Bildungsbürger und ihr Beitrag zur klassischen Musik

  • Bildungsbürger und verwandte Strömungen , bzw mit ihnen verwandte, gab und gibt es in der Tat - und immer wieder wieder war es ihnen zu verdanken, daß sich nach Wegfall des Adels unsere Kultur weiter entwickelt hat, bzw bestehende Werte erhalten wurden.


    Zudem gibt es eine - ich würde sagen - bildungsbürgerliche Attitüde auch in Kreisen, die streng genommen ursprünglich nicht dem Bürgertum zugerechnet wurden.


    Und dann gibt es eine Gruppe, die allein das Wort "Bidungsbürgertum" als Schimpfwort empfindet und dies Gruppe am liebsten entmachten, vernichten, totschweigen oder sonst was möchte.


    Ich fand gestern oder vorgestern den Begriff "Kulturbürgertum" in Zusammenhang mit Dresden - und hier wieder im Zusammenhang mit Christian Thielemanns neuem Publikum, welches so ganz anders reagiert als in den meisten anderen deutschen Städten (ist das wirklich so?) und welchem der Autor des Artikels eine kulturbürgerliche Attitüde nachgesagt (oder angedichtet) hatte.


    Interessant in diesem Zusammenhang ist (für mich) daß auch in Wien ein gewisser "kulturbürgerlicher" Wind weht - und daß es mich in der Vergangenheit immer wieder verwunderte, wenn im Forum hier abfällig über diese Gruppe geredet wurde.


    Ich habe nun dieses Thema als (hoffentlich) interessanten Thread entdeckt, und erkläre die Diskussion für eröffner,


    Was ist so schlimm an der "bildungsbürgerlichen Attitüde" ?


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • zum ersten fällt mir da Thomas Mann ein, mit seiner spezifisch spartenfremden, literarisierten Liebe zur Musik


    zum zweiten das typische Publikum eines geistlichen oder Kammer-Konzerts


    zuletzt unser Forum in toto, Heimat der Dilettanten und Kenner


    *


    eine nicht bildungsbürgerlich vermittelte Praxis klassischer Musik zeigt das Projekt des Films "Rhythm is it" (ein bißchen das, wovon Tonio Kröger träumt) :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • In der Tat würde ich es ebenfalls so sehen, daß das Bildungs- oder eben Kulturbürgertum nach dem Niedergang des Adels dessen Aufgaben als Förderer und Mäzene der Kunst übernommen haben. Dies begann nicht erst 1918, sondern freilich schon viel früher, wir können hier, denke ich, mindestens ins 18. Jahrhundert datieren. Den Adel gibt es nicht mehr, in Österreich gänzlich (was mich immer wieder wundert: grad Österreich müßte doch den Adel haben!), in der BRD nur noch dem Schein nach.


    1968 ff. schien das Bildungsbürgertum ja auf dem absteigenden Ast. Es war auf einmal unpopulär, sich auf diese Art und Weise zu definieren. Ausgestorben ist es indessen bis heute nicht. In Wien, Dresden und anderen Städten scheint es sich erhalten zu haben. Österreich ist generell konservativer als die BRD, so kommt es mir jedenfalls vor. Und daß Dresden als DDR-Stadt den 68ern entging, hat auch eine gewisse Plausibilität.


    Ich würde mich selber mit Stolz als Bildungsbürger bezeichnen. Was daran schlecht sein soll, ist mir nicht ganz klar.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Original von Joseph II.


    Ich würde mich selber mit Stolz als Bildungsbürger bezeichnen. Was daran schlecht sein soll, ist mir nicht ganz klar.


    Daran ist gar nichts schlecht, lieber Joseph. Um die Kritik am Bildungsbürgertum zu verstehen - sie ist zeitspezifisch und wird mit der Kriegsenkelgeneration aussterben - lies bitte von Alfred Andersch das schmale Bändchen "Vater eines Mörders". Den schönen Künsten sind immer wieder Läuterungsaspekte zugeschrieben worden. Die deutsch/österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat indes gezeigt, dass diese Hochkultur niemanden von etwas abgehalten hat. In diesem Sinne hat sich wohl auch Joachim Fest in seinem Buch "Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend" geäußert. An dieser Erkenntnis hat sich wohl vor allem die Kritik der 68er und ihrer Nachfolger entzündet.


    Bildungsbürger sind Kulturbewahrer. Und - weil oftmals konservativ - Kulturausschließer.Kultur ist über die Jahre hinweg allerdings in genügend breite Bevölkerungskreise gedrungen (zumindest von Deutschland und seinen urbanen Ballungsgebieten behaupte ich das, wie das mit Österreich aussieht kann ich nicht sagen), dass mit gutem Grund gesagt werden kann: bildungs- und kulturstützend ist das Bildungsbürgertum nicht mehr. Eine Gruppe unter anderen in einer pluralen Gesellschaft. Manchmal liebenswert.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Den Adel gibt es nicht mehr, in Österreich gänzlich


    Nominal, per Definition gibt es ihn nicht mehr, real indes schon.


    Die "Frau Baronin" wird in den teuren Geschäften wo sie einkauft selbstverständlich nach wie vor mit "Frau Baronin" tituliert.
    Und als die letzte Kaiserin von Österreich, Zita wenige Jahre vor ihrem Tod nach Österreich einreisen durfte (es war ihr von der Republik lange verwehrt geblieben) da gab es im Wiener Stephansdom eine Messe, wo sie -auch vom Kardinal - vor laufenden Fernsehkameras mit "Eure Majestät" tituliert wurde...


    Der Adel hat zwar in der Regel etliche Güter und die Titel verloren - nicht aber Einfluß und Geld.


    Graf Sternberg ließ den ironischen Satz auf seine Visitenkarten drucken.


    "Karl Sternberg


    geadelt von Karl dem Grossen,


    entadelt von Karl Renner".



    Auch ich vertrete ein bildungsbürgerliches Weltbild.


    Selbstverständlich ist nicht jeder bildungsbürgerlich -konservativ denkende Mensch ein Krösus - aber im Gegensatz zu jenen Schmarotzern, die da meinen alle Kultur müsse jedem kostenlos (soll heissen auf Kosten der anderen) zur Verfügung stehen, ist er bereit für Kunst auch etwas zu bezahlen - so er sie "konsumiert.


    Und hier sind wir schon beim nächsten Punkt.
    Während Subventionen durchwegs von Leuten vergeben werden, die von Kunst wenig bis nichts verstehen und aus Angst zu "Banausen" gestempelt zu werden oft die skurrillsten Kunstwerke bzw Kompositionen fördern - mit Geld daß ihnen eigentlich gar nicht gehört - zwangsweise entnommen von Leuten die diese Kunst eigentlich gar nicht wollen, geben Bildungsbürger ledglich für jene Kunst, die ihnen fördernswert scheint aus - was natürlich zu ganz anderen Ergebnissen führt.


    Letztlich ist jeder CD-Kauf im Klassischen Bereich "Kunstförderung" im Gegensatz zur konsumierten Raubkopie.


    Ich bin - im Gegensatz zu Thomas Pape jedoch der Meinung, daß der Bildungsbürger - egal wie stark oder schwach ausgeprägt - nach wie vor einer der Motoren ist, der die "klassischen Musik" am Leben erhält.
    und der in einem (oft unsichtbaren) Netzwerk seine Fäden spinnt.



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    aber im Gegensatz zu jenen Schmarotzern, die da meinen alle Kultur müsse jedem kostenlos (soll heissen auf Kosten der anderen) zur Verfügung stehen, ist er beireit für Kunst auch etw3as zu bezahlen - so er sie "konsumiert.


    Nun denn, die Kulturpreise sind nicht gerade niedrig. Auch die Städte haben mittlerweile begriffen, dass Geld ein seltenes Gut ist. Es ist auch absolut in Ordnung, dass ein Museumsbesuch 10 EURO kostet (exklusiv Sonderausstellung, versteht sich). Man hört dann zwar immer den dümmlichen Spruch wie das denn eine Familie bezahlen solle. Dem entgegne ich dann, dass es in Museen Ermäßigungen für Kinder gibt. Ein Besuch im Cinedom kostet dieselbe Familie deutlich mehr (zumal dann ja auch Popcorn und Cola sowie der nachfolgende besuch bei PizzaHut oder McDonalds bezahlt werden müssen). Kultur ist keine Dreingabe, und wer sich beides finanziell nicht leisten kann, der muss Prioritäten setzen.


    Wir sind uns aber gewiss darin einig, dass die Kulturbetriebe nicht wirtschaftlich zu führen sind. Letztlich wird dort ein Kulturerbe verwaltet, dessen Erhalt auch eine Verpflichtung der Nachwelt gegenüber ist. Was Du ererbt von den Vätern, das erwirb, um es zu besitzen.


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Und hier sind wie schon beim nächsten Punkt.
    Während Subventionen durchwegs von Leuten vergeben werden, die von Kunst wenig bis nichts verstehen und aus Angst zu "Banausen" gestempelt zu werden oft die skurrillsten Kunstwerke bzw Kompositionen fördern - mit Geld daß ihnen eigentlich gar nicht gehört - zwangsweise entnommen von Leuten die diese Kunst eigentlich gar nicht wollen, geben Bildungsbürger leidglich für jene Kunst, die ihnen fördernswert scheint aus - was natürlich zu ganz anderen Ergebnissen führt.


    Hier sieht die Realität - ich bleibe bei den urbanen deutschen Ballungsgebieten ganz anders aus. Schließlich ist Kulturförderung durch Subvention nur ein wirtshaftliches Standbein des Kultubetriebes. Viel wichtiger ist das Sponsoring durch die Wirtschaft oder durch privat.


    Der Kölner Arzt, Proust-Gelehrte und Kunstsammler Rainer Speck finanziert seit Jahrzehnten Gegenwartskunst, alles Dinge, die Du, lieber Alfred, mutmaßlich fürchterlich fändest. Ähnliches gilt für das Engagement des Sammlerehepaares Peter und Irene Ludwig, die übrigens beide aus alten, traditionsreichen Familien der Oberschicht stammen. Peter Ludwig hat es sogar geschafft, den Koblenzer Sitz des Deutschherrenordens in eine Museum für deutsch/französische Kunst des 20. Jh. umzuwandeln (läuft sehr erfolgreich).


    Peter Ludwig hatte übrigens ein sehr interessantes Promotionsthema (der Unternehmer war promovierter Kunsthistoriker): "Das Werk Pablo Picassos als Ausdruck eines generationsbedingten Lebensgefühls". Generationsbedintes Lebensgefühl: ich glaube, lieber Alfred, das wir hier dem Phänomen Kunst- und Kulturbewertung näher kommen.


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Letztlich ist jeder CD-Kauf im Klassischen Bereich "Kunstförderung" im Gegensatz zur konsumierten Raubkopie.


    Völlig einer Meinung. Aber auch durch Kauf lassen sich ambitionierte Projekte nicht immer wirtschaftlich durchführen. Die GA der Schostakowitsch-Sinfonien durch das Gürzenich-Orchester mit Dimitri Kitaenko wurde gefördert durch REWE, das Exelsior Hotel Ernst, einem der ersten deutschen Hotels (steht natürlich in Köln) und der Kulturstiftung NRW.


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich bin - im Gegensatz zu Thomas Pape jedoch der Meinung, daß der Bioldungsbürger - egal wie stark oder schwach ausgeprägt - nach wie vor einer der Motoren ist, der die "klassischen Musik" am Leben erhält.
    und der in einem (oft unsichtbaren) Netzwerk seine Fäden spinnt.


    Einer der Motoren, das stimmt, aber nicht der alleinige. Ein Nachtrag noch: die öffentlichen Kulturinstitutionen kommen ihrem Auftrag durchaus in breiter Streuung nach. Schau' allein auf die cpo-CD's: eine Vielzahl davon trägt das Logo irgendeiner der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Was in den vergangenen 60 Jahren in den Rundfunk- und Fernsehanstalten in breitester Streuung an Musik-, Film-, und Theaterproduktionen entstanden ist, wäre niemals möglich gewesen, wären die Entscheider hauptsächlich oder ausschließlich dem verengten Blickwinkel des Bildungsbürgertums (deutschen Zuschnitts; keine Aussage da keine Kenntnis zu Österreich meinerseits) gefolgt.


    Es geht in der Kultur schon ganz gerecht zu.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Während Subventionen durchwegs von Leuten vergeben werden, die von Kunst wenig bis nichts verstehen und aus Angst zu "Banausen" gestempelt zu werden oft die skurrillsten Kunstwerke bzw Kompositionen fördern - mit Geld daß ihnen eigentlich gar nicht gehört - zwangsweise entnommen von Leuten die diese Kunst eigentlich gar nicht wollen, geben Bildungsbürger lediglich für jene Kunst, die ihnen fördernswert scheint aus - was natürlich zu ganz anderen Ergebnissen führt.


    Das sagt der wahre Experte in Sachen zeitgenössischer Musik :hahahaha:

  • Nach Maßstäben seiner Zeit war Thomas Mann kaum ein echter Bildungsbürger, sondern ein schnöseliger Bohemien ohne Abitur (geschweige denn Doktorgrad), der aufgrund seiner besitzbürgerlichen Herkunft (und die Unfähigkeit fürs Kaufmännische hatte der Vater ja klar erkannt) einen sorgenfreien Start ins (recht bald) erfolgreiche Künstlerdasein genießen konnte...


    Bis etwa zur Zeit Beethovens dominiert m.E. noch der Einfluß des Adels und der Kirche die klassische Musik. Zwar gewinnt das Bürgertum im 18. Jhd. zunehmend an Einfluß, aber es sind zunächst Besitzbürger. Bildung reicht zwar für einige wenige, um gerade so in die bürgerliche Klasse aufzusteigen, aber diese ersten Bildungsbürger scheinen mir eher in prekären Verhältnissen gelebt zu haben. Ich bin kein Historiker, aber von einer kulturell prägenden sozialen Schicht des Bildungsbürgertums kann man wohl erst ab dem zweiten Viertel des 19. Jhd. sprechen (man nehme auch die Humboldtschen Bildungsreformen, die auf die klassische Antike fokussierte Gymnasialbildung, die den Kanon festlegt u.ä.). Und selbst dann schaut noch ein gut Teil des Bürgertums kriecherisch auf den ja keineswegs völlig entmachteten Adel als Vorbild.


    Schumann könnte man wohl als einen Bildungsbürger bezeichnen und eine wichtige Zielgruppe des "Albums für die Jugend" und ähnlicher Werke wie auch der musikalischen Zeitschriften waren sicher die sich etablierenden Bildungsbürger.
    Seit den 1920er Jahren beginnt der gesellschaftliche Einfluß des Bürgertums nachzulassen, nach dem 2. Weltkrieg gibt es m.E. nur noch versprengte Reste des früheren Bildungsbürgertums. (Bildungsbürger ist nicht jeder, der sich mit ein bißchen Quizhäppchenwissen so geriert. Sondern eben Hausmusik, humanistisches Gymnasium, akademische Ausbildung und Beruf usw. Borniertheit allein ist nicht hinreichend (auch nicht notwendig))


    Selbstredend sind die Moderne und die Avantgarde von Bildungsbürgern geschaffen und verbreitet worden, die Autodidakten, alten Adeligen und Arbeiterführer scheinen mir da eher in der Minderheit gewesen zu sein. Daß dem "Bildungsbürgertum" die Moderne von einer fremden Funktionärselite (von woher sollte die denn gekommen sein, außer aus dem Bildungsbürgertum? aus Moskau? :hahahaha: :hahahaha: :hahahaha: ) aufoktroyiert worden sei, halte ich für eine abstruse Verschwörungstheorie, die nicht der Diskussion wert ist. (Übrigens hat der typische Bildungsbürger zwar im 20. Jhd. meist ein ordentliches Auskommen, aber er muß für sein Geld arbeiten und wäre keineswegs in der Lage wie der Besitzbürger (die blauhaarigen Milliardärswitwen auf die Barenboim keine Lust mehr hatte) im Alleingang ein halbes Opernhaus zu sponsoren. Im Gegenteil ist er, etwa als Richter oder Professor, selbst sehr häufig im Staatsdienst.)


    Natürlich gibt es noch ein paar, besonders Leute, die ihre Ausbildung/Studium noch bis Anfang der 1960er beendeten und eben schon einen entsprechenden Hintergrund besaßen. (Mein ehemaliger Chef spielt tatsächlich regelmäßig Quartett mit einem anderen Emeritus, sowie dessen Frau und Tochter).


    Seitdem sind m.E. weitgehend "technokratische Funktionseliten" an die Stelle des "Bildungsbürgertums" getreten, oft (selbst bei akademischen Geisteswissenschaftlern) mit sehr engen Spezialgebieten. Das mag zu einem gewissen Publikumsschwund führen, u.a. weil eben auch "kleinbürgerliche" Schichten sich kulturell weniger an einer Vorgabe orientieren. Die heutige Prominenz rekrutiert sich hauptsächlich aus Sport, Popkultur, Politik und Boulevard. Wenn Ex-Hitparaden(oder was war das?) Moderatoren wie Gottschalk oder Jauch die neukleinbürgerlichen Ikonen sind, dann reicht eben ein Kitschmusical, um sich minimal über die charts-Kultur zu erheben.
    Aber dennoch sind diejenigen, die in der traditionellen "Hochkultur" (Museen, Oper, Konzerte, inkl. Avantgarde) was zu entscheiden haben, "Bildungsbürger", vielleicht in Schwundstufe, aber keine sozialistischen Agenten.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Seit den 1920er Jahren beginnt der gesellschaftliche Einfluß des Bürgertums nachzulassen, nach dem 2. Weltkrieg gibt es m.E. nur noch versprengte Reste des früheren Bildungsbürgertums. (Bildungsbürger ist nicht jeder, der sich mit ein bißchen Quizhäppchenwissen so geriert. Sondern eben Hausmusik, humanistisches Gymnasium, akademische Ausbildung und Beruf usw. Borniertheit allein ist nicht hinreichend (auch nicht notwendig))


    Was ist denn überhaupt ein "Bildungsbürger"? Charakterisiert sich das durch eine Lebenseinstellung oder durch das mitläuferhafte Pflegen irgendwelcher Gruppenzugehörigkeitsriten? Idealerweise sollte es doch um ersteres gehen.
    Und da glaube ich, dass die von Dir genannten Kriterien - es gäbe noch eine ganze Reihe mehr, die in die selbe Kerbe schlagen - allesamt keine notwendigen sind; im Prinzip sind sie nur äußerliche Manifestationen eines Lebensgefühls - oder eben die hohlen Riten eines Nachahmers. Im Prinzip gehört m.E. kein bestimmtes äußerliches Merkmal dazu, Bildungsbürger zu sein, nur eine innere Einstellung (aus der dann natürlich Äußerliches folgen wird, aber ob das nun Hausmusik, Dichten oder die Erlangung des Jodeldiploms ist, spielt keine Rolle).


    (Was mich übrigens irritiert und stark daran zweifeln lässt, dass bildungsbürgerliche Ideale tatsächlich von einer relevant großen Personengruppe gelebt werden und wahrscheinlich auch jemals wurden, ist, dass der humanistische Wissenseifer zumeist einen großen Bogen um die altgriechische Kerndisziplin der Mathematik macht...)



    Zitat

    Selbstredend sind die Moderne und die Avantgarde von Bildungsbürgern geschaffen und verbreitet worden, die Autodidakten, alten Adeligen und Arbeiterführer scheinen mir da eher in der Minderheit gewesen zu sein. Daß dem "Bildungsbürgertum" die Moderne von einer fremden Funktionärselite (von woher sollte die denn gekommen sein, außer aus dem Bildungsbürgertum? aus Moskau? Superlacher Superlacher Superlacher ) aufoktroyiert worden sei, halte ich für eine abstruse Verschwörungstheorie, die nicht der Diskussion wert ist.


    Naja, wie in jeder gesellschaftlichen Gruppierung gibt es auch hier maximal 10%, die tatsächlich das Prinzip verkörpern, stilbildend sind, und 90% mehr oder weniger starke Mitläufer, die sich in verschiedenen Schattierungen teilweise vom Geist der Gruppierung haben entflammen lassen, teilweise einfach nur dazugehören wollen (und dann auch eher die Riten der Gruppe kopieren als sie mit Leben zu füllen; das sind die, die am meisten ihre Gruppenzugehörigkeit betonen und am eifrigsten versuchen, die Riten zu verteidigen, weil ausschließlich diese Riten das sind, was sie über den Rest der Menschen "erhebt" (die Pflege solcher Riten muss an sich natürlich nicht schlecht sein, sondern kann positive Auswirkungen haben)).
    Dass letztere im Fall der Gruppe "Bildungsbürgertum" der Avantgarde nicht folgen wollten - aus bildungsbürgerlichem Ethos hätten sie es zumindest sehr ernsthaft versuchen müssen -, ist ja kein Wunder. Dass bildungsbürgerliches Denken und Konservativismus untrennbar zusammengehören, ist m.E. ein Irrtum, der entsteht, wenn man bildungsbürgerliches Denken über die Mehrheit der Mitglieder der entsprechenden Gesellschaftsgruppe zur wilhelminischen Zeit definiert - und die Mehrheit, das waren natürlich die Mitläufer. Bildungsbürgerliche Lebenseinstellung ist m.E. sogar strukturell gerade nicht konservativ, weil sie sich eigentlich nie mit dem erreichten Persönlichkeitsstand zufrieden geben kann (was aber natürlich nichts über politsche Überzeugungen aussagen muss).



    Gruß,
    Frank.

  • Ich empfehle sehr die Lektüre des Lebensbilds der Hedwig Pringsheim von Inge und Walter Jens. Man erfährt dort manches über die bildungsbürgerlichen Spielarten in der unteren und oberen High Society Berlins und Münchens der Jahrhundertwende bis zum Dritten Reich.


    Ich möchte f.m.T den Begriff nicht zu hoch ansetzen, zumal von der Avantgarde freihalten. Der Bildungsbürger ist ein Kind des 19. Jh. und ein Erbe Goethes, strebend bemüht und mit einer gewissen Neigung zu quasi religiöser Verehrung (Wallfahrten nach Weimar oder nach Bayreuth). Bach und Beethoven, die Götter der Entsagung, stehen ganz oben im Kurs - das meine ich gar nicht so sarkastisch, wie es klingt. Der Sinn fürs Höhere, der metaphysische Trost der Musik spielte einmal eine weit größere Rolle als heute, wo jedem alles gestattet ist. Und wenn auch angemerkt wurde, daß die Kunstliebe weder den ersten noch den zweiten Weltkrieg hat verhindern können, so gibt es doch viele Zeugnisse (bis in die Vernichtungslager hinein) von der heilen und heilenden Gegenwelt der Kunst gerade in finsteren Zeiten (davon macht man sich heute gar keinen Begriff mehr).

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    3 Mal editiert, zuletzt von farinelli ()

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  • Zitat

    Das sagt der wahre Experte in Sachen zeitgenössischer Musik



    Das Thema heisst ja auch nicht "zeitgenössische Musik" - die hat in meinem Leben in der Tat keinen Stellenwert - aber ich bekämpfe sie auch nicht, seit ich zur Überzeugung gekommen bin, daß sie immerhin irgendjemand auch gefällt. Inwieweit sie noch zu "Klassischen Musik" (iim weitest gefassten Sinn des Wortes) gehört - das ist eine Frage über die man reden sollte - allerdings in einem anderen Thread.


    ich befasse mich hier mit dem Phänomen "Bildungsbürgertum" und seiner Beziehung zur "wirklichen " "klassischen Musik"
    Natürlich gibt es darunter auch eine "Avantgarde" - aber ich würde sie nicht als typisch einstufen, eher eine Randerscheinung, die natürlich auffällt - kein Zweifel.


    Natürlich ist schon ans ich die Definition "Bildungsbürger" problematisch, auch ob man den Begriffe wertfrei - als Aufwertung oder als Schmähung sieht.


    Oder eine interessante Nebenfage:
    Das Publikum, welches bei Le Sacre du Printemps das Theater kurz und klein geschlagen hat - waren das Bildungsbürger ?


    Oder: Wir bewertet ihr nun den "Bildungsbürger ? Lebt er im Elfenbeinturm - stinkreich und weltfremd ?
    Ein Kulturfreak mit Abstand zur Gegenwart ?
    Gibt es überhaupt noch welche ?


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Oder: Wir bewertet ihr nun den "Bildungsbürger ? Lebt er im Elfenbeinturm - stinkreich und weltfremd ?
    Ein Kulturfreak mit Abstand zur Gegenwart ?
    Gibt es überhaupt noch welche ?


    Muß ein Bildungsbürger zwangsläufig reich und weltfremd sein?
    Man kann übrigens ersteres und letzteres auch alleine sein. Allerdings ist die Abgeschiedenheit im Elfenbeinturm in der Tat mit Reichtum leichter zu realisieren.


    Wenn die Definition ist: "Kulturfreak mit Abstand zur Gegenwart", würde ich sie durchaus als auf mich zutreffend bezeichnen.

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    – Luís de Camões

  • Reden wir hier von einem Typus?


    Z.B. Harry Graf Kessler, wie er die Stunde Null der Weimarer Republik erlebt (das Zerplatzen des Elfenbeinturms)?


    Oder von einer Gruppierung oder Schicht?


    Z.B. die älteren Damen, die sich, statt zum Kaffeekränzchen, Donnerstag in der Philharmonie treffen? Die natürlich alles toll finden, was sie dort zu hören bekommen, aber es als geradezu unanständig empfänden, das näher begründen zu müssen?


    Oder die notorischen connaisseurs, die das alles schon mal anderswo besser gehört haben?


    Oder die Leute, die danach Prosecco trinken gehen, ohne ein Wort über die Aufführung zu verlieren?


    Oder der schlohweiße Herr in der ersten Reihe, der noch Furtwängler erlebt hat? Oder dem seine Begleiterin, um die Sitznachbarn nicht zu stören, die piepsenden Hörgeräte abstellt?


    Oder die aufgeputzten und geschniegelten Teenager, die an die zwanghaften Frisuren der Fifties erinnern? Oder die bloß die Abokarten ihrer senilen Tanten absitzen?

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Zitat

    Original von Joseph II.
    In der Tat würde ich es ebenfalls so sehen, daß das Bildungs- oder eben Kulturbürgertum nach dem Niedergang des Adels dessen Aufgaben als Förderer und Mäzene der Kunst übernommen haben. Dies begann nicht erst 1918, sondern freilich schon viel früher, wir können hier, denke ich, mindestens ins 18. Jahrhundert datieren.


    Die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, die durchaus als besonders üppige Blüte "unserer Kultur" angesehen wird, wurde auch schon vom Bürgerstand getragen.
    :hello:

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Während Subventionen durchwegs von Leuten vergeben werden, die von Kunst wenig bis nichts verstehen und aus Angst zu "Banausen" gestempelt zu werden oft die skurrillsten Kunstwerke bzw Kompositionen fördern


    Soweit ich da hineingeschnuppert habe, wird das Programm von Interpreten und Intendanten bestimmt, nicht von den Leuten, die Subventionen vergeben.
    Aber mich interessiert das nicht so brennend.
    :baby:

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  • Zitat

    Original von Joseph II.
    Wenn die Definition ist: "Kulturfreak mit Abstand zur Gegenwart", würde ich sie durchaus als auf mich zutreffend bezeichnen.


    Wobei wir hier ja viele solche "Schwundstufen" von "Des Esseintes" haben.
    :D
    Also: Elfenbeinturmbewohner mit eigenwilligen Vorlieben zur persönlichen Genußsteigerung - aber eben OHNE umfassende Bildung. Die bringen wir ja alle nicht auf.
    ;(

  • Zitat

    Soweit ich da hineingeschnuppert habe, wird das Programm von Interpreten und Intendanten bestimmt, nicht von den Leuten, die Subventionen vergeben


    Das ist richtig, aber die sind wiederum nur Marionetrten der Subventionsgeber. Kaum ein Künstler der jüngsten Generation hat eine Chanche als Star aufgebaut zu werden, wenn er nicht dem vorgekauten Satz wie ein Papagei nachplappert: "Die Gegenwartsmusik ist mir natürlich ein besonderes Anliegen."
    Wie glücklich waren da noch jene Interpreten, die das sagen durften, was sie dachten.


    Zitat

    Elfenbeinturmbewohner mit eigenwilligen Vorlieben zur persönlichen Genußsteigerung - aber eben OHNE umfassende Bildung


    UMFASSENDE Bildung ist ja heutzutage in der Tat kaum mehr realisierbar, wo derartig viele Disziplinen existieren, speziell die Naturwissenschaften boomen ja derart, daß für humanistische Bldung - die beruflich nur in seltenen Fällen verwertbar ist - nur wenig Zeit bleibt.


    Unsere gheutige Bildung ist eher "durchwachsen" - von überall etwas.
    Mit enormen Lücken dazwischen. Man findet heuite immer wieder Akademiker, welche die Rechtschreibung nicht beherrschen - andrerseits sind sie in ihrem Fach herausragend.
    Auch nicht schlecht.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    UMFASSENDE Bildung ist ja heutzutage in der Tat kaum mehr realisierbar, wo derartig viele Disziplinen existieren, speziell die Naturwissenschaften boomen ja derart, daß für humanistische Bldung - die beruflich nur in seltenen Fällen verwertbar ist - nur wenig Zeit bleibt.


    Die Frage ist natürlich, was man jeweils wissen/können muss.
    Bei der klassischen Musik ist das ja noch übersichtlich: Das eine oder andere Instrument spielen, den Kanon vom Mittelalter bis zur Gegenwart drauf haben, ein bisschen Theorie ...
    :D
    In Mathematik und Physik wird es wohl etwas haariger.
    :rolleyes:

  • Der Begriff "Bildungsbürger" wird offensichtlich unterschiedlich wahrgenommen und eingesetzt. Wikipedia widmet dem Phänomen einen längeren Beitrag, der interessant genug ist, um ihn zur Lektüre vor dem weiteren Verlauf der Diskussion zu empfehlen.


    Hier ist er zu finden!


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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  • Also 1848 war eher das Ende als der Beginn des Biedermeiers; es war wohl eher die Enttäuschung, nach den Befreiungskriegen durch den Wiener Kongreß in einen polizeistaatlich straffen Status Quo geraten zu sein.


    Umfassende Bildung hat es so nie wirklich gegeben. Der letzte Universalgelehrte war Leibnitz. Ohne kanonisierte, verbindlich eingegrenzte Wissensgebiete (wie in der Theologie), also ohne dogmatische Institutionen kann das Wissen sich nicht runden. Seit der Aufklärung wird das Wissen ohnehin als gesellschaftlicher Prozeß von Austausch und Diskurs begriffen - und nicht einmal ein Goethe ist das Subjekt der Hegelschen Geschichte.


    Gebildete Menschen hat es aber immer gegeben und gibt es noch heute.



    Viel hat von Morgen an,
    Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
    Erfahren der Mensch; (...)


    ... und, so könnte man anfügen, der Option fürs Intersubjektive entspricht an den Fakultäten die Option fürs Interdisziplinäre.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Zitat

    Original von Spradow
    Was ist denn überhaupt ein "Bildungsbürger"? Charakterisiert sich das durch eine Lebenseinstellung oder durch das mitläuferhafte Pflegen irgendwelcher Gruppenzugehörigkeitsriten? Idealerweise sollte es doch um ersteres gehen.
    Und da glaube ich, dass die von Dir genannten Kriterien - es gäbe noch eine ganze Reihe mehr, die in die selbe Kerbe schlagen - allesamt keine notwendigen sind; im Prinzip sind sie nur äußerliche Manifestationen eines Lebensgefühls - oder eben die hohlen Riten eines Nachahmers. Im Prinzip gehört m.E. kein bestimmtes äußerliches Merkmal dazu, Bildungsbürger zu sein, nur eine innere Einstellung (aus der dann natürlich Äußerliches folgen wird, aber ob das nun Hausmusik, Dichten oder die Erlangung des Jodeldiploms ist, spielt keine Rolle).


    Ich glaube schon, daß es von irgendwann im 19. Jhd. bis in die 1930er (oder vielleicht auch 50er) Jahre eine Schicht oder ein Milieu gab, die sich durch eine Anzahl gemeinsamer Merkmale charakterisieren ließ. Natürlich konnte man auch ein neusprachliches Gymnasium besucht haben oder statt Hausmusik ein anderes Hobby bevorzugen. Und Thomas Mann gehört natürlich ungeachtet der weitgehend fehlenden formalen Abschlüsse dazu (noch mehr aber seine Frau Katia Pringsheim, Mathematikstudentin). Gewiß gab es auch eine Spanne, vom Luxusbildungsbürger Furtwängler, den sein Vater (Archäologieprofessor) teils von seinen Assistenten als Hauslehrern erziehen ließ, bis zum Lehrer in finanziell prekären Verhältnissen (s. z.B. das Jugendbuch "Die Familie Pfäffling" aus der spätwilhelminischen Zeit: "http://www.gutenberg.org/etext/10917")


    Zitat


    (Was mich übrigens irritiert und stark daran zweifeln lässt, dass bildungsbürgerliche Ideale tatsächlich von einer relevant großen Personengruppe gelebt werden und wahrscheinlich auch jemals wurden, ist, dass der humanistische Wissenseifer zumeist einen großen Bogen um die altgriechische Kerndisziplin der Mathematik macht...)


    Naja, altgriechisch konnte man bei den alten Griechen schlecht als Distinktionsmerkmal nehmen, das konnte ja jeder :D
    Die Mathematik spielte im Entwurf von Humboldt schon eine sehr wichtige Rolle (nicht zuletzt, weil sie bei den Griechen eine entsprechende innehatte ;)), jedenfalls eine viel größere als alle empirischen Naturwissenschaften, ebenso in England. (Was natürlich auch an deren Stand Anfang des 19. Jhds. lag, der war einfach oft nicht lehrbuchreif, sondern noch zu schnellen Umbrüchen unterworfen.) Für das "kulturelle Bewußtsein" spielt sie aber naturgemäß eine geringere Rolle als Literatur, Philosophie, bildende Kunst usw.


    Es ergibt sich aber durch einen verbindlichen Kanon, der im Kern auf die klassische Antike bezogen war, und der größtenteils eben schon im Gymnasium erschlossen (oder eingebleut) wurde, auch bei denen, die später Ärzte, Physiker oder Ökonomen wurden, ein gemeinsamer kultureller Hintergrund, sowohl bezüglich der "Klassiker" als auch der jüngeren Vergangenheit oder Gegenwart. Und nicht nur als Bildungshuberei mit eingeflochtenen Zitaten, sondern oft ganz selbstverständlich mit der Muttermilch. Solch ein weitgehend homogenes Milieu, das fast alle Akademiker umfaßt, gibt es schon lange nicht mehr.
    Und es ist gewiß zweifelhaft, ob so etwas heute wünschenswert wäre, faszinierend bleibt der Blick, den man in einigen Biographien oder auch Erzählungen auf diese Zeiten erhält, nichtsdestoweniger.


    Zitat


    Dass letztere im Fall der Gruppe "Bildungsbürgertum" der Avantgarde nicht folgen wollten - aus bildungsbürgerlichem Ethos hätten sie es zumindest sehr ernsthaft versuchen müssen -, ist ja kein Wunder. Dass bildungsbürgerliches Denken und Konservativismus untrennbar zusammengehören, ist m.E. ein Irrtum, der entsteht, wenn man bildungsbürgerliches Denken über die Mehrheit der Mitglieder der entsprechenden Gesellschaftsgruppe zur wilhelminischen Zeit definiert - und die Mehrheit, das waren natürlich die Mitläufer. Bildungsbürgerliche Lebenseinstellung ist m.E. sogar strukturell gerade nicht konservativ, weil sie sich eigentlich nie mit dem erreichten Persönlichkeitsstand zufrieden geben kann (was aber natürlich nichts über politsche Überzeugungen aussagen muss).


    Sicher gab und gibt es viele konservative "Bildungsbürger".
    (Ein zentraler Vorwurf an diese Schicht und die von ihr hochgehaltenen Ideale war ja ihr weitgehendes katastrophales Versagen angesichts von Faschismus und Nazismus.)
    Du hast jedoch völlig recht, wenn man bei dieser (privilegierten) Gruppe auch eine große Offenheit für ästhetische oder politische Neuerungen vermuten sollte. Ich kann keine statistischen Anteile angeben, aber es ist ja durchaus möglich, daß obwohl eine Mehrheit des Bildungsbürgertum konservativ ist, sich die Avantgarde (die ja immer eine Minderheit sein dürfte), ebenfalls wesentlich auf eine signifikante Minderheit dieser Schicht gestützt hat. Auch wenn sich der Künstler ja oft gerade im Kontrast zum Bürger bestimmt hat, so gibt es oft eine gemeinsame Basis.


    Zurück zum Thema: Ich weiß nicht so genau, ob man es einen gewichtigen Beitrag zur klassischen Musik nennen sollte, wenn eine bestimmte Gruppe diese Musik besonders pflegt. Ob ein verstaubt-konservatives oder ein offen-kreatives Milieu herauskommt, kann man allgemein wohl kaum sagen. Letztlich schreiben Individuen Musik, gleich ob auf dem Nährboden eines Milieus oder in trotziger Gegenüberstellung (auch ein Bürgerschreck braucht Bürger, die einen, die sich schrecken lassen, die anderen, bei denen die Faszination über die Irritation siegt).


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)