Geschmackswandel - Eine Gabe Fortunas

  • Fast hätte ich den Titel mit "Gottesgabe" übertitelt, aber das schickt sich nicht für einen - zumindest temporären - Agnostiker - so glaub ich zumindest.


    Wovon ist hier eigentlöich die Rede ?


    Ganz einfach.
    EIGENTLICH müsste man - würde man seinem Geschmack folgen, nach ein oder zwei Jahrzehntesn des Klassikhörens derselben überdrüssig sein, man hätte alles gehört, was einen begeistert.
    Zudem lägen hunderte ungeliebte Tonträger, seien sie nun Langspielplatten (heute Vinyl genannt, als man sie noch hörte sagte das kein Mensch, der Begriff war gänzlich unbekannt) oder CDs oder wasweißich sonst noch - in den Regalen herum und man bereute ihren Kauf.


    Mag sein, daß das bei vielen Klassikfreunden so ist, bei mir jedenfalls nicht. Ich habe zu diesem Thema ein geflügeltes Wort geprägt (VORSICHT COPYRIGHT !!) und das heisst:
    "Alle mein sogenannten "Fehlkäufe" haben sin im nachhinein als "eise Voraussicht" entpuppt."


    Und was sich hier so banal liest stimmt zumindest (bei mir) als Kernaussage. Etliche CDS habe ich seit ich sie gekauft - und (bei mir obligat) zumindest einmal gehört habe - nie wieder in die Hang genommen. Sie haben mir einfach nicht gefallen.
    Zwanzig Jahre später -verde ich durch einen Zufall (meist namens Tamino) auf die Aufnahme aufmerksam - ich lege sie in den Player - und bin hingerissen. Das passiert natürlich nicht immer, aber relativ oft.


    Die Hörgewohnheiten haben sich geändert. Seltener aber doch kommt es vor, daß eine Aufnahme die einst mein ein und alles war, mich aus zeitlicher Distanz nur mehr mäßig zu begeistern vermag. Glücklicherweise ist das jedoch selten und zudem nur schwach ausgeprägt, sollheissen, die Aufnahme gefällt mir meist noch immer - aber eben nicht mehr in dem Maße wie einst.....


    Habt Ihr ähnliche Erfahrungen ?
    Könnt ihr meine Aussage bestätigen ?
    Oder hattet Ihr nie die Chance das auszuprobieren, weil die ungeliebten Einspielungen längst auf dem Sperrmüll oder bei ebay gelandet sind ? :D


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ein klares Jein zum Geschmackswandel -


    Tamino hat mir viele Impulse gegeben, Pärt hätte ich ohne Tamino nicht entdeckt, die unglaubliche Schönheit so etlicher Chormusik oder vieler Kompositionen für Gitarre ebenfalls nicht.


    Nichtsdestotrotz hat sich der eigentliche Kern nicht gewandelt, es ist nach wie vor die Barockmusik, die ich am meisten schätze - und hinsichtlich WIRKLICH wichtiger Künstler sind in den letzten 10 Jahren eigentlich nur Eva Cassidy und Astor Piazzolla hinzugekommen, die nur wenig mit Barock zu tun haben.


    Einspielungen, die ich früher geschätzt habe (vor allem fast alles von Glenn Gould), liebe ich nach wie vor, höre es aber nicht mehr so oft, da es auch Weissenberg gibt oder Miklos Spanyi oder The Sixteen oder Alessio Corti.


    Jedenfalls sind die Aufnahmen, die ich einmal sehr geschätzt habe, auch heute noch vorn mit dabei, ich habe mich nur an Wenigem so leid gehört, daß ich es heute nicht mehr hören wollte.

  • Ich habe es eigentlich von Anbeginn schlecht formuliert, obwohl ich es im Text leise habe anklingen lassen:
    Es handelt sich im Grunde um keine "Geschmackswandkung" sondern eher um eine "Geschmackserweiterung"
    Vorsichtig hab ich es indirekt ja ohnedies formuliert (ohne es zu beabsichtigen), daß jene Werke, Komponisten für die ich einst geglüht habe, und dern Stellenwert in meinen Augen nicht mehr soooo bedeutend ist - noch immer heiss - wenn auch nicht mehr brennend sind. Wogegen doch zahlreiches hinzugekommen ist. Mal nur peripher von Interesse, als "immerhin anhörbar" klassifiziert, dann jede Menge, was ich als MEIN "Standardrepertoire" erkoren habe, hier ist zum Beidpiel "Kammermusik" dazugekommen. Aber einiges davon zählt heute zu meinem Lieblingsrepertoire, wobei fraglich ist, ob man Komponisten die man vor 30 Jahren nicht gekannt hat, die einem aber heute viel bedeuten als "Geschmackserweiterung" betrachten soll - oder nicht.
    Das Forum hat hier sicher vile geleistet, vor allem veranlasste es mich immer wieder bei jpc zu stöbern, was auf Dauer einerseits die Sammlung auffettet, andereseits die Brieftasche schlank macht.



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Geschmackswandel ist "nicht gegeben, sondern aufgegeben".
    Wenn wir uns beim Essen so verhalten würden, wie viele bei der Musik, wären wir über den Milchbrei nie hinausgekommen...


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Johannes Röhl schrieb:


    Zitat

    Wenn wir uns beim Essen so verhalten würden, wie viele bei der Musik, wären wir über den Milchbrei nie hinausgekommen


    Lieber Johannes,


    das ist schön formuliert, griffig, beeindrucken und glücklicherweise i meiner Meinung nach falsch - sonst könnte ich ja gar ncht kontern :hello:


    Schon in der mittelalterlichen Musik und danach wurden viele Instrumente aus anderen Kulturkreisen übernommen , assimiliert umgebaut,, ich nenne hier nur die Laute, die von der arabischen Kurzhalslaute abstammt, die von der griechischen Kithara abstammende Gitarre sei ebenfalls erwähnt.


    Der Pommer, aus der Schalmei entwickelt, mutierte eines Tages zur Oboe, das Jagdhorn, Poshorn bekam Ventile und mutierte zum modernen Orchesterinstrument.


    Die Lieder der Minnesänger unterscheiden sich durchaus von den englischen Lautenliedern der Renaissance - und das Konstlied der Romantik, durch Schubert und Schumann bestens repräsentiert , ist wiederum von Gustav Mahler weit entfernt, nicht nur zeitlich, sondern auch stilistisch, von Hans Eisler möchte ich gar nicht erst reden....


    Vom gregorianischen Gesang zm Opernchor des 19 Jahrhunderts war ein weiter Weg, vom Bachschen Violinkonzert zum Mendelssohnschen ebenso.


    DIe Gechichte der Sinfonie - von der als Opernouvertüre eingesetzen Ouvertüre bis hin zu Bruckners und Mahles Sinfonien war ein weiter Weg, ebenso wie von Cembalo, Clavichort, Spinett - und wie die ganze Familie heissen mag - bis hin zum Bösendorfer Konzertflügel.


    Vom "Milchbrei" - und ähnlichen Produkten haben wir uns also schon vor langer Zeit emanzipiert....



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Vom "Milchbrei" - und ähnlichen Produkten haben wir uns also schon vor langer Zeit emanzipiert....


    Jetzt sag mal nichts gegen Milchbrei!
    :D

  • Gott sei Dank entwickelt sich der Mensch und damit auch sein Musikgeschmack und Hörvermögen immer weiter. Häufig ist das eine ganz logische Entwicklung. Man hört zunächst einfachere, sehr eingängige Musik. Nach und nach nähert man sich den komplexeren Werken, Musikstilen und Strukturen an. In meinem Fall waren dies allerdings schon sehr früh Wagner, Verdi, Bruckner und Mahler, die mich fesselten und faszinierten - bis heute. Auch mein Verständnis und meine Bereitschaft, mich mit zeitgenössischer Musik zu beschäftigen hat ständig zugenommen. Es ist allerdings wirklich eine Erweiterung. Nach wie vor begeistern mich zum Beispiel Spielopern, wie "Zar und Zimmermann", Lustige Weiber", "Wildschütz" und "Undine". Ich kann auch noch als sehr reifer und überhaupt nicht gesetzter Opernfreund ausflippen, wenn ich z. B. Gottlob Frick mit 5000 Taler, als van Bett, oder Falstaff höre. Auch Fritz Wunderlich verzaubert mich in fast allem was er singt allein durch seine Stimme.
    Worauf es ankommt ist, dass wir offen und neugierig bleiben für neue Musikerlebnisse und uns sogar auf musikalische Experimente und das Regietheater einlassen. Sei es nur, um mit Erfahrungshintergrund mit diskutieren und qualifiziert gegenargumentieren zu können.
    Tamino liefert dazu ständig neue Anregungen, man muss dieses Angebot nur nutzen.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Ich mag sowohl Milchreis als auch Grieß- oder Haferbrei ziemlich gerne....


    Ich meinte das nicht musikhistorisch (da paßt es auch nicht gut), sondern schon ganz individuell. Es ist doch so, dass sich der Geschmack erst einmal bilden muss. Die wenigsten von uns werden Klassische Musik mit der Muttermilch eingesogen haben. Und die wenigsten von uns dürften mit 12 Jahren schon einen Geschmack für Spargel, Blauschimmelkäse oder Whisky entwickelt haben. Daraus schließt aber niemand, dass man bei Pizza und Limo bleiben sollte oder dass diese Speisen qualitativ hochwertiger seien, bloß weil das mehr Leuten schon längere Zeit gut schmeckt.


    Meiner Erfahrung nach sind, je nach Alter, die ersten Stadien der Geschmacksbildung von ziemlicher Arroganz und Intoleranz begleitet. Nachdem ich mit 17 glaubte erkannt zu haben, dass Beethoven viel besser ist als Tschaikowsky wollte ich davon erstmal nichts mehr wissen, ziemlich unfair, da ich kaum ein oder zwei Jahre vorher sehr begeistert von "Ouverture 1812" oder Capriccio italienne gewesen war. Aber dann sollte man mit der Zeit eine gewisse Offenheit gewinnen, sonst wird man nach einiger Zeit vielleicht wirklich der Musik überdrüssig, wenn man immer dasselbe hört.


    Wie anderswo gesagt, konnte ich einige Werke, derer ich sehr schnell überdrüssig geworden war, Jahre später wieder mit einer gewissen Begeisterung hören. Manches bleibt aber auf Distanz (s. den Thread zu Tschaikowsky-Sinfonien); ich weiß nicht, ob sich das nochmal ändern wird oder wovon das abhängt.


    Ich muss nicht alles mögen, es kann auch unterschiedliche Stufen, von großer Begeisterung abwärts geben. Aber bei allen Werken des üblichen Repertoires gehe ich erstmal davon aus, dass, da sie von intelligenten und geschmackvollen Leuten geschätzt werden, irgendetwas dran sein könnte, was mir auch gefällt. Klar kann man auch nicht beliebig viel Aufwand treiben, um herauszufinden, ob etwas gefällt. Ich werde mir "Die Frau ohne Schatten" vermutlich nicht fünfmal anhören, wenn mich nicht beim ersten Durchlauf irgendwas begeistert. (Einem Klavierwerk von 10 oder 15 min. wird man dagegen vielleicht mehr Chancen geben.)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)