das ist Orgasmus und Ekstase, Hingabe und Wut, Devotion und Allmachtswunsch. All dies sind Begriffe, die für den Menschen, der sein Leben in Kontrolle halten will und davon ausgeht, daß etwas ›vollendet‹ und zu Ende gekommen sein muß, eine Bedrohung darstellen. Augenscheinlich hat man Angst vor der Fremdartigkeit von Bruckners großem, übermächtigem Klang. Klangdichte und urtümliche Klanggewalt werden nicht als das begriffen, als was sie gemeint sind, sondern erzeugen Angst davor, vereinnahmt zu werden, und deshalb wehrt man diesen über die normale energetische Ebene hinausgehenden Klang ab. Es darf eine bestimmte ›angenehme‹ Lautstärke nicht überschreiten, sonst ist man verängstigt. Das ist mir bei dem englischen Publikum als Reaktion auf meine eigenen Bruckner-Aufführungen noch deutlicher aufgefallen als hier. Dabei ist mir in besonderer Weise klar geworden, daß schon durch die traditionelle Angewohnheit eines angenehmen Klanges doch die Seele nicht berührt werden darf, weil man dort nämlich sich selber trifft. Deswegen ist Bruckner schon von dieser Seite her einer der immer noch aktuellsten Komponisten.«
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  • ARTIUM BREMEN IN ZUSAMMENARBEIT MIT REPERTOIRE EXPLORER:


    ANZEIGE EINER NEU-ERSCHEINUNG


    ANTON BRUCKNER: IX. SYMPHONIE, FINALE (UNVOLLENDET)
    vervollständigte Aufführungsfassung Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca (1983–92)
    neu revidiert und herausgegeben von Nicola Samale und Benjamin-Gunnar Cohrs (2004)
    mit Kommentar (D/E), Tabellen und Notenbeispielen (289 S., 44 Euro)
    Repertoire Explorer, Study Score 444


    Musikproduktion Hoeflich, Enhuberstr. 6-8, 80333 München
    http://www.musikmph.de/musical…tion/informatdeutsch.html


    INFORMATION ZUR EDITION
    Die seit 1983 von dem Dirigenten und Komponisten Nicola Samale (Rom) und seinem Editorial Team stufenweise erarbeitete, vervollständigte Aufführungsfassung des unvollendet überlieferten Finales der Neunten Symphonie Anton Bruckners hat es zu erheblicher Bekanntheit gebracht – insbesondere in der vom Bruckner Orchester Linz uraufgeführten, von John Phillips herausgegebenen Version Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca 1992. Doch verstand sich dieses Projekt stets als ‘work in progress’ – schon aufgrund der Möglichkeit, daß noch bisher verlorenes Originalmaterial wieder ans Tageslicht kommen könnte. Im Herbst 2004 haben Samale und sein Kollege, der Dirigent Benjamin-Gunnar Cohrs (Bremen), aufgrund zahlreicher Erkenntnisse nunmehr eine kritische Neu-Ausgabe vorgelegt, an der Dr. Phillips allerdings auf eigenen Wunsch nicht mehr beteiligt war, da in zentralen Fragen des Notentextes keine Übereinstimmung mit den Herausgebern zu erreichen war. Die Herstellung des neuen Aufführungsmaterials wird durch Spenden einzelner Privatpersonen finanziert; eine großzügige Unterstützung durch die Kulturstiftung Guttenberg ermöglichte den Notenstich der Druckvorlagen.
    In der Neu-Ausgabe ist es gelungen, zwei bisherige Lücken (Gesangsthema; Fuge) nunmehr vollständig aus Originalskizzen Bruckners zu schließen. Rekonstruktionen verlorener Partiturbogen, die Instrumentation, die nach Skizzen Bruckners ausgearbeitete und in Teilen ergänzte Coda wie auch Tempi, Dynamik und Artikulation wurden noch einmal grundlegend überarbeitet. Von den 665 Takten dieser Neu-Ausgabe sind 554 T. original (208 T. fertige, 224 T. unvollständige Partitur; 122 T. Verlaufsentwürfe). Von den ergänzten 111 T. (ca. 17% des Finale, 5,4 % der Symphonie bzw. ca. 4 Minuten Musik) konnten 68 T. noch aus der Reihung, Wiederholung, Sequenzierung oder Transposition von Originalmaterial gewonnen werden; lediglich 43 T. wurden von den Herausgebern ohne direkte Vorlage synthetisiert, weniger als zwei Drittel des Ganzen nachträglich instrumentiert. (Zum Vergleich: Mozart hat vom Requiem KV 626 lediglich 81 T. fertig instrumentiert – darin enthalten bereits 28 T. Wiederholung am Schluß – sowie 596 T. in Vokalsatz und Generalbaß hinterlassen. 187 der 864 T. bzw. ca. 22% wurden von Süßmayr komponiert, 783 T. (= ca. 90 %) von ihm orchestriert.)
    Weitere Informationen sind bei B.-G. Cohrs erhältlich, der die Neuausgabe repräsentiert und das Aufführungsmaterial vertreibt (Artium, Postfach 107507, D-28075 Bremen; bruckner9finale@web.de). Die Partitur ist im Juli 2005 als Studienpartitur Nr. 444 käuflich in der Edition ‘Repertoire Explorer’ der Musikproduktion Hoeflich erschienen, die ein breites Sortiment bisher vergriffener Werke in Nachdrucken anbietet. Ein detaillierter Aufsatz in Englisch mit Tabellen und Musikbeispielen ist im Internet in der umfassenden Bruckner-Diskographie von John Berky verfügbar und kann als pdf heruntergeladen werden.
    Discographie: http://home.comcast.net/~jberky/BSVD.htm
    Haupttext in Englisch: http://home.comcast.net/~jberky/9_4_SC041.pdf
    Notenbeispiele: http://home.comcast.net/~jberky/9_4_mus1.pdf
    Tabellen: http://home.comcast.net/~jberky/9_4_TABS.pdf


    EMPFEHLUNG VOM FACHMANN:
    Prof. Harry Halbreich, Bruxelles, Musikwissenschaftler, brieflich an B.G. Cohrs:
    „Hiermit möchte ich Dir meine Begeisterung über die letzte von Dir in Gmunden dirigierte Fassung des Finales der 9. Bruckner ausdrücken. Ich hatte Jahre lang Bedenken über das Unternehmen und eigentlich über den höchst problematischen Satz überhaupt. Jetzt aber scheint mir die so lange ersehnte Geschlossenheit und Einheit weitgehend erreicht. Das Stück klingt jetzt völlig organisch und einheitlich, die paar problematischen Übergänge erfolgreich überbrückt, und vor allem erwächst jetzt die Coda ganz selbstverständlich aus dem Vorangegangen, nicht nur des Finales, sondern der früheren Sätze. Wie in jedem großen Bruckner-Werk hat der Brückenbauer (er verdient seinen Namen so schön) den Riesenbogen zwischen Eröffnungs- und Schlußtakten erfolgreich geschlossen – musikalisch und geistig endlich ein befriedendes Ganzes. Kurzum: ich glaube, mit dem heute vorliegenden Quellenmaterial kann man kaum noch weiterkommen, es sei denn, daß neues Material noch einmal auftaucht – unwahrscheinlich, aber nicht ganz unmöglich. Jetzt ist eine Aufführung aller vier Sätze mit Minimalverlust an Spannung und Einheitsgefühl endlich keine Utopie mehr. Diese letzte Fassung muß nun dringend gedruckt und der Musikpraxis zur Verfügung gestellt werden. Viel Glück damit! Mit Bewunderung, Dein Harry Halbreich. “

  • Lieber Ben,


    ich durfte mich ja bereits letztes Jahr bei unserem langen Gespräch in Bremen (wenngleich Gespräch gar nicht das richtige Wort ist, da der Informationsfluss eher nur in eine Richtung ging) als Anhänger Deiner und aller an der Final-Vervollständigung Beteiligten Arbeit outen und freue mich deshalb sehr, dass die angekündigte Partitur der neuen Fassung nun vorliegt. Ich habe sie mir heute bereits bestellt.
    Nun ist das trockene Partiturstudium das eine, das ganze klingend erlebbar zu machen das andere. Zeichnen sich aus Deiner Kenntnis heraus bereits Einspielungen dieser neuen Fassung ab, ist da was in Vorbereitung, Planung, Aussicht?



    Hoffend


    Christian

  • Hey Christian! Das Bernstein-Zitat - war das nicht auf den Höhepunkt von Barbers Adagio gemünzt?
    Nette Überraschung, Dich hier zu finden.
    Leider will mich immer noch kein Orchester einladen, wieder einmal Bruckners Neunte zu dirigieren. Unsereiner hat als Außenseiter ja keine Chance in dem gnadenlosen Haifischbecken von Musik-Agenturen, die ihren Jet-Set-Maestri 100 Konzerte und mehr pro Jahr zumuten, nur um selber ordentlich absahnen zu können... ;-)
    Lichtblick I aus Österreich: Thomas Schmögner wird, wenn er damit fertig wird, am 22. September in Linz im Rahmen des Linzer Brucknerfestes eine Orgelbearbeitung der Neunten mitsamt des neuen Finales aufführen (wenn er nicht fertig wird, gibt es als Finale seine Transkription des Te Deum).
    Lichtblick II aus England: Das sehr gute Amateurorchester "Fulham Symphony Orchestra" aus London interessiert sich für das Finale. Das Orchester wird von Marc Dooley geleitet, der hauptberuflich Editionsleiter Neue Musik bei Peters in London ist. Wir haben telefoniert; er scheint mir ein sehr sachkundiger, engagierter Musiker. Ich bin gespannt, was daraus wird. Die Angelegenheit ist noch in Klärung, aber angepeilt ist der vierte Dezember in London.
    Sonst nichts neues.
    Liebe Grüße,
    Ben

  • Noch eine brandheiße Meldung:


    Der Wiener Organist Thomas Schmögner, der auch durch eine sehr gelungene Orgel-Bearbeitung von Bruckners Vierter bekannt wurde (CD: Edition Lade), hat die Neu-Ausgabe des Finales für Orgel bearbeitet. Er bringt die gesamte Sinfonie im Rahmen des Linzer Brucknerfestes am 22. September 2005 zur Erstaufführung.

  • Hier interessehalber eine Rezension des Orgelkonzertes vom 22. 9. in Linz mit Thomas Schmoegners Transkription der Neunten inklusive Finale.


    BRUCKNERFEST: Thomas Schmögner vervollständigte "Neunte"
    Auf den Spuren des Improvisierers
    Anton Bruckner war ein Orgelimprovisator, der die Zuhörer auch mit Symphonischem aus eigenem Schaffen begeisterte. Verständlich, dass Konzertorganisten auf Bearbeitungen zurückgreifen oder selbst in diesem Sinne tätig werden. Wie Thomas Schmögner mit der "Neunten". Er ließ den üblichen drei Sätzen noch das bruchstückhaft überlieferte Finale in einer Vervollständigung (Fassung: Samale, B. G. Cohrs) folgen.


    Dieser interessante Griff nach Höchstem (Donnerstag, Stadtpfarrkirche Linz) überzeugte mit Kunstfertigkeit, Werk-Einsicht und Gestaltungskraft. Die ausholende Partitur von rund 1700 Takten hat durch instrumentengerechte Denkweisen des Solisten beeindruckt. Maßgeblich waren dabei Klangkaskaden, feinste Gespinnste, liebevolles Versenken in Melodischem sowie wuchtige Eruptionen. Der Musiker Schmögner hat bei diesem Mega-Konzert zu allem Übrigen auch für das physische Durchhaltevermögen - rund 100 Minuten - Lorbeer verdient.


    Ober-Österreichische Nachrichten vom 26.09.2005 [Autor: Franz Zamazal]

  • Angesichts der hier gut nachzulesenden Entwicklung, wie sinnlos die Bemühungen der Puristen waren, das Finale möglichst lange unter Verschluss zu halten und in welchem Entwicklungsstadium sich der Satz nunmehr befindet, wäre es an der Zeit, auch die Frage genauer aufzuwerfen, wie es möglich sein könnte, an weiteres verschollenes Material zu gelangen. Hat jemand eine Idee?


    Wir wissen, - wenn wir uns mal kurz in den Oktober 1896 zurückbeamen - , dass die Situation bezüglich der Sicherung des Nachlasses Bruckners chaotisch war. Der Nachlass wurde NICHT ordnungsgemäß gesichert, als er am 11. Oktober starb. Es wird berichtet, dass Souvenirjäger sich einzelner Skizzenblätter bemächtigt haben könnten. Was mir dabei nicht klar ist: Wo liegt die Wahrheit dieser Aussage, wo die Überschreitung zum Märchen? Wer waren diese Souvenirjäger? Wo leben ihre Nachkommen? Was bewog die Souvenirjäger, in Bruckners Wohnung einzudringen und wer gestattete ihnen den Einlass? Nun, mit Sicherheit die Hausangestellte Bruckners, Frau Kati Kachlmayr. Dann aber könnte es auch sein, dass Frau Kachlmayr etliche Skizzenblätter als Butterbrotpapier schon vorher benutzt hat, z. B., wenn sie nicht so genau wusste, was ihr Chef da so macht in seinen letzten Lebenswochen. Sollte sie einen Aufräumtick gehabt haben, ist sicherlich auch auf diese Weise etwas verschwunden.
    Nun, alle Mitleser und Mitwisser dieser Welt, - ich erwarte, dass Ihr die Blätter, die sich noch in Eurem Besitz befinden, auf der Stelle herausrückt. :evil:

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