Ich nehme mal diese Diskussion aus dem Schumann-Thread heraus, weil sie da nicht hingehört, aber m.E. ganz interessant ist, nicht zuletzt, weil ich früher mal eine ähnliche Haltung vertreten habe wie Pianoforte29.
Es scheint zunächst nicht unplausibel, den Stellenwert eines Komponisten (wie ist es bei anderen Künsten? Ist ein Maler und Bildhauer (Michelangelo) im Zweifel deshalb bedeutender als ein Maler (Rafael)) an einer Art "Universalität" festzumachen, die sich darin äußert, dass Werke in möglichst vielen, jedenfalls nicht nur in einer Gattung komponiert werden. Ich halte das inzwischen für wenig hilfreich, da es m.E. viele Gegenbeispiele gibt, sowohl was die musikhistorische Wirkung betrifft als auch "Popularität". Beispiele siehe weiter unten im Text.
ZitatOriginal von PianoForte29
Warum sollte Wagner an Klaviermusik kein Interesse gehabt haben? Warum Chopin nicht an Kammermusik? Warum beide nicht an Geistlicher Musik?
Die Frage nach dem Warum ist kaum zu beantworten. Es scheint aber doch offensichtlich, dass es der Fall war. Glaubst Du im Ernst, sie hätten gewollt, aber nicht gekonnt? Weil sie Deine Universalgenie-Kriterien gerne erfüllt hätten? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob diese Fragestellung überhaupt sinnvoll ist.
Chopin schrieb beide Konzerte noch in Polen, bevor er 20 war. Sie gehören nicht zu seinen besten Werken, gleichwohl sind sie Zeitgenössischem wie Moscheles, Hummel, auch Weber (außer Konzertstück f-moll) deutlich überlegen. An den langsamen Sätzen und Rondos ist übrigens auch verglichen mit Mozart oder späteren Konzerten des 19. Jhds. nichts auszusetzen (und ob und wie Tschaikowsky oder Rachmaninoff 50-80 Jahre später in den Kopfsätzen strukturell stärker sind, scheint mir offen.)
Er kannte damals wohl noch keine Konzerte von Mozart oder Beethoven. Wenn er an Konzerten Interesse gehabt hätte, warum hätte er, als bekannter Virtuose, in Paris keine reifen Konzerte geschrieben? Alles, was er ausdrücken wollte/konnte, gelang ihm mit Klaviermusik. (Ich will nicht völlig ausschließen, dass die fragile Gesundheit Chopins eine gewisse Rolle gespielt haben mag.)
Ebenso bei Wagner mit der Oper. Wagner war überdies, wie fragwürdig die Gründe auch gewesen sein mögen, überzeugt, dass das Musikdrama das Erbe der Sinfonie usw. angetreten hätte. Es war die Form für das Kunstwerk der Zukunft, Kammer- oder Klaviermusik für ihn ohnehin uninteressant. Geistliche Musik spielte in der "Avantgarde" des 19. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle.
Zitat
Die Oper ist, wie bei Schumann mit Ausnahme der „Genoveva“, die einzige Musikgattung, die der große Johannes außer Acht ließ. In meinen Augen kann er immer noch problemlos als Universalgenie gelten, zumal wir alle davon ausgehen können, dass Brahms, wenn er es nur gewollt hätte, quasi „mit links“ eine Oper komponiert hätte.
Wie kommst Du denn auf die Idee, dass Brahms das "mit links" gekonnt hätte, Chopin aber vielleicht gewollt, aber nicht gekonnt? Scheint mir nicht sehr naheliegend. (Beethoven hat seine einzige Oper bekanntlich ganz und gar nicht "mit links" komponiert, aus Mendelssohns entsprechenden Plänen wurde nichts und für Schumanns Oper hat sich seit 150 Jahren kaum jemand interessiert.) Chopin verehrte Bellini und beherrschte den seinerzeitigen belcanto-Opernstil, was sich an etlichen Nocturnes oder auch dem einer Opernszene nachgebildeten Mittelsatz des f-moll-Konzerts (das er mit 19 Jahren schrieb) zeigt. Ich habe jedenfalls ähnliche Schwierigkeiten mir eine Oper von Brahms wie eine von Chopin vorzustellen.
Zitat
Wir kennen diese beiden gefälligen Sonderlinge innerhalb des Chopin-Œuvre.
Ihren Wert freilich sollte man sowohl im Vergleich mit den Werken der großen Kammermusik, etwa von Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Dvorak, als auch im Vergleich mit Chopins bedeutenden Klavierwerken besser nicht überschätzen.
Zumindest die Cellosonate sollte man besser nicht unterschätzen; es handelt sich um eines der letzten Werke des Komponisten, das nicht hinter den beiden reifen Klaviersonaten zurücksteht (und meiner Ansicht nach auch nicht hinter einem Werk wie Schuberts "Arpeggione"/Cello-Sonate). Aber nicht einmal das recht frühe Trio wirkt auf mich in irgendeiner Weise wie "gewollt, aber nicht gekonnt".
Zitat
Wagner und Chopin sind die einzigen Spezialgenies der Klassischen Musik, die als bedeutender als Dvorak gelten können, wobei ich im Falle Chopins unschlüssig bin.
A. Corelli, D. Scarlatti, Verdi, Bruckner, Mahler[1] sind m.E alle jedenfalls nicht unbedeutender als Dvorak, Smetana, St Saens oder Tschaikowsky und sicher viel wichtiger als der "Universalist" Spohr. Weitere Kandidaten wären Gluck, Rossini, Bellini, Donizetti, Mussorgsky, Puccini, Webern.
Deine Einteilung in "Universal-" und "Spezialgenie" ist ja nachvollziehbar, ich habe früher mal sehr ähnlich gedacht. Aber sie ist, was die musikgeschichtliche Beurteilung von Komponisten betrifft, weitgehend uninteressant. Schumann wäre nicht weniger bedeutend, wenn er Genoveva nicht geschrieben hätte. Ist C.M. v. Weber bedeutend, weil er auch etwas Kammermusik, zwei frühe Sinfonien und eine Handvoll Konzerte geschrieben hat?
Zitat
Wirklich auch die Geistliche Musik? Die Kammermusik? Wenn ja, wo konkret?
Er hat die Musik schlechthin beeinflußt. Spätestens nach Tristan war nichts mehr wie vorher (und Chopin ist einer der wesentlichen Vorläufer, was kühne Harmonik betrifft, das kann ich allerdings nur referieren, nicht konkret belegen). Geistliche Musik als Gattung spielte im letzten Drittel des 19. Jhd. und am Beginn des 20. keine wesentliche Rolle, d.h. es gibt keine "Schlüsselwerke" auf diesem Gebiet, die austrahlen, als Vorbilder, Anregung gelten usw., wenngleich hervorragende Einzelwerke (Verdis Requiem u.a.). In der Kammermusik zeigt sich Wagner spätestens bei einem Stück wie Verklärte Nacht, vermutlich schon bei Cesar Franck u.a. schon vorher. Literatur: Th Mann u.a. Ich bin kein Kulturhistoriker, aber den Einfluß Wagners findet man allenthalben, auch außerhalb der Musik.
JR
edit: [1] Hier hatte ich zuvor auch Monteverdi aufgeführt. Aber da in dieser Epoche ohnehin fast nur Vokalmusik komponiert wurde, es ist sicher fragwürdig ihn als Spezialisten zu sehen, im Gegenteil. Mir ist aber auch nicht bekannt, dass Komponisten des MA oder der Renaissance danach bewertet würden, ob sie auch ausreichend weltliche Musik geschrieben haben...