Tonaufnahmen "für die Ewigkeit" (?)

  • Als Edison - er war bekanntlich schwerhörig - 1878 den ersten Phonographen baute und ihn in relativ kurzer Zeit zur Serienreife brachte, schwebte ihm alles andere vor als Musik auf Konserve festzuhalten, Das kreischende, die Töne verfärbende Mdioum sollte vielmehr als Diktaphon, sprechender Brief, und zur Aufzeichnung "berühmter Stimmen" Verwendung finden.
    Zahlreiche Verbesserungen in technischer und tonqualitativer Hinsischt - wenngleich aus unserer heutigenSicht noch Stinzeit der Tonaufzeichnung - ermöglichten schließlich die Aufnahme von Musik - allerdings anfangs nur unter gewissen Bedingungen, zB: apweziell hiefür hergestellter Intrumente, wie beispielsweise der Strohgeige. Emil Berliners Schallplatte brachte weitere Verbesserungen, zb. einfachere Vervielfältigung ser Tonträger.Seit Mitte der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts verdrängte die "elektrische" Aufnahme (mit Mikrophon) die "Akustische" (mit Trichter) was eine klangtechnische Ausweitung um eine Oktave nach oben mit sich brachte, die langsam ausgeweitet wurde. Das Tonband, die magnetische Vormagnetisierung des Tonbandes - HIFI - (Tonaufnahmen mit erneut erweitertem Frequenzbereich), schließlich die Einführung der Stereophonie - und später die Einführung der rauschfreien, dynamikerweiterten Digitalaufzeichning - all das waren Schritte die es ermöglichten dem Original immer näher zu kommen, und spätestens Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war es also so weit, daß von "Höchster Tontreu und Raumklang gesprochen werden konnte, und man den Klang einer Stimme, eines Instruments und - in eingeschränkter Dynamilk auch Orchesters für die Ewigkeit festhalten konnte - oder dies zumindest in der Werbung behauptete.


    Vor allem die Einführung der Stereophonie wurde als Quantensprung gesehen. Die Begeisterung war groß. Alles was bisher in MONO aufgenommen worden war verschwand in den Archiven (wenn nicht überhaupt gelöscht) und alles wurde neu aufgenommen. Natürlich für die Ewigkeit. Große Dirigenten, Stimmen,Interpreten und die besten Orchester der Welt wurden aufgenommen - Geld spielte keine Rolle es wurde "für die Ewigkeit" aufgenommen - und genau so war der eingesetzte Aufwand. Endlich konnte man folgenden Generationen die Künsteler von (damals) heute in anprechender akustischer Qualitöt hinterlassen.


    Das funktioniert etliche Jahre gut, bis auf ein paar kleine Schönheitsfehler: So musste sich beispielsweise jede neue Interpretengeneration an den Größen der Vergangenheit messen lassen. Viele Künstler die zu ihrer Zeit im Konzer- und Opernhaus durchaus eine passable Figur machten konnte auf Schallpatte gegen ihre Vorgänger nicht bestehen,


    Irgendwann wendete sich aber das Blatt. Durch die Tonträgerindustrie begünstigt bildete sich ein neuer Geschmack, der zwear nicht einheitlich war, aber als gemeinsamen Konsens nur eines im Sinn hatte. "Wir wollen das Alte zurückdrängen - und die Interpreten unserer Zeit hören.
    Anfangs schien das nicht zu klappen, aber allmählich bildeten sich neue "Schönheitideale" man bewertete Aufnahmen anders. Schönheit von Stimmen (vor allem wenn sie gar nicht vorhanden war !!) wurde dem Ausdruck geopfert, Orchester spielten ruppiger und dynamischer.


    Nun - das war eine (manipulierte und gewollte ??) Veränderung des Zeitgeschmacks. Allmählich begann man die Interprten der Vergangenheit in Frage zu stellen - und teilweise sogar zu verunglimpfen. Ihre Tonaufnahmen finden sich - wie ich erst gestern wieder feststellen musste am "Wühltisch" - direkt neben den "Hoffnungen der Zukunfnft" von 2003, die die "Hoffnungen" (ihrer Tonträgerfirma) nicht ausreichend erfüllt hatte, soll heissen nicht genug Geld eingespielt hatten....


    Künsteler vergangener Generationen wurden ja nach Ablauf ihrer Lebensspanne - von Ausnahmen mal abgesehen - immer dem Vergessen preisgegeben. Ich bin jedoch davon ausgegangen, die Ursache wäre in der schlechten Tonqualität ihrer Aufnahmen zu suchen gewesen. Aber dem ist nicht so - Scheinbar sucht jede Generation ihre eigenen Künstler - auch in der Klassik ?


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat


    Original von Alfred Schmidt
    Scheinbar sucht jede Generation ihre eigenen Künstler - auch in der Klassik ?


    Über die Frage, ob es dieses aus der Popwelt bekannte Verhalten der Hörergenerationen gibt, und ob es gerade unvermeidbar ist, habe ich mir auch schon Gedanken gemacht.
    Die Antwort auf die Frage ist wohl vielschichtig:
    Manche bleiben beim Alten stehen ( mein Onkel lässt z.B. nur Furtwängler und Celibidache gelten, ab Karajan und später wird es ihm zu modern und längst nicht mehr so gut...), für Andere ersetzt die neue Aufnahme (vor allem die"mit neuen Erkenntnissen ") automatisch die Vorhergehenden, die dann reif für die Halde der Interpretationsgeschichte sind.
    Den Erstgenannten ist klar, dass die Anhänger der neuen Aufnahmen keine Ahnung haben, und die Zweitgenannten denken über andere Klassikhörer, dass diese mehr oder weniger in ihren eingefahrenen Hörgewohnheiten gefangen sind.


    Das sind natürlich Extrempositionen, die mir aber beide durch reale Personen bekannt sind.
    Dazwischen gibt es aber auch einen weiten Bereich von Hörern, die sich sowohl Altes als auch Neues zu Gemüte führen.
    Ich zähle mich auch zu denen, und ich bin übrigens der Meinung, dass es bei der Aufführung von klassischer Musik nicht nur Mode und Zeitgeschmack, sondern auch ewig - und da haben wir das Wort- gültige Parameter gibt.


    Diese wiederum gliedern sich auf in handwerkliche und interpretatorische Aspekte.
    Zum Handwerklichen gehört neben der Fehlerfreiheit die instrumentale oder stimmliche Tonqualität, das nicht unabsichtlich wackelnde Timing, das Zusammenspiel, die Intonation....usw.
    Zum Bereich der Interpretation zähle ich sowohl das emotional Expressive, als auch das Erkennen und das Verdeutlichen von formalen Elementen, und vor allem auch, diese beiden Gebiete in Balance zu halten.


    Diese ewig gültigen Parameter suche ich sowohl in alten als auch in neuen Interpretationen.
    Manchmal ist es so, dass die neuen Generationen dem bisher Erreichten neue, gute Ideen hinzufügen. Es kann aber auch sein, dass bei ihnen gewisse Aspekte nicht vorhanden sind, die frühere Interpretationen so faszinierend machten.
    Wenn heute insgesamt das durchschnittliche handwerkliche Niveau gestiegen ist, dann finde ich das gut.
    Wenn man im Bereich der Intonation heutzutage auf gewissen Unarten und Nachlässigkeiten früherer Zeiten verzichtet, dann finde ich das ebenfalls gut. Beim Hören sehr alter Gesangsaufnahmen fallen mir oft diese glissandoartigen Schleifer auf, die man damals wohl schick und auch leichter zu singen fand. Solchen Dingen trauere ich nicht hinterher.
    Bestimmten Elementen des spannungsreichen Musizierens Furtwänglers jedoch schon.


    Zitat


    Original von Alfred Schmidt
    Künstler vergangener Generationen wurden ja nach Ablauf ihrer Lebensspanne - von Ausnahmen mal abgesehen - immer dem Vergessen preisgegeben. Ich bin jedoch davon ausgegangen, die Ursache wäre in der schlechten Tonqualität ihrer Aufnahmen zu suchen gewesen. Aber dem ist nicht so


    Die schlechte Tonqualität alter Aufnahmen veringert in der Tat meine Lust, diese mir tatsächlich anzuhören.
    Wenn der erste Satz stimmt, dann sind die Künstler vergangener Generationen, die ich gerne höre, wohl alle Ausnahmen... das kann ja sein.


    Als ich neulich die 8. und 9. Symphonie Schuberts im Vergleich verschiedener mit genehmer Spitzeninterpretationen hörte, viel mir auf, dass nur einer der von mir bevorzugten Dirigenten überhaupt noch lebt.
    Der ist aber auch schon im eher reifen Alter ( Harnoncourt, 80)....
    Die anderen Dirigenten sind Karl Böhm, Herbert von Karajan und Günter Wand. Summa summarum liegt für mich Böhms Aufnahme von 1963 (da war ich noch nicht geboren!) mit einigem Abstand vorn, obwohl man in leisen Passagen ein analoges Bandrauschen vernehmen kann.
    Ansonsten ist die Klangqualität der Aufnahme erstaunlich gut.
    Das instrumental-handwerkliche Niveau der Berliner Philhamoniker ist keineswegs schlechter als heute. Alles was man heute so schätzt und bewundert, war schon da.


    Bei den Dirigenten klassischer Symphonieorchester höre ich gerne ausser den bereits genannten Namen gerne Aufnahmen von Leonard Bernstein, Georg Solti, Sergio Celibidache und natürlich Wilhelm Furtwängler (da gibt es leider wegen der Aufnahmequalität Abstriche) Von denen lebt auch keiner mehr...
    Abbado (Brahms), Nagano, Barenboim, Thielemann....das wären wohl die Namen der noch lebenden Interpreten, die ich gerne höre.
    Nur Nagano und Thielemann könnte man da wohl als etwas "jünger" bezeichnen.


    Ähnlich ist es bei den von mir bevorzugten Pianisten: Einiges von Gould (tot), Gulda (tot), Lupu (älter), Brendel (hat aufgehört), Perahia, Uchida, Ax, Pollini, Hewitt, Argerich, Pires (die sind alle auch schon eher "reif")


    Wenn ich es mir recht überlege, scheine ich für ein popmässiges Hörerverhalten kaum anfällig zu sein. Es sieht so aus, dass ich mich eher von erfahrenen Künstlerinnen und Künstlern angesprochen fühle.


    Ob ich damit ein typischer Klassikhörer bin, vermag ich nicht zu beurteilen. Eine repräsentative Umfrage liegt mir diesbezüglich nicht vor, weshalb es mir in diesem Fall zulässig erschien, von mir selbst zu berichten.


    Ist es tatsächlich so, dass klassische Künstler nach Ablauf ihrer Lebensspanne dem Vergessen preisgegeben werden?
    Ich meine die "Fixsterne" jedenfalls nicht. Das Angebot an Tonträgern wird sich nach der Nachfrage richten. Sollte es noch mehr Leute wie mich geben und also einen Markt für jahrzehntealte Aufnahmen vorhanden sein, dann werden solche Aufnahmen erhältlich bleiben.


    Noch einmal zur Aufnahmetechnik:
    Ich begrüsse grundsätzlich, wenn der technische Fortschritt zu neuen Aufnahmen animiert.
    Erst gestern hörte ich den zweiten Satz der vierten Symphonie von Brahms in Karajans letzter Aufnahme, und ich bin froh, dass er es noch einmal aufnahm.
    Karajan selbst hatte ja die Vision, dass Leute irgendwann seine Aufführungen auf grossen Bildschirmen und hervorragenden Tonanlagen in den eigenen vier Wänden geniessen werden, weshalb er ja selbst begann, in seinem Studio diese Musikfilme für die digitale Bildplatte, und damit "für die Ewigkeit" zu produzieren.
    Es wurde zum finanziellen Fiasko, weil damals keiner die grosse und teure Bildplatte kaufen wollte. Selbst wenn seine sterile Bildästhetik heute zweifelhaft sein mag und er ja noch nicht wissen konnte, dass das 4:3-Format irgendwann alt aussehen würde, hat er insgesamt gesehen doch rechtbehalten.
    Heute haben wir mit Blueray und 60-Zoll-HD-Plasmaschirm technisch etwas Besseres, als das, was seinen Vorstellungen entsprach und die einst gescheiterte Quadrophonie gewinnt über den Umweg des Surround-Kinos wieder zunehmend ihren modernisierten Einzug in die Hörräume von Musikliebhabern.
    Aus diesem Grund werden wir wohl zukünftig neue Aufnahmen bekommen, die in dieser Bild- und Tontechnik aufgezeichnet werden, denn tontechnisch ist eine gut aufgenommene Blueray z.B. mit DTS-Masteraudio dem alten CD-Standard so weit voraus, dass man hier schon von einem Quantensprung sprechen kann.
    Um das zu hören, muss man allerdings ein entsprechendes Equipment haben.
    Wichtiger denn je ist aber, dass diese Aufnahmen künstlerisch überzeugen.
    Da müssen sie dann automatisch gegen die alten Vorläufer antreten und ihre musikalische Daseinsberechtigung unter Beweis stellen.
    (Manchmal frage ich mich, wie es sich auf die Chancen von heutigen Neuaufnahmen auswirken würde, wenn die Aufnahmen Furtwänglers oder Böhms in DTS-Masteraudio plus HD-Bild vorlägen....aber ich sage nicht, dass damit andere Aufnahmen automatisch überflüssig wären...)


    Einfach ist das gewiss nicht, aber es bleibt immer eine spannende Herausforderung für alle Generationen.


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Glockenton


    Du schriebsts


    Zitat

    Manche bleiben beim Alten stehen ( mein Onkel lässt z.B. nur Furtwängler und Celibidache gelten, ab Karajan und später wird es ihm zu modern und längst nicht mehr so gut...),


    Das hat sicher einerseits etwas mit der Prägung zu tun, andrerseits daß heutzutage in einigen Disziplinin - längst nicht allen - versucht wird um jeden Preis etwas Neues zu kreiieen - aber welch ein Krampf kommt da oft dabei heraus. Ich bezieh mich hierr in besonderm Maße auf die in meinen Augen verballhornenden Interpretationen von Sinfonien der Wiener Klassiker. Und wenn schon nicht verballhornend, so doch wenigstens verfälschend...


    ABER Das trift nicht auf alle Segmente zu - ich denke hier beispielsweise an die neusesten Aufnahmen der Beethoven Klaviersonaten. Hier gibt es schon bedeutende Interpreten- Ich bin froh das sagen zu können



    Zitat

    für Andere ersetzt die neue Aufnahme (vor allem die"mit neuen Erkenntnissen ") automatisch die Vorhergehenden, die dann reif für die Halde der Interpretationsgeschichte sind.


    Man darf hier nicht aus den Augen (Ohren) verlieren, daß die heute verfemten Interpretationen mit sogenannten modernen Instrumenten einst als Verbesserung gegenüber den ursprünglichen mit empfindlichen und eher leisen Instrumenten gesehen wurden. Man spielete nicht etwa "historisch uninformiert" sondern "zeitgenössisch selbstbewusst" Das Alte sollte durch Neueres, Besseres ersetzt werden...


    So gesehen handelt es sich um Kostbarkeiten die den Zeitgeist vergangener Zeit spiegeln und erlebbar machen.


    Zitat

    Den Erstgenannten ist klar, dass die Anhänger der neuen Aufnahmen keine Ahnung haben, und die Zweitgenannten denken über andere Klassikhörer, dass diese mehr oder weniger in ihren eingefahrenen Hörgewohnheiten gefangen sind.


    Eine schwierige Position.
    Als CD-Sammler KÖNNTE ich es mir leisten lediglich alte Aufnahmen zu sammeln, als Konzertbesucher indes, kann man es nicht. Mann muß sich mit der GEgenwart arrangieren.
    Sollte man aber als CD Sammler den Kontakt mit Klassikinteressierte , dei es bei gemeinsamen Hörsitzungen- sei es bei Diskussionen im Forum aufrecht erhalten wollenb, dann wird man gut beraten sein eine gemischte lebendige Tonträgersammlung zu pflegen (und zu hegen,m soll heissen stets ergänzen) um nicht uninformiert dazustehen. Man kann desungeachtet seinen Standpunkt - sei er nun modern oder konservativ - beibehalten und vertreten,


    Ich habe diese Thematik - anders formuliert - bereits im Thread


    Neue Bekanntschaften - Interpreten die sich erst seit kurzem in meiner Sammlung befinden


    andeutungsweise zur Sprache bringen wollen . das Interesse hielt sich indes (derzeit?) in Grenzen.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das "Dilemma" ist m.E. zum guten Teil, dass die Aufnahmen der Vergangenheit, die wirklich Außergewöhnliches und insbesondere auch andere stilistische Zugänge bieten, meistens vor dem Stereo-Zeitalter entstanden sind.
    (Für die Sängerfans ist das ohnehin ein alter Hut, allerdings auch vom Repertoire abhängig.)


    Ein wenig spiele ich daher immer mit der Theorie, dass Tonaufnahmen als solche zunehmend zu einer Einebnung von Eigenheiten und technisch-handwerklich hervorragenden, aber eben auch tendenziell glatten und risikoärmeren Interpretationshaltungen geführt haben. Der Effekt ist freilich mit Verzögerung eingetreten, entscheidend ist vielleicht, dass die "alten" Interpreten jedenfalls noch ihre musikalische Ausbildung und Sozialisation erhielten, bevor Tonaufnahmen eine wesentliche Rolle gespielt haben.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Das "Dilemma" ist m.E. zum guten Teil, dass die Aufnahmen der Vergangenheit, die wirklich Außergewöhnliches und insbesondere auch andere stilistische Zugänge bieten, meistens vor dem Stereo-Zeitalter entstanden sind.
    (Für die Sängerfans ist das ohnehin ein alter Hut, allerdings auch vom Repertoire abhängig.)


    Ein wenig spiele ich daher immer mit der Theorie, dass Tonaufnahmen als solche zunehmend zu einer Einebnung von Eigenheiten und technisch-handwerklich hervorragenden, aber eben auch tendenziell glatten und risikoärmeren Interpretationshaltungen geführt haben. Der Effekt ist freilich mit Verzögerung eingetreten, entscheidend ist vielleicht, dass die "alten" Interpreten jedenfalls noch ihre musikalische Ausbildung und Sozialisation erhielten, bevor Tonaufnahmen eine wesentliche Rolle gespielt haben.


    Der Theorie könnte man zustimmen.
    Die über die Jahrzehnte immer besser werdenden Möglichkeiten von Tonaufnahmen führten zwangsläufig zu einer neuen, perfektionistischen Ästhetik.
    Das ist ja auch mehr als verständlich und deswegen unvermeidlich.
    Als Musiker willst Du nicht, dass Misslungenes unter Deinem Namen veröffentlicht wird, und als Hörer will Du auch nicht falsche oder schiefe Töne, schlechtes Zusammenspiel und dergleichen geboten bekommen.
    Irgendwo gibt es da ein etwas unmenschliches, aber durchaus nicht unlösbares Dilemma, dass auch die besten Musiker immer wieder neu herausfordert.
    Auf der einen Seite hat man den Wunsch nach frischer Inspiration, man will der Musik einen in angemessener Subjektivität und auch strukturen verdeutlichenden Objektivität Ausdruck verleihen und dies alles dem Publikum vermitteln.
    Auf der anderen Seite muss man in jeder Millisekunde hochkonzentriert aufpassen, dass man sich nicht vergreift, falsch atmet, sich emotional nicht in Einzelheiten verliert und dabei verkrampft (Verlust einer inneren Souveränität)....uvm.


    Ohne viel zu Üben geht da nichts- aber auch hier lauert die Gefahr, dass durch allzu vieles Üben die Inspiration gedämpft wird...
    In Live-Situationen, aber auch bei Studioaufnahmen kommt dann ja auch noch das Thema Nervosität hinzu.


    Das sind nun grundsätzliche Probleme, die immer auftauchen, wenn man klassische Musik aufführt.
    Durch die bestehenden Aufnahmen ist es nun so, dass sich diese Herausforderungen verschärft haben und damit gleichzeitig das handwerkliche Niveau allgemein gestiegen ist. Wohl deshalb spielt oder singt man nicht mehr so häufig wie in alten Zeiten "volles Risiko".
    Ob man als Musiker froh sein kann, dass ein nicht unerheblicher Teil des Publikums nur die groben Fehler überhaupt hört, nicht sämtliche relevanten Spitzenaufnahmen im Kopf hat und auch nicht die Partitur mitliest, ist eben die Frage...
    Vielleicht sollte man sich nicht ein allzu verständiges Publikum wünschen... ;)


    Wenn nun jemand wie die wundervolle Frau Uchida mit einem Mozart- oder Beethoven-Programm auftritt, dann kann man vielleicht erahnen, unter welchem nervlichen Druck da Musik gemacht wird.
    Sie muss gegen ihre eigenen Aufnahmen und die sämtlicher Kolleginnen/Kollegen anspielen und diesen Umstand aus ihrem Bewusstsein ausblenden.
    Da noch innerlich locker zu sein und trotz des eigenen und allgemeinen Perfektionsanspruches noch und vor allem den eigentlichen, emotionalen Gehalt der Musik zu vermitteln, ist wirklich eine riesige Leistung, vor allem dann, wenn man nicht nur Routine auf hohem Niveau bringen will.




    @Alfred:


    Zitat


    Original von Alfred Schmidt
    ...andrerseits daß heutzutage in einigen Disziplinin - längst nicht allen - versucht wird um jeden Preis etwas Neues zu kreiieen - aber welch ein Krampf kommt da oft dabei heraus. Ich bezieh mich hierr in besonderm Maße auf die in meinen Augen verballhornenden Interpretationen von Sinfonien der Wiener Klassiker. Und wenn schon nicht verballhornend, so doch wenigstens verfälschend...


    Ich hoffe, dass sich der "Geschmack des Zeitgeistes" z.B. im Bereich der Tongebung der Streicher auf eine Ästhetik besinnt, die sich an guten Sängern anlehnt. Da, wo man als guter Sänger ganz natürlich vibrieren würde ( ich rede von schönem Vibrato, nicht von übertriebenden Detonationen, bei denen man schon nicht mehr die Tonhöhe heraushören kann), wird von einigen Dirigenten den Streichern regelrecht verboten, geschmackvoll und individuell Vibrato zu spielen.
    Das Vibrato ist ein zutiefst menschlicher und emotionaler Ausdruck. Wenn man sich von einem übertriebenen und undifferenzierten Dauerpanikvibrato durch den Einfluss der HIP abgewendet hat, dann ist das etwas Gutes.
    Schlimm finde ich aber, das Kind mit dem Bade auszuschütten, und nun jeden Ton Non-Vibrato zu spielen, anstatt sich diesen Klang als Ausdruck zu reservieren.
    Das klingt dann im Forte hart und für mein Ohr jeder klanglichen Schönheit beraubt. Ein schematischer, unmusikalischer und nachweisbar auch unhistorischer Zugang ist das. Das ist schon eine mir absurd anmutende modische Zeiterscheinung, die sich des Decknahmes "historisch" bedient, diese Bezeichnung aber bestenfalls für unsere Gegenwart in Anspruch nehmen kann.
    Wenn selbst alte Orgeln mit Hilfe von Tremulanten die Schwingungen von Stimmen nachahmen, wieso sollen es dann nicht auch die anderen Instrumente getan haben?
    Das kantable und gesangliche Spiel auf Instrumenten war auch schon im Barock unglaublich wichtig und das musikalisch natürlich eingesetzte Ausdrucksvibrato wurde praktiziert - von manchen sogar so häufig, dass jemand wie Leopold Mozart versuchte, da etwas gegenzusteuern.


    Die Tonqualität ist m.E. das Baumaterial für die musikalischen Gebäude, die man immer wieder neu errichten will.
    Mit gutem Baumaterial kann ein Haus immer noch schlecht gebaut werden, aber mit schlechtem Baumaterial kann man auf jeden Fall kein gutes Haus bauen.
    In der Musik ist das nicht anders.


    Aus diesem Blickwinkel her gesehen, möchte ich Deiner obigen Aussage zustimmen ( auch im Hinblick auf die immer schneller werdenden Tempi bei manchen Symphonieaufnahmen auf die Du Dich wahrscheinlich beziehst) und gleichzeitig hoffen, dass sich da bald etwas ändert und einpendelt.


    Dann, wenn diese unglaublich vielen Aspekte in einer schönen Balance zueinander finden, können Aufnahmen entstehen, die nicht nur einer Generation gefallen, sondern sozusagen als zeitlos und " für die Ewigkeit gemacht" erscheinen.


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Das hat sicher einerseits etwas mit der Prägung zu tun, andrerseits daß heutzutage in einigen Disziplinin - längst nicht allen - versucht wird um jeden Preis etwas Neues zu kreiieen - aber welch ein Krampf kommt da oft dabei heraus. Ich bezieh mich hierr in besonderm Maße auf die in meinen Augen verballhornenden Interpretationen von Sinfonien der Wiener Klassiker. Und wenn schon nicht verballhornend, so doch wenigstens verfälschend...


    Leider gab es ja um 1800 keine Schallaufzeichnung, womit wir etwas Probleme haben, zu beurteilen, welche Aufnahme denn nun MEHR verfälscht.


    Denn man hätte ja annehmen können, dass die Wiedererweckung des historischen Instrumentariums und das entsprechend informierte Spiel darauf der Verfälschung ein Ende bereiten hätte können.


    Was man nun für "zu verfälschend" hält, ist Geschmacksache - und leider auch Bildungssache, wer ist mit dem HIPpen Forschungsstand vertraut?
    :rolleyes:

  • Zitat

    Denn man hätte ja annehmen können, dass die Wiedererweckung des historischen Instrumentariums und das entsprechend informierte Spiel darauf der Verfälschung ein Ende bereiten hätte können


    Das ist eine gute Hypothese auf die ich gerne eingehe - ohne natürlich behaupten zu können , daß ich in allen Punkten recht habe.
    Aber ich mochte dennoch einige hier postulieren, was schwer zu widerlegen sein dürfte. Andrerseit werde ich versuchen einiges zu beantworten - in einer Weise mit der wir beide - und vermultie etliche weitere leben können.


    1) Jegliche Interpretation, deutung von Kunstwerken unterlag seit jeher einer gewissen Abweichung, einer Färbung durch die Zeit.
    Um das bildlich anschaubar zu machen, DREI Beispiele aus der Filmwelt.


    1)
    Wenn um 1920, also in der Stummfilmzeit historische Filme im 18. Jahrhundert spielten, die Schauzspieler waren entsprechend gekleidet, so wird man HEUTE (damals vermutlich nicht) immer wieder einen Hauch 2oer Jahre durchschimmern sehen, vor allem an der Art gesichter zu schminken.


    2) Am andfang der Tonfilmzeit - bis hinein in die fünfziger Jahre kümmerte man sich bei Filmen die im 18. oder 19 Jahrhundert spielten beim Soundtrack recht wenig um die Authentzität der verwendeten Musikinstrumente - man hielt das für nicht so wichtig.


    3) Wenn im Film "Titanic" der "gassenjunge" mit einer gefundenen Karte der 3. Klasse ganz vorne am Bug des Schiffes steht und sagt "Ich bin der König der Welt (oder so ähnlich) dann ist hier ganz eindeutig der Einfluß der Zeit zu sehen in der der Film entsatnd. 1912 hätte solch ein Unterschichtbursche" keine Möglichkeit gehabt dorthin zu gelangen, die Offiziere hätten ihn sofort verjagt.


    Ähnlich färbte auch die jeweilige Zeit die Interpretationen, bzw das verwendete Instrumentarium die Werke der großen Meister - und keine Zeit blieb davon verschont. Jede Epoche meinte, den Werken etwas gutes zu tun, wenn man sie der jeweiligen Zeit in der man sie aufführte anpasse - und vielleicht stimmte das ja auch. Bei dieser Gelegenheit möchte ich anmerken, daß das Regietheater GEANAU DAS macht. Ein (ge- oder mißglückter Versuch ein Stück oder eine Oper an die Wertvorstellungen der jeweiligen Gegenwart anzupassen)
    Dieser Prozess ging bis in die 60iger oder siebziger jahre des 20. Jahrhunderts - gelegentlich auch länger.
    Dann trat - vor allem auf dem Gebiet der Tonträger - eine gewisse Stagnation ein und man überlegte, wie man dieser entgegentreten könne. "Spiel mit Originalinstrumenten" das war ein Zauberwort - und als erste Firma machte hier harmonia Mundi von sich reden. Das "Collegium Aureum" im historischen Ambiente des Zedernsaales von
    Schloss Kirchheim, das war schin beeindruckend.
    Allerdings war das wirtschaftlich alles nicht sehr erfolgreich, und so wechselte harmonia mundi mehrfach den Besitzer.
    Nikolaus Harnoncourt war übrigens (von mir unbemerkt) noch VOR harmonia mundi in diesem Segment tätig, jedoch klangen seine ersten Aufnahmen doch ein wenig gewöhnungsbedürftig und mitunter sogar "falsch"
    Die Zeit ging weiter und der Zeitgeschmack änderte sich.
    Parallel dazu gab es Karajan,Böhm und Bernstein, die damals als das Maß aller Dinge galten, jedoch war ein gewisser Trend zu schlankem Ton nicht zu überhören, was Kammerorchestern nützte - sowie - eigenartiger Zufall - auch der Tonträgerindustrie - Kammerorchester waren einfach billiger.
    Als ich das erste Mal eines der nun neuen Orchester, die auf Originalinstrumenten spielten hörte, es war "The English Concert" unter der Leitung von Trevor Pinnock.
    Weniger erfreulich war der nächste Schritt. Es wurde behauptet, man müsse die "alten Spieltechniken" "wiederbeleben" und - eigenartigerweise - welch seltsamer Zufall - brachten die "alten Spieltechniken - genau jenen ordinären Klang zustande, den ich an Popmusik so hasse - und auch jene Geisteshaltung, die dem Regietheater anhaftet, nämlich ein Hang zum Hässlichen - war unüberhörbar.
    Erfreulicherweise schlossen sich nicht alle HIP Ensembles dieser Lesart an, positiv hervorheben möchte ich an dieser Stelle "The English Conzert (unter Pinnock, die anderen Aufnahmen kenne ich zuwenig), die Akademie alter Musik, und das "Venice Baroque Orchestra" unter Andrea Marcon erwähnen. Persönlich halte ich "Il giardino Armonico" nicht für "historisch korekt", aber sie sind in Sachen Spielfreude derart überzeugen, daß mir das ziemlich egal ist - ich liebe dieses Orchester.


    Was ich aber auf den Tod hasse, das sind die nunmehr immer häufiger auftretenden "modernen" Orchester, die sich eigenartiger - meist aggressiver Spielweisen bediienten - offensichtlich um die HIP Formationen an "Originalität" zu übertrumpfen. Ein bis zu diesem Zeitpunkt unbekanntes Schweizer Orchester unter David Zinnman war hier nur ein harmlioser Vorreiter für alles was da noch kommen sollte....


    Was da heute geboten wird hat mit "Klassik" nur mehr entfernt was zu tun.



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Dann trat - vor allem auf dem Gebiet der Tonträger - eine gewisse Stagnation ein und man überlegte, wie man dieser entgegentreten könne. "Spiel mit Originalinstrumenten" das war ein Zauberwort - und als erste Firma machte hier harmonia Mundi von sich reden.


    Wer wann wieviel PR hatte, weiß ich nicht, das Spiel auf historischen Instrumenten ist deutlich älter als Harnoncourt/Leonhardt, wann die ersten Tonaufzeichnungen für die Ewigkeit gemacht wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.
    ;)

    Zitat

    Als ich das erste Mal eines der nun neuen Orchester, die auf Originalinstrumenten spielten hörte, es war "The English Concert" unter der Leitung von Trevor Pinnock.
    Weniger erfreulich war der nächste Schritt. Es wurde behauptet, man müsse die "alten Spieltechniken" "wiederbeleben" und - eigenartigerweise - welch seltsamer Zufall - brachten die "alten Spieltechniken - genau jenen ordinären Klang zustande, den ich an Popmusik so hasse - und auch jene Geisteshaltung, die dem Regietheater anhaftet, nämlich ein Hang zum Hässlichen - war unüberhörbar.


    Natürlich bedienen sich auch Pinnocks Leute der alten Spieltechniken.


    An Popmusik fühlst nur Du Dich erinnert - aber das tut ja auch nichts zur Sache - was man über die Spieltechniken wusste und weiß reicht zwar aus, vieles als klar verfremdend zu erkennen, was außerhalb der HIP-Szene gemacht wird, aber es lässt ein großes Spektrum innerhalb der HIP-Szene zu. Manches darunter gefällt Dir, manches nicht, mir geht es ebenso.

    Zitat

    Was da heute geboten wird hat mit "Klassik" nur mehr entfernt was zu tun.


    Das könnte man eben auch zu Böhm oder Karajan sagen, wobei man das anhand des Instrumentariums und der Spieltechniken leichter begründen könnte (wenn wir jetzt schlampigerweise auch Phrasierung etc. unter "Spieltechnik" reihen).


    Aber Hauptsache, dass Dir auch von den gegenwärtigen Produkten welche gefallen, oder?
    :hello:

  • Also die vorgebliche Gemeinsamkeit von HIP mit "Popmusik" werde ich nie nachvollziehen können. Zumal die ja eher selten verfremdete oder "häßliche" Klänge ("ordinär" ist was anderes, da weiß ich noch weniger, was das klanglich bedeutet, Akkordeons spielen ja eher selten mit...) aufweist, sondern eher solche, die keinem weh tun und jederzeit und überall im Hintergrund dudeln können. Insofern scheinen mir etwa "I musici", obgleich achtbare Pioniere, viel näher am Pop zu liegen ("Barock in der Badewanne" zum Entspannen) als Harnoncourt. Rondo Veneziano war dann ja die Verschmelzung von seichtem Pop und Barock.


    Vermutlich kennt Alfred einfach andere Popmusik ;)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Sofern wir hier über Barockmusik sprechen, dazu folgendes:


    Zu den alten Spieltechniken gehört z.B.


    dass man den Glockenton (also den natürlich abschwellenden Ton) als dynamisches Standardmodell für den Einzelton entdeckte,


    und auch eine der Sprache nachempfundene detailreiche Artikulation (also in diesem Fall Binden und Stossen mit allen Zwischenformen, für Nichtmusiker),


    die mit einer damit gekoppelten Detaildynamik (laut und leise) einhergeht.


    Es wurde -sehr vereinfachend gesagt- nicht mehr entweder alles Legato oder alles Staccato gespielt, sondern sehr viel differenzierter, richtungs- und figurenorientierter.
    Dabei wurden sogar zarte, impressionistische Klangeffekte entdeckt, wie das Bogenvibrato, dass durch rhythmisch pulsierenden Druck auf einer wiederkehrender Note in einem Strich von Streichern gemacht wird.


    Mit "Figuren" meine ich Tongruppen, Motive, die im Barock meistens auch eine gestische Vorstellung beim Hörer auslösen, wenn sie denn richtig erkannt und gespielt werden.


    Das Ganze wurde dann dem Grundcharakter des Stücks (dem Affekt) untergeordnet und entsprechend angepasst.
    So werden Figuren z.B. weicher "ausgesprochen" wenn ich einen sanften oder traurigen Affekt habe, oft auch bei langsameren Tempo.


    Mit den alten Instrumenten wie z.B. den barocken Geigenbögen ist es spieltechnisch leichter und natürlicher, diese stilistischen Parameter umzusetzen.


    Für die alte Spieltechnik musste man sich allein schon deshalb interessieren, weil die barocken Noten kaum Spielanweisungen wie Dynamik oder Artikulation enthalten.
    Wenn man ohne die alten Spieltechniken zu kennen nur trocken spielt, was da steht, dann wird es sehr sehr langweilig.
    Oder man versieht es mit allerlei romantischen Ausdruckszutaten.
    Das kann manchmal sehr eindrucksvoll klingen, oder eben auch nach hohlem Pathos, weil die Musik dafür nicht geschrieben wurde.


    Darum geht es, sehr grob gesagt, bei den alten Spieltechniken.
    Es ist verlorengegangen, weshalb man es sich wieder aneigenen musste.
    Bei einer Brahmsinterpretation gibt es immer noch- gerade bei den Berliner Philharmonikern mit ihrer Geschichte- eine Verbindung zur Entstehungszeit.
    Bei der Barockmusik und der Musik davor war das Interesse für die alte Spielweise aber zwingend.


    Was das nun alles mit banaler und lauter Popmusik wie Madonna etc. zu tun hat, kann ich auch nicht sehen.
    Vielleicht meint Alfred einen übertrieben ruppigen Zugriff, wie etwa manches aus der hierfür bekannten Einspielung der Brandenburgischen Konzerte mit R. Goebel?
    Aber auch hier glaube ich nicht, dass man das einem Popfan vorspielen kann - die mögen das so oder so nicht....und ich mag das auch lieber als Pop.


    Und die Verbindung zu bestimmten Formen des Regietheaters, bei dem einem bestehenden Stück etwas Fremdes aufgesetzt wird, kann ich bei einer guten Interpretation etwa Harnoncourts ( zweite Aufnahme Brandenburgische Konzerte, Ouvertüren, Concerti grossi Händel etc.) überhaupt gar nicht sehen.
    Eher das Gegenteil ist der Fall, weil man ja gerade nicht mehr das fremd aufgesetzte (nüchterner "Bachstrich" oder schwelgendes romantisches Pathos) spielen wollte, sondern sich der barocken, der sprechenden Stilistik zuwandte.


    Harnoncourt lässt oft viel mehr weiche Legati spielen, als manche anderen HIP-Gruppen, wie z.B. auch Pinnocks Truppen, das nur nebenbei ( bei Standardschlüssen Händels z.B.)


    Auf der einen Seite tiefernstes Künstlertum und der seriöse Wunsch nach einer lebendigen und stilistisch entsprechenden Vermittlung der alten Musik für unsere Zeit,
    auf der anderen Seite der Wunsch nach Provokation durch manchmal grobe Verfremdung.


    Diese Verbindung kann ich da auch nicht erkennen.


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Zitat

    wann die ersten Tonaufzeichnungen für die Ewigkeit gemacht wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.


    DAs ist einfach gesagt:


    Schon von anfang als man die menschliche Stimme konservieren konnte


    Hier eine Aufnahme der Stimme Kaisers Franz Joseph von Österreich
    aus dem Jahre 1900 mittels Telegraphon von Paulsen,
    einem Magnetdrahtgerät wo die nebengeräusche signifikant geringer waren als beim Edison Phonographen


    http://www.mediathek.at/akusti…2/Kaiser_Franz_Joseph.htm


    Es wurde immer wieder betont welch Fortschritt es nun sei die Stimmen "großer Männer" für die Ewigkeit aufbewahren zu können.


    Für Musik reichte die Qualität jedoch nur bedingt.
    Aber der Traum von - zumindest akustischer Unsterblichkeit ist so alt wie die Geschichte der Tonaufzeichnung.


    Um 1955 , kurz nach Einführung der Stereophonie gewnn dieser Gedanke jedoch erneut an Bedeutung und brachte sogar Künstler (z.B Karajan) zu der Aussage, die Aufzeichnung sei klangschöner als das Original...


    Zitat

    "ordinär" ist was anderes, da weiß ich noch weniger, was das klanglich bedeutet,


    Da wird wohl jeder etwas anderes drunter verstehen
    Hansilick nannte es "stinkende Musik"
    Und Karajan hätte mich verstanden, aberr nicht nur er, sondern viele Dirigenten seiner Generation. Er war es nämlich der allse aus der Musik tilgte was er (unc auch ich) als "ordinär" empfand. Unangenehme Töne. ruppige abrupte Übergänge, schriller Klang. Karajan glättete, veredelde und poliert - und das Publikum betete ihn an - teilweise noch bis heute.


    Ich sehe gerade Glockenton hat inzwischen auch gepostet, es war mmir aber nicht möglich darauf momentan zu antworten....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat


    Original von Alfred Schmidt
    Karajan glättete, veredelde und poliert - und das Publikum betete ihn an - teilweise noch bis heute.


    Das stimmt. Und ich gehöre auch zu den Anbetern, wenn sein Konzept mit der Musik vereinbar war.
    Bei Bach,- den er über alles liebte- funktionierte das ineinandergleitende strömende Legato, das Aussingen des Sostenuto-Tons bis auf die allerletzte Millisekunde des Notenwertes usw. m.E. nicht gut.


    Geradezu als hohl im Pathos empfinde ich einige aus dem Barock stammende und für Symphonieorchester eingerichtete Stücke der Sampler-CD "Karajan-Adagio" ( mein Sohn hat sie von der Lehrerin geliehen, ich kaufe so etwas nicht...)
    Da wirkt der ganz grosse Klang (z.B. Pachelbel) ziemlich deplaziert, weil die Musik diese spätromantischen Dimensionen von der melodischen und harmonischen Struktur her einfach nicht hat.
    Und bei Mozart ziehe ich, wenn es jetzt um Dirigenten aus seiner Zeit geht, den ungleich transparenteren und präzisen Böhm vor.


    ABER:


    Seine (Karajans) späten Brahmssymphonien (digital) sind wunderbar und m.E. sehr stilrein, sein Sibelius und die 3. 5. und 9 Symphonie Beethovens erklingen in seinen leidenschaftlichen Interpretationen unübertroffen ( ich mag insgesamt die letzten, digitalen Versionen am besten)
    Ich habe Wagners Orchesterwerke auch noch nicht so grossartig gehört, wie eben von ihm dirigiert, z.B. die Tannhäuser-Ouvertüre.


    Joachim Kaiser meint, dass auch eine früh aufgenommene Mozart-Oper (Cosi) von ihm ganz hervorragend sei - kenne ich zwar nicht, aber andere könnten deren legendären Rang vielleicht bestätigen.


    Ebenso sein Debussy und Ravel: Da brechen beeindruckende Klangwogen über dem Zuhörer zusammen (La Mer)
    Seinen farbenreichen Klangsinn hat er "seinem" Orchester vererbt, und dieser wird durch "osmotische Übertragung" über die Generationen immer noch weitergegeben - zum Glück.


    Wenn man sich die neuen Aufnahmen der Brahms-Symphonien mit Rattle anhört, dann hört man das Erbe der grossen Vorgänger mitschwingen - auch den für Brahms idealen Klang karajanscher Prägung.
    Das höre ich jedenfalls so.


    Man muss also unterscheiden und sich etwas präziser ausdrücken, weil eine pauschale Kritik bzw. ein zu pauschales Lob m.E. einem Vergleich mit der Wirklichkeit nicht standhält.
    Kein Dirigent ist meiner Hörerfahrung nach für jeden Komponisten "der genialste".


    Harnoncourt etwa, dessen Monteverdi, Händel, Telemann, vieles von Bach, auch Haydn ( z.B. Jahreszeiten) ich oftmals unglaublich gut finde, ist für mich z.B. bei Brahms seinen Symphonien zwar ein Denkanstoss, aber insgesamt doch eher enttäuschend.


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Grand Partita KV 361 - Referenzaufnahme mit Fritz Lehmann


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    Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
    Serenade Nr. 10 "Gran Partita" ( für 13 Instrumente)
    KV 361 wurde in der ersten Jahreshälfte 1781 komponiert und ist siebensätzig



    I Largo | Allegro molto B
    II Minuetto | Trio I | Trio II B
    III Adagio Es
    IV Minuetto. Allegretto | Trio I | Trio II B
    V Romance. Adagio Es
    VI Allegretto c
    VI Tema con 6 variazioni. Andante B
    VII Finale. Molto allegro B


    Bläserensemble der Berliner Philharm. Dirigent: Fritz Lehmann (Aufn 3/1956)


    Liebe Taminoeaner/innen


    Es gibt ein paar Werke, die mir viel bedeuten, die ich aber sehr sehr selten höre. Im Moment ist das gerade (zum 4. Mal seit gestern) oben genanntes Werk. Mit reinen Bläser-Werken hab ich es eigentlich nicht so.....wahrscheinlich sind es doch gewisse Vorurteile und auch Ängste gegen Bläser-Musik generell, da ich aus meinem Hinterkopf die „Umtata“-Musik wahrscheinlich nicht immer genug rauskriege.


    Vor gut 40 Jahren dürfte ich dieses Werk zum ersten Mal gehört haben und zwar in der Aufnahme mit Furtwängler (habe ich nur auf LP....aber keinen Plattenspieler mehr) ....und das letzte Mal mit dem Collegeum Aureum vor ca 10 Jahren. Allerdings ist deren Aufnahme nicht so nach meinem Geschmack.


    Fritz Lehmann aber begeistert mich mit seinem Mozart-Stil, der ist ungeheuer geschmeidig und rhytmisch präzise aber trotzdem dezent, niemals „dick“. Die Bläser der Berliner Philharmoniker spielen fast mit der Leichtigkeit einer Feder.


    Furtwängler’s Interpretation dagegen wirkt gewichtiger, hat geradezu eine richtige metaphysische Dimension.


    Mir ist gar nicht danach die beiden Aufnahmen miteinander zu vergleichen, (geht ja technisch im Moment auch gar nicht)


    WEIL ich die Qualität der Lehmann’schen Dirigierkunst im Moment so genieße, dass sich die Frage WELCHE der beiden Interpretationen die bessere sei, sich für mich im Moment nicht stellt. (manchmal ist diese Frage m.E. auch unwichtig)


    Fritz Lehmann ist drei Wochen nach dieser Plattenaufnahme während einer Aufführung der Matthaeus Passion, im Alter von nur 52 Jahren, gestorben (Hirnschlag). Es gibt eine sehr gute Aufnahme dieser Passion mit Trötschel, Helmut Krebs etc.


    Was ich so außergewöhnlich finde, ist Lehmann’s Stilsicherheit, unaufdringlich aber auch klar, fast streng und auf subtile Art narrativ. Die Bläser erzählen quasi, in der Art eines Minetti, in vielen Schattierungen und Farben einer menschlichen Stimme ähnlich.


    Wenn ich die Gran Partita alle Jubeljahre mal höre, stehe ich – wie auch dieses Mal – fast staunend, mit offenem Mund, vor diesem genialen und aus dem Rahmen fallenden „Serenaden-Werk“.
    So zaubert Mozart aus dem Einzel, wie aus dem Zusammenklang der verschiedenen Blasinstrumente ganz subtile Unterschiede von Klanglichkeit, manchmal auch von Klangsinnlichkeit.


    Das Largo des 1.Satzes beginnt mit einer umfangreichen, vor Spannung fast knisternden Melodik, die von der Klarinette dominiert wird. Im Allegro , dem 2. Teil des Eingangssatzes geht es dann in ein viertaktikes musikantisches Motiv über, welches durch eine wunderbare Gelöstheit charakterisiert ist. Ich will nicht weiter mit Details langweilen.
    ....aber die Komplexität dieses siebensätzigen Werkes ist ungeheuerlich und hat deshalb auch ein sehr üppiges Farbenkolorit und ist von besonderer Eigenart.
    Vorallem die drei langsamen Sätze bergen Schätze an kompositorischen Einfällen, denn sie sind tiefsinnig, melancholisch, wie ein farbenprächtiger Frühlingsstrauß strahlt ihr Stimmungsreichtum, ja verzaubert er. (mich zumindest)
    Albert Einstein äußerte, dass das Adagio zweifellos der Höhepunkt der Komposition sei: „eine Romeo-Szene unter Sternenhimmel, in der dem klopfenden Herzen des Liebenden sich Sehnsucht, Klage, Liebe wie ein Hauch entringen."


    Ich kann das nicht so poetisch wie Einstein ausdrücken,
    ich empfinde es als besonders reizvolles Stimmengewebe, das etwas Geheimnisvolles ausstrahlt.
    Der Schluß ist für mich fast so eine Garantie von „Gute-Laune-Bringer“. In der letzten Variation leitet das Menuett in ein Schlussrondo über und da sprühen wirklich die Funken, diese pralle und trotzdem sehr kultivierte, ja „stilvolle“ Musizierfreudigkeit reißt mich einfach mit.


    Tendentiell sind mir Serenaden als Genre eigentlich eher etwas zu heiter, teils auch zu buffonesk und für meinen Geschmack manchmal etwas einseitig „unterhaltend“ ausgerichtet.


    Diese Serenade jedoch, die Nr 10 in B-Dur, KV 361, für 13 Bläser, ist ein großartiges Meisterwerk und für mich die Krönung dieser Gattung „Bläserserenaden“.



    Eine phantatische Aufnahme unter Fritz Lehmann möchte ich Euch empfehlen. (DG) Bei JPC z.Zt wohl nicht erhältlich



    Gruß.....................“Titan“