HAYDN, Joseph: 'Preußische' Quartette op. 50 - Haydns „Mozart-Quartette“ (?)

  • Hallo,


    zu den sogenannten Preußischen Streichquartetten von 1787, veröffentlicht als op. 50 gehören die folgenden:


    Quartett B-Dur op. 50 Nr. 1 Hob. III:44
    Quartett C-Dur op. 50 Nr. 2 Hob. III:45
    Quartett Es-Dur op. 50 Nr. 3 Hob. III:46
    Quartett fis-moll op. 50 Nr. 4 Hob. III:47
    Quartett F-Dur op. 50 Nr. 5 Hob. III:48
    Quartett D-Dur op. 50 Nr. 6 Hob. III:49


    Wie der Subtitel der Sechserreihe ahnen lässt, hat Haydn den Zyklus Friedrich Wilhelm II. von Preußen gewidmet (eigentlich erschien der Zyklus zuvor bei Forster in London und wandte sich an 'Ihre Königlichen Hoheiten, Prinz von Wales und Herzog von Cumberland'). So wundert es auch nicht, daß hier gelegentlich das Violoncello in den Vordergrund tritt: Der König nämlich war leidenschaftlicher - und wie man berichtet - ein recht anständiger Violoncellist.


    So hatte Friedrich Wilhelm II. beispielsweise ein (1797 ausgelaufenes) Jahresabbonnement von je 12 Werken bei Luigi Boccherini, der ja selbst ein großartiger Cellist war. Diese beiden Vorgänger inspirierten wohl auch Mozart, dem König sechs Streichquartette zu widmen (daraus wurden lediglich 3 fertiggestellt: KV 575, 589 u. 590, die Mozart dann notgedrungen für billiges Geld hergab - er erhoffte sich allerdings eine größere Entlohnung aus der königlichen Schatulle).


    Ich persönlich konnte dem Zyklus weitaus weniger abgewinnen als anderen Quartettzyklen Haydns - vor allem gefallen mir insgesamt die Mozartschen 'Preußischen' weitaus besser, da sie mehr Tiefe besitzen. Mehr Tiefgründiges wohnt auch nach meinen Hörerfahrungen allen anderen Haydnquartetten inne als op. 50.


    Dennoch sind dies natürlich wunderbare Quartette, die ich so schnell nicht aus dem Ärmel schütteln könnte. Meine Präferenzen sind:


    Quartett B-Dur, Satz 2 (Adagio non lento)
    Quartett B-Dur, Satz 4 (Vivace)
    Quartett fis-moll, Satz 1 (Allegro spirituoso)
    Quartett D-Dur, Satz 4 (Allegro con spirito)


    Der Höreindruck wurde gesponsert von:



    Quatuor festetics


    Sicher gibt es über diese Werke noch jede Menge zu sagen und zu schreiben... dies war nur mein Ersteindruck.


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo Ulli,


    tut mir Leid, aber mit Haydns "Preußischen Quartetten" kenn ich mich nicht allzu sehr aus...ich kann Dir aber eine Aufnahme empfehlen, von der man vielleicht nicht unbdeingt gutes denken würde, weil sie bei einem "Billig"-Label erschienen ist: Die Einspielung des Kodaly-Quartetts, das meiner Meinung nach auch die Beethoven-Streichquartette hervorragend interpretiert hat.


    Clementi hat ja leider keine Streichquartette geschrieben :no:


    :hello:


    lg Helge

  • Das erste Quartett steht in B-Dur (was immer das auf franz. heißt...)


    Ich fand diese Werke, denen ich relativ früh begegnet bin, zuerst etwas trocken. Inzwischen halte ich es für eine der besten Sammlungen, wenngleich es zweifellos recht dichte, "intellektuelle" Stücke sind, denen die gewisse Leichtigkeit, die man sonst oft findet, vielleicht mangeln mag. Haydn scheint hier sehr auf thematische Konzentration bedacht: die meisten der Sonatensätze sind monothematisch, es gibt dreimal Variationen als langsame Sätze; Menuette haben Dur/Moll-Varianten als Trios.
    Meine Favoriten sind das fis-moll und das D-Dur-Quartett ("Frosch"). Für mehr Kommentar habe ich momentan leider keine Zeit.


    (Ich bin dagegen von Mozarts "Preußischen" nach den 6 Haydn und 499 immer ein wenig enttäuscht; mir scheinen sie bei aller Brillanz, vergleichsweise oberflächlich, besonders die ersten beiden... :stumm: Allerdings haben die Werkgruppen vom Widmungsträger abgesehen ziemlich wenig miteinander zu tun. Haydn verzichtet ja von dem "Solo auf einem Ton" am Beginn des B-Dur fast völlig darauf, das Cello irgendwie hervorzuheben.)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Das erste Quartett steht in B-Dur (was immer das auf franz. heißt...)


    Ich hab mich von dem Si bémol majeur aufs Glatteis führen lassen. :D Danke für die Korrektur!


    Zitat


    Meine Favoriten sind das fis-moll und das D-Dur-Quartett ("Frosch").


    Da gehst Du mit mir und Georg Feder, der schreibt: Am meisten beeindrucken als Ganzes die Quartette in B-Dur, fis-moll und D-Dur, konform. Auf ein Gequake im letzten Satz von III:49 hab ich allerdings vergeblich gewartet ;)


    Zitat


    (Ich bin dagegen von Mozarts "Preußischen" nach den 6 Haydn und 499 immer ein wenig enttäuscht; mir scheinen sie bei aller Brillanz, vergleichsweise oberflächlich, besonders die ersten beiden... :stumm: Allerdings haben die Werkgruppen vom Widmungsträger abgesehen ziemlich wenig miteinander zu tun. Haydn verzichtet ja von dem "Solo auf einem Ton" am Beginn des B-Dur fast völlig darauf, das Cello irgendwie hervorzuheben.)


    Haydns 'Preußische' werden ja als Antwort auf Mozarts 'Haydn'-Quartette verstanden (warum hat er sie nicht Mozart gewidmet?). Und für mich wiederum sind Mozarts 'Preußische' die Anwort auf Haydns 'Preußische' - KV 590 ziehe ich allen Haydnse op. 50 und Haydn gewidmeten Mozartquartetten bei weitem vor, wobei ich insgesamt Haydns Quartettschaffen jenem von Mozart vorziehen würde. Das sollte aber vielleicht andernorts diskutiert werden.


    :hello:


    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo,
    nur in aller Kürze (später vielleicht ausführlicher):
    ich halte die "Preußischen" Haydns für einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Quartettschaffen.Es ist für mich die Antwort auf Mozarts geniale Herausforderung mit den "Haydn"-Quartetten,die beim großen Meister des Streichquartetts ein Umdenken bewirkt haben.Das Erstaunliche für mich ist dabei,daß Haydn als bereits über Fünfzigjähriger sich nicht zu schade war,die Anregungen des deutlich jüngeren Freundes aufzunehmen und umzusetzen.Nur so kann ich mir erklären,daß es später vor allem in den opp.76 und 77 zu diesen einsamen Höhen kam.
    Wer eine gültige Interpretation der "Preußischen" hören möchte,sollte sich unbedingt die alte Gesamtaufnahme mit dem Tokyo String Quartet (als LP-Kasette und in den USA auch als CD-Box bei DGG erschienen,aber leider nur noch antiquarisch erhältlich) besorgen.
    Viele Grüße
    Santoliquido

    M.B.

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  • Dass Wolfgang Amadé Mozart sogenannte „Haydn-Quartette“ komponiert hat, wissen wohl die meisten Freunde der Kammermusik: Sechs Quartette (KV 387, 421, 428, 458, 464, 465) widmete er dem väterlichen Freund und Kollegen und bezeichnete sie in der Vorrede zu diesen Werken als die „Frucht einer langen Mühe und Arbeit“.


    Haydn hörte diese sechs Werke am 15. Januar 1785 und dann am 12. Februar desselben Jahres nochmals die letzten drei. Bei dieser zweiten Aufführung war auch Mozarts Vater Leopold zugegen. Dieser schrieb danach seiner Tochter, dass Haydn sich ihm gegenüber wie folgt geäußert habe: “Ich sage ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und dem Nahmen nach kenne; er hat Geschmack und über dies die größte Compositionswissenschaft.


    Weniger bekannt ist, dass Haydn auf die ihm gewidmeten Werke reagierte, und zwar mit den sechs Quartetten op. 50. Dass sie schließlich dem 1786 gekrönten preußischen König Friedrich Wilhelm II. gewidmet wurden, hat folgenden Grund: Haydn hatte dem König sechs Sinfonien zugesendet, vermutlich die „Pariser Sinfonien“, wofür er als Dank vom König einen goldenen Ring erhielt. Dafür wollte er sich mit der Widmung der sechs Quartette erkenntlich zeigen. Sie heißen darum heute üblicherweise die „Preußischen Quartette“.


    Ungeachtet dieser Widmung gelten die Quartette

    • Joseph Haydn: op. 33 (1781)
    • Wolfgang Amadé Mozart: KV 387, 421, 428, 458, 464, 465 (1782-85)
    • Joseph Haydn: op. 50 (1787)

    als bestmöglicher Einblick in die gegenseitige Beeinflussung dieser beiden Komponisten. Die Quartette op. 50 könnten ebenso gut „Mozart-Quartette“ heißen, wie die genannten Werke Mozarts "Haydn-Quartette" heißen.


    Darüber hinaus hat diese freundschaftliche Auseinandersetzung den Nimbus der Gattung maßgeblich geprägt. Genauso, wie Mozart kein virtuoses Klavierkonzert, keine raffinierte Sinfonie, keine kunstvolle Oper komponierte, um sie Haydn vorzulegen, sondern Streichquartette, so heißt es bis heute für einen Komponisten, der zeigen will, was er kann, dass er einen Beitrag zu dieser Gattung schaffen soll. Diese besondere Wertschätzung der vielleicht eher zufällig entstandenen Gattung nahm hier ihren Anfang.

  • Warum aber sind diese Werke vergleichsweise unbekannt?


    Vielleicht darum, weil sie in eine Wahrnehmungslücke fallen. Mit welchen Werken mag man dem Haydnschen Quartett-Kosmos nähertreten? Vielleicht zuerst mit op. 76, welches nicht nur das bekannte „Kaiserquartett“ (Nr. 3 C-Dur) enthält, sondern auch das „Sonnenaufgangsquartett“ (Nr. 4 B-Dur), das nach Meinung vieler Haydn-Kenner der vortrefflichste Gattungsbeitrag des Komponisten ist.


    Ferner scheint bei Haydn gerne eine „Entwicklungstheorie“ unterstellt zu werden, die später entstandenen Werken a priori eine höhere Qualität zuspricht. Eine solche Theorie hat sogar Haydns Segen, denn er sprach im Jahre 1801 zu Griesinger von einem „stufenweisen Fortschreiten in seiner Kunst“. Somit ist verständlich, warum Haydns Londoner Sinfonien, die beiden späten Oratorien, die letzten Klaviersonaten und eben op. 76, die letzte Sechsergruppe von Streichquartetten, sich besonderen Interesses erfreuten.


    Auf der anderen Seiten stehen einige Frühwerke in der Gunst der Hörer. Natürlich will man wissen, „wie alles begann“. Hier wären etwa die „Tageszeiten-Sinfonien“ zu nennen. Bei den Streichquartetten mag man den Quartettdivertimenti op. 1 und op. 2 misstrauen, alleine schon wegen ihrer Fünfsätzigkeit und dem musikalischen Schwergewicht auf einem (meist zentralen) langsamen Satz. Hier hatte Haydn die Gattung offensichtlich noch nicht in die Form gebracht, die man heute mit ihr verbindet.


    Op. 3 wird meist Roman Hofstetter zugeschrieben, scheidet also aus. In op. 9 und op. 17 erscheinen die Kopfsätze überwiegend noch als eher langsamer „Moderato“-Satz. Somit fehlt ein typisches Kennzeichen „reifer“ Streichquartette, Haydn – so darf unterstellt werden - war wohl noch auf der Suche nach der Form.


    Ob er schon mit op. 20 (1772) oder erst mit op. 33 (1781) die Gattung schließlich definierte, darüber stritten und streiten die Gelehrten trefflich.


    Schon 1812 schreibt E. L. Gerber in seinem „Neuen historisch-biographischen Lexikon der Tonkünstler“: „Von dieser Nummer an erscheint Haydn in seiner ganzen Größe als Quartetten-Komponist“. Donald Tovey sieht op. 20 als das Ziel des Haydnschen Quartettschaffens. Robert Sondheimer („Haydn. A Historical and Psychological Study Based on His Quartets”, London 1951) nennt op. 20 überhaupt das entscheidende Werk in dessen künstlerischer Laufbahn. Dass selbst Haydn in op. 20 einen vorläufigen Abschluss seines Quartettschaffens sah, scheint auch die folgende Quartettpause von neun Jahren zu bestätigen. Und ein Kenner der Kammermusik wie Ludwig Finscher erklärte Haydns eigene Bemerkung zu op. 33 („auf eine ganz neue, besondere Art“) zu einem Marketing-Gag. Also war op. 20 das erste vollgültige Quartettopus – oder?


    Es gab auch andere Stimmen. Die Fugen am Ende dreier Quartette in op. 20 wurden als Verlegenheitslösung und als Rückschritt in vorklassische Zeiten interpretiert, die Quartettpause von 1772 bis 1781 wurde als Ausdruck von Ratlosigkeit betrachtet, etwa angesichts des ungelösten Finaleproblems. Charles Rosen hingegen wies das „Neue“ in op. 33 nach und zeigte die Entwicklungen auf, die Haydn seit op. 20 gemacht hatte. Prof. Hubert Buchberger schreibt: „Die deklamatorischen Extreme der „Sturm und Drang“–Zeit sind geglättet, die explosive Rhetorik weicht einem eher volkstümlichen Tonfall, die Formate sind knapper und die strukturelle Logik duldet keine Umwege.“ Insgesamt wirken diese Werke einheitlicher, ausgewogener, aber auch einfacher, volkstümlicher, ohne deswegen kunstlos zu sein – im Gegenteil. Die motivische Arbeit wurde hier von Haydn voll zur Blüte gebracht. Wieder Buchberger: „[Die Quartette in op. 33] wurden deshalb mit Recht als Prototypen eines neuen, „klassischen“ Quartettstils empfunden.“


    Der Streit, ob schon op. 20 oder erst op. 33 das erste „reife“, „klassische“ Opus unter Haydn Quartetten sei, hat beider Popularität natürlich befördert.


    So ist es verständlich, dass man einem Kammermusikfreund, der Haydns op. 20, op. 33 (eventuell noch die Quartettfassung der „Sieben Worte“ op. 51) und op. 76 im CD-Regal stehen hat, empfehlen würde, sich zunächst mit den Streichquartetten von Mozart, Beethoven, Schubert (12-15), Brahms, Schönberg, Berg, Webern, Bartok, Schostakowitsch und Ligeti auseinander zu setzen, bevor er tiefer in die Welt der Haydnschen Quartette eintaucht – nicht wahr? Ganz zu schweigen von den Werken von Mendelssohn, Schumann, Franck, Verdi, Dvorak, Tschaikowsky, Debussy, Ravel, Zemlinsky, Reger, Janacek, Hindemith, Britten, Prokofieff und Nono. Sind das nicht starke Argumente gegen Haydnsche Halbdutzendware, und sei es op. 50?


    So gesehen nimmt es nicht Wunder, dass die Quartette opp. 20 und 33 einerseits und die späten Werke andererseits viel stärker in der Gunst der Forscher, Musiker und Hörer stehen, als die anderen, die in Gefahr sind, trotz hoher Qualität auf eine Nummer in einer großen Liste reduziert zu werden.


    Ungeachtet ihrer mittleren Opuszahl sind sie etwa zur selben Zeit wie die Pariser Sinfonien entstanden. Haydn war also bereits über fünfzig Jahre alt.

  • Die Viersätzigkeit war schon seit op. 9 die Regel und liegt auch hier ohne Ausnahme vor.


    Betrachten wir zunächst die Tanzsätze. Sie heißen hier stets „Menuet“, bei den Trios fehlt die entsprechende Überschrift. Sie stehen stets an dritter Stelle in der Satzfolge. – In op. 20 hießen diese Sätze „Menuet“ oder „Menuetto“ und standen entweder an zweiter oder an dritter Stelle (je dreimal). In op. 33 finden wir stattdessen stets ein Scherzo, auch hier variiert die Position zwischen der zweiten (viermal) und der dritten (zweimal).


    Die langsamen Sätze sind in Nr. 1 bis 4 Variationensätze, haben zumindest Elemente eines solchen Satzes (die Lage ist komplizierter, siehe die Bemerkungen zu den einzelnen Werken). In Nr. 5 findet sich eine zweiteilige Form, in Nr. 6 ein Sonatensatz mit nur einem Thema. - Es fällt auf, dass die langsamen Sätze in einer ungeraden Taktart stehen, wenn die Kopfsätze in einer geraden Taktart stehen und umgekehrt.


    Die Kopfsätze sind durchweg Sonatensätze mit wiederholter Exposition, mit Durchführung und Reprise. Die Brille des 19. Jahrhunderts würde jedoch einen verzerrten Blick ergeben. Monothematik findet sich ebenso wie nur angedeutete „zweite Themen“. Meist ist die Lage allerdings komplizierter, so etwa in Nr. 1, wo Haydn aus drei Motiven einen ganzen Satz konstruiert. Die Schematik des 19. Jahrhunderts ist nicht zu finden, Haydn spielt noch mit den Formen.


    Die Finali sind Sonatensätze, mal mit einem, mal mit zwei Themen. Ausnahme ist hier das Quartett Nr. 4 in fis-moll, wo wir eine Fuge finden.


    Charles Rosen schreibt in seinem Buch „Der klassische Stil“: “Es ist blanker Unsinn, von Haydns Formstrukturen ohne Verweis auf ihr Material zu sprechen. Jegliche Erörterung von zweiten Themen, Überleitungen, Schlussgruppen, Modulationsplan und Themenverwandtschaft ist leer, solange sie sich nicht auf ein bestimmtes Stück, auf seinen Charakter, seinen typischen Klang und seine Motive beziehen.“


    Mag sein – und dennoch kann die wiedererkennbare Form dem Hörer einen Einstieg bieten, kann Landkarte sein auf dem Weg durch das Stück. Dass Form und Inhalt zueinander in Beziehung stehen, ist kaum mehr als eine Binsenweisheit. Und schließlich geben formale Sonderlösungen ja oft erst den Anlass, nach den Besonderheiten des Inhalts zu fragen, die diese spezielle Form bedingt haben. Wer feststellt, dass Tschaikowsky in der Reprise des Kopfsatzes der 6. Sinfonie das erste Thema überspringt, mag in der Durchführung die Antwort auf das „Warum“ finden – eine Antwort, zu der man ohne die formale Auffälligkeit vielleicht nicht einmal die Frage gestellt hätte.

  • Ich glaube, dass bei Haydn- und/oder Kammermusikfreunden op.50 nicht vernachlässigt wird. (Ohne systematisch gesucht zu haben, gibt es mindestens drei Einspielungen außerhalb von Zyklen (Tokyo/DG, Nomos/cpo, Amati/Divox), scheint mir nicht deutlich weniger als bei den anderen außer op. 76 und 77 und den 7 Worten)


    Obwohl op.20 und op.33 als "Meilensteine" und op. 76 und 77 als letzte Werke vielleicht einen besonderen Stellenwert genießen, befindet sich op.50 hier ja in der Gesellschaft von opp.54/55, 64 und 71/74. Und sporadische Hörer kennen eben die Handvoll Quartette mit Beinamen; hier kann op.50, obwohl man den langsamen Satz aus #5 "Der Traum" und #6 wegen des Finalthemas "Froschquartett" genannt hat, wohl nicht gegen "Lerche", "Reiter", "Kaiser" usw. bestehen.


    Die relativ langen quartettlosen Perioden zwischen op.20 und op. 33, sowie zwischen letzterem und op.50 sollte man m.E. nicht versuchen, in erster Linie musikalisch zu erklären. Wie wir alle wissen, litt Haydn nicht an Unterbeschäftigung und selbst wenn seine Quartette vermutlich auch beim Fürstenhof aufgeführt wurden, so war Quartettkomposition dort nicht seine Hauptaufgabe. Zwischen op.33 und 50 schrieb er zwei Opern und ca. 12 Sinfonien (ungefähr #76-87). sowie einige Klaviertrios, Klaviersonaten und weitere Werke.
    (Zwischen op.20 und op.33 ca. 6 Opern und 20 Sinfonien.)


    Dennoch kann man vielleicht zustimmen, dass das Opus nicht ganz die Beachtung erhält, die es verdient. Während der "neue Stil" bei op..33 weitgehend sehr knappe, eher humorvolle und verglichen mit op.9, 17 und 20 meist weniger ausdrucksstarke Stücke hervorbrachte, kann man das hier nicht mehr behaupten. Natürlich ist Haydn immer noch knapper als Mozart und selten opernhaft-leidenschaftlich.
    Leider finde ich gerade nicht mehr, wo ich das gelesen habe, aber ein Kommentator vermutet, dass Haydn sich als Reaktion auf Mozarts ihm gewidmete Quartette auf seine ureigenen Stärken besonnen habe: Sehr ökonomisch, oft monothematisch, motivische Arbeit und als langsame Sätze meist Variationssätze. Anders als Mozart in dessen einige Jahre später komponierten preussischen Quartetten, verzichtet Haydn weitgehend auf ein Herausstellen des Cellos (wenn man nicht das "Solo auf einem Ton" des B-Dur-Quartetts so werten will) konzertante Elemente. Es wäre freilich interessant zu sehen, ob man demgegenüber doch Übernahmen oder Einflüsse von Mozart erkennen kann.


    Ich kann nicht mehr genau rekonstruieren, wann ich das Opus kennengelernt habe. Jedenfalls fand ich es am Anfang auch etwas "trocken" (was ein wenig an der insgesamt aber sehr ordentlichen cpo-Einspielung gelegen haben mag und was mir mit op.33 ähnlich ging). Als ich dann vor 3-4 Jahren um das Jubliäum herum wieder verstärkt Haydn-Quartette gehört habe, verschwand dieser Eindruck jedoch sehr bald. Für mich sind alle Haydn-Quartette ab op.20 unverzichtbar (und opp. 9 und 17 eigentlich auch), aber mit Ausnahme von op.33,3 (und vielleicht noch 33,1) halte ich op.50 für einen "Fortschritt" und die Stücke liegen mir persönlich näher als das Vorgänger-Opus.

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  • Worin besteht eigentlich Haydns Reflektion der ihm von Mozart gewidmeten Quartette? Ganz intuitiv würde ich sagen, dass zumindest einige der Sätze recht "mozartisch" klingen (und zwar mehr als in den anderen Quartettopera); eventuell spielt mir hier aber das Wissen um die Entstehungsgeschichte einen Streich.


    Die mir zur Verfügung stehende Literatur geht nicht direkt auf das Thema ein, führt aber einige Eigenschaften der Quartette des Opus an: Georg Feder meint, Haydn ziehe sich auf "seine" Domäne der Materialökonomie zurück, "vielleicht [...] im Kontrast zu Mozart". Sind die Quartette also eher eine Reaktion im Sinne einer Ausweichbewegung als im Sinne gegenseitiger Befruchtung?
    Charles Rosen weist auf eine größere kontrapunktische Dichte als in op. 33 hin; allerdings sieht er die Begründung dafür nicht in einer Reflektion von Mozarts Werken, sondern allgemeiner in der Notwendigkeit, von op. 20 nach op. 33 im Zuge der Realisierung des neuen Stils vorübergehend Aufgegebenes zurückzugewinnen (ähnliches sei schon bei den Opera 9, 17 und 20 zu beobachten; das würde allerdings natürlich einer möglichen Reflektion von Mozarts Quartettstil nicht widersprechen). Der reichere Kontrapunkt führe zu einer "bei Haydn seltene[n] lyrischen Größe und gelassene[n] Würde".
    Ludwig Finscher bemerkt, dass im Vergleich zu opus 33 die die Dimensionen deutlich größer geworden seien und die Tonfälle, vor allem in den Finalsätzen, ernster (Musterbeispiel für letzteres dürfte die Schlussfuge im fis-moll-Quartett sein).


    Eine reichere Kontrapunktik und ein eher lyrischer Tonfall, gelassener und ernster als in op. 33 (und m.E. auch nachfolgenden Opera) deckt sich glaube ich ganz gut mit dem, was ich an den Quartetten als "mozartisch" empfinde; aber das ist natürlich auch reichlich unkonkret. Wie seht Ihr das?

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  • Das erste Werk des Opus‘ hat die folgenden Sätze:


    - Allegro (B-Dur, alla breve [durchgestrichenes C])
    - Adagio (Es-Dur, 6/8')
    - Menuetto (B-Dur, 3/4)
    - Finale (B-Dur, Vivace 2/4)


    Der Kopfsatz ist ein Musterbeispiel für Materialökonomie. Gerade mal drei Motive (1) (2) (3) benötigt Haydn, um diesen Satz zu bauen. Es beginnt mit einer (1) Tonwiederholung im Cello: Achtmal erklingt ein B, bevor die Oberstimmen dazu eine (2) Schlussformel (!!) spielen. So könnte ein Satz auch aufhören, nicht wahr? Die Schlussformel wird in höherer Lage und mit gesteigertem Dissonanzgrad wiederholt (Dominantnon- statt Dominantseptakkord). Es folgt ein (3) Triolenmotiv, auch dieses wird in anderer Lage wiederholt, bevor Haydn hieraus erst eine trugschlüssige Wendung, dann aber eine authentische Kadenz baut. Gerade mal elf Takte sind vorbei …


    Charles Rosen leitet Motiv (3) aus (2) ab. Betrachtet man nur die Richtungen des Fortschreitens der Töne, so geht dies gut an. Ziehe ich Rhythmus und das Auflösungsgefühl bei (2) hinzu, das dem um sich selbst kreisenden (3) ganz fehlt, so wird der Zusammenhang sehr lose.


    Wiederum erklingt das wiederholte B im Cello. Die Schlussformel erscheint mit abermals geschärftem Dissonanzgrad, dann wandert die Tonwiederholung erst in die zweite, dann in die erste Violine, wozu die Schlussformel in allen anderen Stimmen tritt und wiederum in einen echten Schluss führt.


    Auf einem übermäßigen Akkord beginnt die Überleitung zum zweiten Thema – das hier zu hörende Motiv in der ersten Violine ist zugegebenermaßen neu. Doch gleich darauf setzt die Tonwiederholung wieder ein (zweite Violine), und Cello und Bratsche tragen das zweite Thema vor, welches aus dem Triolenmotiv aufgebaut ist und pflichtschuldigst in der Dominanttonart F-Dur erscheint.


    Charles Rosen bemerkt, wie Haydn hier seiner Gewohnheit, die Tonika so schnell wie möglich zu verlassen, untreu wird – die Exposition ist harmonisch gesehen äußerst simpel. Geschuldet ist dies Rosen zufolge dem Material: Dem wiederholten Ton.


    In der Durchführung ist die Herkunft der Motive unüberhörbar. Ein weiteres Mal möchte ich jedoch Rosen zitieren: „Sie beginnt mit einer Neuinterpretation der Ecktöne von (2), nämlich Es-D.“ (Motiv (2) hatte in seiner Urgestalt die Töne es“ – f“ – g“ - f“ – es“ – d“).


    Überraschend ist der Beginn der Reprise, mitten in die Phrase hinein, so dass man eigentlich erst zwei Takte später bemerkt, was los ist. Das erste Thema wird verkürzt, das zweite Thema erinnert an die Sequenzen der Durchführung. Eine letzte Reminiszenz an das erste Thema in seiner originalen Gestalt mündet in eine Synthese der Motive (1) und (3): Das Cello spielt sein B in Triolen, dann dazu die Schlussformel (2), und Schluss.


    Spannend finde ich die äußerste Beschränkung des Materials – man ahnt, wo Schönberg in seinem op. 7 ansetzte. Haydn ging es in diesem Satz ganz offensichtlich nicht darum, „schöne“ Melodien zu zeigen (gibt es auch nur eine einzige Melodie in diesem Satz?), sondern er löst die konstruktive Aufgabe, mit minimalem Material gute Musik zu schaffen. – Bei Mozart kenne ich diesbezüglich nicht einen einzigen vergleichbaren Satz, bei ihm scheinen die Melodien an jeder Ecke zu wuchern.


    War der Kopfsatz melodienlos, so entschädigt der langsame Satz dafür – aber nur ein wenig. Denn die Melodie ist simpelst gebaut. Zweimal sechs Takte, die jeweils wiederholt werden. Los geht es mit einem Stollen, der in der Dominante endet, der zweite Stollen ist fast eine Wiederholung des ersten auf anderer Stufe und endet in der Tonika, dann der Abgesang, wiederum auf der Dominante endend. Die zweiten sechs Takte scheinen zunächst den Rhythmus der ersten sechs aufzunehmen, doch schon der zweite Stollen mit seinen Synkopen bringt eine deutliche Abweichung. Sehr schulmäßig dann die abschließende Kadenz im Abgesang. – Geradezu altväterlich, meine ich.


    Die erste Variation verlagert die Melodie in die zweite Violine, wozu die erste Violine figurieren darf und anfangs ein schönes Echo anbringt.


    In der zweiten Variation übernimmt wieder die erste Violine die Melodie, doch dieses Mal in Moll und eine Oktave höher. Die Musik erhält durch die gesteigerte Bewegung der Begleitstimmen einen neuen Impetus.


    In der dritten Variation darf dann das Cello die Melodie in der ersten Violine (nun wieder in originaler Lage und in Dur) virtuos untermalen.


    Eine Coda beschließt diesen unspektakulären, vielleicht etwas zu schulmäßigen Satz.


    Auch das Menuet setzt musikalisches Material nur sparsam ein. Ein auftaktiges Quartmotiv eröffnet – sechs Töne, dann dasselbe Motiv in höherer Lage. Der Leitton am Ende des Motivs wird dann weiter ausgesponnen zu einer leittönigen Sequenz, die von Cello und 2. Violine chromatisch fallend (halbtonweise wie ein Leitton) begleitet wird. Dann darf das Cello mit dem Quartmotiv weitermachen, wiederum eine Sequenz mit viel Chromatik – das war schon der erste Abschnitt. Wiederholung.


    Im zweiten Abschnitt wird die Harmonik geschärft – auch das kennen wir schon aus dem ersten Satz. Wenn man will, so ist in den Begleitstimmen ein neues Tonleitermotiv (abwärts) zu hören, dem ganz am Ende eine chromatisch steigende Tonleiter entgegen steht. Wiederholung.


    Das Trio ist nicht als solches überschrieben. Die erste Violine beginnt mit einem gebrochenen Akkord abwärts, dann wieder eine leittönige Wendung. Im zweiten Abschnitt des Trios dominiert dann die leittönige Wendung aus dem ersten Abschnitt und mündet in den anfangs zu hörenden gebrochen Akkord, dieses Mal zweistimmig und versetzt, das Cello begleitet die Schlusswendung mit – na, was wohl? – gebrochenen Akkorden.


    Wieder erstaunt, wie wenig Material Haydn einsetzt, um Musik zu schaffen.


    Das Finale präsentiert sich als Sonatensatz mit nur einem Thema, das aus einer Akkordbrechung und verzierten Tonwiederholungen besteht und unüberhörbar Kehrauscharakter hat. Allerweltsvokabular, doch bereits in auffälliger Weise im Trio und im Kopfsatz verwendet. Die Wiederholung des Themas wird von der zweiten Violine vorgetragen, die erste Violine darf dazu figurieren, danach wird in die Dominante moduliert. – Akkordbrechungen zuhauf sind zu hören. Wiederholung der Exposition.


    Die Durchführung beginnt mit einer kontrapunktischen Verarbeitung des Themenkopfes, die beiden Violinen gegen die beiden tiefen Streicher. Auf gehaltenen Akkorden darf erst das Cello, dann die 1. Violine ein Überleitungsmotiv aus der Exposition verarbeiten, bevor die 1. Violine eine echte kleine Kadenz vorträgt. Darauf folgt die erste Scheinreprise – in der „richtigen“ Tonart, die jedoch in einen weiteren kontrapunktisch geprägten Abschnitt mündet. Eine zweite Scheinreprise in Es-Dur ist zu hören, die zu einer langgezogenen Sequenz führt, welche auf dem Dominantseptakkord der Haupttonart endet und dann die echte Reprise folgen lässt.


    Nachdem der Schluss der Exposition (transponiert) zu hören war, scheint das Stück am Ende angekommen zu sein. Doch es folgen zwei Takte Generalpause, dann ein weiterer Einsatz des ersten Themas. Schlussformel, Generalpause, Schlussformel, Generalpause, Schlussformel, Generalpause, Schrumm-Schrumm … jetzt ist wirklich Schluss!! Wir erinnern uns: Mit einer Schlussformel begann der erste Satz.


    Die Scheinreprisen verleihen dem Finale fast schon Rondocharakter.


    Insgesamt scheint mir bei diesem Werk der konstruktive Aspekt alle anderen zu übertreffen. Zu bewundern ist höchste Materialökonomie, ein dichtes Geflecht von Beziehungen, auch satzübergreifend. „Schöne“ Melodien gibt es kaum.


    Um Spradows Frage vorläufig zu beantworten: In op. 50 Nr. 1 betreibt Haydn keine Mozart-Nachahmung, sondern die Abgrenzung von Mozart.

  • Der folgende kurze Beitrag möge jenen trösten, die sich durch Wolframs vorzügliche Beiträge (sie sind wesentlich interessanter und informativer, als das meiste, was in den Booklets der entsprechendnen CDs zu finden ist) ein wenig verunsichert fühlen, da sie die termini technici nicht verstehen
    Ich habe versucht,als Laie durch bewusstes Hören ein wenig hinter das Geheimnis der Werke zu kommen (bin erst bei Nr 1 angekommen, die ich nun einige Male hören möchte) - und habe gleich zu Beginn kapituliert.
    Denn mein erstes Urteil - nach Hören des ersten Satzes - Man kann hier keine Melodie erkennen - alles ist undurchschaubar, ein wenig nervös - und ohne jeglichen Ohrwurmcharakter (wie er sich beispielsweise in Op 1 und 2 massenhaft findet) - erwies sich schon bei Erklingen der ersten Takte des 2. Satzes als unhaltbar. Was würde erst in Satz 3 und 4 - und in den folgenden Quartetten zu finden sein ? Kann das der musikalische Liebhaber, aber Laie überhaupt erkennen ? Man wird sehen.
    Immerhin bin ich froh, wenn Wolfram dem ersten Satz den Mangel an Melodien vorwirft - oder neutraler ausgedrückt - wenn er ihn wertfrei konstatiert - nein wenn er ihn geradezu begeistert beschreibt. Interessant auch der Auffassungsunterschied, wenn er das Thema des zweiten Satzes geradezu als "altväterlich" beschreibt. Dem möchte ich nicht widersprechen - indes war es gerade diese Altväterlichkeit, die mich wieder ermunterte das Werk weiter zu hören - denn hier findet der "Durchschnittshörer" vermutlich genau das, was man gemeinhin von Haydn erwartet (?) Der dritte Satz erschien mir ein wenig spröde zu sein (?). Wenn Wolfram schreibt "Schöne Melodien" gäbe es kaum, dann trifft das im wesentlichen zu - nicht aber unbedingt auf den letzten Satz, dessen Beginn mir wiederum einigermaßen tänzerisch uns angenehm erschien, wenngleich Haydn diese Idylle immer wieder unterbricht....
    Ich habe mir die Frage gestellt, ob Kammermusik nicht in erster Linie für Musiker - und nur in zweiter Linie für Hörer gedacht war - erstere mögen vor gewissen Konstruktionen bewundernd gesessen haben, wogegen sie den Durchschnittshörer kalt ließen - oder vielleicht sogar verstört haben mögen ??
    Aber auch der Hörer kann in diesen Klangkosmos mit Befriedigung eintauchen - wenn er die Werke nämlich mehrfach intensiv hört - etwas wozu viele allerdings nicht bereit sind - was immerhin eine . wenngleich unbefriedigende - Erklärung sein könnte - warum die Kammermusikthreads so stiefmütterlich behandelt werden....
    Übrigends - nirgendwo wird das gängige Bild vom "Papa Haydn" so nachhaltig in Frage gestellt - ja geradezu zerstört, wie beim Hören seiner Streichquartette.
    Immerhin habe ich in Wolframs Texten eine Erklärung gefunden, warum ich beim Hören des Streichquartetts Op50 Nr 1 so gar nicht an Mozart erinnert wurde.....


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    danke für Deine Worte!


    Ich habe mir die Frage gestellt, ob Kammermusik nicht in erster Linie für Musiker - und nur in zweiter Linie für Hörer gedacht war - erstere mögen vor gewissen Konstruktionen bewundernd gesessen haben, wogegen sie den Durchschnittshörer kalt ließen - oder vielleicht sogar verstört haben mögen ??


    Ich denke an die Besetzung, in der Mozarts sechs Haydn-Quartette erstmalig gespielt wurden: Joseph Haydn an der 1. Violine, Carl Ditters von Dittersdorf an der 2. Violine, Wolfgang Amadé Mozart an der Viola und Johann Baptist Vanhal am Violoncello. Exquisit. Die instrumentalen Fähigkeiten der Herren vermag ich nicht zu beurteilen (sicher war die Viola nicht Mozarts "Erstinstrument"), aber dass diese Musiker nichtalltägliche kompositorische Leistungen erkannten und zu würdigen wussten, steht wohl außer Frage. Auch scheint mir unzweifelhaft, dass die Herren nicht nur fragten, "wie es klingt", sondern noch mehr, "wie es gemacht ist".


    Vielleicht liegt es daran, dass Mozart kein virtuoses Klavierkonzert schrieb, um es Haydn vorzulegen, sondern die sechs bewussten Quartette. Ein Konzert, eine Sinfonie, eine Oper ist darauf angelegt, in großem Rahmen eine anonyme Masse zu erreichen, und dabei auch die "langen Ohren zu kitzeln" (Leopold Mozart, es sind tatsächlich Esel gemeint).


    Das Streichquartett hat demgegenüber etwas Intimes, Privates, und etwas Erlesenes - Musik von Kennern für Kenner. Darin steht das Streichquartett in der Nachfolge des Madrigals. Oper, Sinfonie und Konzert bedürfen der plakativen Effekte, sie müssen alleine wegen der Raumgröße gröber strukturiert sein und musikalisch ein breiter gestreutes Publikum erreichen.


    Aber auch der Hörer kann in diesen Klangkosmos mit Befriedigung eintauchen - wenn er die Werke nämlich mehrfach intensiv hört - etwas wozu viele allerdings nicht bereit sind - was immerhin eine . wenngleich unbefriedigende - Erklärung sein könnte - warum die Kammermusikthreads so stiefmütterlich behandelt werden....


    Das gilt für jede anspruchsvollere Musik, gleich, ob es eine Mahler-Sinfonie, eine Wagner-Oper oder ein Beethoven-Quartett ist.


    Vielleicht findet das Ohr mehr Orientierungspunkte, wenn ein großes Orchester spielt. Da kann der Komponist eine klagende Melodie dem Englisch Horn anvertrauen, die von einem dumpfen Posaunenakkord grundiert und von flirrenden Streicherklängen in akustischen Nebel gehüllt wird. Vielleicht wirbelt noch eine Pauke pianissimo dazu.


    Diese effektvollen Möglichkeiten hat ein Komponist beim Streichquartett nicht. Wenn man moderne Spieltechniken außer Acht lässt und vielleicht gerade mal das Pizzicato zulässt, muss der Komponist alleine mit musikalischen Elementarkategorien arbeiten: Tonhöhe, Tonlänge, Lautstärke. Mehr ist nicht. (Hat Richard Strauss ein Streichquartett geschrieben?) Der Komponist eines Streichquartetts kann Schwächen der musikalischen Logik nicht mit raffinierter Instrumentation tarnen.


    In op. 50 Nr. 2 ist das zweite Thema des Kopfsatzes übrigens richtig mozartisch - wenn mir diese platte Formulierung erlaubt sei!


    :hello:

  • Vielen Dank an Wolfram für die schöne Einführung zum B-Dur-Quartett!



    Ich habe versucht,als Laie durch bewusstes Hören ein wenig hinter das Geheimnis der Werke zu kommen (bin erst bei Nr 1 angekommen, die ich nun einige Male hören möchte) - und habe gleich zu Beginn kapituliert.
    Denn mein erstes Urteil - nach Hören des ersten Satzes - Man kann hier keine Melodie erkennen - alles ist undurchschaubar, ein wenig nervös - und ohne jeglichen Ohrwurmcharakter (wie er sich beispielsweise in Op 1 und 2 massenhaft findet) - erwies sich schon bei Erklingen der ersten Takte des 2. Satzes als unhaltbar. Was würde erst in Satz 3 und 4 - und in den folgenden Quartetten zu finden sein ? Kann das der musikalische Liebhaber, aber Laie überhaupt erkennen ? Man wird sehen.
    Immerhin bin ich froh, wenn Wolfram dem ersten Satz den Mangel an Melodien vorwirft - oder neutraler ausgedrückt - wenn er ihn wertfrei konstatiert - nein wenn er ihn geradezu begeistert beschreibt. Interessant auch der Auffassungsunterschied, wenn er das Thema des zweiten Satzes geradezu als "altväterlich" beschreibt. Dem möchte ich nicht widersprechen - indes war es gerade diese Altväterlichkeit, die mich wieder ermunterte das Werk weiter zu hören - denn hier findet der "Durchschnittshörer" vermutlich genau das, was man gemeinhin von Haydn erwartet (?) Der dritte Satz erschien mir ein wenig spröde zu sein (?). Wenn Wolfram schreibt "Schöne Melodien" gäbe es kaum, dann trifft das im wesentlichen zu - nicht aber unbedingt auf den letzten Satz, dessen Beginn mir wiederum einigermaßen tänzerisch uns angenehm erschien, wenngleich Haydn diese Idylle immer wieder unterbricht....
    Ich habe mir die Frage gestellt, ob Kammermusik nicht in erster Linie für Musiker - und nur in zweiter Linie für Hörer gedacht war - erstere mögen vor gewissen Konstruktionen bewundernd gesessen haben, wogegen sie den Durchschnittshörer kalt ließen - oder vielleicht sogar verstört haben mögen ??


    Dann "oute" ich mich mal als einer, der dieses Quartett nicht nur schätzt, sondern auch liebt, und zwar als Laie und Liebhaber (ohne jemals einen Blick in die Partitur geworfen zu haben etc.). Auch wenn dies Musik ist, die zunächst für Spieler geschrieben ist, kann man sich als Hörer bis zu einem gewissen Grad in diese hineinversetzen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr dabei die Liveerfahrung hilft: Man sieht die Spieler, wann sie einsetzen, wie ihre Mimik emotional dem Geschehen folgt; die eventuell als abstrakt wahrgenommenen Instrumenten gewinnen Persönlichkeit, und jeder noch so kleine Einwurf, sei es zuweilen nur ein einzelner Ton, gewinnt eine Aussage (beziehungsweise: Enthüllt durch den Spieler eine Aussage, die in ihm steckt)!
    Die Kunst, die man sich durch Hörerfahrung aneignen kann, ist, das auch so wahrzunehmen, wenn man die Musik von CD hört; also die Musik nicht zuerst als Ganzes zu hören, sondern als Einzelteile, die zusammengesetzt ein Ganzes ergeben, jeden Einsatz eines der Instrumente wahrzunehmen und den emotionalen Ausdruck, den der Spieler hineinlegt.


    Für mich ist das B-Dur-Quartett, und zwar jeder einzelne Satz davon, in diesem Sinne ein Feuerwerk. Die Dichte der Ereignisse ist enorm, was (leider!) nur dadurch möglich ist, dass Haydn auf prägnante Melodien und Themen weitgehend verzichtet; dadurch wird der emotionale Ausdruck häufig zur winzigen Nuance, die wahrzunehmen ohne das Beobachten der Spieler umso schwerer ist. Das erfordert zunächst eine Menge Konzentration, aber es ist auf jeden Fall auch für Laien möglich und birgt reichen Gewinn!


    Es ist übrigens nicht so, dass ich die melodienreicheren Quartette verschmähen würde, unter meinen Favoriten sind genauso viele davon wie von Werken wie diesem.


    Viele Grüße,
    Frank.

  • Die soziologischen Hintergründe müsste man sich näher ansehen. So faszinierend und sicher auch nicht verfehlt die Idee eines kompositorischen "Dialogs" und Wettstreits zwischen Haydn und Mozart ist, so wurden die Werke ja auch für gutes Geld gestochen, verlegt und verkauft. Es gab also nicht nur einige Komponisten, sondern hunderte oder tausende von Musikern in Europa, davon viele Amateure, die diese Musik gerne spielten und hörten. (Und die Tatsache, dass es heute etwa ein halbes dutzend Gesamtaufnahmen der Haydn-Quartette und zahlreiche einzelne gibt, spricht dafür, dass es heute auch eine Musik für "Hörer" ist.)


    Andererseits hat man in Quartetten, die vermutlich für ein breiteres Publikum (für London) gedacht waren, nämlich op.71/74 und wohl schon die beiden letzten aus op.64, Merkmale ausgemacht, die dem Rechnung zu tragen scheinen. Im beliebten "Lerchenquartett" op.64/5 etwa das namengebende Violinsolo im Kopfsatz und das virtuose Perpetuum mobile des Finales.


    Die ökonomische Vorgehensweise Haydns wurde durchaus erkannt und geschätzt. Es gibt eine zeitgenössische Rezension der Pariser Sinfonien, in denen positiv hervorgehoben wird, dass Haydn mitunter mit einem Thema einen Satz abwechslungsreicher gestalten kann als andere Komponisten mit mehreren. (Wobei es natürlich fast immer doch nicht ganz unwichtige Nebenthemen gibt; bei den Kopfsätzen ist dort nur der der B-Dur-Sinfonie (La Reine) monothematisch.)


    Der Kopfsatz von op.50/1 ist zugegebenermaßen ein ziemlich extremer Fall, selbst für Haydn. Aber die Motive sind durchaus einprägsam, man verfolgt ihr Auftauchen im "Dialog" der Instrumente, die Abwechslung der beinahe hektischen Triolen gegenüber den "statischen" Viertelwiederholungen, den Aufbau von Spannung usw. Den leise verklingenden Schluss, sozusagen die Synthese der Triolen und des wiederholten Grundtons, finde ich besonders originell (dieser Effekt spricht m.E. gegen die Befolgung der Wdh. des Durchf./Reprise-Teils, auch wenn die natürlich so vorgeschrieben ist).


    Ich finde übrigens die Melodie des Variationensatzes keineswegs 08/15, sondern sehr schön und einprägsam und den gesamten Satz hervorragend. (Schulmäßig? vielleicht, aber Haydn ist ja der Schulgründer... etwas standardisiert finde ich eher das Thema der Variationen in 50/3, dieser Satz ist aber dafür sonst außerordentlich originell, angefangen mit der Gegenüberstellung von Cello/Viola gegen die beiden Geigen usw.)
    Ich meine, es hätte im Forum vor einigen Jahren mal eine Diskussion inkl. Notenbeispiel mit Ulli über das adagio gegeben, ich finde aber nur noch, dass er diesen Satz besonders schätzt.
    In einem älteren thread zu diesem Opus, an den m.E. dieser hier eigentlich angehängt werden könnte.


    Die Themen des Finales sind m.E. auch nicht weniger einprägsam als die vieler anderer Quartette oder Sinfonien von Haydn. Der Satz ist wirklich ein Feuerwerk, besonders wenn er an der Stuhlkante musiziert wird wie von dem Schweizer Amati-Quartett. Beim Festetics-Quartett, das mir sonst hier auch gut gefällt, ist das Finale etwas zu gemütlich (nicht allzu dynamisch und etwas langsam, ca. 135 (4:50) für Viertel gegenüber ca. 152 (4:14) beim Amati).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr dabei die Liveerfahrung hilft: Man sieht die Spieler, wann sie einsetzen, wie ihre Mimik emotional dem Geschehen folgt; die eventuell als abstrakt wahrgenommenen Instrumenten gewinnen Persönlichkeit, und jeder noch so kleine Einwurf, sei es zuweilen nur ein einzelner Ton, gewinnt eine Aussage (beziehungsweise: Enthüllt durch den Spieler eine Aussage, die in ihm steckt)!


    Lieber Frank,


    voille Zustimmung! Kammermusik von der Konserve hat es schwer, ähnlich wie auch das Lied. Die Interaktion der Musiker - jeder per definitionem ein Solist - ist schon fast die halbe Miete.


    Die Dichte der Ereignisse ist enorm, was (leider!) nur dadurch möglich ist, dass Haydn auf prägnante Melodien und Themen weitgehend verzichtet;


    Auch das finde ich auf den Punkt gebracht! Kompositorisches Raffinement scheint einer gewissen "Ungeformtheit" der Bausteine zu bedürfen, damit man sie möglichst variabel kombinieren dann und dann daraus das Interessante des Werks gewinnt. Wenn schon die Bausteine ein starkes Eigenleben haben, ist das natürlich schwieriger. (Mir fällt das Thema vom Finale der Jupiter-Sinfonie als weiteres Beispiel ein.) Allerdings konnte Bach auch mit komplexen und scharf profilierten Themen solchermaßen zaubern ...


    Es gab also nicht nur einige Komponisten, sondern hunderte oder tausende von Musikern in Europa, davon viele Amateure, die diese Musik gerne spielten und hörten.


    Hm ... bin nicht ganz sicher. Haben wir wirklich zur Zeit dieser Quartette (1787) schon ein starkes Bürgertum, das diese Werke zu Tausenden kaufte? Oder ist das eher eine Errungenschaft des nachrevolutionären 19. Jhds.?


    (Und die Tatsache, dass es heute etwa ein halbes dutzend Gesamtaufnahmen der Haydn-Quartette und zahlreiche einzelne gibt, spricht dafür, dass es heute auch eine Musik für "Hörer" ist.)


    ... oder für Möchtegern-Mitreder wie mich, die selbstverständlich alle Haydn-Quartette im Regal haben wollen und selbstverständlich auch sagen können wollen, diese gehört zu haben ... :pfeif:


    Ich finde übrigens die Melodie des Variationensatzes keineswegs 08/15, sondern sehr schön und einprägsam und den gesamten Satz hervorragend. (Schulmäßig? vielleicht, aber Haydn ist ja der Schulgründer...


    Der letzte Satz bringt abermals eine wichtige Erkenntnis auf den Punkt!


    Ich meine, es hätte im Forum vor einigen Jahren mal eine Diskussion inkl. Notenbeispiel mit Ulli über das adagio gegeben, ich finde aber nur noch, dass er diesen Satz besonders schätzt.
    In einem älteren thread zu diesem Opus, an den m.E. dieser hier eigentlich angehängt werden könnte.


    Sorry, das habe ich nicht gesehen, obwohl ich eigentlich eifrig gesucht hatte.


    Alfred hatte mir die Buße auferlegt, etwas zu einem Streichquartett-Opus von Haydn zu schreiben. Zunächst wollte ich mich über op. 20 hermachen, dann habe ich den bereits existierenden Thread gefunden. Zu op. 50 fand ich nichts, so ist es dieser geworden ... sorry ...


    :hello:

  • Hm ... bin nicht ganz sicher. Haben wir wirklich zur Zeit dieser Quartette (1787) schon ein starkes Bürgertum, das diese Werke zu Tausenden kaufte? Oder ist das eher eine Errungenschaft des nachrevolutionären 19. Jhds.?


    Wie gesagt, weiß ich das nicht genau. Ich glaube aber nicht, dass es sich gelohnt hätte, die Werke zu drucken, wenn nicht eine gewisse Auflage Absatz gefunden hätte. Und ich vermute, dass sich da in den 40-50 Jahren seit Händels op.6, Bachs Partiten op.1 und Telemanns Tafelmusik, bei denen man die Subskribenten noch beinahe abzählen konnte, schon einiges getan hatte. (Allein die Anzahl der von Haydn im Druck verlegten Werke gegenüber den genannten Komponisten ist bezeichnend.)


    Zumal natürlich zusätzlich zu den gestochenen und gedruckten, per Hand kopierte Stimmen kursierten. (Mozart beschwert sich irgendwann darüber, dass die Kopisten sich so ein Zubrot verdienten). Und die Musik wurde natürlich in ganz Europa vertrieben. Zwar gab es einen halböffentlichen Konzertbetrieb an den adligen Höfen (aber auch großbürgerlichen Salons), allerdings ebenfalls öffentliche Konzerte. In einem Büchlein zu den Sinfonien Haydns versucht der Autor stilistische Unterschiede zwischen den "Pariser" Sinfonien und den "Londonern" aufzuweisen, weil letztere ein breiteres, weniger musikkundiges Publikum erreichen sollten.


    Ich weiß zwar nicht genau, wie breit genau die Zielgruppe dieser Kammermusik war, ob "exklusiver" als die für Klaviermusik (inkl. Trios und Violinsonaten), aber es war ziemlich sicher nicht nur ein Zirkel von anderen Komponisten wie Mozart oder Vanhal. Dafür hätte man das nicht gedruckt.
    Und wenn bei einem Hauskonzert nur 20 Zuhörer da sind, haben wir schon einen Faktor 5 gegenüber den Hausmusikanten. Also 250 verkaufte Stimmensätze -> 1000 Hausmusikanten -> 5000+ Hörer


    Etwa zur Zeit von Beethovens Tod war Haydn schon soweit Klassiker geworden, dass die Quartette in Taschen-Partitur, also für Liebhaber, die nicht nur spielen wollten, gedruckt wurden.

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  • Zitat

    Der folgende kurze Beitrag möge jenen trösten, die sich durch Wolframs Beiträge ein wenig verunsichert fühlen, da sie die termini technici nicht verstehen.


    Ich verstehe den Wink und will mich bemühen, weniger „termini technici“ zu verwenden! Auch will ich wenigstens markante Punkte durch Zeitangaben nach den folgenden drei Einspielungen präzise angeben:

    • Nomos-Quartett, cpo, 1992/93
    • Kodaly Quartet, Naxos, Mai 1996
    • Auryn Quartett, tacet, 2009



    Nr. 2 aus Opus 50 hat die folgenden Sätze:


    - Vivace (C-Dur, 3/4)
    - Adagio (F-Dur, alla breve [„durchgestrichenenes C“])
    - Menuet (C-Dur, Allegro 3/4)
    - Finale (C-Dur, Vivace assai 2/4)


    Der Kopfsatz beginnt, als ob es ein Walzer wäre: Die erste Violine spielt eine Melodie, das Cello und die Mittelstimmen begleiten mit dem bekannten Hm-ta-ta - zumindest im ersten Takt, dann wird es doch ein wenig anders, aber der Walzercharakter bleibt unüberhörbar. Wenigstens zwei Dinge sind dabei merkwürdig: Zum einen ist die Phrase (die Musik bis zur ersten Pause) nicht, wie üblich, vier- oder achttaktig, sondern neuntaktig, also irregulär. Zum anderen schreibt Hadyn „sotto voce“ vor. Von erfahrenen Chorsängern wurde mir schon gesagt, dies hieße „mit satter Stimme“ (in der irrigen Annahme des Vorliegens eines ablativus modi). Natürlich nicht! Es kommt zwar aus der Vokalmusik, bedeutet aber „unter der Stimme“ – ist also nicht mit Vollstimme, sondern unter Verzicht auf einige Möglichkeiten der Klangentfaltung zu singen. Obwohl dies natürlich auch mit einer zurückgenommenen Lautstärke einhergeht, ist es primär keine Vorschrift zur objektiven Lautstärke, sondern eher zur gefühlten Intensität – so, wie man sich im Restaurant eventuell auch nicht „mit vollem Brustton“ unterhält, das bedeutet ja auch eine andere Festigkeit und Farbe der Sprechstimme.


    Nach dieser ersten Phrase geht es genauso seltsam weiter: Alle Streicher spielen gemeinsam eine kleine Terz abwärts („Kuckucksruf“) – was soll das? W. Dean Sutcliffe schreibt dazu in seinem Buch „Haydn: String Quartets op. 50“: „Einmal mehr scheint Haydn seinen Spielern Worte in den Mund zu legen. Das plötzliche Unisono, piano und in tiefer Lage, scheint nach dem ziemlich unzusammenhängenden Thema, das asymmetrisch und locker gefügt präsentiert wurde, ein gemeinsames Fragezeichen zu setzen. [‚Meinten wir es wirklich so‘]


    Dem Unisono folgt ein D-Dur-Septakkord in weiter Lage (ein völlig anderer Klang nach dem Unisono!), dem sich hinaufschießende G-Dur-Tonleitern in der 1. Violine und im Cello anschließen, endend mit einem vierfach bekräftigten G-Dur-Akkord. Lauter Standardfloskeln – und wir sind in G-Dur angekommen! Nun ja, das tun tausend Stücke am Ende des ersten Teils, dazu braucht man noch nicht mal eine Sonatenhauptsatzform oder wie das heißt. Der Witz ist: Haydn tut nur so, als ob der erste Teil schon fertig wäre! Den vier G-Dur-Akkorden im Forte folgen vier leise G7-Akkorde („Dominantseptakkord von C-Dur“), die das Stück sozusagen wieder nach Hause bringen, in die Ausgangstonart C-Dur.


    Und wirklich: Haydn macht genauso weiter, wie er begonnen hat: da ist wieder diese Walzermelodie, da ist die Walzerbegleitung … und doch ist es anders: Es klingt durch andere Harmonien alles ein wenig verfremdet, als ob Haydn seiner Sache unsicher geworden wäre. Wieder der „Kuckucksruf“ und die hinaufschießenden Tonleitern – doch es geht anders weiter als beim ersten Mal, man höre nicht auf 1. Violine und Cello, sondern auf die Mittelstimmen, die eine Überleitung spielen – zum zweiten Thema, welches von der 1. Violine vorgestellt wird (0:51/0:58/0:51). (Zeitangaben stets in der Reihenfolge Nomos/Kodaly/Auryn)


    Das zweite Thema unterscheidet sich von ersten deutlich – aber was heißt schon deutlich? Für unsere Ohren nicht so deutlich, wie sich etwa bei einer Bruckner-Symphonie ein erstes und ein zweites Thema unterscheiden (ganz zu schweigen vom Bruckner-typischen dritten …), doch für Haydnsche Streichquartettverhältnisse ist es eben so, wie hier. Das erste Thema hatte recht lange Notenwerte, im zweiten Thema dominieren die kurzen. Dadurch wirkt das zweite Thema auch flotter, lebendiger als das erste. Das erste Thema war kleinschrittig, das zweite macht von Sprüngen reichlich Gebrauch. Beim ersten Thema war die generelle Bewegungrichtung „nach oben“, beim zweiten Thema gehen die Sprünge nach unten. Und natürlich steht das zweite Thema in G-Dur („Dominante“), das erste war in C-Dur („Tonika“), wie sich das in einem Sonatenhauptsatz gehört.


    Das zweite Thema endet auffällig in einer Tonleiter in punktiertem Rhythmus (dam – dadam –dadam – dadaaa) in der ersten Violine, die dabei alleine spielt – eine Generalpause folgt. Das Cello imitiert dann die Tonleiter in punktiertem Rhythmus, und ein konventioneller Schluss folgt. – Weiter geht’s im Walzerrhythmus, und die Bewegung erinnert wieder an das erste Thema, doch wie seltsam verfärbt durch fremde Tonarten (irgendwo um As-Dur und f-moll herum), bis in der zweiten Violine genau diejenige Spielfigur erklingt, mit der das Cello schon zum zweiten Thema übergeleitet hatte, doch nun folgt das erste Thema, und zwar in G-Dur, vorgetragen von der zweiten Violine, imitiert und begleitet von den anderen. Wiederum eine nach oben schießende Tonleiter in der ersten Violine, die diesen Höhenflug jedoch nach Ikarus-Art mit einem fallenden gebrochenen Akkord beendet.


    Die die Exposition nun abschließenden Schlussformeln greifen diesen gebrochenen Akkord auf und lassen ihn aufwärts durch die Stimmen wandern. – Wiederholung der Exposition.


    Zu Beginn der Durchführung (4:15/4:44/4:19) zeigt Haydn dann seine kontrapunktischen Künste – also die Künste, die vier Stimmen so selbständig nebeneinander agieren zu lassen, wie irgend möglich (Der Anfang des Satzes – Melodie mit Hm-ta-ta – ist das genaue Gegenteil von Kontrapunktik, da das Hm-ta-ta von der Melodie völlig abhängig ist und kaum einen Wert aus sich selbst hat). – Die Bratsche spielt das erste Thema, begleitet von einem „Kontrapunkt“ in der zweiten Violine. Dann setzt das Cello mit dem ersten Thema ein, die erste Violine spielt den Kontrapunkt, den kurz davor die zweite gespielt hat. – Dann dürfen erste Violine und Bratsche gemeinsam den Themenkopf spielen, dann die zweite Violine. Haydn kombiniert also das Thema mit sich selbst – und mit dem neuen Kontrapunkt und macht damit Musik, die auch beim Hören komplexer ist, als die Urgestalt des Themas zu Beginn des Satzes.


    Dann darf die erste Violine das erste Thema in hoher Lage spielen, begleitet von gebrochenen Akkorden – auch die kennen wir ja schon. Dann wird das erste Thema umgekehrt: Anstatt stufenweise nach oben zu steigen, geht es nun abwärts, begleitet von „ta-ta“ ohne „Hm“. Auch hier gibt es Imitation: erst imitiert die Bratsche die erste Violine, dann das Cello, bis die zweite Violine das Thema wieder aufwärts spielen darf – mit interessanten Modulationen. Das heißt Durchführung! Dann wieder die hinaufschießenden Tonleitern.


    Was hatten wir noch nicht? Das zweite Thema natürlich. Wird prompt geliefert. – Danach dann die Reprise (5:34/6:11/5:36). Zunächst „business as usual“, erstes Thema mit Hm-ta-ta, „Kuckucksruf“, aufschießende Tonleitern, viermal G-Dur, viermal G7. Aber dann: Wie zu Beginn der Durchführung verarbeitet Haydn das erste Thema kontrapunktisch, in einem Quintkanon zwischen Cello und Bratsche. (Das heißt: Das Cello beginnt auf „c“, die Bratsche einen Takt später auf „g“, und beide Instrumente halten den zeitlichen und tonlichen – fast hätte ich gesagt: räumlichen – Abstand genau so weiter ein.) Dann spielen die beiden Violinen einen ebensolchen Quintkanon, aber mit der Umkehrung des Themas. Klar: Dass man einen solchen Quintkanon auf- wie abwärts anbringen will, muss man wissen, bevor man die finale Gestalt des Themas festlegt – oder einfach „Glück“ haben und dem gewählten Thema erst später anmerken, welche Möglichkeiten es bereithält … aber das Glück lächelt häufiger dem Tüchtigen, darum würde ich mal von „Planung von langer Hand“ ausgehen. Immerhin hatte Mozart mit seinen sechs Haydn-Quartetten die Maßstäbe vorgegeben …


    Auch Bratsche und Cello spielen Quintkanon mit der Umkehrung, dann setzt die erste Violine nochmal mit der zweiten ein, diese bringen den Kanon aber nicht zu Ende, sondern spielen eine Überleitung zum zweiten Thema, welches nun in C-Dur erscheint. So gehört sich das in Sonatensätzen: In der Exposition sollen erstes und zweites Thema kontrastieren, in der Durchführung können und sollen sie dann gegeneinander ausgespielt werden, in der Reprise erscheinen sie einträchtig in derselben Tonart. Der Rest der Reprise ist ein getreues Abbild der Exposition, nur eben in C-Dur.


    Mit über 11 Minuten ist dies der längste Einzelsatz in op. 50 (nur nicht beim Kodaly Quartet, die lassen die Wiederholung von Durchführung und Reprise weg).


    Der langsame Satz, ein Adagio, vereint, wenn man so will, die Form eines Variationensatzes mit einer zweiteiligen Form.


    Ein achttaktiges Thema wird von der zweiten Violine präsentiert (0:00/0:00/0:00) und von den anderen drei Streichern einfachst begleitet.


    Dann variiert die erste Violine dieses achttaktige Thema (0:35/0:36/0:37). Bis auf die Tatsache, dass sie das Thema eine Oktave höher spielt als die zweite und die anderen Streicher im ersten Takt nach Art eines Chorals begleiten, ist dies aber erst im zweiten Teil zu hören, wo das Thema nach Art der Variationen im Da-Capo-Teil eine Arie Veränderungen erfährt.


    Nun wird das Thema nicht nur verändert, sondern auch formal völlig anders gestaltet (1:08/1:13/1:13). Es wird auf 20 (!) Takte erweitert und moduliert in der Mitte deutlich in die Dominante, was in der originalen Gestalt nicht der Fall war. Die anderen Stimmen haben einen spürbar größeren Teil an der musikalischen Gestaltung, man höre alleine auf die weit schwingenden Cellokantilenen, die in der zwieten Hälfte zu hören sind. Am Ende steht sogar eine kleine Kadenz der ersten Violine, die nicht notiert ist. Aber der Spieler der ersten Violine ist durch die Worte „a suo piacere“ aufgefordert, etwas Eigenes einzubringen.


    Nun wird diese veränderte, 20taktige Form des Thema variiert (2:39/2:51/2:55), was sich vor allem in recht virtuosen Figuren der ersten Violine zeigt.


    So könnte man die Form als a – a‘ – A – A‘ bezeichnen.


    Das Menuetto wird von seinem anfangs zu hörenden Thema fast völlig dominiert: Ein Oktavsprung aufwärts, eine Dreiklangbrechung abwärts – so einfach ist das. Interessant ist, dass die dann einsetzenden Begleitstimmen den Takt eher verunklaren. Interessant ist auch, dass das Verhältnis von A-Teil zu B-Teil des Menuetto (beide werden wiederholt) sehr asymmetrisch ist: 8 Takte für den A-Teil, 42 Takte für den B-Teil.


    Im nicht bezeichneten Trio sind die Verhältnisse ähnlich: einem achttaktigen A-Teil steht ein 23taktiger B-Teil gegenüber. Das Thema des Trios ist ein aufwärts gebrochener Dreiklang – sozusagen die Umkehrung des Themas des Menuetto. Dies wird von den den beiden Violinen erst alternierend (A-Teil), dann in Terzen (B-Teil) gespielt. Zwei unerwartete Pausen überraschen.


    Im Finale ist eine Sonatenform zu erkennen. Ob man von einer ein- oder zweithematischen spricht, ist vielleicht eher Geschmackssache – der Kandidat steht zwar in der Exposition in G-Dur und in der Reprise in C-Dur, hat aber eher Schlussgruppencharakter. Aus meiner Sicht ist das nicht eindeutig zu beantworten. Da ferner die Exposition zurück in die Tonika moduliert, ist die Frage „ein oder zwei Themen?“ aber wohl wiederum falsch gestellt, weil sie vom 19. Jhd. her das Werk befragt. Haydn spielt noch mit Formen, probiert aus, irritiert aber auch Erwartungen in bewusster Weise.


    Das Thema ist jedenfalls schon geteilt: 2. Violine und beginnen in Terzen, 1. Violine und Cello antworten nacheinander. Also ist es keine zusammenhängende Melodie, sondern eher ein Gefüge von Fragmenten, das als Thema verwendet wird. Nach der Präsentation folgt sogleich (Takt 9) ein Einsatz mit Tutticharakter, unterlegt mit raschen Figuren im Cello, der in eine Fermate mündet. Was dann passiert, klingt schon fast wie eine Durchführung des ersten Themas: Variation des Themas, Sequenzierung mit einem Themenfragment, Modulation in die Dominante, weitere Sequenzen, dann der Kandidat fürs zweite Thema (0:57/0:54/0:53) mit seiner chromatisch fallenden Linie. Überraschende Rückmodulation, zumindest bis zum Dominantseptakkord, dann Wiederholung der Exposition. – Die Durchführung eröffnet mit einem Unisono, der in einen deutlichen „Minore“-Abschnitt mündet. Haydn moduliert vielfältigst. Manche sechzehntellastigen Abschnitte klingen vor lauter Motorik geradezu barock. Kontrapunktische Arbeit ist in der Tat reichlich zu hören. Interessant ist noch, dass das Cello das Quartett alleine beenden darf, und zwar mit einer Figur, die kurz nach Beginn der Durchführung bereits zu hören war – der Gag für die Wiederholung ist hier sozusagen einkomponiert, es wäre geradezu sträflich, diese Wiederholung nicht zu spielen! - Mit Sicherheit ist dies eines der besten Quartettfinale in diesem Opus.

  • Der Kopfsatz beginnt, als ob es ein Walzer wäre: Die erste Violine spielt eine Melodie, das Cello und die Mittelstimmen begleiten mit dem bekannten Hm-ta-ta - zumindest im ersten Takt, dann wird es doch ein wenig anders, aber der Walzercharakter bleibt unüberhörbar.


    Also für mich klingt das ebensowenig nach Walzer wie der Kopfsatz der Eroica oder viele andere Sätze im passendem Takt und Tempo. Selbst wenn sogar die Begleitung für ein paar Takte passt, ist das Thema für mich mit der chromatischen Aufwärtsbewegung und der Bindung, die den Niederschlag in T.2 und 4 schwächt, wohl nicht tänzerisch genug. Ich kann die Walzerelemente nachvollziehen, aber hörend passt es für micht nicht recht.



    Zitat

    Das zweite Thema unterscheidet sich von ersten deutlich – aber was heißt schon deutlich? Für unsere Ohren nicht so deutlich, wie sich etwa bei einer Bruckner-Symphonie ein erstes und ein zweites Thema unterscheiden (ganz zu schweigen vom Bruckner-typischen dritten …), doch für Haydnsche Streichquartettverhältnisse ist es eben so, wie hier. Das erste Thema hatte recht lange Notenwerte, im zweiten Thema dominieren die kurzen. Dadurch wirkt das zweite Thema auch flotter, lebendiger als das erste. Das erste Thema war kleinschrittig, das zweite macht von Sprüngen reichlich Gebrauch. Beim ersten Thema war die generelle Bewegungrichtung „nach oben“, beim zweiten Thema gehen die Sprünge nach unten. Und natürlich steht das zweite Thema in G-Dur („Dominante“), das erste war in C-Dur („Tonika“), wie sich das in einem Sonatenhauptsatz gehört.


    Für jeden, der überhaupt in der Lage ist, in einer Streichquartettbesetzung Kontraste wahrzunehmen, sind die hier beinahe maximal. Dsa erste Thema wird in ganzen Takten gefühlt, das hier, nicht zuletzt wegen der ganz neuen Textur der Achtelbegleitung, in Vierteln. Durch das Einsetzen der Begleitung einen Schlag vor der Melodie hat man einen weiteren Marker für etwas neues.
    Und wenn wir schon beim Themenzählen sind: warum sollte man eigentlich die irgendwo zw. T 55 und 58 beginnende Melodie (bis etwa T. 83) nicht als "3. Thema" nehmen. Sie entstammt zwar der Sphäre des 1.Themas (vgl. Mittelstimmen in 34-42 und in der Durchführung 151 ff.) wirkt aber durchaus wie etwas Neues.



    Zitat

    [Reprise] Wie zu Beginn der Durchführung verarbeitet Haydn das erste Thema kontrapunktisch, in einem Quintkanon zwischen Cello und Bratsche. (Das heißt: Das Cello beginnt auf „c“, die Bratsche einen Takt später auf „g“, und beide Instrumente halten den zeitlichen und tonlichen – fast hätte ich gesagt: räumlichen – Abstand genau so weiter ein.) Dann spielen die beiden Violinen einen ebensolchen Quintkanon, aber mit der Umkehrung des Themas. Klar: Dass man einen solchen Quintkanon auf- wie abwärts anbringen will, muss man wissen, bevor man die finale Gestalt des Themas festlegt – oder einfach „Glück“ haben und dem gewählten Thema erst später anmerken, welche Möglichkeiten es bereithält … aber das Glück lächelt häufiger dem Tüchtigen, darum würde ich mal von „Planung von langer Hand“ ausgehen.


    Das wird sich wohl nie ganz nachweisen lassen (ich glaube nicht, dass Skizzen erhalten sind). Ich habe nicht genug Ahnung von Harmonie und Kontrapunkt, um beurteilen zu können, wie unwahrscheinlich so ein "Zufall" wäre. Da, was ja auch nicht gerade Standard bei Haydn ist, aber sowohl mehr als die Hälfte der Durchführung als auch die traditionelle durchführungsartige Passage nach der Hauptthema-Reprise hier als Fugato/Kanon gestaltet sind, vermutlich die satztechnisch elaboriertesten Passagen im ganzen Stück, scheint es durchaus plausibel, dass es kein bloßer Zufall ist.
    (Bei Beethoven kann man, da umfangreiche Skizzenbücher erhalten sind, bei manchen Stücken, Teile der kreativen Prozesse ansatzweise nachvollziehen. Es scheint jedenfalls nicht unbedingt die Regel zu sein, dass Komponisten ein Thema einfällt und sie dann überlegen, was man alles damit anstellen kann. Andererseits komponieren reife Komponisten wohl auch nicht wie Kontrapunktschüler, die sich die Themen so überlegen müssen, dass sie sich für bestimmte Tricks wie Engführungen usw. eignen.)



    Zitat

    Mit über 11 Minuten ist dies der längste Einzelsatz in op. 50 (nur nicht beim Kodaly Quartet, die lassen die Wiederholung von Durchführung und Reprise weg).


    Das Festetics Q. schafft es in ca. 10:45, das Amati Q. lässt die 2. Whd. aus, ist aber noch einen Tick zügiger (gut 7 min.). Nomos finde ich vom Tempo her noch o.k. (könnte aber insgesamt im Kopfsatz etwas zupackender sein), langsamer fühlen sich für mich die Passagen am Anfang und in der Durchführung, die einen ganztaktigen Puls haben sonst zu statisch an. (Takte/min. sind bei Nomos ca. 51, bei Festetics und Amati ca. 53-55)




    Ich finde den ganzen Satz "opernhaft". In gewisser Weise hört man (a-a') als einen ersten Arienteil, eine verzierte Wiederholung einer Phrase ist ja nichts ungewöhnliches in Arien. Den erweiterten A-Teil dann als leidenschaftlichen Höhepunkt (mit der Cellopassage) und den letzten Teil, obwohl eine variierte Wdh. des "Mittelteils" beinahe als Reprise des (a-a'), da die Verzierungen nun (etwas pauschal gesagt) eher dekorativ als expressiv wirken.



    Zitat

    Im nicht bezeichneten Trio sind die Verhältnisse ähnlich: einem achttaktigen A-Teil steht ein 23taktiger B-Teil gegenüber. Das Thema des Trios ist ein aufwärts gebrochener Dreiklang – sozusagen die Umkehrung des Themas des Menuetto. Dies wird von den den beiden Violinen erst alternierend (A-Teil), dann in Terzen (B-Teil) gespielt. Zwei unerwartete Pausen überraschen.


    Das Trio ist für mich Buffo-Oper. Man hat den Eindruck von munterem Durcheinanderplappern der "Figuren".



    Zitat

    Im Finale ist eine Sonatenform zu erkennen. Ob man von einer ein- oder zweithematischen spricht, ist vielleicht eher Geschmackssache – der Kandidat steht zwar in der Exposition in G-Dur und in der Reprise in C-Dur, hat aber eher Schlussgruppencharakter. Aus meiner Sicht ist das nicht eindeutig zu beantworten.


    Dass eine als "2.Thema" erkennbare Melodie sehr spät auftaucht, es aber keine neuen Motive/Melodien in der Schlussgruppe gibt, ist bei Haydn häufig, wenn nicht gar üblich. (Sollte bei diversen Sinfonien schon angesprochen worden sein, s. diese Threads.) Nach der Überleitung, in der schon motivische Arbeit stattfindet, würde ich das Motiv ab Auftakt zu T. 51 als vom Hauptthema abgeleiteten "Marker" und die Melodie ab ca. T.59- 77 als so etwas wie ein 2.Thema sehen, nehme mal an, dass Du das auch meinst: "der Kandidat fürs zweite Thema (0:57/0:54/0:53) mit seiner chromatisch fallenden Linie."
    Warum es am Ende der Expo zurück nach C-Dur geht, weiß ich nicht genau. Allerdings haben etliche Finali sogar ein Auftreten des Hauptthemas in der Grundtonart am Beginn oder in der Mitte der Durchführung, vielleicht um einen gewisser Rondo-Charakter anzudeuten.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Inzwischen halte ich es für eine der besten Sammlungen, wenngleich es zweifellos recht dichte, "intellektuelle" Stücke sind


    Während der "neue Stil" bei op..33 weitgehend sehr knappe, eher humorvolle und verglichen mit op.9, 17 und 20 meist weniger ausdrucksstarke Stücke hervorbrachte, kann man das hier nicht mehr behaupten.


    Nachdem ich am Sonntag op. 33 komplett gehört habe, habe ich mal gestern op.50 Nr. 1 B-Dur, das Quartett ohne Melodie im Kopfsatz, der aus der Umspielung eines Haltetons abgeleitet ist, angehört.
    Ich mag gestern zu müde gewesen sein und fand es vielleicht deshalb langweilig - aber wieso soll das nun "dichter" sein als das Feuerwerk op. 33? "Intellektuell" trifft es sicher, womit "trocken" naheliegen würde (Roggenbrotfraktion).
    Ich kann auch nicht sehen, dass hier mehr Ausdruck zu finden sein soll als in op. 33.
    Zum Glück hat mich das Menuett wieder aufgemuntert, und im Finale war die Begeisterung wieder da - zur Entschädigung ein Sonatenhauptsatz mit Material ...
    :D

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  • Wiederum erklingt das wiederholte B im Cello. Die Schlussformel erscheint mit abermals geschärftem Dissonanzgrad, dann wandert die Tonwiederholung erst in die zweite, dann in die erste Violine, wozu die Schlussformel in allen anderen Stimmen tritt und wiederum in einen echten Schluss führt.


    Das ist das Schöne an der Materialökonomie: So viel Wirkung hat ein einfacher Oktavlagenwechsel eines Haltetons sonst kaum!



    Spannend finde ich die äußerste Beschränkung des Materials – man ahnt, wo Schönberg in seinem op. 7 ansetzte.


    Das suggeriert bei Schönbergs op. 7 ein minimales Material - was keinesfalls der Fall ist, Schönberg schreibt ausdrucksintensiv weitschwingende Melodien - außerdem ist op. 7 ein ziemlich verwirrend üppiges Gebilde, das Gegenteil von Haydns hier vorzufindendem auch wegen der Harmonik sehr leicht zu überblickenden Satz.



    Zitat

    Haydn ging es in diesem Satz ganz offensichtlich nicht darum, „schöne“ Melodien zu zeigen (gibt es auch nur eine einzige Melodie in diesem Satz?), sondern er löst die konstruktive Aufgabe, mit minimalem Material gute Musik zu schaffen.


    Was diesen Satz wieder sehr in Richtung Vorklassik bindet. Man könnte das als Rückschritt interpretieren.



    Zitat

    Bei Mozart kenne ich diesbezüglich nicht einen einzigen vergleichbaren Satz, bei ihm scheinen die Melodien an jeder Ecke zu wuchern.


    Er ist ja auch jünger als Haydn ...

  • Ich habe mal in IMSLP nach Wagenseil-Partituren gesucht, und das erste was ich fand, ist ein Satz, dessen Material ähnlich "nihilistisch" ist, wie in Haydns op. 50 Nr. 1:
    Flöten-Sonate von Wagenseil
    Dass Haydn bei seinen Experimenten mitunter Lösungen fand, die näher bei der Vorklassik sind, als es bei Mozart der Fall ist, finde ich wegen der jeweiligen Generationszugehörigkeit nicht so verwunderlich.
    :hello:


  • Das suggeriert bei Schönbergs op. 7 ein minimales Material - was keinesfalls der Fall ist, Schönberg schreibt ausdrucksintensiv weitschwingende Melodien - außerdem ist op. 7 ein ziemlich verwirrend üppiges Gebilde, das Gegenteil von Haydns hier vorzufindendem auch wegen der Harmonik sehr leicht zu überblickenden Satz.


    Aber Schönbergs op. 30 ist schon frappierend ähnlich, oder? Schon der Anfang, auch ein rhythmisches Motiv, über dem dann ein sangliches einsetzt - mein erster Gedanke dabei war tatsächlich, dass das genauso wie Haydn klingt (ohne jetzt op. 50,1 im Sinn zu haben). Und auch bei Schönberg ist alles aus diesen winzigen Motiven aufgebaut! (Das alles mit der gebotenen Vorsicht, ich kenne diese Musik noch nicht allzu gut, es gibt sicherlich genug Divergenzen, die ich überhöre)

  • Aber Schönbergs op. 30 ist schon frappierend ähnlich, oder? Schon der Anfang, auch ein rhythmisches Motiv, über dem dann ein sangliches einsetzt - mein erster Gedanke dabei war tatsächlich, dass das genauso wie Haydn klingt (ohne jetzt op. 50,1 im Sinn zu haben).


    Lustig, mich erinnert jetzt das Gejodel der 1. Geige in Schönbergs op. 30 (Scherzo? - Leider keine Noten im IMSLP) an das Trio von op. 33 Nr. 2 Es-Dur.
    :thumbup:
    Aber klar: In Schönbergs neoklassizistischer Phase op. 25-31 wird manches an Haydn erinnern. Seine Reihen sind aber nicht so minimalistisch wie die von Webern, dessen binnengespiegeltes Zwölfton-Material vielleicht mehr mit op. 50/1/1 zu tun hat. Allerdings sind dessen Vorbilder ein paar Jahrhunderte älter als Haydn.
    :hello:

  • Sind Analysen in Foren dazu da, kommentiert zu werden?
    Ich hoffe, wozu ist das sonst ein Forum?



    Der Kopfsatz beginnt, als ob es ein Walzer wäre: Die erste Violine spielt eine Melodie, das Cello und die Mittelstimmen begleiten mit dem bekannten Hm-ta-ta - zumindest im ersten Takt, dann wird es doch ein wenig anders, aber der Walzercharakter bleibt unüberhörbar.


    Ich höre hier ebenso wie Johannes keinerlei Walzercharakter. Die Begleitung im ersten Takt evoziert das überhaupt nicht, sie setzt sich ja nichtmals im zweiten Takt so fort.



    Zitat

    Wenigstens zwei Dinge sind dabei merkwürdig: Zum einen ist die Phrase (die Musik bis zur ersten Pause) nicht, wie üblich, vier- oder achttaktig, sondern neuntaktig, also irregulär.


    Eigentlich haben wir einen ganz regulären 8-Takter. Stelle Dir in Takt 9 eine Wiederholung von Takt 1 vor, aus dem es dann weitergeht zu einem Halbschluss, dann hättest Du eine regulärst-mögliche Satzform. Vergleiche etwa mit dem Kopfsatz von Mozarts KV 310, wo der erste 8-Takter mit so einer anders fortgeführten Wiederholung verschränkt ist.


    Hier haben wir in Takt 9 einen etwas abrupten Stop. Ob das außergewöhnlich ist, kann ich nicht beurteilen, man müsste Feldforschung betreiben.



    Zitat

    Zum anderen schreibt Hadyn „sotto voce“ vor.


    Auch hier kann ich nicht beurteilen, ob das außergewöhnlich ist.



    Zitat

    Nach dieser ersten Phrase geht es genauso seltsam weiter: Alle Streicher spielen gemeinsam eine kleine Terz abwärts („Kuckucksruf“) – was soll das?


    Naja, wenn man Haydns frühere Werke gehört hat, wird einen das nicht schockieren, oder?



    Zitat

    W. Dean Sutcliffe schreibt dazu in seinem Buch „Haydn: String Quartets op. 50“: „Einmal mehr scheint Haydn seinen Spielern Worte in den Mund zu legen. Das plötzliche Unisono, piano und in tiefer Lage, scheint nach dem ziemlich unzusammenhängenden Thema, das asymmetrisch und locker gefügt präsentiert wurde, ein gemeinsames Fragezeichen zu setzen. [‚Meinten wir es wirklich so‘]


    Hm … unzusammenhängend wird das Thema aber erst, wenn man dieses Schwänzchen mit dazu nimmt. Der erste Acht-Takter mit seinem plötzlichen Abschluss auf Takt 9 ist nicht unzusammenhängend und eigentlich auch nicht asymmetrisch.


    Haydn dreht hier eigentlich eine Methode um, die er in op. 33 öfters(?) verwendet: Eine kurze Geste und ein Thema stehen nebeneinander, in op. 33 kommt das kurze Teil vorher, hier probiert er aus, was passiert, wenn es nachgereicht wird.



    Zitat

    Dem Unisono folgt ein D-Dur-Septakkord in weiter Lage (ein völlig anderer Klang nach dem Unisono!), dem sich hinaufschießende G-Dur-Tonleitern in der 1. Violine und im Cello anschließen, endend mit einem vierfach bekräftigten G-Dur-Akkord. Lauter Standardfloskeln – und wir sind in G-Dur angekommen!


    Entspricht ja etwa der Satzform, die mir oben als „klassischste“ Lösung nach dem ersten Achttakter vorschwebte. Das Gepolter auf G-Dur kommt mir allerdings etwas humoristisch vor.



    Zitat

    Nun ja, das tun tausend Stücke am Ende des ersten Teils, dazu braucht man noch nicht mal eine Sonatenhauptsatzform oder wie das heißt. Der Witz ist: Haydn tut nur so, als ob der erste Teil schon fertig wäre! Den vier G-Dur-Akkorden im Forte folgen vier leise G7-Akkorde („Dominantseptakkord von C-Dur“), die das Stück sozusagen wieder nach Hause bringen, in die Ausgangstonart C-Dur.


    Und wirklich: Haydn macht genauso weiter, wie er begonnen hat: da ist wieder diese Walzermelodie, da ist die Walzerbegleitung … und doch ist es anders: Es klingt durch andere Harmonien alles ein wenig verfremdet, als ob Haydn seiner Sache unsicher geworden wäre.


    Im Grunde ist das schon Standard … nach dem satzförmigen Hauptsatz beginnt die Überleitung mit einer variierten Wiederholung, aus der in die Dominanttonart moduliert wird. Außergewöhnlich ist hier nicht, dass er solches tut, sondern nur das Gepolter auf dem Halbschluss, aus dem Takt 13-18 geworden ist. Die Kombination der Teile Takt 1-8 ½, 9-11 und 12-18 als satzförmigen Hauptsatz ist tatsächlich witzig. Du meinst „Der Witz ist: Haydn tut nur so, als ob der erste Teil schon fertig wäre!“ Ich würde das „nur“ weglassen: „Haydn tut so, als ob die Überleitung zum Seitensatz schon fertig wäre“. Und an dieser Stelle wäre durchaus bereits ein Seitensatz möglich. Haydn spielt, denke ich, mit einer möglichen Mehrdeutigkeit.

    Zitat

    Wieder der „Kuckucksruf“ und die hinaufschießenden Tonleitern – doch es geht anders weiter als beim ersten Mal, man höre nicht auf 1. Violine und Cello, sondern auf die Mittelstimmen, die eine Überleitung spielen – zum zweiten Thema, welches von der 1. Violine vorgestellt wird[/I]


    Er liefert nach, von dem er zuerst suggerierte, zu faul dafür zu sein …



    Zitat

    Das zweite Thema unterscheidet sich von ersten deutlich – aber was heißt schon deutlich? Für unsere Ohren nicht so deutlich, wie sich etwa bei einer Bruckner-Symphonie ein erstes und ein zweites Thema unterscheiden (ganz zu schweigen vom Bruckner-typischen dritten …), doch für Haydnsche Streichquartettverhältnisse ist es eben so, wie hier.


    Ja, stimmt, das ist Haydn und nicht Bruckner …



    Zitat

    Das erste Thema hatte recht lange Notenwerte, im zweiten Thema dominieren die kurzen. Dadurch wirkt das zweite Thema auch flotter, lebendiger als das erste. Das erste Thema war kleinschrittig, das zweite macht von Sprüngen reichlich Gebrauch. Beim ersten Thema war die generelle Bewegungrichtung „nach oben“, beim zweiten Thema gehen die Sprünge nach unten.


    Aber die Bewegung geht im Großen auch nach oben (Takte 44-47).



    Zitat

    Das zweite Thema endet auffällig in einer Tonleiter in punktiertem Rhythmus (dam – dadam –dadam – dadaaa) in der ersten Violine, die dabei alleine spielt – eine Generalpause folgt.


    Hier würde ich doch eine zaghafte Parallele zu den Takten 13 etc. vorschlagen. Dort ging es tonleitermäßig in der Dominante aufwärts, hier auch. Dort war’s am Ende eines thematischen Materials, hier auch.



    Zitat

    Das Cello imitiert dann die Tonleiter in punktiertem Rhythmus, und ein konventioneller Schluss folgt.


    Hier in der Verschränkung, die zu Beginn fehlte, weshalb der Anfang asymmetrisch wirkt.



    Zitat

    – Weiter geht’s im Walzerrhythmus, und die Bewegung erinnert wieder an das erste Thema,


    Es gibt keinen Walzerrhythmus in diesem Quartett … ich finde die Bewegung auch nicht so besonders ähnlich.



    Zitat

    doch wie seltsam verfärbt durch fremde Tonarten (irgendwo um As-Dur und f-moll herum),


    So eine durchführungsartige Passage im Seitensatz kommt doch auch immer mal wieder vor, auch in der Reprise.



    Zitat

    bis in der zweiten Violine genau diejenige Spielfigur erklingt, mit der das Cello schon zum zweiten Thema übergeleitet hatte, doch nun folgt das erste Thema, und zwar in G-Dur, vorgetragen von der zweiten Violine, imitiert und begleitet von den anderen. Wiederum eine nach oben schießende Tonleiter in der ersten Violine, die diesen Höhenflug jedoch nach Ikarus-Art mit einem fallenden gebrochenen Akkord beendet.


    Schlussgruppe mit Material aus dem Hauptsatz, kommt bei Haydn oft vor, oder?

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  • Das wird sich wohl nie ganz nachweisen lassen (ich glaube nicht, dass Skizzen erhalten sind). Ich habe nicht genug Ahnung von Harmonie und Kontrapunkt, um beurteilen zu können, wie unwahrscheinlich so ein "Zufall" wäre. Da, was ja auch nicht gerade Standard bei Haydn ist, aber sowohl mehr als die Hälfte der Durchführung als auch die traditionelle durchführungsartige Passage nach der Hauptthema-Reprise hier als Fugato/Kanon gestaltet sind, vermutlich die satztechnisch elaboriertesten Passagen im ganzen Stück, scheint es durchaus plausibel, dass es kein bloßer Zufall ist.
    (Bei Beethoven kann man, da umfangreiche Skizzenbücher erhalten sind, bei manchen Stücken, Teile der kreativen Prozesse ansatzweise nachvollziehen. Es scheint jedenfalls nicht unbedingt die Regel zu sein, dass Komponisten ein Thema einfällt und sie dann überlegen, was man alles damit anstellen kann. Andererseits komponieren reife Komponisten wohl auch nicht wie Kontrapunktschüler, die sich die Themen so überlegen müssen, dass sie sich für bestimmte Tricks wie Engführungen usw. eignen.)


    Dass so ein chromatisch verschliffenes schrittweises zweitaktiges Aufwärtsschreiten auch abwärts kanonisch geht, ist eigentlich nicht überraschend. Außerdem biegt er das Material ohnehin zurecht (erste Geige Takt 207). Ich würde eher von Fugato sprechen als von Kanon. Mal wieder ein Rückgriff auf historische Komponierweise, ist mir heute beim Anhören tatsächlich etwas "altväterlich" vorgekommen.
    :D

    Zitat

    Immerhin hatte Mozart mit seinen sechs Haydn-Quartetten die Maßstäbe vorgegeben …


    Oder Haydn selbst mit op. 20?

  • Ich habe ein wenig weitergehört:
    Quartett Es-Dur op. 50 Nr. 3 Hob. III:46
    Quartett fis-moll op. 50 Nr. 4 Hob. III:47
    können mich viel leichter begeistern als Nr 1 und 2.
    Bei fis-moll hat mir insbesondere die Aufteilung der Tonarten und die jeweilige zeitliche Ausdehnung gefallen:
    I fis-moll - A-Dur - fis-moll - Fis-Dur
    II A-Dur - a-moll - A-Dur - a-moll - A-Dur
    III Fis-Dur - fis-moll - Fis-Dur
    IV fis-moll (kurz)
    Das ist sehr ausgewogen und dadurch, dass in den anderen Sätzen die Tonarten immer recht rasch wieder gewechselt werden, erscheint auch das etwas kurz geratene Fugato-Finale gerechtfertigt.
    :hello:

  • Das dritte Werk des Opus‘ hat die folgenden Sätze:


    - Allegro con brio (Es-Dur, 6/8)
    - Andante o più tosto Allegretto (B-Dur, 2/4)
    - (Menuet) (Allegretto) (Es-Dur, 3/4)
    - (Finale) (Presto) (Es-Dur, 2/4)


    Die Satzüberschriften und Tempobezeichnungen der letzten beiden Sätze fehlen in der wichtigsten Quelle für dieses Werk.


    Die Zeitangaben berücksichtigen wieder folgende drei Einspielungen:

    • Nomos-Quartett, cpo, 1992/93
    • Kodaly Quartet, Naxos, Mai 1996
    • Auryn Quartett, tacet, 2009



    Den Kopfsatz könnte man auch „Satz der enttäuschten Erwartungen“ nennen. Ein spannender Satz!


    Der Beginn klingt für mich wie ein Kinderlied – denkt Euch mal die Verzierung in der ersten Violine weg („Im Märzen der Bauer“ oder „Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder“ sind schon dicht dran). – Als zweiten Gedanken präsentiert Haydn ein Motiv, das erst im (oktavweisen) Unisono von den beiden Violinen und dann über drei Oktaven von allen vier Instrumenten gespielt wird (0:09/0:08/0:07) – dieses Unisonomotiv wird er noch öfter wie einen Joker einsetzen. Nach dem Unisono biegt Haydn schon auf die Zielgerade der ersten Themengruppe ein: Orgelpunkt im Cello, Wiederholung einer Kadenzformel, fertig.


    Danach (0:23/0:24/0:18) moduliert Haydn in die Dominante – also genau an der Stelle, an der Dutzende andere Quartette dies tun. Wie hört man das? Nun, das Stück bekommt Schlagseite, es driftet deutlich woanders hin, es bekommt ein Gefälle. Eine Fermate wird erreicht (0:31/0:34/0:25). Jetzt erwartet man das zweite Thema! Das kommt aber nicht – erste enttäuschte Erwartung. Haydn deutet ein Fugato über das erste Thema vom Beginn des Satzes an, erst die erste Violine, dann die Bratsche, dann das Cello, dazu jeweils ein Kontrapunkt „gegen den Takt“ (synkopiert) … das zweite Thema erscheint erst bei 0:46/0:49/0:37, recht virtuos in der ersten Violine und von den anderen Streichern luftig auf den Zählzeiten „2“ und „3“ begleitet („Hm-ta-ta“ ohne „Hm“). Ganz tändelnd setzt die erste Violine ihren Soloauftritt fort, bis ein Trugschluss (1:01/1:06/0:50) die Schlussgruppe einleitet. Wiederholung der Exposition.


    Die Durchführung beginnt mit einer Verarbeitung des ersten Themas, doch schnell landet die Musik in einem Halbschluss mit nachfolgender Generalpause. Der Gestus ist durchaus dramatisch (2:45/3:05/2:17). Jetzt müsste es in Moll weitergehen – tut es aber nicht. Haydn zieht den Joker und bringt das Unisonomotiv (zweite enttäuschte Erwartung) … und startet unvermittelt ein Fugato über den Kopf des ersten Themas (2:58/3:19/2:29). Erst die Bratsche (d-moll), dann die zweite Violine (g-moll), dann das Cello (c-moll) und schließlich die erste Violine (F-Dur), dann nochmal Cello (variiert, B-Dur) und die Bratsche (Es-Dur). – Dann überbieten sich die beiden Violinen mit einem neuen Fugenthema, welches auch von der Viola vorgetragen wird. Danach kommt die Durchführung wieder in weniger kontrapunktisches, sondern vielmehr oberstimmenlastiges Fahrwasser und erreicht eine Fermate mit Generalpause (3:44/4:09/3:06).


    Jetzt Reprise? Hm. Haydn zieht seinen Joker, bringt das Unisonomotiv (dritte enttäuschte Erwartung), wendet es aber sogleich dramatisch nach Moll (3:51/4:17/3:12) – kurze Fortspinnung, dann nochmal Generalpause, und dann das Unisonomotiv in der „richtigen“ Abfolge. Danach läuft das Stück so weiter, wie wir es aus der Exposition kennen. Also doch Reprise? Aber wo war das erste Thema?? Bei 4:40/5:12/3:54 scheint der Satz dann zu Ende zu sein. Lange Pause … immer noch … und dann … das erste Thema – ach. Vierte enttäuschte Erwartung. Nochmals Unisonomotiv, welches eine strettoartige Sequenz durchläuft, nach welcher der Schluss zügig erreicht wird.


    In diesem Satz finde ich die Wiederholung von Durchführung und Reprise tatsächlich überflüssig – man kennt die eingebauten Witze ja schon. Das Kodály-Quartett lässt die Wiederholung weg.


    Der zweite Satz ist ein Variationensatz. Das Thema ist zweiteilig: Abschnitt A hat acht, Abschntt B sechzehn Takte, jeder Abschnitt wird wiederholt (B nicht vom Kodály Quartett).


    Die Melodie des Themas (ist sie das wirklich? Siehe unten … ) wird von Cello gespielt, begleitet von der Bratsche, die eine Unterstimme zum Cello spielt. Diese zweistimmige Besetzung bestreitet den ganzen Abschnitt A. – Die ersten vier Takte des Abschnitts B gehören den beiden Violinen alleine, dann unterstützt die Bratsche für weitere vier Takte. In den letzten acht Takten des Abschnitts B spielt das Cello seine Melodie aus Abschnitt A. Da die erste Violine dazu eine neue Melodie spielt, klingt das Cello eher wie ein interessanter Kontrapunkt. Tolles Vexierspiel um Vorder- und Hintergrund!


    Die erste Variation erscheint gleich als „minore“-Variation in b-moll. Im B-Abschnitt arbeitet Haydn imitatorisch, im A-Abschnitt war dies eher angedeutet.


    Die zweite Variation lässt anfangs die ersten acht Takte des Themas unverändert in Cello und Bratsche erklingen, bricht dann jedoch mit dem 8+8+16+16-Takte-Muster und ist stattdessen im 8+8+8+8-Schema aufgebaut – den zweiten Achter hören wir nicht als Wiederholung der zweistimmigen Version, sondern im vierstimmigen Satz. Die letzten acht Takte sind dabei identisch (bis auf einen Oktavsprung im Cello) mit den letzten acht Takten des Themas.


    Die dritte Variation scheint zunächst den A-Teil recht frei zu variieren und in Melodik und Harmonik Änderungen vorzunehmen. Da, wo der B-Teil folgen müsste, stehen weitere sechs recht freie Takte, nach denen die eigentliche dritte Variation erst anzuheben scheint: Eine virtuose Variation für die erste Violine, die das 8+8+16-Schema einhält und A- und B-Abschnitt erkennen lässt. Dabei ist die erste Wiederholung des A-Abschnitts geringer besetzt (nur die beiden Violinen) als die zweite.


    Eine Coda über einem Orgelpunkt im Cello bringt den Satz zu Ende.


    Der Kopf des Themas des Menuetto macht vor allem von Tönen des Es-Dur-Akkordes Gebrauch – in aufwärts springender Bewegung. Abwärts geht es dann schon nach vier Takten mit chromatischen Einsprengseln, bevor artig über Doppeldominante-Dominante-Tonika-Subdominante sequenzartig der erste Teil nach Hause musiziert wird. Ein wahrhaft klassischer Gegensatz von akkordisch aufsteigender erster und chromatisch absteigender zweiter Themenhälfte – dazu kommt die Dynamik; ohne dass es notiert wäre, ist in der ersten Hälfte „forte“ gemeint, die zweite Hälfte ist dann zunächst mit „piano“ bezeichnet, bis es ab dem „Nach-Hause-Sequenzieren“ dann wieder „forte“ wird. – Der zweite Teil moduliert rasch nach Ges-Dur – und tut dann so, als ob nichts passiert sei und fährt mit größter Harmlosigkeit fort, bevor über es-moll ein Halbschluss auf B-Dur erreicht wird, der es erlaubt, den ersten Teil als Schluss des zweiten nochmals zu bringen – mit einer kleinen Überraschung am Ende - auch das Cello darf nochmal was sagen.


    Das Trio setzt der durchlaufenden Viertelbewegung des Menuetto eine ebenso durchlaufende Achtelbewegung entgegen und schafft somit den willkommenen Gegensatz zum Menuetto.


    Das Thema des Finale erinnert stark an das Thema des Kopfsatzes: Ein Auftakt (b) führt zum Grundton (es), danach wieder Auftakt, dieses Mal zu f, dann wieder Auftakt, dieses Mal zu g. Das war m Kopfsatz mit denselben Konturen zu hören. Braves Kadenzieren in einen Halbschluss, garniert mit Echoeffekten zwischen erster und zweiter Violine - in der Notre-Dame-Epoche hätte man das „Hoquetus“ genannt. Wiederholung des Themas, die Begleitstimmen sind nun chromatisch angereichert, nunmehr kein Halbschluss, sondern ein authentischer. – Nun erscheint das Thema in hoher Lage, und die erste Violine scheint virtuose Variationen darüber anstimmen zu wollen. Das Ganze führt zunächst zu Verwicklungen, die sich jedoch rasch auflösen. In einer Generalpause sammelt man sich kurz, die Dominante ist erreicht, Jedoch folgt kein zweites Thema, sondern das erste Thema in der Dominante – bei Haydn nicht unüblich. Rasch geht es dem Ende der Exposition entgegen, es wird deutlich hörbar in die Grundtonart zurückmoduliert. Wiederholung.


    Die Durchführung macht das, was sie soll: Sie verwirrt den Hörer zunächst einmal in harmonischer Hinsicht. Doch bald wird in einer geradezu barock sequenzierender Stelle harmonische Stabilität erreicht – im Bezirk von f-moll, in welcher Tonart das Thema auch als nächstes erscheint. Ein Triller in der ersten Violine kündigt das Ende der Durchführung an. Die Reprise zeigt einige deutliche Abweichungen von der Exposition: Das Thema wird nicht wiederholt, der Neueinsatz in der oberen Oktave bringt andere Variationen als in der Exposition, trotzdem klingt alles geradezu reminiszenzartig vertraut. Sehr interessant!

  • Hallo,


    den hervorragenden Beträgen von Wolfram ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, bis auf:


    1. Die von ihm auch eingestellte CD-Box mit dem Nomos-Quartett (weshalb ich die Box nicht mehr einstelle) hat den großen Vorteil, dass im CD-Booklet jeder Satz jedes Quartetts recht ausführlich beschrieben ist, z. T. sogar mit Erläuterungen zur vorzufindenden Sonatenform (die Haydn, er konnte das, ab und zu auch nicht ganz so streng befolgt hat).


    2. Meine Höreindrücke - darunter verstehe ich, was mich besonders bewegt oder beeindruckt oder wenn ich Mängel in der techn. Ausführung oder der Aufnahmetechnik zu hören glaube.


    Op. 50, 1
    1. Satz, Allegro: Das Thema wird, von den übrigen 3 Stimmen, anfangs 2 x wie über einem Orgelpunkt im Cello und dann je 1 x über der Viola und Violine vorgestellt, stets der Ton "B", jeweils oktaviert; das wirkt sehr beruhigend und konzentrierend auf das Thema. Dieser "Orgelpunkt in B" kommt immer wieder und unterstreicht (wenn aus anderer Tonart, -geschlecht zurückgekehrt wird in) die Tonart B-Dur, in welcher das Werk steht. In der Durchführung ist das Thema immer gut zu verfolgen. Klingt der Satz für mich fröhlich? Eher bewegt, heiter und voll Vorwärtsdrang, auch wenn die "Orgelpunktstellen" dagegen "sprechen", aber das unterstreicht den Vorwärtsdrang noch.


    2. Satz Adagio, non lento: Ein sehr eingängige, melodiöse, sing-, fast volksliedhafte Melodie, was durch den langsamen menuettartigen Rhythmus noch unterstrichen wird. Nach dem Wechsel in Moll und dann zurück in Dur wird das Volksliedhafte durch die Führung der Cellostimme (schon im Mollteil ähnlich zu hören) etwas vermindert, was nicht negativ ist. Kurz vor dem Ende des Satzes kommt eine verinnerlichte, verträumte Stimmung auf.


    3. Satz Menuetto. Poco Allegretto - Trio: Obwohl mit Schwung höre ich mehr Zurückhaltendes, Nachdenkliches, aber d(n)och nicht Melancholisches. Das Trio "versucht damit aufzuräumen", was aber nicht ganz gelingt und dann wieder mit der Anfangsstimmung endet.


    4. Satz Fuga. Allegro moderato: Für mich der heiterste, unbeschwerteste Satz des ganzen Quartetts, daran ändern auch die Mollpassagen nichts, sie steigern die Heiterkeit (manches Mal höre ich ein wenig Mozart).




    Für mich klingt die 1.Violine in den Fortestellen selten etwas zu scharf; die Durchsichtigkeit finde ich gut, es gibt keinen Klangbrei.


    Viele Grüße
    zweiterbass



    Fortsetzung folgt.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Das französische Quatuor Zaïde legt als seine zweite CD-Einspielung eine Aufnahme der fünften Quartettserie - op. 50, 1-6 - vor. Das 2009 gegründete reine Damenquartett (sozusagen der Gegenentwurf zur "Boygroup" Quatuor Ebene) errang im Jahre 2012 beim Haydn-Wettbewerb in Wien nicht nur den 1. Preis sondern auch alle drei Jury-Preise (beste Interpretationen eines Werkes von Joseph Haydn, der Zweiten Wiener Schule und des Auftragswerkes des Wettbewerbes). Wer hören will warum, sollte diese CD ordern (derzeit noch nicht bei den deutschen Werbepartnern gelistet, aber direkt beim Label für € 25 incl. Porto erhältlich: http://nomadmusic.fr/fr.)

    Korrektur vom 20. 6.2022: Inzwischen bei jpc zu haben - um 14.99 Euro MOD 001 Alfred



    Außerdem gewannen sie den 1. Preis beim Internationalen Musik-Wettbewerb in Peking, den 1. Preis beim Charles Hennen International Competition in Heerlen (Niederlande) und den 3. Preis bei der International String Quartet Competition in Banff (Kanada).


    Wer glaubt, seine Idealaufnahme dieser Quartettserie schon zu haben, braucht nicht weiterzulesen. Wer aber offen für Neues ist und die Quartette - wie ich - noch nicht sehr gut kennt, findet hier eine hochinteressante Darstellung. Das Quatuor Zaïde spielt historisch informiert, wenn auch - soweit ich das beurteilen kann - auf modernen Instrumenten mit Stahlsaiten. Dadurch ist der Klang silbrig-hell und gelegentlich weist er auch eine gewisse Schärfe auf. Die Tempi sind durchweg zügig, insgesamt ist das hier ein absolut modernes Klanggeschehen, was den "Papa Haydn" denkbar weit in die Ferne rücken lässt. Was diese Einspielung aber vor allen die ich kenne, auszeichnet, ist der große Witz und die vielen Freiheiten, die sich die Damen herausnehmen. Haydn wird ja Humor, Witz und auch Exzentrizität nachgesagt, hier hört man es auch an jeder Ecke. Da wird nichts routiniert heruntergespielt, sondern alles wirkt sehr ausgetüftelt und klingt doch ganz spontan. Meister Haydn hätte sicher seine Freude gehabt.
    Offensichtlich auch Mentor und Lehrer Johannes Meissl (Artis Quartett), der es sich nicht nehmen ließ, den Booklet-Text zu verfassen.


    Wer einen Blick in den Konzertkalender der Damen wirft, sieht wohin die Reise geht: ganz nach oben. Nach dieser CD schon mal: eins rauf mit Mappe.


    P.S. Die Spielzeit der Doppel-CD ist übrigens erheblich kürzer als die der Aufnahme des Auryn Quartetts, die Damen lassen viele Wiederholungen weg. Machen andere wie das Tokyo SQ aber auch.

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