Wie "rückwärtsgewandt" ist das Tamino- Klassikforum?

  • Wie "rückwärtsgewandt" ist das Tamino- Klassikforum ?


    Eine etwas eigenartige Frage - aber wenn man die Threads verfolgt, so dominieren doch eher solche, die sich mit älteren Einspielungen, mit Interpreten der Vergangenheit befassen.


    Gegen die internationale Newsgroup in englischer Sprache sind wir vergleichsweise progressiv, denn dort überwiegen stets Empfehlungen von Aufnahmen aus der Steinzeit der Grammophonplatte.. :baeh01:


    Dennoch habe ich mir die Frage gestellt, warum Neuaufnahmen verhältnismäßig selten die Gnade der Forianer gefunden haben.
    Ich glaube auch, darauf bereits eine Antwort gefunden zu haben - aber zuerst möchte ich Eure Meinung dazu hören.


    Es wäre ja auch möglich, dass ihr generell der Meinung seid, der Geschmack der Taminoianer wäre gar nicht "rückwärtsgewandt"



    mfg aus Wien



    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred Schmidt,
    die Menge der "rückwärtsgewandten" Aufnahmen ist naturgemäß sehr groß - was ist da in der Vergangenheit nicht alles produziert worden...
    Bei vielen alten Aufnahmen ist eine zufriedenstellende Qualität vorhanden und der Preis ist logischerweise weit niedriger als bei den Neuaufnahmen.
    Dessen ungeachtet kaufe ich jedoch fast jede Neuerscheinung auf dem von mir bevorzugten Sammelgebiet.

  • Sagitt meint:


    über dieses Thema habe ich schon früher nachgedacht, Kesting und auch Holland/Csampai empfehlen häufig Aufnahmen, die schon sehr alt sind, am besten nicht erhältlich.


    Das kommt mir vor wie ein Elitespiel: ich kenn/habe Aufnahmen, die nicht jeder hat...


    Für mich selbst würde ich das gar nicht unterstreichen. Es gibt immer wieder Neuaufnahmen, die ganz umwerfend sind, ob das nun solche von Jacobs, der Kammerphilharmonie Bremen, Haim, Minkowsky, Basler Kammerorcherster, die Aufzählung könnte unendlich lang werden.


    Daneben gibt es Aufnahmen für die Ewigkeit, Furtwänglers Beethoven während des Weltkriegs,Kleiber,früher Fischer-Dieskau usw.



    Neues muss sich schon an dem messen lassen, was bereits exisitert.Im Bereich "oper" habe ich den Eindruck, dass da nur noch selten wirkliche ganz Hervorragendes kommen kann, weil die Messlatte schon so hoch ist.
    Aber so viele Neuproduktionen kommen da ja ohnehin nicht mehr.

  • @ Sagitt


    Viele Forianer schauen beim Neukauf ihrer technischen Geräte auf Komfort
    und wollen ihre freie Zeit vor einem optomalen Abspielgerät verbringen.
    Bei Oper und Ballett gehören das Bild zum Ton.


    Noch ist es nicht so weit, aber ich denke dass in Zukunft die Forianer
    mehr nach vorn schauen und auf alte Glanzlichter verzichten werden.


    Die CD wird im Bereich der Bühnenwerke mehr und mehr verschwinden
    und dem 'Gesamtkunstwerk' - bestehend aus Bild und Ton - Platz machen.
    Der Nachholbedarf der Industrie ist unendlich.


    Konkret gesagt: Wenn es von einem Musikwerk gleichzeitig DVD und CD gibt,
    wähle ich die DVD, falls das Anschauungsmaterial für meine Begriffe nicht miserabel ist.


    Die Zeiten werden sich ändern, die Produzenten sind genötigt, zu lernen,
    weil sie umsatzorientiert arbeiten müssen. Der richtige Weg ist bereits eingeschlagen.


    :angel:
    Engelbert

  • Zitat

    Original von Engelbert


    Konkret gesagt: Wenn es von einem Musikwerk gleichzeitig DVD und CD gibt,
    wähle ich die DVD, falls das Anschauungsmaterial für meine Begriffe nicht miserabel ist.


    Gerade bei Opern ist das bei mir auch so, weil die Musik und das Bild einfach zusammen gehören, da kaufe ich dann auch eher die DVD als die CD. Aber ab und zu habe ich auch beides von einer Aufnahme, da ich nicht immer Zeit habe, vor dem Fernseher zu sitzen.

    Viele Grüße,


    Marnie

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  • Inzwischen ziehe ich bei Opern grundsätzlich auch die DVD vor, sofern es denn eine gibt. Außerdem kann ich die DVD ja auch nur hören, denn ich muss sie mir ja nicht jedes Mal anschauen.


    Ansonsten bin ich überhaupt nicht "rückwärtsgewandt", da ich immer sehr neugierig auf neue Stimmen bin. Natürlich besitze ich auch viele CDs mit "alten" Interpreten. Allerdings hatte ich da nie das Bedürfnis meine Sammlung zu vervollständigen, auch wenn diese vielleicht besser sind als heutige Interpreten.
    Man versucht dann doch einmal den ein oder anderen Sänger(in) live zu hören, oft zu Zeiten, wenn dieser noch nicht so bekannt ist und man noch gut an erstklassige Karten herankommen kann.
    :hello:
    Jolanthe

  • Von Gustav Mahler stammt die Lebensweisheit: "Tradition ist nicht Anbetung der Asche, sondern Bewahrung des Feuers".
    Die Zeit der großen Produktionen waren die 50er bis 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. dort sind zumindest in der Oper die großen, prägenden Gesamtaufnahmen mit hervorragenden Dirigenten, Orchestern und Solisten eingespielt worden.
    Aktuell sind es eher DVD und andere mit modernen Medien verbundene Aufnahmen, die den Fortschritt repräsentieren. Außerdem scheint es trotz allen Medeinrummels eine gewisse Zeit zu dauern bis Interpreten einen allgemein anerkannten internationalen Ruf erworben haben.Außerdem, wenn viele Klassikfreunde viele Aufnahmen von populären Werken in ihrer Sammlung haben, was sollen sie denn noch dazu erwerben.
    Ich glaube, dass die Erneuerung sich parallel mit dem technischen Fortschritt vollziehen wird.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Mir sind keine näheren Fakten über die Altersstruktur der Tamino-Mitglieder bekannt, aber ich vermute mal, dass hier eher weniger die Zwanzig- oder Dreißigjährigen aktiv sind, sondern wohl doch mehrheitlich Menschen in ihrer zweiten Lebenshälfte. Und diese haben sich über Jahrzehnte einen Erfahrungsschatz (und eine Tonträgersammlung) aufgebaut, welche sie dann doch gegenüber "Neuerungen" in der Musikszene wenig verführbar machen. Insoweit bekenne ich mich gern dazu, "rückwärtsgewandt" zu sein. Wenn man in früheren Jahrzehnten, um nur drei Beispiele zu nennen, die Wiener Philharmoniker unter Leitung von Leonard Bernstein oder Klavierabende von Swjatoslaw Richter oder Jazzkonzerte von Miles Davis live erlebt hat, dann schmeißt man nach dem Tod dieser Heroen nicht diese Erinnerungen (oder gar die von diesen Künstlern angesammelten Tonträger) weg, sondern hört weiter ihre Musik. Ich verstehe es, wenn junge Leute, die Bruckner mit Wand nicht mehr im Konzertsaal erlebt haben, heute von Thielemanns Bruckner schwärmen. Aber ich schwärme weiter von Wands Bruckner. Und von Miles Davis. So einfach ist das: eine reine Generationsfrage.


    "Tamino" selbst, um die Frage zu beantworten, sollte aber für junge wie für ältere, für "rückwärtgewandte" wie für "vorwärtsgerichtete" gleichermaßen offen sein und ist es meiner Meinung nach auch. Ich lese hier z.B. mit Interesse, dass viele Mitglieder von Jos van Immerseel schwärmen. Was für mich persönlich in die Kategorie "muss ich nicht haben" fällt (ich liebe den großen Steinway-Konzertflügel!), gleichwohl aber bestimmt eine interessante Neuentwicklung darstellt. Und deswegen glaube ich nicht, dass Tamino "rückwärtsgerichtet" ist. Einige oder sogar relativ viele der Mitglieder mögen es sein, aber das Forum selbst ist für alle Richtungen offen.


  • Die Zeichen der Zeit weisen natürlich weiterhin in Richtung DVD. Das grundsätzliche Problem aus der Anfangszeit von Karajans Bemühungen ist aber eher noch virulenter geworden, so dass man fast ausschließlich auf einem Nebengeleise unterwegs ist.


    Die sorgfältig vorbereitete Bild-und-Ton-Produktion eines Musikwerks ist noch viel teurer als eine CD-Produktion. Kaum eine Plattenfirma kann so etwas noch durchziehen. Man ist also überwiegend auf die Mithilfe von Fernsehanstalten angewiesen, da diese über die benötigten technischen Ressourcen verfügen. Man bekommt also durchwegs Live-Mitschnitte, bei denen die Sender auch mitreden. Das führt dazu, dass Oper auf DVD heute fast automatisch vom bestmöglichen Niveau merklich entfernt ist. Zum einen wird meistens die Premiere aufgezeichnet und zum anderen kann aus Kostengründen immer nur eine Vorstellung erfasst werden. Es ist aber keine Geheimnis, dass die Folgevorstellungen oft deutlich besser sind und die bei vielen Live-CD-Produktionen erfolgreich praktizierte Variante, dass man aus zwei oder drei Aufnahmen einer Serie die beste heraus nimmt und Fehler mit kleinen Teilen aus den restlichen Aufnahmen behebt, kann hier auch nicht angewandt werden. Der DVD-Live-Mitschnitt hat also mehr dokumentarischen Charakter, und die CD-Studio-Aufnahme hat daneben prinzipiell ihre Berechtigung nach wie vor nicht verloren.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Das Forum ist genau so rückwärtsgewandt, wie der Markt es dazu nötigt:


    Das Standardrepertoire ist sowohl bezüglich Quantität, als auch Qualität vorzüglich abgedeckt, was zu Folge hat, dass jedwede Neuaufnahme in diesem Bereich unter einem verschärften Konkurrenzdruck steht. Einerseits wird vom neuen Interpreten verlangt, dass er das Standardrepertoire einspielt, gleichzeitig soll er sich aber damit auch noch von der schon mehr als zahlreich vorhandenen Konkurrenz abheben. Tja, und das gelingt halt nicht immer, aber wenn es gelingt, dann wird es sehr wohl zur Kenntnis genommen. Bestes Beispiel dafür sind die Klavierkonzerte vob Beethoven in der Schooderwoerd-Interpretation und die dazugehörigen Threads.
    Gelingt es nicht, dann läßt man diese Neueinspielung halt links liegen und greift in das Archiv.


    Ändert sich diese Situation, in dem bestehende Lücken geschlossen werden oder ein neuer Interpretationsansatz gefunden wird oder schlicht und einfach besser gespielt wird, als es bisher der Fall war, dann wendet sich dieses Forum doch automatisch der Gegenwart bzw. der Zukunft zu.
    Und mit Verlaub, Möglichkeiten dafür gäbe es ja genug, ist doch so manche "beste Einspielung", die im Archiv steht, noch zu toppen, wenn es denn nur einer machen würde.


    Ganz anders verhält es sich mit Sachen, die nicht mehr zum Standardrepertoire gehören, also Sachen die erst die letzten Jahre auf den Markt gekommen sind, diesbezüglich ist das Tamino Klassik Forum doch absolut progressiv!


    Viele Grüße
    John Doe

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  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Das Taminoforum ist so rückwärtsgewandt wie seine (aktiven) Mitglieder und ich schließe mich der Meinung an,daß die meisten Mitglieder sich in der 2. Lebenshälfte befinden dürften.Und Menschen,die sich seit Jahrzehnten mit klassischer Musik beschäftigen,schöpfen aus ihrem großen Erfahrungsschatz,was dazu führt,daß Aufnahmen aus längst vergangenen Zeiten ihre Regale füllen und daher auch hier weiterempfohlen werden.
    Musikalische Bühnenwerke wie Opern usw. kaufe ich lieber als DVD und neuere Aufnahmen als Blu-ray.Hat man erst die neue Technik (großer 46 Zoll Flachbildschirm und Blu-ray Player) angeschaft,geht es los mit dem Kauf von DVDs/Blu-rays.Ein Live-Mitschnitt einer Opernpremiere gibt immer noch ein schöneres Erlebnis, als eine zurechtgeschniitene Studioproduktion einer CD.
    Natürlich kaufe ich auch Neuproduktionen klassischer Musik,besonders wenn sie zeitgemäß als SACDs erscheinen.
    Und es darf auch zeitgenössische Musik sein,also auch Musik aus diesem Jahrzehnt.Es macht mir zwar Freude,die 111 Aufnahme von Vivaldis 4 Jahreszeiten mit noch lebenden Interpreten zu hören,aber mich fasziniert auch Musik,die ganz neu komponiert wurde.Nur sollte es schon Musik sein,keine Geräusche.Ja, es gibt sie noch,neue klassische Musik,man muß sie nur suchen und finden.
    Und so muß ich noch bei dieser Gelegenheit mein letztes Einkaufserlebnis bei Saturn und Karststadt in einer deutschen Kleinstadt (Gummersbach) wiedergeben. Bei Saturn waren es 3 Meter Klassikregal,bei Karstadt 50 cm Klassikregal,gefüllt mit Netrebko,Bartoli,Garrett und Pott.Es bestand nicht die geringste Gefahr,rückwärtsgewandt einzukaufen.Denn es war nichts vorhanden,was von Tamino-Forenmitglieder empfohlen wird.Die nicht vorhandene Auswahl klassischer Musikaufnahmen in Kaufhäusern (von wenigen Ausnahmen abgesehen) verhindert,daß klassische Musik verbreitet wird.Es scheint auch keine rege Nachfrage mehr zu geben,klassische Musik stirbt aus.

    mfG
    Michael

  • Wenn man sich bestimmte Threads - wie etwa den jüngst von Alfred in´s Leben gerufene "Lieblingspianisten Voting - Edition 2010" betrachtet, kann einen schon etwas gruseln, weil nur wenige noch lebende Pianisten genannt werden. Als gäbe es nach Richter, Gulda, Gilels oder Arrau keine jungen, guten Pianisten mehr.


    Ich finde das ein wenig bedenklich. Da scheint sich eine Zweiteilung anzubahnen: die "normalen" Klassikhörer sind aj durchaus bereit, neue Talente - ich denke etwa an Stadtfeld, Ragna Schirmer, David Frey oder Freddy Kempf, zu hören. Bei den "ernsthaften" Klassikhörern, oder denen, die sich so empfinden, kommen anscheinend solche jungen Musiker - ich habe jetzt nur Pianisten genannt; in anderen Instrumentengattung dürfte es eine ähnlche Entwicklung geben - leider gar nicht mehr vor. Das ist mehr als bedauerlich, denn eine solche Entwicklung läßt viele Talente unbeachtet und versinkt meines Erachtens in einer wirklich rückwärtsgewandten Betrachtungsweise.


    Viele Grüße, Bernd

  • Zitat

    Und Menschen,die sich seit Jahrzehnten mit klassischer Musik beschäftigen,schöpfen aus ihrem großen Erfahrungsschatz,was dazu führt,daß Aufnahmen aus längst vergangenen Zeiten ihre Regale füllen und daher auch hier weiterempfohlen werden.


    Wenn ich bedenke, dass die ersten HIP-Einspielungen der Klassiker auch schon die 25 überschreiten, dann bin ich auf jeden Fall rückwärts gewandt, auch wenn mir selbst das gar nicht so vorkommt. Bloß warum sollte ich mir jetzt einen weiteren Beethoven-Zyklus in HIP zulegen, der bis auf eine eventuell andere Aufstellung der Streicher interpretatorisch nicht über das hinausgeht, was ich schon habe?
    Bevor ich das mache, schließe ich doch lieber meine anderen Lücken in meiner Sammlung und greife dazu ohne mit der Wimper zu zucken etwas tiefer in die Mottenkiste, weil das, was Weingartner, Toscanini, Furtwängler, Klemperer, Leibowitz, Karajan, Böhm, Solti und Bernstein in der Sache zu sagen haben, für mich grundsätzlich neuer ist, als das, was im Moment irgendein aktuelles Kammerorchester diesbezüglich zu bieten hat.


    Viele Grüße
    John Doe

  • Zitat

    Original von John Doe
    ... Bloß warum sollte ich mir jetzt einen weiteren Beethoven-Zyklus in HIP zulegen, der bis auf eine eventuell andere Aufstellung der Streicher interpretatorisch nicht über das hinausgeht, was ich schon habe?


    Woher weißt du, dass eine neue Einspielung keinen neuen Interpretationsansatz bietet, bevor du sie nicht gehört hast ? Und die Schnipsel bei jpc oder amazon reichen imo keineswegs aus, sich einen Eindruck der Aufnahme zu verschaffen. Auf Rezensionen in Zeitschriften kann man sich keineswegs verlassen; die sind so subjektiv, wie der Rezensent selbst. Dazu kommt noch - meine Erfahrung - dass eine neue Einspielung nicht unbedingt bei ersten Hören ihre neue Sichtweise vermitteln kann, sondern, dass sich neue Einsichten erst beim mehrmaligen Hören erschließen.


    Dein Beitrag bestätigt mir, dass die Mehrzahl der Taminoaner Experimente und neue Aufnahmen eher scheuen und sich lieber mit dem altbekannten zufrieden geben.


    Viele Grüße, Bernd

  • Rückwärtsgewandt? Nun, wenn wir über Einspielungen sprechen, sollten schon Vergleiche möglich sein. Einige Mitglieder machen Einschränkungen beim Hörvergleich (muss HIP sein, muss stereo sein etc). Den Karajan dem Herreweghe vorzuziehen finde ich nun nicht wirklich rückwärtsgewandt.


    Junge Menschen, die nur Karajan, Bernstein und Böhm auf dem Sender haben und noch nicht mal mit zeitgleichen Alternativen vergleichen, geschweige denn mit aktuellen Dirigenten, finde ich schon bedenklicher.


    Ist aber auch noch nicht rückwärtsgewandt. Aber hier fängt's an.


    Rückwärtsgewandt -und das meine ich jetzt durchaus auch negativ- ist Tamino etwa durch die ganzen Regietheaterthreads. Das ist noch schlimmer als bei der guten, alten Hydra: man muss gar nicht erst ein Haupt abschlagen, es wachsen auch so immer neue nach.


    Auch der Diskussionsverlauf zeigt doch zuweilen das Agieren einer älteren Generation, die noch ganz anders auf Krieg, Misstrauen und Rechthabenwollen getrimmt ist als etwa die Geburtsjahrgänge nach 1980. Das möge die ältere Generation jetzt bitte nicht krumm nehmen. Ich meine das nicht wertend, sondern stelle lediglich diesen Sachverhalt fest. Und den einen oder anderem jüngeren Beiträger haben wir ja auch dazwischen, der ganz offensichtlich bei seiner Geburt schon 30 war.


    Ich bitte übrigens wirklich darum, die von mir zuweilen angesprochenen Generations- oder Altersaspekte nicht wertend zu sehen. Dass Tamino höchst aktive Mitglieder hat, die die 70 beriets überschritten haben ist ein Plus dieses Forums. Die Altersspannbreite geht von 15-75. Unglaublich, was für ein Eisen hier geschmiedet werden kann.


    Der Vorteil bei Tamino ist tatsächlich, dass es hier nicht politisch korrekt zugehen muss.


    Ich gestehe ganz offen: Oper ist nicht meins. Einen ganz wesentlichen Anteil daran haben Leute wie Knuspi (den nehme ich jetzt einfach mal pars pro toto), die besserwissend in jeder Opernaufführung sitzen, nie zufrieden sind und denjenigen, denen es gefallen den Spaß mir ihren "Buhs" vergällen. Da bliebe ich lieber daheim.


    Klassische Operninszenierungen locken mich genausowenig in ein Opernhaus wie mir klassisches Ballet ("Hackespitzehackespitze") etwas sagt. Was sich in den diversen Regiethaterthreads so an Beiträgern tummelt, bestätigt mich in meinem Unwillen.


    Was die Disziplinen jenseits der Oper betrifft, ist Tamino angenehm zeitlos. Den einen oder anderen temperamentvollen Karajaniten erträgt das Forum eher als die unerträgliche politische Korrektheit, die nichts weiter ist als ein tabubewehrter, weil diskussionshassender Maulkorb.


    Am liebsten ist mir Tamino da, wo einfach Kenntnisse zusammengetragen und ausgetauscht werden. Das geschieht an sehr vielen Stellen. Und da ist Tamino weder rückwärts- noch vorwärtsgewandt. Da geht's um die Sache.


    Nur zum Thema angeblicher Rückwärtsgewandheit: ich höre gerade jetzt den Choral Nr.1 E-dur von César Franck. Es spielt: Albert Schweitzer. Der starb in meinem Geburtsjahr. Nun habe ich eine persönliche Affinität zu seinem Denken, mein Dortmunder Friseur erzählte mir -25 Jahre ist's her- dass er Schweitzer vor einem Orgelkonzert in den 1950er Jahren erlebt hätte, und so habe ich den Schweitzer an der Orgel entdeckt. Und mit ihm Orgelmusik, die gewiss von anderen Organisten besser gespielt wird.


    Es gibt jede Menge biographische Bezüge, die wir zu Musik und Musikaufnahmen haben. Wenn wir die als solche diskutieren wird Tamino nie in den Ruf geraten, rückwärtsgewandt zu sein. Bei einzenlnen Spiegelfechterthreads hingen schon. Und da: sehr zu recht.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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  • Zitat

    Original von zatopek
    Wenn man sich bestimmte Threads - wie etwa den jüngst von Alfred in´s Leben gerufene "Lieblingspianisten Voting - Edition 2010" betrachtet, kann einen schon etwas gruseln, weil nur wenige noch lebende Pianisten genannt werden. Als gäbe es nach Richter, Gulda, Gilels oder Arrau keine jungen, guten Pianisten mehr.


    Doch, Bernd, es gibt gute junge Pianisten. Und einige wenige sind sogar sehr, sehr gut. Berezowsky hat mich z.B. unlängst im Konzertsaal (als Einspringer für Elisabeth Leonskaja) schwer begeistert. Volodos und Bronfman ebenfalls. Wenn man heute ins Konzert gehen und Live-Musik hören möchte, ist man ja ohnehin auf diese heute aktiven Pianisten angewiesen. Sie müssen sich aber schon dem Vergleich mit den Pianisten-Generationen vor ihnen stellen. Jedenfalls dann, wenn sie sich nicht nur an ein sehr junges, unerfahrenes Publikum wenden, sondern sich einem Publikum präsentieren, das Michelangeli, Richter, Horowitz, Gilels, Serkin, Arrau oder Kempff noch gehört hat. Und wenn man dann mal ehrlich ist und einen echten Vergleich anstellt, meine ich schon, dass das Ergebnis ganz eindeutig ausfällt. Warum soll ich mir David Frey anhören, wenn ich mit Glenn Gould groß geworden bin? Wo ist der Witz, sich eine von diesen ganzen jungen Violinistinnen anzuhören, wenn man Oistrach, Kogan, Szeryng und Milstein noch live erlebt hat? Warum soll ich von Dudamel schwärmen, wenn ich doch ganz genau weiß, dass er Bernstein im direkten Vergleich nicht das Wasser reichen kann? Sag' mir nicht, dass ich es nicht versucht habe. Ich bin zu den Berliner Philharmonikern gereist, als Dudamel am Pult mit großem Publicity-Aufwand angekündigt war. Und fuhr mit einem "ganz nett"-Gefühl wieder nach Hause.


    Ich kann aber auch die Haltung jüngerer Musikhörer sehr gut verstehen. Als ich vor knapp 20 Jahren einen Berufskollegen kennenlernte, der kurz vor der Pensionierung stand und ähnlich (oder sogar noch mehr) jazzbegeistert war wie ich, lieh ich ihm einige Michael Brecker-CDs. Mein damaliger Favorit am Saxofon. Er gab sie mir nach einigen Tagen zurück und meinte, dass ich ihm nicht böse sein solle, aber wenn man wie er John Coltrane viele Male live erlebt habe, könne man mit diesen ganzen Klonen nichts anfangen. Das hat mich damals schon - naja, ich will nicht sagen verletzt: aber schon getroffen. Heute bin ich genauso drauf wie er damals. Was soll ich mir denn bitteschön einen geföhnten, weichgespülten Langweiler wie Till Brönner anhören (ein einziges Mal habe ich es getan, leider), wenn ich ungleich bessere Trompeter wie Miles Davis, Chet Baker oder Freddie Hubbard live erlebt habe? Einen jungen Jazzfan würde diese Bemerkung verletzen, weil er/sie so sozialisiert wurde, dass Till Brönner doch richtig gut sei. Ist er aber nicht. Nur weiß man das eben nur, wenn man den Vergleich anstellen kann. Also den einen wie den anderen live gehört hat. Und deshalb verzeih' uns "Rückwärtsgerichteten" bitte, dass wir diesen Vergleich z.B. mit den von Dir genannten jüngeren Pianisten vornehmen.


    Edit: Während ich meinen Beitrag schrieb, hat Thomas seinen Beitrag veröffentlicht, den ich folglich noch nicht berücksichtigen konnte:

    Zitat

    Original von Thomas Pape
    Am liebsten ist mir Tamino da, wo einfach Kenntnisse zusammengetragen und ausgetauscht werden. Das geschieht an sehr vielen Stellen. Und da ist Tamino weder rückwärts- noch vorwärtsgewandt. Da geht's um die Sache.


    Ganz meine Meinung.

  • Lieber Swjatoslaw,


    allein Dein Name fordert zu großer Aufmerksamkeit auf. Deine Beiträge sind jedoch ein Gewinn für uns alle, vor allem, weil sie eine erlebte und gefestigte Meinung widerspiegeln.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Zitat

    Original von operus
    Lieber Swjatoslaw,
    allein Dein Name fordert zu großer Aufmerksamkeit auf. Deine Beiträge sind jedoch ein Gewinn für uns alle, vor allem, weil sie eine erlebte und gefestigte Meinung widerspiegeln.
    Herzlichst
    Operus


    Ich danke Dir sehr, operus. Und bin richtig gerührt.

  • @Swjatoslav: Die interessanten Leute lernen wir wahrscheinlich nur im Konzertsaal kennen. Genau wie früher wird auch heute viel mehr Musik gemacht, als auf Platte aufgezeichnet wird.


    Ich hörte vor zwei Jahren das Trio Dali, das exzellent Schubert's Trio op. 100 spielte. Mittlerweile gibt's von denen auch eine CD. Mit Ravel. Man höre einmal konzentriert der Pianistin Amandine Savary zu. Ein Diamant, der da leuchtet.


    Sei insgesamt versichert: wir haben gewiss unsere Stars und Lieblinge. Und sei ebenso gewiss: grundsätzlich kann der Nachwuchs mithalten.


    Gepushten Plattenstars gegenüber bin ich hingegen skeptisch. Vielleicht sollte ich da mal Vorurteile abbauen.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Thomas Pape
    @Swjatoslav: Die interessanten Leute lernen wir wahrscheinlich nur im Konzertsaal kennen. Genau wie früher wird auch heute viel mehr Musik gemacht, als auf Platte aufgezeichnet wird.


    Als ich 12 oder 13 war, kaufte ich mir das allerbilligste Ticket für ein Konzert mit einem Dirigenten, der mir nur vom Namen etwas sagte, und setzte mich mit der Frechheit der Jugend einfach mit diesem Billigticket in eine der vordersten Reihen. Zum Glück blieben einige Plätze frei. Der Dirigent damals hieß Karl Böhm.


    Klar, man muss Musiker live sehen. Ohne dieses damalige Konzert hätte ich vielleicht nie eine Beziehung zu Böhms Werk bekommen. Und hätte ich es nicht geschafft, für drei Konzerte von Vladimir Horowitz Karten zu ergattern, hätte ich nie erfahren, welch unglaublichen Klavierton er im Saal zu produzieren in der Lage war. Genauso muss man auch zu Konzerten der heutigen Künstler pilgern - absolut klar. Wie war ich z.B. begeistert von Sergey Khachatryan, den ich als Solist des Prokofiew-Violinkonzerts Nr. 2 mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Kitaenko erleben durfte. Und wie war ich - nach diesem Konzert - erstaunt, dass Khachatryan so wenig Presse und Promotion bekommt: heutzutage muss man als Geiger wohl weiblich sein und schulterfrei auftreten oder alternativ Gidon Kremer heißen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.


    Aber gleichwohl meine ich: ein Volodos muss sich dem Vergleich mit Horowitz stellen. Und ein Pollini, der einen Schumann-Klavierabend gegeben hat, dem Vergleich mit Kempff oder Richter. Und man darf als etwas älterer Musikhörer nicht ausgeschimpft werden, wenn man der Meinung ist: Richter, Kempff oder Horowitz gelang das Chopin- oder Schumann-Werk einfach besser.

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  • Hallo Zatopek,


    du fragst:


    Zitat

    Woher weißt du, dass eine neue Einspielung keinen neuen Interpretationsansatz bietet, bevor du sie nicht gehört hast ?


    Ich könnte jetzt salopp sagen "zu 80% aus diesem Forum!", aber ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht, d.h. hier werden auch Sachen besprochen, die ich schon habe. Wenn sich nun die Meinungen der Forianer, bzw. der Rezensenten mit meinen Erfahrungen decken und das nicht nur einmal, sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit, dann entsteht eine Kontrollgruppe, die erstaunlich verlässlich ist.
    Kommt jetzt irgendetwas neues heraus, das mich interessiert und auch wirklich besonders ist, dann taucht es doch hier sofort auf. Wenn sich dann auch noch Mitglieder meiner "Kontrollgruppe" an dieser Diskussion beteiligen, und da kann ich mich darauf verlassen, dass sie es tun, nehme ich deren Meinung natürlich zur Kenntniss und informiere mich weiter über dieses Werk. Und wenn dann mein Interesse immer noch nicht abgeschreckt ist, dann schreite ich zum Kauf oder auch nicht, denn zwischenzeitlich weiß ich ja auf Grund meines eigenen Erfahrungsschatzes, auf was ich bei Rezensionen zu achten hab.
    Außerdem kann man ja hier auch immer noch fragen und Bayern 4 gibt es auch noch.


    Natürlich wäre es einfacher, wenn es noch einen qualifizierten Fachhandel gäbe, aber den gibt es leider nicht mehr.


    Zitat

    Dein Beitrag bestätigt mir, dass die Mehrzahl der Taminoaner Experimente und neue Aufnahmen eher scheuen und sich lieber mit dem altbekannten zufrieden geben.


    Das stimmt jetzt so nicht, ich hab mir die Wiener Klassiker ausschließlich in HIP erarbeitet und lange Jahre hat das als kühn und progressiv gegolten. Bloß jetzt mache ich die Feststellung, dass sich HIP eben auch langsam zu wiederholen beginnt und ich mir andere Ansätze bzw. Zugänge wünsche. Diese finde ich aber nun auf Grund der Ausstrahlung von HIP weniger im Heute, sondern primär in der Zeit vor HIP. Etwaige Möchtegerntitanen aus der Gegenwart kenne ich, das bißchen, was ich von denen habe, hat mir nur den Unterschied zwischen groß und voluminös gezeigt.


    So, das hat sich jetzt alles auf den Mainstream, Schwerpunkt Klassik, Untergruppe Tiefe bezogen.


    Wo deine Aussage überhaupt nicht mehr zutrifft, ist meine Liebe zur Breite, wobei ich bei selbiger zwischenzeitlich im 20. Jhdt. mit Blick nach Osten stehe. Da bin ich absolut experementierfreudig, da kaufe ich fast blind. Und da bedauere ich auch, dass ich mich doch immer wieder mit mäßigen Interpretationen hervorragender Werke zufrieden geben oder auf Uraltproduktionen zurückgreifen muss und frage mich, warum diesbezüglich seitens der Newcomer so wenig geschieht.
    Und das bezieht sich jetzt nicht nur auf die Moderne und den Sozialistischen Realismus, das geht doch schon im 19. Jhdt. los: Wird den unbedingt noch eine neue Traviata gebraucht und eine weitere La Boheme? Wäre es nicht eine vollständiger Rienzi und eine ganze Afrikanerin angebrachter?


    In diesem Sinne mit bestem Dank an das Forum im Allgemeinen und an meine "Kontrollgruppen" im Besonderen


    John Doe
    :hello:

  • Zitat

    Am liebsten ist mir Tamino da, wo einfach Kenntnisse zusammengetragen und ausgetauscht werden. Das geschieht an sehr vielen Stellen. Und da ist Tamino weder rückwärts- noch vorwärtsgewandt. Da geht's um die Sache.


    Hier bin ich absolut damit einverstanden. Leider gibt es Sachzwänge. Einer davon ist die Einschaltquote.Über forenstrategische Maßnahmen möchte ich allerdings nicht öffentlich plaudern.


    Kommen wir zum eigentlichen Thema, der Auswahl an interpreten.


    Das Problem ist viel komplexer, als zunächst angenommen.


    Aber versuchen wir es einmal mit einem alten Zizat, welches auf Schauspieler gemünzt war, aber ebensogut auf Dirigenten,und Intrumentalsolisten, Sänger etc angewandt werden konnte:


    DIE NACHWELT FLICHT DEM MIMEN KEINE KRÄNZE


    Dieses Zitat hat nunmehr an Bedeutung verloren, weil es Ton- und Filmaufnahmen gibt. In der Vergangenheit hat der Ruhm eines Künstlers (des genannten Bereichs) lediglich für die Dauer seines Lebens gehalten, Dann wurde eine Grabrede gehalten, ein Denkmal gesetzt - und in einigen Jahren war Gras über die Sache gewachsen.


    Heute ist das anders; Jeder Neue muß sich an den Größen der Vergangenheit messen lassen, an ehernen Säulen der Kunst, die posthum noch glorifiziert werden.


    Ich selbst sammle eher rückwärtsgewandt, weil ich das, was ich liebgewonnen habe (und das ist bei mir stets ein laner Prozess) gern immer um mich haben möchte, Soll heissen, wenn ein Dirigent bei mir punkten konnte, dann möchte ich gerne MEHR von ihm hören, ich möchte alle- oder zumindest viele - Aufnahmen von ihm besitzen. Das wiederum bringt es mit sich, daß wenige Platz, Zeit und Geld für junge Interpreten bleibt.


    Der neue Interpret hat in vielerlei Hinsicht Problem, sich zu behaupten, denn nicht nur, da´ß "die aklte Garde die bekannteren Namen aufzuweisen hat, so sind sich oft sogar preiswerter zu haben.


    Zudem wird der Weggang von den traditionellen Sichtweisen von einem Teil des Publikums als Verrat am Komponisten gesehen - und der Interpret abgestraft.


    In der Vergangenheit genossen Interpreten oft gottähnliche Verehrung, geradezu Anbetung.
    Heutigen Künstlern ist dieser Nimbus versagt, und somit scheinen sie wenigeiger Eindruck zu hinterlassen, sind auch nicht mehr so besitzenswert wie ihre Vorgänger.


    DAzu kommt noch ein weiteres Problem.


    Während ich ca 5 Jahre brauche, bis mich ein neuer Interpret zu interessieren beginnt, wird er von seinem Label meist schon nach 2-3 Jahren fallengelassen.



    Dennoch. Vereinzelt interessiere ich mich auch für derzeitige Interpreten:


    Neue Bekanntschaften - Interpreten die sich erst seit kurzem in meiner Sammlung befinden


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Swjatoslaw
    Doch, Bernd, es gibt gute junge Pianisten. Und einige wenige sind sogar sehr, sehr gut. Berezowsky hat mich z.B. unlängst im Konzertsaal (als Einspringer für Elisabeth Leonskaja) schwer begeistert. Volodos und Bronfman ebenfalls. Wenn man heute ins Konzert gehen und Live-Musik hören möchte, ist man ja ohnehin auf diese heute aktiven Pianisten angewiesen. Sie müssen sich aber schon dem Vergleich mit den Pianisten-Generationen vor ihnen stellen. Jedenfalls dann, wenn sie sich nicht nur an ein sehr junges, unerfahrenes Publikum wenden, sondern sich einem Publikum präsentieren, das Michelangeli, Richter, Horowitz, Gilels, Serkin, Arrau oder Kempff noch gehört hat. Und wenn man dann mal ehrlich ist und einen echten Vergleich anstellt, meine ich schon, dass das Ergebnis ganz eindeutig ausfällt. Warum soll ich mir David Frey anhören, wenn ich mit Glenn Gould groß geworden bin? ....


    Vielen Dank für deinen Beitrag. Er brachte mich dazu, zu überlegen, was eigentlich mit "rückwärtsgewandt" gemeint sein soll.


    Ich würde es so verstehen, dass man ausschließlich die großen Meister der Vergangenheit hört und seine Ohren vor dem verschließt, was derzeit tatsächlich aktuell auf dem Markt ist. Dazu kommt dann noch das Vorurteil, dass die meisten der jungen Musiker eh nur von Plattenfirmen und Musikkritikern gehypt werden.


    Eien solche Einstellung würde ich als rückwärtsgewandt in einem abwertenden, negativen Sinne verstehen und bezeichne sie als schädlich für die Musik. Denn sie läßt neuen Interpreten keine Chance. Aber was soll es bedeuten, wenn neue, junge Musiker mit den Altmeistern verglichen werden. Dass sie technisch ihr Instrument beherrschen, davon kann man eigentlich bei den allermeisten ausgehen. Im Gegenteil: ich habe manchmal den Eindruck, dass die technischen Fähigkeiten, also die Möglichkeiten, die Möglichkeiten seines Instruments vollkommen auszureitzen, eher noch gestiegen sind. Nun mag das nicht viel heißen, denn entscheidend ist doch, was macht der Musiker mit seiner Virtuosität ? Und das ist dann die Frage der Interpretation. Dann drängt sich doch aber die Frage auf, kann man "moderne", "aktuelle" Interpretationen mit denen vergangener Zeiten vergleichen ? Wenn man einmal zugibt, dass jede Epoche ihren eigenen "Zeitgeschmack" hat, dann kommt man auch zu einer anderen Definition von "rückwärtsgewandt". Dann geht es nämlich darum, dass man aus Gründen des Geschmackes an "veralteten" Interpretationen festhält.


    Folgendes Beispiel: Glenn Gould hat mit seiner Einspielung der Goldbergvariationen auf dem Klavier Massstäbe gesetzt. Das ist sicherlich richtig. Das darf meines Erachtens jetzt aber nicht dazu führen, dass sich jede neue Aufnahme daran messen lassen muss, nach dem Motto "Klingt wie Gould - ist gut" oder "Klingt nicht wie Gould - böse". Die Entwicklung ist musikgeschichtlich, wie auch interpretatorisch - von der Aufnahmetechnik mal ganz abgesehen - weitergeschritten. Wer Gould in diesem Sinne immer noch Referenzstatus einräumt, ist meines Erachtens nicht bereit, neuen Entwicklungen vorurteilsfrei zu begegnen.


    Ein anderes Beispiel aus meinem Sammelgebiet, den Suiten für Cello Solo von J.S.Bach: die Aufnahme aus den dreißiger Jahren von Pau Casals ist sicherlich von größter Bedeutung für die Geschichte der Aufnahmen dieser Stücke überhaupt. Sie war die erste komplette Aufnahme der Suiten. Eine Einstellung, dieser Aufnahme immer noch einen Referenzstatus einzuräumen, obwohl es seitdem hunderte neuer Aufnahmen gibt, von denen viele in jeder Beziehung - technisch, interpretatorisch und aufnahmetechnisch - besser sind, würde ich als in negativem Sinne rückwärtsgewandt bezeichnen.


    Ich weiss nicht, ob jetzt klargeworden ist, was ich meine und will daher versuchen, es mit anderen Worten zusammenzufassen: Als im negativen Sinne rückwärtsgewandt würde ich die Einstellungen bezeichnen, die 1) sich jeder neuen Entwicklung prinzipiel verschließt oder 2) jede Neuaufnahme nur an den bereits etablierten "Referenzen" mißt, ohne die Eigenheiten dieser neuen Einspielungen recht würdigen zu wollen.


    Und ich habe beim Lesen vieler Threads, die mich interessieren, leider den Eindruck, dass viele Tamonianer in einem solchen negativen Sinne rückwärtsgewandt erscheinen.


    Viele Grüße, Bernd


    Nachtrag: ich habe mein ursprüngliche Posting in dem fettmarkierten Bereich korrigiert, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, als hielte ich jede Aufnahme nach Casals für besser; es gibt unter den neueren Einspielung sicherlich auch schlechtere.

  • Zitat

    Original von John Doe
    Wo deine Aussage überhaupt nicht mehr zutrifft, ist meine Liebe zur Breite, wobei ich bei selbiger zwischenzeitlich im 20. Jhdt. mit Blick nach Osten stehe. Da bin ich absolut experementierfreudig, da kaufe ich fast blind.


    Verzeihung, da sind mir wahrscheinliich mal wider die Pferd durchgegangen; meine Bemerkung sollte keine persönliche Kritik bedeuten. Nochmals: ich hatten den Eindruck, dass deine Antwort ein wenig symptomatisch für viele hier im Forum ist, die sich bei der Interpretation eines Werkes zu gerne auf die ausgetretenen Pfade verlassen, nachdem Motto, was brauche ich eine neue Aufnahme, ich bin mit der alten doch sehr zufrieden. Mag ja sein, dass dem so ist und dann ist es ja auch gut.


    Aber: meine Einstellung ist das nicht. Ich will nicht immer denselben alten Quark hören, mag er auch noch so gut sein. Ich möchte neue, aufregende Interpretationen bekannter Stücke hören. Wobei ich mit "aufregend" nicht nur positive Reaktionen meine, sondern gerne auch "aufregend" schlechte. Denn auch daran kann man neue Erfahrungen machen, neues über die Interpretation lernen.


    Viele Grüße, Bernd

  • Zitat

    Original von zatopek
    Ein anderes Beispiel aus meinem Sammelgebiet, den Suiten für Cello Solo von J.S.Bach: die Aufnahme aus den dreißiger Jahren von Pau Casals ist sicherlich von größter Bedeutung für die Geschichte der Aufnahmen dieser Stücke überhaupt. Sie war die erste komplette Aufnahme der Suiten. Eine Einstellung, dieser Aufnahme immer noch einen Referenzstatus einzuräumen, obwohl es seitdem hunderte neuer Aufnahmen gibt, die in jeder Beziehung - technisch, interpretatorisch und aufnahmetechnisch - besser sind, würde ich als in negativem Sinne rückwärtsgewandt bezeichnen.


    Eine sehr wesentliche und richtige Aussage, vielen Dank dafür, und auch ein gutes und treffendes Beispiel für diesen Fred, finde ich. Als ich gelegentlich las, dass der eine oder die andere die Casals-Einspielung, die ich wie Zatopek wegen ihrer historischen Bedeutung in Ehren halte, als aktuell gültige Referenz, unbedingtes Vorbild und quasi einzige hörenswerte Einspielung ansieht, war ich sprachlos. Die ohrenhörlichen Mängel sind so deutlich selbst dann, wenn man keine Vergleichsaufnahme zur Verfügung hat ...


    Bleibt die Frage aktuell: Warum muss ich eigentlich dem Mimen und dem Musiker Kränze flechten? Geht es denn wirklich darum? Mir sind immer wieder jene suspekt, die so genau und haarklein zu wissen behaupten, wie ein Musikstück zu klingen hat und vor allem wie nicht - die dementprechend die 0,5 % Referenzaufnahmen aus den Abfallsäcken voller minderwertiger Spreu aussieben wie der Bäcker die schlechten Körner aus dem Mehl.


    Geht es denn nicht jenseits solchen Bierernstes vor allem darum, Musik zu erleben? Zatopek schreibt, er möchte jenseits des immer selben alten Quarks aufregende neue Interpretationen der bekannten Stücke hören. Genau darum geht es mir auch.


    Die immer wiederholte Aufführung derselben alten Stücke, das "Covern" des Bekannten, ist ja gerade die typische Rezeptionsform in der E-Musik. Was soll diese Musik lebendig halten, wenn nicht die jedesmal neue aufregende subjektive Interpretation? Der Rückzug auf immer dieselbe angebliche Referenzaufnahme ist dann doch kontraproduktiv - auch wenn die Referenz als Bezugspunkt zur Beurteilung dessen, was ich aktuell höre, durchaus ihren Wert behält.


    Diese Sichtweise nimmt aber dem "Alten" nicht seinen Wert. Ich finde es derzeit überaus aufregend, den von mir viel zulange vernachlässigten Horenstein als Dirigent vor allem bei Mahler und Bruckner zu entdecken. Oder Barbirollis Mahler wieder zu hören, Tennstedt live - und und und. Diese alten Aufnahmen sind spannend, überzeugend auf ihre eigene Weise, oder eben auch nicht. Sie stehen für mich gleichberechtigt neben aktuellen Einspielungen etc. pp. Deshalb falle ich nicht vor Ehrfurcht in Ohnmacht, wenn ich den Namen XYZ höre.

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  • Zitat

    Original von Swjatoslaw
    Und man darf als etwas älterer Musikhörer nicht ausgeschimpft werden, wenn man der Meinung ist: Richter, Kempff oder Horowitz gelang das Chopin- oder Schumann-Werk einfach besser.


    Na, solange ich als weniger alter Musikhörer nicht ausgeschimpft werde, wenn ich Kempff und Gould nicht ausstehen kann, soll's mir recht sein.
    ;)
    Kempff ist mir unerträglich, weil er romantische Musik spielt, als liefe ein Metronom mit, und Gould, weil er Improvisationen über Werke der klassischen Musik spielt.


    Ich verstehe zwar, dass man das mögen kann, dass die zwei in ihrer eigenartigen Kunst ihre eigenwilligen Qualitäten hatten, aber mich interessiert das nicht.


    In Zeiten des nachlassenden Genie-Kultes wird es Nachwuchs dieser Art kaum geben, insofern wird Swjatoslaw wohl dabei bleiben können, dass die heutigen Interpreten minderwertiger seien. Allerdings wird es wohl eine abnehmende Menge von Leuten mit Spezialinteresse sein, die sich überhaupt dafür interessieren werden, wie man vor 50 Jahren die Romantiker gespielt hat. Das spiegelt sich ja auch in der Meldung hier wieder, dass die in tamino präferierten Aufnahmen nicht im CD-Geschäft stehen.

  • Zitat

    Original von Ulrich Kudoweh
    Die immer wiederholte Aufführung derselben alten Stücke, das "Covern" des Bekannten, ist ja gerade die typische Rezeptionsform in der E-Musik. Was soll diese Musik lebendig halten, wenn nicht die jedesmal neue aufregende subjektive Interpretation?


    Vielleicht ist auch diese Auffassung doch schon ein wenig überholt. Die Tendenz der letzten Jahrzehnte geht zumindest im CD-Bereich aber auch in Konzerten Alter Musik dahin, eine größere Menge an Repertoire zu präsentieren. Dadurch wird dieser kuriose Zwang, immer dasselbe möglichst eigenwillig darzubieten, an Schärfe verlieren - leider ist im "normalen" Konzertbetrieb die Wiederholungsrate immer noch ziemlich ernüchternd.

  • Hallo zatopek,


    kein Problem!
    Schwerpunktmäßig beschäftige ich mich gerade mit dem 20. Jhdt erlebe aber jetzt gerade eine kleine Beethoven-Renaissance, ausgelöst durch diese Schoonderwoerd-Einspielungen, dabei habe ich festgestellt, dass ich mich diesbezüglich in einer zeitlichen Mittelposition befinde und gleichzeitig immer noch das Bedürfnis habe, weitere wirklich andere Beethoven-Erfahrungen zu machen. Da die Gegenwart nun doch sehr stark von der HIP beeinflusst ist, bietet sie mir zu wenig, da ich ja schon genügend Einspielungen in HIP habe, weswegen ich mich der Vergangenheit zuwende. Die Namen derselbigen sind mir alle wohlvertraut, bloß habe ich mich mit ihnen noch nicht eingehend beschäftigt.
    Gleichzeitig passt diese Absicht aber auch gut zu meinem derzeitigen musikalischen Hauptschwerpunkt, wird doch der Komposition die zeitnahe Interpretation gegenübergestellt. D.h. ich finde es höchst spannend, von Furtwängler und Weingartner Eigenkompositionen und auch Interpretationen zu hören. Aber auch Klemperer, Leibowitz oder Bernstein, da gibt es doch immer wieder etwas neues zu entdecken und altvertrautes neu zu bewerten.


    Zitat

    Ich möchte neue, aufregende Interpretationen bekannter Stücke hören. Wobei ich mit "aufregend" nicht nur positive Reaktionen meine, sondern gerne auch "aufregend" schlechte. Denn auch daran kann man neue Erfahrungen machen, neues über die Interpretation lernen.


    Ganz meine Meinung, bloß ist für mich die Beethoven 2 von Klemperer genauso neu, wie die Beethoven 3 von Furtwängler, wie was weiß ich für eine von Thielemann, wobei es mir da jetzt nicht um eine Verklärung alter Zeiten und exzessiven Starkult geht, sondern schlicht und einfach um den gaz anders gearteten Interpretationsansatz.
    Bloß warum soll ich mir von einem etwas zulegen, von dem man sagt, er spiele wie Furtwängler, wenn es von Furtwängler selbst auch noch genügend gibt.


    Viele Grüße
    John Doe


  • Sind denn zB Beethovens Sinfonien mit Toscanini oder Mengelberg, Chopin oder Skrjabin mit Sofronitsky wirklich "altbekanntes" für die meisten Hörer?
    (bei den 08/15-Plattenclub-Empfehlungen a la Karajan, Böhm, Brendel, Kempff mag das anders sein...)


    [edit: sehe jetzt erst, dass dieser Punkt schon so ähnlich gemacht wurde, ich wollte nicht drauf herumhacken ;)]


    Durch die massenhafte, oft preiswerte Verfügbarkeit historischer Einspielungen kann man hier genauso auf Entdeckungsreise gehen wie bei neueren Aufnahmen.
    Ich habe von wenigen Ausnahmen abgesehen gar nicht den Eindruck, dass sich hier die extremen Verfechter historischer Aufnahmen tummeln. Die teils verbreitete konservative Haltung bzgl. Oper und teils auch Musik überhaupt schlägt sich bei den favorisierten Einspielungen nicht so deutlich nieder.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Nun, da wir überwiegend über bereits erstellte Aufnahmen bereits komponierter Musik sprechen, ist das Tamino-Klassikforum in mancherlei Beziehung grundsätzlich rückwärtsgewandt.


    (Ähnlich ist es mit Bayreuth: Sie sind per se bewahrend - die Frage ist, auf welcher logischen Ebene. Richard Wagner war ja sicher ein Erneuerer - auch das gälte es zu bewahren.)


    Ich habe mich neulich gefragt: Wenn ich ein tiefgehendes Problem mit Regietheater hätte, wenn ich mich - durch Gründe, die eventuell in meiner Person liegen, eventuell aber auch nicht - durch Regietheater in meinem Opernvergnügen stark beeinträchtigt sähe, wenn ich die Energie hätte, an der Existenz des Regietheaters etwas ändern zu wollen, wenn ich an das Gute und Richtige meiner Wünsche fest glauben würde - was würde ich (in Kenntnis der Segnungen des Internetzeitalters) tun, um möglichst viele Gleichgesinnte um mich herum zu scharen?


    (Übrigens: Das Internet ist [zumindest gemessen an der aktuellen Verbreitung] jünger als das Regietheater und hat mindestens so viele "Verweigerer aus Bauchgefühl" wie jenes - wenngleich die Generationenfrage sich hier noch deutlicher stellt als beim Thema Musiktheater.)


    Müsste man dann nicht ein Internetforum zum Thema Regietheater gründen ... oder gäbe es einen geschickteren Weg?


    Aber "rückwärtsgewandt" wäre dann in jedem Fall eine passende Grundausrichtung für eine solche ... Bewegung (?), oder?


    Aber vielleicht gehört diese Betrachtung in einen anderen Thread.


    Das Tamino-Klassikforum ist zunächst mal die Menge der Forumsmitglieder zzgl. der technischen Plattform samt technischer und inhaltlicher Betreiber. Da die technische Plattform samt derer Betreiber bar jedes Verdachts der Rückwärtsgewandtheit ist, bleiben nur die Forumsmitglieder und die inhaltlichen Betreiber. Ich meine, die Mischung wäre eigentlich ganz gut. Ob sie repräsentativ ist, vermag ich nicht zu sagen.

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