Bach - wie man ihn früher spielte...

  • Um es gleich vorwegzunehmen:
    "Früher" da war die Zeit vor den HIP Interpretationen gemeint, und ich beziehe mch auf Bach von "Universaldirigenten" wie Karajan, der ja bekanntlich (aus heutiger Sicht) an Bach gescheitert ist.
    Aber auch andere Dirigenten, beispielsweise Münchinger, Rilling und Karl Richter sind hier gemeint, bzw alle die sich dereinst berufen fühlten Bach zu interpretieren....


    Was kann man heute noch mit Genuss hören, was wird (von Euch) als "verstaubt" empfunden ?


    Ich bin gespannt wo dieser Thread hinführt.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Den Münchinger höre ich auch heute noch mit Genuss.Allerdings gehört der auch nur bedingt in Deine Liste. Mit seinem Stuttgarter Kammerorchester hatte Münchinger ein Ensemble geschaffen, das sich weitestgehend auf Barock und ein bisschen Mozart (und gelegentliche Ausflüge ins 20.Jh.) spezialisiert hatte. Münchingers Ausflüge ins orchestral größer Dimensionierte sind in meinen Ohren kaum geglückt. Ein Universaldirigent war er gewiss nicht.


    Die Aufnahmen von Karl Münchinger bewegen sich in einem Vorfeld von HIP, in dem aus den Werken gewiss mehr herausgeholt wurde als in der großorchestralen Aufführungspraxis. Die Platten von Karl Münchinger waren für mich die Basis, micht mit Barockmusik überhaupt zu befassen.


    Nicht ganz so HIPpe Spezialisten waren übrigens noch der im WDR oft gespielte Wilfried Böttcher, Günter Kehr, Günter Wiech, Sir Neville Marriner und höchst verdienstvoll Jean Francois Paillard, Claudio Scimone und Roberto Fasano. Paillard und Scimone so ungefähr Altersgenossen von Harnoncourt (Marriner glaube ich auch).


    Das war aber schon ein interessanter Interpretenblock von Musikern, die sich der Auseinandersetzung mit der alten Musik verschrieben haben und die Diskussionen in Gang gesetzt haben, die zu unserem heutigen Barockverständnis geführt haben. Diese ganze Riege fällt aus der Gruppe der "Universaldirigenten" heraus.


    Universaldirgenten - darunter zähle ich u.a. Ernest Ansermet, der übrigens als erster die Pariser Sinfonien von Joseph Haydn auf LP eingespielt hatte und mit einem stereo-Zyklus der Beethoven-Sinfonien schneller war als Herbert von Karajan, oder Otto Klemperer. Ich gebe zu, daß es mich bei den alten Aufnahmen von Mengelberg, Furtwängler oder Knappertsbusch gruselt, wenn die Barock spielen. Eine gewissen Ehrlichkeit legte da Gustav Mahler an den Tag, indem er sich seinen Bach so einrichtete, wie er ihn gerne gehabt hätte und das Ganze dann als sein Arragement verkauft hatte.


    Die genannten Ansermet und Klemperer sind bei den Universaldirigenten Ausnahmen. Ansermet hat in seinen späten Lebensjahren drei Bach-Platten aufgenommen. Nein, nicht HIP. Aber alles andere als pastos heruntergepinselt. Die Kantate Nr. 105 "Herr gehe nicht ins Gericht" klingt erhaben, Ansermet überträgt diesen Bach in ein Lebensgefühl des 20. Jh. Das ist Vermittlertätigkeit. Da ist Schönheit, Klarheit, da ist Demut, da ist Ehrlichkeit, da ist alles zu hören, was Bach zeitlos macht. (Ich habe diese Platte jetzt herausgegriffen, weil sie tatsächlich gerade bei mir läuft). Niemals würde ich diese Aufnahme als verstaubt oder altbacken empfinden. Den Affekt, den diese Aufnahme vermittelt, den mögen die HIPster bitte ersteinmal erzeugen.


    Klemp, der gute Otto Klemperer, hat auch viel Bach gespielt. Und auch der hat sich stets um Klarheit und Transparenz gesorgt. Merkwürdigerweise bezeugen das -zumindest in meinem Plattenschrank - die mono-Aufnahmen der Orchestersuiten eher, als die stereo-Aufnahmen. Ein technisches Problem, das möglicherweise durch digitale Nachbearbeitung behoben werden kann. A propos Klemperer: sein Mozart wurde bereits in der Vorkriegszeit als revolutionär empfunden: die Tempi zügig, die Klangwirkung nicht parfümgeschwängert.


    Also, um den Alten ihr Recht zukommen zu lassen - Karajans Barockverständnis war in den 1960er Jahren schon ein Sonderfall, zum Zeitpunkt, als er mit ASM die "Quatro Stagioni" für EMI einsppielte erst recht - sollten wir mal relevante Gruppen aufstellen.


    Bei den Universalisten: Karajan, Klemperer, Ansermet, Horenstein, Schuricht, Jochum - jau, den hätte ich fast vergessen - und Fritz Lehmann. Ach ja, Louis Auriacombe nicht zu vergessen.


    Bei den Nicht-HIP-Spezialisten: Rilling, Münchinger, Wenzinger, Richter, Marriner, Wiech, Kehr, Fasano, Paillard, Scimone, Rudolf Baumgartner.


    Ensemble ohne Dirigent: I Musici, ein Must-have in jedem Barockschrank.


    Wenn man nun das Repertoire dieser beiden Gruppen anschaut, dann gibt's bei den Universalisten nur die sogen. "All-Time-Greatest"-Werke. Ausnahme: Ansermet.


    Ausnahme Nr. 2: Klemperer, der wie Ansermet der Musik Bach's zum Strahlen und Leuchten bringt, ohne die filigranen Strukturen zuzukleistern.


    Horenstein hat sich übrigens bei der Einspielung der "Brandenburgischen Konzerte" exakt an die Bestzungsvorschiften Bachs gehalten, ebenso versucht, sich den von Bach gewünschten Tempi anzunähern - verdammt zügig, diese Einspielung - und es kamen einige Originalinstrumente zum Einsatz. Ein gewisser Nikolaus Harnoncourt taucht bei dieser Platte in der Besetzungsliste auf.


    Es gibt ein ganze Menge Bach, der früher in einer Weise gespielt wurde, dass sie auch heute noch Bestand hat - zumindest wichtiger Diskussionsbeitrag ist.


    Ansermet, Horenstein, Schurcht, Münchinger, Klemperer gehören ganz gewiss dazu.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Guten Morgen


    Zitat

    Original von Thomas Pape
    Bei den Nicht-HIP-Spezialisten: Rilling, Münchinger, Wenzinger, Richter, Marriner, Wiech, Kehr, Fasano, Paillard, Scimone, Rudolf Baumgartner.


    Der Dirigent Karl Ristenpart ( 1900 - 1967 ) und das von ihm gegründete Saarländisches Kammerorchester spielte auf Platte, für Rundfunksendungen und auf Tourneen jede Menge Bach und gehört ebenfalls in diese Kategorie.


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • ...auch guten Morgen ;) (übr. fasse ich mich kurz - Frühstück wartet...)


    - mein Orchester-Bach ist very HIP, was nicht heißt, daß ich nicht offen für andres wäre...


    - vom Mengelberg gibts wohl eine Aufnahme der "Matthäus-Passion" (so um `36 mein ich), die ich vor Unzeiten mal ausschnittsweise auf MC hatte...
    "gruselig" fand ichs garnicht - reichlich "entlegen" halt, aber auch irgendwie...attraktiv...
    (kann halt - "eigentlich" zumindest - als Buddhist mit Passionsmusiken nichts rechtes anfangen)
    besagte MC habe ich wohl umzugshalber - wie auch das Folgende - irgendwann entsorgt / heute find ichs schad


    - als meine Hamburger Oma seinerzeit Dreiviertel ihrer Platten und Bücher unter ihre Enkel verteilte,
    kam eine leider reichlich zerkratze Single mit einer Wenzinger-Aufnahme des 3.Brandenburgischen in meinen Besitz...
    ...scheint mir in heutiger Erinnerung - in Besetzung und "Energetik" - von der `87-Aufnahme mit "Musica antiqua Kölle" so weit gar nicht entfernt...
    ...war jedenfalls - so um 1980 wirds gewesen sein - nach langen Jahren der erste OrchesterBach, den ich wieder ertrug :yes:


    - von Ansermet muß es zumindest ein "Brandenburg" in einer Aufnahme um 1930 geben !
    (lief vor Unzeiten mal im WDR - klang mir ein wenig wie Strawinsky :P, fehlinterpretiert würd ichs darob nicht nennen...)


    Thomas:
    Kannst Du ein wenig erläutern, warum der JSB von "I Musici" für Dich ein "must have" ist ?
    - Den Vivaldi haben sie mir als Teenager erstmal auf Jahre ausgetrieben...
    (war allerdings die Zeit, in der ich den Antonio sowieso zu ... hassen begonnen hatte, als wir ihn im Schulorchester regelmäßig zu Tode probten :()


    :hello:
    johann michael

  • Denkt man an Bach der "Vor-HIP-Zeit", so denke ich an erster Linie an den "Bach-Papst" der 50er bis 70er, Karl Richter. Er hat Zeitloses hinterlassen, was auch heute noch bestens anhörbar ist. Das ist für mich "mein" Bach geblieben bis heute.


    Daneben der heute leider etwas im Schatten stehende, von Thomas glücklicherweise schon so hervorgehobene Karl Münchinger, der m. E. bereits damals einen etwas schlankeren Bach spielte als Richter.


    Mit Helmut Rillling werde ich irgendwie nicht so warm. Es klingt alles gut und schön, aber irgendwie fehlt mir hier das Charakteristische. Da ziehe ich den (frühen) Harnoncourt (der hier ja nicht hingehört), etwa bei den Kantaten, vor.


    Ansonsten kenne ich von den Un-HIP-Bach-Spezialisten noch Sir Neville Marriner, den ich auch schätze, aber der bei mir dennoch im Schatten Richters steht.


    Beim Bach der "Universal-Dirigenten" kenne ich u. a. den von Karajan und Klemperer.


    Über Karajans Bach wurde vermutlich noch viel Schlimmeres geschrieben als über seinen Mozart, vielleicht nicht ganz zu unrecht, aber man höre sich mal sein "Magnificat" aus der Philharmonie (Video) an: im "Fecit potentiam" erreicht er beinahe Richter'sche Dimensionen (freilich völlig un-HIP).


    Die h-Moll-Messe des greisen Klemperer schreckt mich heute eher ab. Sie ist zwar monumental und gigantomanisch, aber klingt sie mir fast zu übertrieben – was mir z. B. bei Richters Messe nicht so vorkommt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Zitat


    Original von Thomas Pape
    Die Kantate Nr. 105 "Herr gehe nicht ins Gericht" klingt erhaben, Ansermet überträgt diesen Bach in ein Lebensgefühl des 20. Jh. Das ist Vermittlertätigkeit. Da ist Schönheit, Klarheit, da ist Demut, da ist Ehrlichkeit, da ist alles zu hören, was Bach zeitlos macht. (Ich habe diese Platte jetzt herausgegriffen, weil sie tatsächlich gerade bei mir läuft). Niemals würde ich diese Aufnahme als verstaubt oder altbacken empfinden. Den Affekt, den diese Aufnahme vermittelt, den mögen die HIPster bitte ersteinmal erzeugen.


    Leider kann ich die nicht nachhören, weil ich sie nicht bei den üblichen Online-Anbietern fand.
    Die in der Kantate enthaltenen Affekte werden aber m.E. durchaus eindrucksvoll von folgenden erhältlichen HIP-Interpretationen ausgespielt: Herreweghe, Koopman, Gardiner, Harnoncourt.


    Herreweghes Chor mag ich hier am liebsten, Gardiner und Koopman haben hier jeweils etwas unterschiedliche, aber gedanklich und emotional sehr nachvollziehbare Schwerpunkte.
    Harnoncourt beeindruckt mich in Satz 1 und 5 wegen des strengen Gerichtsaffekts ( 1) und der am stärksten nach höfischem Tand klingender Gavotte (5) mit einigem Abstand am meisten.
    Die Stärken seiner Aufnahme liegen im Instrumentalen. So lässt er z.B. bei der Gavotte die 32-tel (glitzerndes Geld -> der Mammon) von seiner Frau solo wunderschön spielen, während bei den anderen Aufnahmen alle ersten Violinen das Kunststück fertigbringen müssen, es zusammen hinzubekommen.
    Die ganze Arie Nr. 5 ist ein Musterbeispiel für musikalische Tongebung ( auch und gerade Vibatofragen etc.) und sprechend effektvolle Dynamik/Artikulation, auch im Continuo. :jubel:


    Die ungeschliffene Klanglichkeit im Vokalen, also der vergleichsweise ungehobelte Knabenchor, die gewöhnungsbedürftige Stimme des Altisten und die musikalische-technische Überforderung des Knabensoprans sind dann die Punkte, durch die die meisten abgehalten werden, sich näher mit der, wie ich finde sehr genialen und mitreissenden Konzeption seiner Interpretation zu befassen und genauer hinzuhören, vor alllem auf die Streicher.
    Insgesamt würde ich den meisten Hörern also Herreweghes ausgewogene Version für BWV 105 empfehlen, auch den ungeübten.
    Ich bin mir sicher, dass sie nicht weniger beeindruckend sein wird als eine "alte" Bachaufnahme.


    Im Netz konnte ich jedoch Ansermet mit dem Vorspiel der Kantate BWV 31 hören (60er -Jahre)
    Das ist wirklich viel besser, lebendiger, klarer, verstandener artikuliert und wirkt insgesamt weniger "verstaubt", als das, was man noch später in den 70ern von Rilling oder Rotzsch zu hören bekam!
    Wenigstens dieses Orchestervorspiel könnte ich mir also auch heute noch durchaus mit einigem Genuss anhören. Die hereinbrechenden Trompeten und Pauken haben etwas von diesem Osterjubel, der sowohl im Himmel als auch auf der Erde zu vernehmen ist.
    Man sieht, dass man mit einer starken Interpretations-Begabung bis zu einem gewissen Punkt und in einzelnen Fällen sogar bei der barocken Musik Erstaunliches erreichen kann, selbst wenn man nicht die historische Aufführungspraxis studiert hat. (Gould ist ja auch so ein Ausnahmebeispiel, aber der ist ja nicht "alt" im Sinne der obigen Definition Alfreds.)


    Wenn ich aber wählen kann, dann höre ich für BWV 31 insgesamt (d.h., wenn es nur eine Aufnahme sein darf) am liebsten die sehr schmissige Aufnahme Gardiners, dann der kontemplativere aber trotzdem auch lebendige Koopman, dann wegen einzelner Sätze Harnoncourt ( Satz 6 Streicherspiel) und auch Suzuki wegen allgemein guter Gesangssolisten; alle jedoch wesentlich lieber als eine alte Non-HIP-Aufnahme, selbst wenn sie von Anserment sein mag.


    Karl Richters Kantaten würde ich geschenkt immer annehmen und es mir aus Nostalgie selten anhören - früher war ich ja Richter-Fan.
    Er hatte mit Fischer-Dieskau und Schreier oft sehr ausdrucksstarke Sänger am Start. Da meine finanziellen und räumlichen Mittel jedoch begrenzt sind, käme ein heutiger Kauf wohl kaum zustande.
    Eine Rilling-Aufnahme, die mir gleichgut gefiele, wie eine entsprechende Richter-Platte, kenne ich nicht. Mit dem wurde ich eigentlich nie warm. Heute spielt er ja auch schon ganz anders, aber es zündet bei mir irgendwie nicht.


    Die ganz alten Sachen - da bin ich mit Thomas Pape einig- kann ich nur schwer ertragen. Interessehalber durchaus ja ( man kann von allem etwas lernen) aber kaum mit unbeschwertem Genuss und Hingabe.
    Dafür fällt mir zuviel auf, was "so irgendwie gar nicht geht".
    Auch die schlechte Aufnahmequalität erschwert es mir, diesen Einspielungen mehr als nur ein gewisses interpretations-historisches Interesse abzugewinnen.
    Wenn Furtwängler jedoch Bachs z.B. "Air" dirigiert, dann hat das natürlich bei diesem Ausnahmeinterpreten immer etwas, das gebe ich gerne zu.
    Als Hörer muss man dann versuchen herauszuhören, auf was man damals Wert legte, in welche Richtung gearbeitet wurde. Als Musiker kann man dann entscheiden, ob man von gewissen Elementen etwas lernen könnte und es ggf. in eine heutige Interpretation sinnvoll einbauen kann.
    Das wird wohl nicht so oft der Fall sein, aber so arrogant sollte man nicht sein, dass man meint, man könne von den Altvorderen nun gar nichts mehr lernen.


    Gruss :hello:
    Glockenton


    PS.: I Musici fällt bei mir allerdings unter die Kategorie "absolutly not - needn`t have"
    Ich fand die immer für den Vivaldi sehr unitalienisch- temperamentlos und schlichtweg betulich- langweilig.
    Da höre ich ganz sicher Furtwänglers Bach lieber als deren Vivaldi, und sogar Karajan/Mutter bringen da für mich den Frühling aus den "Vier Jahreszeiten" weniger hausbacken und " firkanta" (wie man auf Norwegisch sagt) als die.
    Man höre nur auf den Klang des sogenannten "Cembalos" das die da verwendeten - da wäre ja ein Klaviercontinuo noch angenehmer gewesen...
    Harnoncourts fetzige "Vier Jahreszeiten" :jubel: klingen mir da wie von einem anderen Planeten.

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Also Wenzinger, Münchinger, Marriner, Richter etc. mit Kammerorchestern und Cembalo und mitunter auch Blockflöten und Knabenchören ist m.E. alles "Proto-HIP", wie Thomas schon angedeutet hat. Das mag uns heute veraltet erscheinen, war damals aber ganz klar eine "Gegenbewegung" oder jedenfalls Alternative zu den traditionellen Aufnahmen.
    Rilling ist inzwischen ziemlich stark HIP-beeinflußt, war vor 30 Jahren natürlich etwas "altmodisch" verglichen mit den damals noch als Pioniere geltenden HIPisten, gilt jedoch Schreiber Ende der 1970er noch als "modern", verglichen mit Jochum oder Klemperer.


    Wirklichen Vor-HIP-Bach findet man mit wenigen Ausnahmen (wie vielleicht Klemperer und Karajan) nur bis ca. 1960. Und selbst damals gab schon den Horenstein mit dem jungen Harnoncourt, Landowska auf dem "Cembalo" usw. Auch Ramin ist mit Knabenchor und vergleichsweise zügigen Tempi etwa in der Johannespassion in mancher Hinsicht "modern".


    Und auf dem Klavier natürlich noch länger. Gould ist ja im besten Sinne jenseits von Gut und Böse, wenn auch nicht romantisch, aber z.B. Sviatoslav Richter.


    Also völlig unbeleckt von Originalklangerwägungen wären z.B (ich kenne das meiste davon selbst nicht) zu nennen: Matthäuspassion mit Mengelberg, einige Orchesterstücke mit Furtwängler (u.a. 5. Brandenburgisches mit ihm selbst am modernen Flügel), die Cello-Suiten mit Casals, WTK mit Edwin Fischer (30er), Violinkonzerte mit Oistrakh (50er/60er).


    Es kommt natürlich auch darauf an, ob man es mit ultraromantischen Interpreten wie Furtwängler oder Mengelberg zu tun hat, oder mit eher "analytischen" wie Klemperer, Scherchen (der nicht nur die bekanntesten Werke teils mehrfach, sondern auch eine Reihe von Kantaten aufgenommen hat), Ansermet.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Da hier Hans-Joachim Rotzsch genannt wurde, den ich bei den Kantaten und der Johannes-Passion außerordentlich schätze, will ich noch den Thomaskantor Günther Ramin hinzufügen, dessen Matthäus-Passion von 1941 manchem noch heute als "die" Aufnahme schlechthin gilt. Hört man sich Ramins Kantaten oder eben auch Passionen (Johannes-Passion 1954) an, dann versteht man auch, warum Karl Richter in den 50ern als modern angesehen wurde. Ramin verkörpert für mich den ganz alten Bach-Ansatz des 19. Jahrhunderts. Man muß das nicht mögen, aber wenn man sich etwa BWV 137 "Lobe den Herren" von Ramin anhört, kann man sich der Faszination kaum entziehen. Eine ähnliche Wirkung bei dieser Kantate (eine meiner allerliebsten) kenne ich nur noch bei Karl Richter – die HIP-Fraktion schneidet da bei mir ungleich schlechter ab.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich kenne un-HIPpen Bach nur aus Pasolini- und Tarkovsky-Filmen. In Verbindung mit deren Bildern ist das sehr eindrucksvoll, ich kann jetzt keine Filme und Einstellungen nennen, da ich mir das so genau auch nicht gemerkt habe (Tarkovsky hat ja nicht viele Filme gemacht, die habe ich aber alle je genau einmal gesehen).


    Jedenfalls sind das sehr dicke spirituelle Interpretationen, die von Ideen von "Klangrede" oder merkbarem Basso-Continuo nicht berührt sind, obwohl es das zu der Zeit ja schon gab (insofern nicht vor HIP sondern gleichzeitig). Welche Orchester da unter welchen Dirigenten spielen, weiß ich auch nicht, wohl irgendwelche mäßige Filmmusikorchester, dennoch, die Wirkung ist
    :faint:


    Für mich ist das dann eben Pasolini-Bach und Tarkovsky-Bach und ohne Bilder werde ich das wohl nicht hören.
    :hello:

  • das stärkste erlebnis muss das "erbarme dich" aus der matthäuspassion im film offret (das opfer) von tarkovsky gewesen sein (also schon 80er jahre) - ich kann aber nicht herausfinden, welches orchester, welcher dirigent ...

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  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    das stärkste erlebnis muss das "erbarme dich" aus der matthäuspassion im film offret (das opfer) von tarkovsky gewesen sein (also schon 80er jahre) - ich kann aber nicht herausfinden, welches orchester, welcher dirigent ...


    angeblich war das Wolfgang Gönnenwein, Julia Hamari, Consortium Musicum

    marta

  • Bach Vor-HIP: Karajan, Klemperer, Jochum, Rilling, Marriner, Barenboim.
    Die Solosachen bzw Kleinbesetzungen lassen wir jetzt mal, sonst wird es zu unübersichtlich.


    Karajan: Nicht schlecht, aber letztlich nicht mein Fall.


    Klemperer: Die Aussage von Joseph II mit der Gigantomanie unterschreibe ich. Beim ersten Hören der h-moll-Messe dachte ich noch wow, da kommt der Herrgott gleich persönlich. Beim Gegenhören mit 2 Hip-Einspielungen (Corboz, Junghänel) war es mir dann doch zu wuchtig und langsam.


    Jochum: WO ist gar nicht so schlecht, weil schöne Stimmen und guter Rhythmus. Letztlich aber auch ein wenig langsam.


    Rilling: Ähnlich wie Jochum, wobei ich auch die Solisten bei rilling nicht immer super finde.


    Marriner: Die ASMF musiziert ja sehr schön und ich mag, was sie machen. Die älteren Einspielungen sind aber auch wahnsinnig langsam. Die ASMF-Sachen mit Perahia aus den 90ern und 00ern sind dagegen bezaubernd.


    Barenboim: Ja, tatsächlich. Violinkonzerte mit ECO und seinem Kumpel Perlman. Letztlich auch für die heutige Zeit zu langsam. Aber der Klang des ECO an sich ist ja semi-HIP, weil kein Riesenorchester.


    Bei Barockmusik ist zumindest die kleinere Besetzung in meinen Augen ein Gewinn. Das sieht man zB an den wunderschönen Violinkonzerten der ASMF mit Julia Fischer.
    Auch bei den Klavierkonzerten (Perahia, Hewitt) ist die schlanke Besetzung mit den schnelleren Tempi eine Offenbarung.
    Ob es immer HIP sein muss, sei mal dahin gestellt (s. Thread dort), aber HIP hat sicherlich für dieses schlankere und schwebendere Klangbild gesorgt, das Bach für mich so herausragend macht.


    Nichts gegen die alten Meister, aber der Barock war nicht so ihr Genre.


  • Ich beginne mit den Musici; da habe ich ein wenig weiter ausgeholt: Paillard, Scimone und die Musici kenne ich kaum mit Bach. Die letztgenannten mit dem Cembalokonzert BWV 1052 und dem Konzert für Flöte, Violine und Continuo, BWV 1044.


    Da haben schon fabelhafte Leute mitgespielt, bei den Musici, die hernach oder parallell auch Solistenkarrieren gemacht haben. Nennen wir Felix Ayo und Roberto Michelucci, Heinz Holliger oder Severino Gazzeloni.


    Das "must have" bezog sich tatsächlich auf die üppige Vivaldi-Box. Zusätzlich empfehle ich "Triumph des Barock", eine Sammlung von 6 LP, in der sich auch die genannten Bach-Aufnahmen verbergen.


    Auch hier gilt: es ist nicht HIP, dennoch der Vesuch der Annäherung an das Werk über zumindest anforderungsgemäße Besetzungen und ein sehr intensives Musizieren bei perfekt scheinenden Tempi. Ihre Stärke haben die Musici in der Tat im italienischen Barock-Repertoire.


    Ansermets Brandenburgische: Ich gestehe, die kenne ich nicht. Seine Aufnahmen aus den 1930ern -von denen ich einige auf Schellack-Platte besitze - sind aber jüngst bei Cascavelle neu überarbeitet erschienen. Bin mal gespannt, ob das, was für Ansermet damals eigener Aussage zufolge weitestgehend ungeliebtes Pflichtrepertoire war, nicht doch mit dem Funke Idee und Identifikation rüberkommt, die seine späteren Aufnahmen auszeichnen.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.