Auf ungewohntem Terrain – Karajans Mahler – TOP oder FLOP?

  • Herbert von Karajan, viel geliebt und viel gehaßt zugleich, hat unstreitbar gewichtige Beiträge zur Interpretationsgeschichte zahlreicher Komponisten geliefert, ob man dieselben Karajan'schen Ansätze nun mag oder nicht. Gustav Mahler ist nicht darunter. Erst spät, in den 70er Jahren, widmete sich der Maestro dem Spätromantiker aus der Donaumonarchie. Das Diktum, daß ein guter Bruckner-Dirigent (was Karajan unstreitbar war) selten ein guter Mahler-Dirigent ist, erfuhr spätestens durch Chailly erste Risse – doch was ist mit Karajan? Ihm, dem Katholiken, wie lag ihm der gebürtige Jude Mahler?


    Scheinbar wurde hier schon alles diskutiert, was mit HvK zu tun hat. Sein Mahler aber war bis dato immer nur sehr am Rande von Bedeutung für die Forianer, was freilich vereinzelte Lobeshymnen (etwa auf die IX. live) nicht ausschließt.


    Wenn meine Informationen stimmen, nahm Karajan lediglich die Symphonien Nr. IV, V, VI und IX (diese zweimal) auf, dazu "Das Lied von der Erde" – ergo nur knapp die Hälfte aller Mahler-Symphonien. Ein Aufspringen auf den "Mahler-Zug", als es nicht mehr anders ging, wurde Karajan gelegentlich unterstellt, eher unfreiwillig als gewollt, was aber fragwürdig erscheint, bedenkt man, wieviel Zeit sich Karajan für seine Mahler-Aufnahmen ließ – würde nicht eher ein rasch eingespielter Gesamtzyklus für diese Unterstellung sprechen?


    In den einzelnen Threads zu besagten Werken finden sich kaum Verweise auf die Karajan-Aufnahmen. Hie und da wird "[e]ine[...] Diskussion über 'Karajans Mahler'" in Aussicht gestellt (Zitat Norbert, 25.03.2006). Eine solche blieb bisher aber aus. Von daher also dieser Thread, der – so hoffe ich – zu interessanten Diskussionen führen wird. ;)


    Im folgenden noch einmal alle mir bekannten Karajan-Mahler-Aufnahmen:







    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Aufgrund der verhaltenen Resonanz, die dieser Thread nach sich zieht (uninteressantes Thema? zuviel Karajan?), sehe ich mich gezwungen, nun als erster etwas zu einer speziellen Aufnahme zu verfassen.



    Vorab: Der von der DGG ausdrücklich als "Live Recording" ausgewiesene Mitschnitt aus dem Jahre 1982 genügt klanglich höchsten Ansprüchen. Es handelt sich um eine Digital-Stereo-Aufnahme, die von einer Studio-Aufnahme nicht zu unterscheiden ist.


    Da ich die IX. von Mahler bisher gar nicht kannte, kann ich nicht vergleichend bewerten. Jedoch gefiel mir Karajans Herangehensweise über die Maßen, so daß im Grunde kein Bedarf besteht, eine weitere Aufnahme anzuschaffen. Die Berliner spielen TOP.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Weil sonst keiner will, schreibe ich halt was.


    Karajans Mahler- und Bruckner-Aufnahmen zeigen, dass er unzweifelhaft zu den größten Dirigenten gehört und nicht nur der dicke Aufstreicher bei den Werken des frühen 19. Jhts (insbes LvB) war, für den man ihn immer hinstellt.
    Er hatte ein kaum nochmals erreichtes Händchen für Spannung und einen sicheren Instinkt, wie man diese auch auf CD bannen konnte.


    Zu Unrecht steht er meiner Meinung nach nicht in der Reihe der großen Mahler-Interpreten, vielleicht, weil er keinen Zyklus dirigierte, vielleicht, weil er Schlüsselwerke wie die 2., 7., 8. nicht aufnahm, ich weiss es nicht.
    Karajan fand erst relativ spät zu Mahler, da war er längst in anderen Bereichen (Beethoven, Sibelius, Strauss, Brahms, Opern) der große Weltstar, weshalb man diese Aufnahmen nicht so schätzt, wie sie es eigentlich verdient hätten.


    Ich tue mich ein wenig schwer mit seinem Bruckner, ich empfinde ihn als sperrig. Aber gleichzeitig denke ich, dass Bruckner eben auch sperrig ist und sich erst gegen Ende in seligem Wohlklang auflösen soll. Karajans Zugang zu Bruckner ist deshalb vermutlich ausgesprochen richtig, man muss sich damit nur erst anfreunden.


    Bei Mahler ist dieses Verständnis für Sperrigkeit nun wirklich essentiell und Karajan setzt Mahlers Komplexität hervorragend um.
    Davon abgesehen sind Mathis, Ludwig und Kollo ausgesprochen hörenswerte Solisten und das BPO ein großartiges Mahler-Orchester, wie man spätestens bei den grandiosen Abbado-Aufnahmen hört.


    Karajans Mahler ist ein Beweis für Karajans Größe und man sollte auch diese Bereiche seines Schaffens kennen lernen, bevor man sich dem Eindreschen hingibt.


    Ein letztes Wort zu Karajan und Mahler:
    Ich glaube nicht, dass religiöse Motive bei der Interpretation Mahlers eine wesentliche Rolle spielen. Das ist so ein mystischer Erklärungsansatz, um Mahler und Bernstein nah aneinander zu rücken. Dabei spielt es eine viel größere Rolle, dass Bernstein und Mahler eben neben ihrer Dirigententätigkeit auch noch komponierten, der eine also wußte, unter welchem Druck Werke entstanden.
    Es steckt aus meiner Sicht wenig Jüdisches in Mahlers Musik, mehr ein mit dem Erstickungstod kämpfendes Weltreich, quasi ein Musik gewordener Joseph-Roth-Roman. Es sind die Gegensätze in Mahlers Vita, die in seiner Musik immer wieder hervorscheinen (übrigens auch bei Bruckner), der Sprung von den Grenzen des Reiches (ob Mähren oder Oberösterreich oder, wie bei Roth, Galizien, ist dabei unerheblich) nach Wien, der in Prunk vergehenden Weltstadt, Zentrum der Musik, der Kultur im ausgehenden 19. Jht. Und dieses Gespür für die Zeit besitzt der Österreicher Karajan und auf dieses Verständnis kommt es meiner Meinung nach bei der Musik Mahlers wesentlich an. (Vielleicht können Chailly und Sinopoli als Italiener diesen schleichenden Zerfall auch so gut nachempfinden, die Grandezza mit den Schimmelflecken in den Ecken, weil das Geld für die Restaurierung des Kunstwerks/Bauwerks fehlt?).

  • Bei Karajans Mahler-Aufnahmen bin ich immer etwas zwiespältig. In der IV. klingt der Kopfstz in Tempo und Diktion merkwürdig verhalten und irgendwie humorlos, trocken, fast akademisch - erster Verdacht: Karajan fehlt hier der Nerv für das Skurille. - Im zweiten Satz klingen die "Trio"-Teile (etwa Partiturziffer 11, Allargando ancora di più) nirgends sonst so paradiesisch. Der dritte Satz ist sehr gelungen, gesangvoll, wirklich tranquillo (Karajan ist ja ein Meister der Ruhe). Auch das stark schwankende Tempo, gegen Ende ein diskontiuierliches Accellerando (Andante; Allegretto subito; Allegro subito; Allegro molto subito etc.) und der glanzvolle Höhepunkt (Part.Zf. 12) sind großartig umgesetzt; ebenso der unerhört genaue Schlußsatz.


    Die V. liebe ich sehr, vor allem des Scherzos wegen und des Finales in seiner unirdischen Heiterkeit. Auch das Adagietto ist trotz des sehr breiten Tempos superb.


    Der Kopfsatz der VI. besticht bei Karajan durch ein unerbittliches marcato; gleichwohl ist mir der Satz im Ganzen zu glatt. Das Andante moderato läuft außer Konkurrenz, man kann es nicht schöner spielen. - Karajan selbst äußerte sich einmal zum aufgenommenen Finale, er habe seinerzeit "erst jetzt" eine Stelle (ich glaube Part.Zf. 133, bes. Takt 394) richtig verstanden. Ich bin beim Hören, glaub ich, immer drüber gestolpert.


    Die Studio-IX. ist mir im Kopfsatz immer zu sehr im tempo (Giulini mit seinen rubati ist hier für mich das Maß aller Dinge); z.B. Part.Zf. 9 (mit Wut, Allegro risoluto, nicht zu schnell). Bei Karajan klingt´s nach schierer Virtuosität, ist vielleicht Geschmackssache.


    Die digitale Live-IX. gefällt mir weitaus besser; sie unerscheidet sich aber auch nicht mehr allzusehr von Giulinis Auffassung.


    Das Lied von der Erde gefällt mir bei Bruno Walter und Otto Klemperer so konkurrenzlos gut, daß es diese Aufname schwer hat. Kollo ist mir zu harmlos. - Christa Ludwig hat in einem TV-Interview einaml kokett geäußert, sie habe zu diesem Stück (zumal dem Abschied mit seinem Trauermarsch) weder bei Klemperer noch unter Karajan eine rechte Beziehung bekommen. - Vielleicht etwas zu sehr verhalten, zu sehr sich brechendes Licht, zu wenig ergreifend die Schlußphrasen. Zu langsam in den Überleitungen, den ausgekosteten statt drängenden Steigerungen("Ich sehne mich, oh Freund, an Deiner Seite"); zu selbstgenügsam.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Bei der Live-9 ist m.E. besonders der 2. Satz viel zu glatt, zu wenig grotesker Humor (man höre bspw. Gielen, Maderna oder Klemperer).
    Die Rondo-Burleske mit einem entsprechend aufgelegten Orchester einigermaßen wild umzusetzen, kriegt Karajan natürlich hin, die weichzuspülen wäre nun auch schwierig gewesen. :rolleyes:
    Der eindrucksvollste Satz ist hier das Finale, an den Kopfsatz erinnere ich mich nicht mehr genügend, um was dazu zu sagen.


    Da ich somit die allgemein als beste und auch von "Skeptikern" geschätzte Karajansche Mahler-Einspielung zwar als hörenswert, aber nicht ideal einschätze, habe ich von den paar restlichen Abstand genommen (zumal ich bei diesem Repertoire mir eh schon länger Kaufstop auferlegt habe).


    (Bei den Liedern mit Christa Ludwig habe ich die Einspielungen unter Klemperer? nicht mit den späteren verglichen; ich mag von den Rückertschen eigentlich auch nur "Ich bin der Welt abhanden gekommen", die mögen aber auch gut sein.)


    :hello:



    BTW: auch wenn ich die Bedenken gegenüber Ludwig selbst in Klemperers LvdE schonmal gehört habe, finde ich sie extrem gut, was aber an der frühen Prägung liegen mag. Etwa in "Von der Schönheit" die Reprise des A-Teils ("Goldne Sonne webt um die Gestalten... doch die schönste von den Jungfrau'n" usw.), sehr sexy...
    Es gibt aber meiner Erfahrung nach viel mehr befriedigende Aufnahmen der Alt- als der Tenorpartie (wobei der Eindruck auch entstehen mag, weil außer dem ersten (und das scheint ziemlich fies für den Sänger) die Alt-Lieder viel gewichtigere Stücke sind).


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)



  • Das zweite stimmt nun so gar nicht - die Eröffnung des Tenors, Trinklied vom Jammer der Erde, ist so ein Fehdehandschuh, wo es jede Sängerin naturgemäß schwer hat (und die Godunov-Anklänge beim Einsamen im Herbst machen da auch nichts wett). Von der Jugend ist viel suggestiver (die Traumspiegel-Chromatik) als das allzu naturalistische Von der Schönheit mit seinem etwas kitschigen Chinoiserie-Stil und dem Pferde-Gewieher (ich mach hier den agent provocatuer, pace!). Das "... atmen heiß die Nüstern" klingt bei keiner Sängerin überzeugend.


    Wunderlich und Haefliger sind unübertrefflich; und wenn man bloß ein Ohr für die schlagend gute Diktion und das Timbre hat (und sich von jugendlicher Heldenallüre für den ersten Satz freimachen kann), der muß gerade Patzak ideal finden (Wunderlich hat gut singen vom morschen Tand). :rolleyes:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Original von farinelli
    Die V. liebe ich sehr, vor allem des Scherzos wegen und des Finales in seiner unirdischen Heiterkeit. Auch das Adagietto ist trotz des sehr breiten Tempos superb.



    Diese Aussagen kann ich, nachdem ich die Aufnahme auch habe, nur unterstreichen. Gerade das Adagietto, das ich mir gleich mehrmals angetan habe (und natürlich doch schon vorher kannte, Visconti sei Dank), gelingt Karajan malerisch schön – wen wundert's. Überhaupt sagen mir die Sätze 3–5 in diesem Werk mehr zu als der "ruppige" Beginn.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões