Interpreten - als "behäbig" - "hausbacken" oder "langweilig" abgetan - stimmt das wirklich ?

  • Beginnen wir beim Auslöser dieses Threads. Ob wohl mir das Thema unterbewusst schon lange auf der Zunge lag, konnte ich es nicht eigentlich artikulieren. Wenn man über Karl Böhm, Karl Richter, Eugen Jochum, Wilhelm Backhaus, Wilhelm Kempff und zahlreiche andere schrieb, ihre Interpretationen wären "Langweilig" oder "behäbig" (ein Lieblingswort vieler Kritiker und Pseudokritiker), dann regte sich bei mir stets ein innerer Widerwille, den ich jedoch nicht in Worte fassen konnte.
    Nun hat mich der Thread über Ilse von Alpenheim ein wenig in ihre wenigen verfügbaren Aufnahmen hineinhören lassen. Und ich war überrascht und fasziniert.
    Ich will es nur am Beispiel der Haydn-Klavierkonzerte (sie spielt auf modernem Flügel) erläutern, buw zu erläutern versuchen.


    Wesentlich getragener als gewohnt ist die gesamte Interpretation - das bei Haydn so oft gelobte Spritzige (was gar nicht zur realen Person Haydns, bzw was uns über ihn als Person überliefert ist passt) fällt weitgehend weg, bzw ist stark abgedämpft, jedoch wird ein blühender Klavierklang erreicht, eine Klangfarbenpracht, eine feierlich strahlende, fröhliche Stimmung - die Konzerte werden zu "Großen"


    Bei dieser Gelegenheit ist mir klar geworden, was in den letzten Jahren durch eine (manipulierte ?) Wende in Sachen des musikalischen Geschmacks verloren gegangen ist:


    Das Erhabene, Prächtige, Kontemplative, melancholische, Festliche.
    Melodie wird oft zugunsten des Rhythmus geopfert, Spritzigkeit und Pointen oft gesetzt, wo sie fehl am Platz sind.


    Wie seht ihr das - und welche Interpreten sollte man ihrer besonderen Qualitäten einer genaueren Betrachtung unterziehen - weil sie einst Aspekte von Werken belauchtet haben, die heute ein wenig unterbelichtet erscheinen...


    mfg
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ein gutes Thema!


    In der Tat ist Karl Böhm gerade bei Mozart sozusagen das Paradebeispiel derjenigen, die einem etwas "Behäbiges", "Langweiliges" präsentieren wollen. Mir gefällt sein melodischer, harmonischer, zuweilen durchaus auch spritziger Ansatz, der hier mehrfach schon treffend als "apollinisch" beschrieben wurde, sehr gut. Ein getragener, feierlicher Mozart, der schön klingt.


    Ein anderes Beispiel wäre Hans Knappertsbusch. Dessen Konzept beim "Parsifal" ging trotz vermeintlicher "Behäbigkeit" und "Verschlepptheit" grandios auf. Die Spannungsbögen hält er bis zum Schluß. Dieser alte Wagner-Stil fand durchaus noch einige Nachahmer (Goodall, Levine, m. E. z. T. auch Solti und Karajan), doch erreichte keiner der Genannten die Perfektion eines Knappertsbusch, der nicht umsonst als der "Parsifal-Papst" gilt. Knappertsbuschs Wagner ist in der Tat erhaben, prächtig, festlich. Und dies trifft nicht nur auf den "Parsifal" zu.


    Ein drittes Beispiel soll Karl Richter sein. Heute viel geschmäht und als romantische Bach-Vergewaltigung abgetan, hat seine Interpretation etwas, was ich bisher nie wieder in dem Maße empfand bei dieser Musik: Feierlichkeit, Größe, Schönheit, Monumentalität. Seine h-Moll-Messe etwa finde ich bis heute unerreicht. Daß es Bombast alleine nicht ist, zeigt mir die Klemperer-Aufnahme von 1967, die zwar ebenfalls darin schwelgt, der aber irgendwie das gewisse Etwas fehlt, das ich bei Richter so liebe. Man merkt sozusagen: Der Mann dirigierte Bach nicht nur, er lebte Bach, es war sozusagen seine Bestimmung.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die Interpreten werden ja nur so bezeichnet, weil sie entsprechende Interpretationen abliefern. Wenn man mal von Vorurteilen absieht. Wenn ich mal ein Foto von Schneiderhan mit seiner Hornbrille gesehen habe, mag es schwer fallen, nicht an einen "trockenen Musikbeamten" oder so etwas zu denken. Aber es wäre natürlich ein Vorurteil, ohne die tatsächlichen Interpretationen zu berücksichtigen.
    Und da hat man dieselben Schwierigkeiten wie immer, wenn man (inbesondere nichttechnisch) über Musik redet. Diese Ausdrücke haben den Nachteil, vage Negatives zu meinen, ohne daß so richtig klar ist, welche tatsächlichen Eigenschaften der Interpretation damit gemeint sind. Erhaben und prächtig ist m.E. etwas ganz anderes als bieder oder behäbig. Was wären Eigenschaften solcher Interpretationen?


    - schmales Spektrum im emotionalen Ausdruck
    - schmales Spektrum in Klangfarben (im Orchester, aber auch bei Pianisten)
    - Vermeiden von Extremen (bzw. wieder schmales Spektrum) in Dynamik, Tempo usw.; keine starken Akzente, keine deutlichen Unterschiede in der Artikulation, einheitliche 08/15 Artikulation.
    -Vermeiden von starken Kontrasten
    - unauffällige Phrasierung
    - "quadratische" Phrasierung
    - homogenisierter Klang
    - unpräziser, "verwaschener" Rhythmus
    - wenig brillanter, sonder eher "dicker", untransparenter Klang
    - oder dünner, farbarmer Klang
    - wenig Individualität, "das Übliche"
    - eingeschränkte technische Möglichkeiten, daher instrumentale Brillanz entsprechend
    - nicht mitreißend, man hat nicht den Eindruck, daß der Interpret auf der Stuhlkante sitzt, "um sein Leben spielt", sondern eben ein übliches Programm abspult.


    wären einige Vorschläge. Ich wage jetzt nicht zu beurteilen, welche davon auf einge der genannten Interpreten zutreffen. M.E. trifft z.B. "homogenisierter und untransparenter" Klang oft auf Karajans Aufnahmen zu, aber bieder würde die wohl kaum jemand nennen.
    Um fair zu sein müßte man hier tatsächlich Stücke durchgehen und auf Details hinweisen, wie etwa überspielte Akzente, Tempo, Dynamik usw. im Vergleich mit anderen Interpretationen. Und was dem einen gerade richtig, scheint dem anderen übertrieben; was dem einen feinsinnige Nuancen, dem anderen ein zu wenig differenzierter, schmalspuriger Einheitsbrei. Andererseits merkt man ja auch ohne Analyse, ob man sich langweilt oder nicht :D


    Aus der Erinnerung, ohne nochmal hineingehört zu haben: Mit Backhaus habe ich mir eine Doppel-CD mit Beethovensonaten gekauft. Direkt schlecht fand ich das gar nicht, aber eben sehr nüchtern, kontrastarm insofern, als daß langsame Sätze relativ zügig, schnelle Sätze eher durchschnittlich genommen wurden, eben sehr unspektakulär, so daß ich den Ruf dieses Pianisten von daher nicht nachvollziehen kann. Gulda ist z.B. ebenfalls sehr nüchtern mit Tendenz zur Trockenheit und sehr zügig in langsamen Sätzen. Aber durch energisches Spiel, rhythmische Genauigkeit und oft schieres Tempo erzeugt er eben dennoch den Eindruck des "Ritts am Abgrund" oder auch des widerborstigen Humors, der Beethoven ausmacht.
    Gilels' DG-Beethovensonaten fand ich anfangs oft langweilig (und ich finde noch heute viele der Tempi viel zu langsam), aber sie haben größtenteils (und das hörte ich schon damals, auch wenn mir viele Nuancen erst später auffielen) eine Wucht, eine Strenge, starke dynamische u.a Kontraste, die sie auf ihre Art überzeugen lassen (auch wenn mir der Ansatz für viele der frühen Werke zu "monumental" ist).


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    - nicht mitreißend, man hat nicht den Eindruck, daß der Interpret auf der Stuhlkante sitzt, "um sein Leben spielt", sondern eben ein übliches Programm abspult.


    Wie dankbar bin ich für diese Beschreibung !!
    Denn sie bringt diesen Tread (vielleicht ?) weiter.


    Hier wird eine Erwartungshaltung beschrieben, die uns allen als anstrebenswert dargestellt wird und die ich aus ganzem Herzen verabscheue.


    Als Beispiel aus der heutigen Briefwelt:


    "Herzlichen Dank für ihre spannende Bewerbung" bla blah


    Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was an einer Bewerbung "spannend" sein sollte, ebensowenig wie ich voraussetze, daß der Interpret eines klassischen Programms "um sein Leben spielt"


    Dieses Extremdenken kommt aus den USA und ist mir in tiefster Seele zuwider.
    Klassiische Musik kann und soll nämlich auch Gelassenheit vermitteln, innere Ruhe, Freude, Triumph, strahlendes Siegesbewusstsein, Harmonie, Schönklang, Klangfülle, sakrale Würde, Übermut und lasb but not least Eleganz.
    Die meisten "Farben dieser Palette" sind inzwischen einer hektischen Dauerspannung gewichen, von der man uns einreden will, sie wäre die Triebfeder aller klassischen Musik.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Nein. Das kommt aus der (deutschen) Romantik. Schlag mal irgendwo eine zeitgenössische Beschreibung des Spiels von Beethoven, Paganini oder Liszt und der (teils hysterischen) Reaktionen ihrer Zuhörer nach.


    Selbstverständlich ist "ums Leben" übertriebene Rhetorik und natürlich paßt es nicht für alle Komponisten und Werke gleichermaßen. Man könnte auch sagen, "von ganzem Herzen dabei" (bei CPE Bach heißt das in etwa, "daß der Musiker nicht anrühren könne, wenn er selbst nicht gerührt sei", "mit vollem Engagement", "ohne Rücksicht auf Verluste" (im Englischen dann noch martialischer "take-no- prisoners-approach" ;)
    Aber auf die Ecksätze der Kreutzersonate oder der Appassionata paßt kaum etwas besser, gerne auch martialisch formuliert. Es ist ja zweitrangig, ob der Interpret auf der Stuhlkante sitzt, wenn bei diesen Stücken der Zuhörer nicht auf der Kante sitzt, macht der Interpret etwas falsch!


    Das ist auch nicht unbedingt ein Widerspruch zu "elegant"; vielleicht nicht unbedingt diese Beethovensätze, aber sagen wir mal die Chopinschen Scherzi oder Polonaisen sollten diese Intensität durchaus mit Eleganz verbinden. Halt nicht die Eleganz eines Tänzers, sondern vielleicht die eines akrobatischen Turners oder eines Hürdenläufers.


    Zugegeben, das paßt nicht zum Andante mit dem Paukenschlag. Hier würde ich es z.B. als "behäbig" ansehen, wenn die Kontraste der Variationen nicht deutlich herausgearbeitet werden, wenn Details und Feinheit "überspielt" werden usw. (Die Haydn-Interpretationen Jochums, die ich kenne, halte ich NICHT für behäbig)


    :hello:


    JR

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  • Ich finde, dass negative Adjektive nicht adäquat eingesetzt werden.
    Man vergisst häufig die Entstehungszeit der Aufnahmen, als man vieles eben noch anders hörte. Und dann muss man sich eben auch unvoreingenommen einem Werk stellen. Sicher, wenn man Böhm beim Dirigieren zusieht, denkt man schnell an den alten Lateinlehrer, aber sein Mozart ist doch zum Zerschmelzen.
    Wir sind nicht weit weg vom Mode-Thema. Aus unserer Zeit bestrachtet, mag manches altmodisch klingen, aber ich würde nie die im Titel aufgeführten Adjektive verwenden. Interpretationen können einem nicht zusagen, aber deshalb sind sie nicht gleich langweilig. Das ist auch deshalb ungerecht, weil die älteren Aufnahmen den nachfolgenden Interpreten ja als Vergleich oder Referenz dienen und sie so überhaupt erst feststellen können, was man besser machen kann.
    Ein Begriff wie behäbig unterstellt ja schon fast, dass einer es nicht besser will. Das ist doch aber ausgesprochen selten der Fall.

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Ich finde, dass negative Adjektive nicht adäquat eingesetzt werden.
    Man vergisst häufig die Entstehungszeit der Aufnahmen, als man vieles eben noch anders hörte. Und dann muss man sich eben auch unvoreingenommen einem Werk stellen.


    Die Zeit vergesse ich nicht. Aber ich stelle dann eben eine Mozart-Sinfonie unter Böhm einer Interpretation von Markevitch, Fricsay, Reiner oder Klemperer gegenüber und dann wird klar, was mir besser gefällt.
    (ich habe allerdings ein gewisses Faible für die beiden Mozart-Konzerte mit Pollini...)
    Zur Unvoreingenommenheit s.u.


    Zitat


    Wir sind nicht weit weg vom Mode-Thema. Aus unserer Zeit bestrachtet, mag manches altmodisch klingen, aber ich würde nie die im Titel aufgeführten Adjektive verwenden. Interpretationen können einem nicht zusagen, aber deshalb sind sie nicht gleich langweilig. Das ist auch deshalb ungerecht, weil die älteren Aufnahmen den nachfolgenden Interpreten ja als Vergleich oder Referenz dienen und sie so überhaupt erst feststellen können, was man besser machen kann.
    Ein Begriff wie behäbig unterstellt ja schon fast, dass einer es nicht besser will. Das ist doch aber ausgesprochen selten der Fall.


    Nicht besser kann oder nicht besser will?
    Natürlich gibt es schludrige Interpretationen und Interpreten, die zwar ordentliche Handwerker sind, aber eben keine "Vision" haben, oder eine haben, sie aber nicht umsetzen können. Nur weil alle Profis sind, sind sie nicht alle gleichermaßen überzeugend.
    Um Fairness geht es mir hier weniger (Alfred ja ebensowenig, wenn er viele Interpretationen, die ihm nicht zusagen, als "kratzig" verurteilt oder einen ominösen Einfluß von Popmusik mutmaßt ;)).


    Ein großer Teil der Eigenschaften, die ich oben aufgezählt habe, ist objektiv feststellbar, bevor man überhaupt eine Bewertung vornimmt.
    Viele dieser Bewertungen sind dann natürlich subjektiv, "langweilig" sowieso, das ist ja klar. Aber sie haben eine Basis in den Eigenschaften der Interpretation, die weitgehend unstrittig festgestellt werden können.


    Alfred und ich sind uns eben darin uneinig, wie diese Eigenschaften zu bewerten sind. Ich möchte das Extreme der Musik (z.B. Beethovens) auch in der Interpretation hören (und wie anderswo gesagt, halte ich sogar gewisse Übertreibungen für zulässig, aber das kann man nicht pauschal sagen, es kann natürlich auch kippen), er hält das für eine Verzerrung. Es gibt keine einfache Antwort in dieser Auseinandersetzung, da beide letztlich nicht nur bezüglich der Interpretationen, sondern der Musik selbst unterschiedliche Ansichten haben.


    Wenn Karajan aufgrund eines legatissimo-Ideals mit möglichst bruchlosen Übergängen Vorschriften der Partitur ignoriert (wie bei den Brahms- und Beethoven-Beispielen im Parallelthread), wird doch hoffentlich noch erlaubt sein, das, was da schwarz auf weiß steht, "unvoreingenommen" als Maßstab zu nehmen und nicht den Ruhm eines Medienstars, der nichts falsch machen kann, denn sonst wäre er ja nicht so berühmt...


    Das Problem bei diesen Diskussionen ist, daß man sie eigentlich nur anhand von konkreten Details führen kann, auch nicht anhand von vagen Eindrücken, die im Rezensentenjargon ("blühend", "tiefgründig" usw.) geschildert werden. Daher nannte ich anderswo die Brahms-Stelle. Das ist aber mühsam, zumal im Internet. Die Haydn-Konzerte von Alpenheims kenne ich nicht, ich weiß nicht, ob sie mir gefallen würden.


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Wenn Karajan aufgrund eines legatissimo-Ideals mit möglichst bruchlosen Übergängen Vorschriften der Partitur ignoriert (wie bei den Brahms- und Beethoven-Beispielen im Parallelthread), wird doch hoffentlich noch erlaubt sein, das, was da schwarz auf weiß steht, "unvoreingenommen" als Maßstab zu nehmen und nicht den Ruhm eines Medienstars, der nichts falsch machen kann, denn sonst wäre er ja nicht so berühmt...


    Hihi, ich habe doch mal bei einem taminösen Vergleichshören der Eroica mitgelesen, dabei sind alle berühmten Dirigentennamen glorreich an der Partitur vorbeigeritten und nur Gardiner und Dausgaard befolgten alle Zeichen, die mir da aus dem Schriftbild entgegenblickten.

  • @KSM :D


    @JR:
    Ich wollte ja mal wieder alles weichspülen und gleich einen Kompromiss finden.
    Ich bin eben der Meinung, dass ja kaum einer der großen Dirigenten mit Absicht schlecht dirigiert. In diesem Zusammenhang auch der Hinweis mit behäbig = will nicht besser. Die meisten könnten sicher, wenn sie wollten.


    Ansonsten ist das auch wieder eine Diskussion der individuellen Herangehensweise an Musik. Ich verstehe, wenn du nach den Ecken und Kanten in der Musik suchst, verstehe aber auch, wenn andere den Gesamteindruck mehr schätzen. Ich finde das auch von Stück zu Stück unterschiedlich. Bei manchen Werken ist doch schon genug "Hin und Her" drin, ohne dass man noch alles aus der Partitur herauskratzen und auf CD bannen muss. Ich weise da mal wieder darauf hin, dass die Musik ja nicht für die Konserve, sondern den unmittelbaren Live-Eindruck geschrieben wurde und live Effekte ganz anders wirken als im häuslichen Wohnzimmer nahc einem langen Arbeitstag.


    Das Problem, dass man Musik ohne Hörbeispiele bzw ohne Partiturlektüre nur begrenzt diskutieren kann, ist mir schon öfter aufgefallen. Da wird manches einfach zu komplex.


    Zu Karajan nur soviel: Es ist die Frage, ob der Gesamteindruck stimmt. Das ist wie bei einem Koch. Der kann sich genau an das Rezept halten und es schmeckt nachher vielen nicht oder er ist bei den Zutatenmengen ein bisschen kreativ und es schmeckt nachher vielen trotzdem. Sonst dürfte man ja außer in Wien nirgendwo eine halbwegs vernünftige Sachertorte essen können. Da sagt Alfred vielleicht, das sei auch so (und der KSM sekundiert), aber wir lassen uns unseren Kuchen trotzdem nicht verderben.


    Und eines sollte man nicht vergessen: Die Komponisten haben sehr oft ihre Werke nochmal geändert (s. zB Bruckner), so dass man immer auch ein bisschen spekulieren muss, ob die Noten der letzte Wille des Komponisten sind.

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  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister


    Hihi, ich habe doch mal bei einem taminösen Vergleichshören der Eroica mitgelesen, dabei sind alle berühmten Dirigentennamen glorreich an der Partitur vorbeigeritten und nur Gardiner und Dausgaard befolgten alle Zeichen, die mir da aus dem Schriftbild entgegenblickten.


    Ich gebe ja zu, daß das etwas beckmesserisch war. Es ging mir auch gar nicht um Partiturtreue an sich und natürlich bieten fast alle gedruckten Zeichen ein Interpretationsspektrum und eine einzelne Verfehlung ist noch kein Grund für ein vernichtendes Gesamturteil. Es war mir halt nur neulich gerade aufgefallen (bzw. fällt mir dieser Takt fast immer auf, Edwin würde vermutlich sagen, daß Brahms mal wieder mies instrumentiert hat ;), aber ich habe ja andeutet, warum ich glaube, daß der Akzent und das entsprechende Aufhorchen Sinn ergeben) und erschien mir extrem typisch für die Weichspülertendenz. Die sich freilich lange nicht überall findet. Auf Beethovens 5. trifft es kaum in dieser Weise zu und die berüchtigte Schubert 9 ist grell und gleißend. Und selbst wenn HvK manchmal langweilig sein sollte, "hausbacken" würde ich seine Lesarten kaum nennen, auch wenn sie mir nicht gefallen.


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    ...
    Alfred und ich sind uns eben darin uneinig, wie diese Eigenschaften zu bewerten sind. Ich möchte das Extreme der Musik (z.B. Beethovens) auch in der Interpretation hören (und wie anderswo gesagt, halte ich sogar gewisse Übertreibungen für zulässig, aber das kann man nicht pauschal sagen, es kann natürlich auch kippen), er hält das für eine Verzerrung. Es gibt keine einfache Antwort in dieser Auseinandersetzung, da beide letztlich nicht nur bezüglich der Interpretationen, sondern der Musik selbst unterschiedliche Ansichten haben.
    ...


    Das ist aber eine rein persönliche Geschmacksfrage, mit dieser Ansicht sollte man keine Interpretationen bezüglich der Qualität beurteilen. In diesem Punkt halte ich es eher mit Alfred, denn historisch liegst du damit sicher falsch. Die Musiker zur Zeit Beethovens haben überwiegend neue oder noch relativ neue Musik gespielt. Die hatten keinen Grund Beethoven anders zu spielen als andere zeitgenössische Symphonien, denn sie hatten keinen historischen Bezug auf die "Sonderstellung" Beethovens. Das außergewöhnliche Beethovens hörte und erkannte jeder aus dem musikalischen Material heraus, da brauchte es keinerlei Übertreibungen beim Spiel. Das ist eine Besonderheit unserer Zeit, wo man fast gezwungen ist aufzufallen, um eine neue Einspielung irgendwie zu rechtfertigen. Bei der Fülle an Aufnahmen des Standardrepertoires reicht es fast nicht, einfach nur gut auf hohem Niveau zu musizieren (hatten wir das nicht gerade bei Riccardo Muti?).


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Die Musiker zur Zeit Beethovens haben überwiegend neue oder noch relativ neue Musik gespielt. Die hatten keinen Grund Beethoven anders zu spielen als andere zeitgenössische Symphonien, denn sie hatten keinen historischen Bezug auf die "Sonderstellung" Beethovens. Das außergewöhnliche Beethovens hörte und erkannte jeder aus dem musikalischen Material heraus, da brauchte es keinerlei Übertreibungen beim Spiel. Das ist eine Besonderheit unserer Zeit, wo man fast gezwungen ist aufzufallen, um eine neue Einspielung irgendwie zu rechtfertigen.


    Sorry, aber das ist musikhistorisch gesehen Unsinn, was du da formulierst.


    Beethovens Sonderstellung wurde sehr wohl erkannt und gerade deswegen auch von konservativer Seite verdammt - und dies gerade aus den Gründen musikalischer Extreme, etwa dessen spezifische Modulationstechnik - Beethoven galt vielen als zu 'scharf gewürzt'. So weit gehen wir noch d'accord. Aber: Ähnlich wie bei Goethe folgte sehr bald eine ästhetische Vereinnahmung aus dem Geiste des 19. Jahrhunderts heraus - was eine Glättung der Beethovenschen Extreme hin zur einer simplen Erhabenheit hatte, man beachte mal Alfreds Vokabeln seines - historisch falschen - Klassikverständnisses. Was also Norrington et. al bieten sind gerade keine Übertreibungen, vielmehr sind die Glättungsprozesse, die langsamen Tempi und der leere Erhabenheitskult von Furtwängler bis HvK Übertreibungen.

  • Die Begründung für die "Übertreibung" ist natürlich nicht die, heute auf Teufel komm raus aufzufallen. Oft muß man gar nicht übertreiben, es würde reichen, die geforderten Tempi, Sforzati, Dynamik, Balance ernst zu nehmen und nicht weichzuspülen. Daher wirkten die ersten HIPisten, die mitunter nicht viel mehr getan haben als das, "extrem", nicht nur aufgrund des Instrumentenklangs. Darum wirken Scherchen und stellenweise Toscanini noch heute "extrem".


    Eines meiner Lieblingsbeispiele für eine Stelle, bei der ich ein gewisses Übertreiben für notwendig halte, ist der Beginn der 1. Sinfonie, der heute kaum mehr jemandem als ungewöhnlich auffällt, die Zeitgenossen aber sowohl harmonisch (nicht C-Dur-Grundakkord, sondern als D7 von F-Dur mit b) als auch klanglich, Bläser dominieren und Streicher pizzicato und ein fp-Akzent irritiert hat.


    Ich bin kein Musiker und kann nicht genau sagen, was man machen kann, um den Zuhörer auch heute noch "aufhorchen" zu lassen bei diesem Akkord und der gesamten Einleitung. Eine Möglichkeit wäre aber sicher, die fp-Akzente wirklich deutlich zu machen (ggf. zu "übertreiben"), ebenso die f p Gegensätze. Wenn man Akzente nur als leichte "Schweller" spielt, durch zu große Besetzung und legato-Artikulation alle Kontraste einebnet, klingt es halt nicht wie das zwar humorvolle, aber eigensinnige und leicht widerborstige Werk eines jungen Komponisten, sondern wie ein "Noch-nicht-Beethoven, der noch übt. Völlig unabhängig davon, wie "extrem" jetzt Beethovens Musik insgesamt oder die 1. Sinfonie (sicher nicht sehr) ist.


    Die Beispiele mit der Hornstelle bei Brahms (die auch ohne Noten zu finden ist, unmittelbar am Ende des Seitenthemas, bevor die Bratschen mit "tatatam" einsetzen und die rhythmisch wuchtige Schlußgruppe folgt) oder der Artikulation im allegretto der 7. fallen übrigens sofort auch im Vergleich zu Wand oder Kleiber usw. auf. Hier geht es gar nicht um Übertreibung, sondern um eine Eigenheit Karajans.
    Und klar, man kann bei allen Details trefflich streiten, was noch unter künstlerische Freiheit fällt und was unter Willkür.


    Wenn Alfred in einem anderen Thread schreibt, Interpreten hätten "schroffe Stellen" als "handwerkliche Schnitzer" der Komponisten gesehen und daher versucht, sie entsprechend zu "korrigieren" (nicht unbedingt durch Ändern der Noten, aber eben durch Verkleisterung in Klangnebel) finde ich das ziemlich ungeheuerlich, um ehrlich zu sein. :no: (Ich glaube allerdings nicht, daß das das Anliegen selbst von Klangmatsch-Interpreten gewesen ist...)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Wenn Alfred in einem anderen Thread schreibt, Interpreten hätten "schroffe Stellen" als "handwerkliche Schnitzer" der Komponisten gesehen und daher versucht, sie entsprechend zu "korrigieren" (nicht unbedingt durch Ändern der Noten, aber eben durch Verkleisterung in Klangnebel) finde ich das ziemlich ungeheuerlich, um ehrlich zu sein.


    Nur um nicht in den Verdacht zu kommen derlei erfunden zu haben:



    KAGEL: Alle Retuschen, auch die berühmtesten vom Dirigenten Weingartner und Nachfolgern, sind zu entfernen. Es ist ein Segen, daß Beethoven unvollkommene Instrumente hatte, denn diese Unvollkommenheit tritt häufig da auf, wo Klangklischees jener Zeit decouvrierend wirken. Den rauhen Ton zu "erweichen", ist schändlich. Auch wenn dies nicht durch Retuschen, sondern durch Hyperbesetzung des Orchesters oder besondere Mikrophonaufstellungen geschieht.


    SPIEGEL: Sie würden also den schönen runden Klang, der von vielen Dirigenten angestrebt wird, nicht gelten lassen.


    KAGEL: Na. Der Idealfall wäre, Beethoven so aufzuführen, wie er hörte. Also: "schlecht



    Anderer Dirigent.


    Zitat

    Welche Details sind für Sie besonders wichtig bei der Umsetzung von Bruckners Partituren?
    Ich mache kleine Retuschen, zum Beispiel in der Bogenführung der Streicher. Bruckners Striche behalte ich bei, wo ich kann, aber ein guter Strich muß die Musik erklären.


    ___________________


    Nächster


    Zitat

    Obwohl sich Mahler als Dirigent einer werkgetreuen Interpretation verpflichtet fühlte, machte er vor Retuschen insbesondere an Werken Ludwig van Beethovens nicht halt und erhielt dafür zahlreiche Kritik.


    Thielemann Über Mahler und Weingartner


    Zitat

    und ich nehme mir auch das Recht heraus, ritardandi zu machen, wo keine vorgeschrieben sind. Ich würde aber niemals Retuschen machen wie Mahler oder Weingartner und setze mich auch immer dafür ein, strichlose Fassungen zu spielen


    Celi:


    Zitat

    Jedes korrigieren der oft harten Anweisungen im Interesse vermeintlichen Schönklangs führt unweigerlich zurück zur Ideologie der Retuschen, die einst Schalk vertrat.


    Nur einige unter vielen.....



    mfg aus Wien


    Alfred

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  • Der Vorwurf der freien Erfindung würde hier gewiss nicht gemacht werden, denn der Umstand ist ja nachhörbar. Seine Gegenposition indes auch. Ob die Retuschen und Eingriffe gut und richtig sind, steht auf einem anderen Blatte. Stokowski z. B. hat eigener Aussage zufolge in Orchestrierungen eingegriffen, mit der Begründung, dass die Komponisten wohl viel von Musik aber nicht immer etwas vom Klang verstünden.


    Ich bin damit nicht einverstanden!!!


    Denn das bedeutet, dass ich heute behaupte, was der Komponist sich zuvor gedacht habe und dessen Werk nach Massgabe dieser Unterstellung korrigiere.


    Mit einiger Bosheit könnte ich behaupten, dass Böhm mit seinem Mozart ein Adaptionsprodukt abgeliefert hätte: Mozart umgeschrieben für das Selbstverständnis einer bestimmten Gesellschaftsschicht.


    Aber das ist ein weites Feld: Strauss-Walzer in der Darbietung von Robert Stolz sind auch eine Vergewaltigung.


    Dass nachgeborene Künstler in das Werk der Vorfahren eingegriffen haben ist ja gar nicht so ungewöhnlich. Mahler - Bach, Mahler - Schumann, Schönberg - Strauss, Ries - Beethoven, da gibt's 'ne lange Liste. Die haben ihre Eingriffe aber auch stets als solche kenntlich gemacht.


    Dass das gewisse Dirigenten und sonstige Nachschaffende nicht tun oder getan haben, ist ziemlich dreist. Es geht nicht um das Publikum; es geht um das Werk, es geht um die Schöpfung.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Mit einiger Bosheit könnte ich behaupten, dass Böhm mit seinem Mozart ein Adaptionsprodukt abgeliefert hätte: Mozart umgeschrieben für das Selbstverständnis einer bestimmten Gesellschaftsschicht.


    Du könntest das natürlich mit einiger Bosheit behaupten :baeh01:
    aber es wäre falsch. Böhm hielt sich stets genau ans Notenbild - mit ausnahme der Widerholungen, die üblicherweise (nicht nur bei Böhm) Weggelassen wurden.


    Böhm Mozart wird zum "sachlichen" Stil gerechnet, er bringt keinen "verzuckerten" aber auch keinen aggressiven Mozart.
    Eine getreue Wiedergabe der Noten war Böhm stets ein Anliegen.


    Der Unterschied von "HIP" und nicht "HIP" steht ja letztlich nicht in den Noten ....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    [ Böhm hielt sich stets genau ans Notenbild - mit ausnahme der Widerholungen, die üblicherweise (nicht nur bei Böhm) Weggelassen wurden.


    Völlig d'accord, ich dachte auch eher an den Klang der Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern. Ich gebe allerdings gerne zu, dass ich mich trotz aller Begeisterung für Karl Böhm für seine Einspielung von Mozart-Sinfonien nie sonderlich erwärmen konnte. Da stehen mir - bei den Alten - Klemperer und Dorati näher.


    Aber es geht ja um hausbacken und langweilig. Weder das Eine noch das Andere trifft auf Karl Böhm zu.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    aber es wäre falsch. Böhm hielt sich stets genau ans Notenbild -


    Das ist relativ - man kann auch das Notenbild falsch interpretieren... z.B. Vorschläge, die regelmäßig angebunden werden, was sowas von falsch klingt... dabei könnte ein Bügeleisen rein theoretisch auch Falten bügeln...


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von wiesengrund


    Sorry, aber das ist musikhistorisch gesehen Unsinn, was du da formulierst.


    Beethovens Sonderstellung wurde sehr wohl erkannt und gerade deswegen auch von konservativer Seite verdammt - und dies gerade aus den Gründen musikalischer Extreme, etwa dessen spezifische Modulationstechnik - Beethoven galt vielen als zu 'scharf gewürzt'. So weit gehen wir noch d'accord. Aber: Ähnlich wie bei Goethe folgte sehr bald eine ästhetische Vereinnahmung aus dem Geiste des 19. Jahrhunderts heraus - was eine Glättung der Beethovenschen Extreme hin zur einer simplen Erhabenheit hatte, man beachte mal Alfreds Vokabeln seines - historisch falschen - Klassikverständnisses. Was also Norrington et. al bieten sind gerade keine Übertreibungen, vielmehr sind die Glättungsprozesse, die langsamen Tempi und der leere Erhabenheitskult von Furtwängler bis HvK Übertreibungen.


    Wie wäre es eigentlich, wenn du Postings etwas genauer lesest, bevor zu bei Antworten darauf derart weit daneben haust?


    Was im Laufe des 19. Jahrhunderts mit Rezeption und Wiedergabe von Beethoven passierte, hat nichts mit meinem Posting zu tun. Ich schrieb vom Musiker zur Zeit Beethovens, der gerade Mozart und Haydn und ähnliches unter den Fingern hatte. Der spielte Beethoven nicht anders als jene anderen vor kurzem noch neuen Stücke. Und natürlich erkannten er und jeder Zuhörer das Neue an Beethovens Klängen, viel mehr noch als wir heutzutage, und daher hatte er überhaupt keinen Grund, das auch noch explizit herauszumeißeln. Im Gegenteil, er wird versucht haben, Beethovens Neuerungen eher noch abzumildern, da sie ja als "zu scharf gewürzt" erschienen. Heute haben wir aus historischer Erkenntnis heraus Schubladen entwickelt. Ein Mozart klingt anders als Haydn und Beethoven wieder anders als die beiden erstgenannten. Man versucht eher, die Unterschiede noch überproportional zu verdeutlichen, was meines Erachtens nicht unbedingt historisch richtig ist, sondern mehr Zeitgeist darstellt. Oder sollten wir sagen, es ist eine Mode... ;)


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Guten Morgen,


    freut mich, dass sich die Diskussion so belebt hat.


    Zitat

    soll ich dir jetzt in wien ein weißwurst-restaurant suchen gehen?


    Lieber KSM, gern. :yes: Freue mich aber auch über gute österreichische Küche. Oder wir machen ein bayer. Restaurant auf und spielen da unsere Lieblings-CDs. :hello:


    Zitat

    Wenn Alfred in einem anderen Thread schreibt, Interpreten hätten "schroffe Stellen" als "handwerkliche Schnitzer" der Komponisten gesehen und daher versucht, sie entsprechend zu "korrigieren" (nicht unbedingt durch Ändern der Noten, aber eben durch Verkleisterung in Klangnebel) finde ich das ziemlich ungeheuerlich, um ehrlich zu sein. kopfschüttel (Ich glaube allerdings nicht, daß das das Anliegen selbst von Klangmatsch-Interpreten gewesen ist...)


    Da muss ich jetzt aber widersprechen. Schostakowitsch beschreibt in seiner herrlich zu lesenden Biografie, dass er sehr häufig handwerkliche Fehler in den Partituren von Kollegen feststellen musste und sich auch oft bei Studenten darüber geärgert hat. Insbeondere dann, wenn die auch noch Erfolg hatten. Es ist faszinierend, wie er als Genie das beschreibt, als sei Musik so etwas wie Fliesenlegen und die Gründe für die schlecht verlegten Fliesen erkennt er schon beim Drübergehen.
    Auch wenn Beethoven ein Genie war, frei von Fehlern war auch er nicht. Und deshalb ist es durchaus denkbar, dass vom handwerklichen Aufbau des Stückes her Fehler dabei sind (zB im Kontrapunkt). Wenn man diese Fehler korrigiert, ist das eigentlich in Ordnung, weil man damit den Werkcharakter nicht zerstört, sondern nur "richtig" macht. Eine vorstehende Schraube würde man auch eindrehen und nicht raus stehen lassen, nur weil das die Schreiner so abgeliefert haben.


    Zitat

    Obwohl sich Mahler als Dirigent einer werkgetreuen Interpretation verpflichtet fühlte, machte er vor Retuschen insbesondere an Werken Ludwig van Beethovens nicht halt und erhielt dafür zahlreiche Kritik.


    Da muss man erwidern: Immerhin war es Mahler und nicht der Leiter des Grundschulchors.
    Natürlich ist es immer gewagt, VEränderungen an Stücken vorzunehmen. Wenn man ins Konzert geht und Beethoven steht auf dem Programm, will man keinen Mahler hören. Andererseits will man ein möglichst gut hörbares Stück genießen (da wird mir sicher widersprochen; ich meine es so, dass man das fürs Geld bekommt, was drauf steht. Es geht nicht um irgendeinen Schönklang, sondern schlicht darum, dass eine Sinfonie in ihrem besonderen Charakter zur Geltung kommt). Dazu wird jeder Dirigent auch die Klangvorstellungen und Moden seiner Zeit in die Interpretation einfließen lassen. Und wenn man nun bei Böhm von einem wie auch immer gearteten Publikum ausgeht, mag das sein, obwohl ich es nur zT glaube. Man kann sich schlußendlich nicht völlig seiner Zeit entziehen. Wenn heute die im Threadtitel genannten Begriffe fallen, hat das meiner Meinung nach viel mit der heutigen Wahrnehmung jener Aufnehmejahre und weniger mit der tatsächlichen musikalischen Leistung zu tun. Ich verweise da gern nochmal auf Böhms Hornbrille...

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Ich verweise da gern nochmal auf Böhms Hornbrille...


    Bitte nichts gegen Böhms Hornbrille, ja? Die werden wieder modern ;) (hüstel, hüstel)


    Ansonsten, Mahler: ich weiß nicht, wie er das bei Beethoven gehandhabt hat. Bach gab's bei ihm als Arrangement (aus den vier Suiten hat er eine gemacht). Das wurde dann aber auch als Co-Produktion Bach / Mahler angegeben. Zugegeben, der Eingriff war für heutige Ohren heftig, aber nicht ganz so heftig, wenn man sich Bach-Interpretetationen aus den 1920er und 1930er Jahren anhört.


    Über der Neu-Orchestrierung der Schumann-Sinfonien steht auch Mahler-Schumann, man mag davon halten, was man will.


    Günter Wand - man sehe mir diesen wiederholten Hinweis nach - hat bei der Aufführung der Beethoven-Sinfonien in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Gürzenich-Orchester die alten Vorkriegs-Partituren um alle "romantischen" Retuschen bereinigt und diese restaurierte Fassung zur Aufführung gebracht.


    Die entdeckten Fehler sollten indes kein Freibrief für Eingriffe sein. Wire hatten darüber an anderer Stelle diskutiert (es ging um Debussy's Cathédrale Engloutie, eine Diskussion, die ab hier richtig interessant wurde).


    Fehlerhafte oder sagen wir schlampige Notate gibt es auch bei Janaceck (bei dem zitierten Schostakowitsch ist übrigens eine ganze Partitur verschwunden. Erst Jahrzehnte später ist der Kalvierauszug wieder aufgetaucht, der dann von Schostakowitsch - der Name Mrawinsky ist in diesem Zusammenhang auch schon mal gefallen, das überlasse ich aber den Schosta-Fachleuten. gemeint ist die 4. Sinfonie).


    Und wie Ulli schon angemerkt hat: Selbst die korrekte Beachtung der Notenschrift lässt noch einen Menge Deutungsspielraum.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • @Alfred: ich wollte Dir nicht vorwerfen, daß Deine Behauptung aus der Luft gegriffen sei. Ungeheuerlich finde ich, daß Du das besagte Vorgehen gut heißt!


    Wir haben die Retuschen ja schon an anderer Stelle diskutiert. Zwar gibt es hier problematische Eingriffe, aber die üblichen Begründungen sind keine, die ein bestimmtest Klangideal (auch wenn das mitschwingen mag, aber dann müßte man viel stärker eingreifen) anführen, sondern meinen damit gewisse Linien, die sonst "untergehen", zu verdeutlichen. Meiner Ansicht nach hat die HIP-Bewegung gezeigt, daß sehr viele dieser Probleme auf modernen Instrumenten und Besetzungsstärken beruhen. (So hätte man zu Beethovens Zeiten vermutlich, wenn man ausnahmsweise so viele Streicher wie heute üblich hatte, die Holzbläser im Tutti verdreifacht.)


    Beispiele für übliche instrumentelle Retuschen:


    Beethovens 5, 1. Satz Seitenthema in der Reprise. Die Fanfare wird hier original von Fagotten gespielt. Fast immer mit Hörnern (wie in der Exposition), angeblich weil die seinerzeitigen Naturhörner (in diesem Satz in Es) das nicht spielen (und nicht rechtzeitig in C ändern konnten). Wir haben das anderswo schonmal diskutiert. Die erste mir bekannte Aufnahme (was nichts heißen mag), die das original spielen läßt ist C. Kleibers.
    Die Stelle klingt aber nicht "schroffer" mit Fagotten, der Vorwurf war wohl eher, daß sie zu leise oder unfreiwillig komisch wegen der ff knarzenden Fagotte klänge. Beethoven hat die gesamte Stelle etwas anders instrumentiert als in der Expo, man weiß aber natürlich nicht, ob das im Hinblick auf die Fagotte geschehen ist, um die angebliche Notlösung möglichst gut zu integrieren. Da Beethoven aber bereits in der Eroica ein 3. Horn einsetzte und im vorliegenden Werk im Finale zusätzlich Posaunen, Piccolo und Kontrafagott, spricht eigentlich alles dafür, daß er, wenn er ein 3. Horn in C hätte haben wollen, das gefordert hätte.


    Toscanini verstärkte das Hauptthema in der Reprise im Kopfsatz der 8. mit Hörnern und verschenkt damit Beethovens "Gag", das man die Melodie (in den Celli) gegenüber dem dröhnenden fff des restlichen Orchesters kaum wahrnimmt.


    Es gibt sicher noch viele andere, meistens Kleinigkeiten, die einem ohne Noten oder direkten Vergleich kaum auffallen würden. Gewiß sind alle Eingriffe erstmal problematisch. Ich wage nicht zu beurteilen, welche aus praktischen Gründen sinnvoll sein könnten. Ich akzeptiere, wie schon gesagt "Übertreibungen", wenn sie helfen, Strukturen zu verdeutlichen und "musikalisch sinnvoll" sind. Ich verdamme aber die Anpassung an ein fremdes Klangideal zulasten des Originals.


    Ich würde nicht damit argumentieren, wie Beethovens Werke seinerzeit erklungen sind, von meist überforderten Musikern, ohne ausreichende Proben usw. Die klangen vermutlich oft wesentlich schroffer als geplant. ;)


    Es ist auch Unsinn, solche Fragen auf einen Gegensatz von "schroff" oder "weich" zu reduzieren. Es geht um Respekt für das Kunstwerk und eine klare Darstellung. Dennoch sollte es zu Bedenken geben, wie fremd uns viele zeitgenössische Rezensionen klingen. Und zwar nicht von op.133, sondern von der 2. Sinfonie oder den Violinsonaten op.12, die als "gelehrt, immerfort gelehrt" und "ohne Empfindung, ohne Gesang" charakterisiert wurden. Der Rezensent war ja nicht doof, er war musikalisch sicher besser gebildet als 95% der heutigen Hörer, mich eingeschlossen. Aber wie sehr hören wir an diesen Stücken vorbei, wenn wir sie als Frühwerke, in denen sich Beethovens Originalität noch nicht recht zeigt, wahrnehmen, oder gar als nette Berieselung!


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat


    Original von Johannes Roehl
    Das Problem bei diesen Diskussionen ist, daß man sie eigentlich nur anhand von konkreten Details führen kann, auch nicht anhand von vagen Eindrücken, die im Rezensentenjargon ("blühend", "tiefgründig" usw.) geschildert werden. Daher nannte ich anderswo die Brahms-Stelle. Das ist aber mühsam, zumal im Internet.


    Zitat


    Original von Luis.Keuco
    Das Problem, dass man Musik ohne Hörbeispiele bzw. ohne Partiturlektüre nur begrenzt diskutieren kann, ist mir schon öfter aufgefallen. Da wird manches einfach zu komplex.


    Ich gebe Euch beiden recht.
    Es ist eben eine Frage der Basis, der Ausgangsposition von Diskussionen.
    Wie genau oder wie oberflächlich hört der Einzelne?
    Wieso kann es sein, dass bei ein und derselben Aufnahme/Aufführung oft völlig gegensätzliche Höreindrücken beschrieben werden?


    Was will man überhaupt hören?
    Will man das Stück in seinen ganzen Ausmassen hören, oder auf einige wenige Aspekte reduziert?


    Will man durch die Einspielungen nur seinen alten Geschmack immer wieder neu bestätigt wissen, oder ist man bereit, Neues wenigstens so weit an sich heranzulassen, dass man darüber nachdenkt, ob diese Sichtweise hier bei diesem Stück und an dieser Stelle entweder nicht überzeugen kann ( warum?) oder wenigstens AUCH seine Berechtigung aus der Partitur und vom individuellen Empfinden her haben kann?
    Wie empfindsam empfindet denn der Einzelne? Was hört der eine, was einem anderen entgeht?
    Auf welcher Basis einer wodurch zustande gekommenen Geschmacksbildung wird ein Musikereignis aufgenommen, verarbeitet und anschließend bewertet?


    Und will man überhaupt anhand von konkreten Klangbeispielen und möglichst auch mit Hilfe der Partitur derart differenziert diskutieren und analysieren, dass man tatsächlich zu halbwegs konkret-verwertbaren und fassbaren Aussagen kommt, die auf einer möglichst vergleichbaren, gemeinsamen Basis beruhen?


    Oder geht es hier vielmehr darum, auf der Basis einer wohl zu 100%ig unverrückbaren (und sicher nicht ohne provokative Absichten hier immer wieder veröffentlichten… ;) ) die Vergangenheit tendenziell verherrlichenden Grundmeinung nebulös, d.h. oberflächlich-pauschal über Namen, Platten, etc. im luftleeren Internetraum relativ undifferenziert und vorurteilsbehaftet zu schwadronieren?


    Für den, der hier neu ist, mag das ggf. noch spannend sein; während die anderen sich ja schon kennen und man sich schon die Antworten der jeweils Anderen in etwa vorstellen kann.
    Ich würde mir zutrauen, ohne Weiteres aus dem Stegreif ein Geschmacks- und Meinungsprofil der hier meistens zu diesen Fragen postenden Taminos zu erstellen.


    Kommt dabei aber irgendetwas Greifbares heraus?
    Ergänzt oder ändert dabei irgendeiner seine Meinung? Wohl kaum.
    Dabei würde es gerade an diesem Punkt spannend werden.



    Die Interpretationswirklichkeit des vergangenen und aktuellen Konzertlebens und der erhältlichen Aufnahmen ist derart komplex, dass man eben nicht pauschal sagen kann, dass früher alles langweilig und altbacken war.
    Man kann und sollte aber genauso wenig Vergangenheitsverherrlichung betreiben und allgemein sagen, dass es nur früher das "Erhabene, Prächtige, Kontemplative, Melancholische, Festliche" gegeben hätte, während heute vornehmlich die "Melodie zugunsten des Rhythmus geopfert wird", und "Spritzigkeit und Pointen da gesetzt werden, wo sie fehl am Platz sind" und dies einer oft beklagten "manipulierten(?) Wende im Geschmack" zuschieben.


    So einfach und einheitlich ist diese Welt nun einmal nicht, auch nicht die Klassikwelt.
    Mit verfestigten Vorurteilen und Pauschalaussagen vereinfacht man sich die komplexe Wirklichkeit des Spektrums von Interpretationen auf CDs oder in Konzerten.
    Tatsächlich entfernt man sich aber mit hoher Geschwindigkeit von der Wirklichkeit des eigentlichen Gegenstands der Diskussion.
    Vielleicht erkennt man gerade noch leichte Tendenzen und beschreibt sie annähernd richtig...vielleicht ist man aber auch von seinen fest gefassten Meinungen derart geprägt, dass man schon beim Hören ( also bei der Informationsaufnahme) anfängt, das Gehörte im eigenen, mehr oder weniger stark vergröbernden Schema einzusortieren bzw. die Absichten des Interpreten schon deshalb misszuverstehen.


    Da die Musik von Menschen gemacht wird, kann man auch nicht seriös sagen, dass es die Interpreten x oder y es immer so oder so anders machen.
    Letztendlich kann man sich nur über ein konkretes Stück, vielleicht auch nur über deren Anfangstakte in der Form unterhalten, dass man wirklich über dieselbe Sache redet. Das hielte ich für reizvoller als das pauschale Allgemeine.


    Wenn ich den Tenor einiger Threads aus der letzten Zeit zusammenfassen soll, dann antworte ich hiermit auf die in immer wieder neuen Variationen und Ansatzpunkten gestellte Fragen:


    • ob früher ( in den goldenen DG-Zeiten und davor) nicht doch alles besser und schöner war


    • dass oder ob man die Leistungen der "verblichenen" Interpreten zu Recht oder Unrecht vergessen habe


    • diese heute schon -ungerechterweise oder gerecht- als "altbacken" diffamiert,


    • die Verwendung moderner Instrumente heute schon bald ein Tabu darstellt


    • der heutige Geschmack durch schädliche Modeströmungen verdorben sei, so wie man sich mit zu scharf gewürztem Essen den Geschmack verderbe


    • ob nicht tendenziell immer alles schlechter würde





    mit einem klaren NEIN – kann man so pauschal und plakativ nicht sagen.
    Da muss man sich fragen welcher Dirigent, welche Aufnahme, welches Stück, welcher Satz, welcher Takt….und dann kann man es dazu begründbar etwas sagen.
    Es gibt viele gute, wertvolle und wichtige Dinge, die in den letzten Jahrzehnten der Interpretationsgeschichte den damaligen Standards etc. hinzugefügt wurden und es sind nicht nur gute Aufführungstraditionen verlorengegangen, sondern es wurden auch viele schlechte und unreflektierte Gewohnheiten korrigiert.
    Das haben wir schon unzählige Male diskutiert, glaube ich...




    Wenn einer daherkommt, und behauptet,


    • dass eine neue Aufnahme mit sensationellen Neuerungen wie Hammerklavier und Streichquartett etc. die vorherigen Aufnahmen als Schrottplatzreif deklassiert

    • dass man sich von den Verkrustungen der Aufführungstraditionen des 19. Jahrhunderts radikal zu befreien habe, indem man bei Bach selbstverständlich mit einem Vokalquartett am Start aufläuft,


    • allgemein jeglichem Vibratoausdruck der Kampf anzusagen ist
    • alles andere als die Verwendung von Originalinstrumenten schon als Bearbeitung zu bezeichnen ist

    • man der Musik durch eine spröde, kurzatmige zackige und bei längeren Tönen einfallslos sägende Spielweise jeglichen Zauber und innere Ausdruckssubstanz ( ja auch Pathos, warum soll Musik nicht auch einmal pathetisch sein dürfen?) zugunsten einer einseitigen Betonung der Transparenz nehmen müsse


    • dass die alten Recken nur Altbackenes und Langweiliges abgeliefert hätten


    • dass immer alles besser würde, auch durch die Musikforschung etc.



    dann sage ich ihm, dass er auch auf dem Holzweg ist und es ihm ggf. an der nötigen Hörerfahrung fehlt.
    So naiv, plakativ und pauschal kann man das genausowenig seriös sagen.
    Bei dieser Musizierrichtung haben sich auch hier und da Missverständnisse eingeschlichen, die durch eine oberflächliche Grundhaltung in Bezug auf Quellenstudium, Hörerfahrung und eigenem vertieften Nachdenken über die Bedeutung der in den Noten enthaltenen Gesten und Aussagen entstehen mögen. Ich finde, man macht es sich da manchmal von der fundierten Interpretation ( nicht vom spieltechnischen Niveau !) her zu einfach.


    In den letzten Jahren, Monaten und Wochen bin ich nachlesbar immer wieder detailliert auf solche Fragen eingegangen, so dass ich es mir hier gerne erspare.
    Sonst drehen wir uns hier irgendwann im Kreis.



    Johannes Roehl


    Die Töne des Themas, 2. Satz, 7. Symphonie/Beethoven sollten schon eine Richtung haben, was bei Karajans Ansatz recht gut hätte rauskommen können.
    Durch seine gleichförmige Dynamik verschweigt er sie aber.
    Am besten finde ich hier Harnoncourts Verständnis:
    bei einer weichen, zielführenden Artikulation:
    Da dadaDAda ... ( bekomme die grafische Darstellung seiner Betonungen und Artikulationen irgendwie hier nicht hin)


    Fast genauso gut finde ich hier Wands Meinung: Er betont jeweils die erste Note und artikuliert mit einem mittlerern Portato...am besten selbst im Netz hören.


    Altbacken hingegen ( und da wären wir beim Thema) die abgesetzen und richtungslosen Noten etwa bei Soltis Decca-Aufnahme.
    Wenn jede Einzelnote derart bedeutungsschwanger daherkommt ( TA _ TA TA TAM TA) , dann klingt das für mich nach "alt" in dem Sinne, dass man früher in dem Sinne "naiver" war, die Wirkung solcher Effekte ( das Schicksal pocht....) nicht auch etwas hohl, wenn nicht gar halbwegs lächerlich zu finden.


    Vielleicht wusste man auch nicht so recht, was man mit diesen Tonwiederholungen anzufangen habe... :stumm:
    Auch bei der Mazur-Aufnahme geht es ähnlich zu.


    Zu kurz sollten die Noten also m.E. auch nicht sein.
    Nun habe ich jetzt nicht die Partitur vor mir.
    Wenn da aber Noten mit Punkten drüber stehen, und oben drauf ein Bindungsbogen ist, dann war das im Barock ein sehr enges Bogenvibrato
    ( also ein pulsierendes Legato), bei den Bläsern analog dazu ein mit der Brustbewegung zu hauchendes "Fremissement"


    Das würde für mich im Falle Beethovens darauf hinweisen, dass es zwar noch nicht Legato sein sollte, aber eher ein auf den nächsten kleinen Schwerpunkt drängendes Portato sein müsste.
    Auch rein von Geschmack her überzeugen mich wie gesagt die Lösungen Harnoncourts und Wands am meisten. Bei Karajan wäre es auch nicht gar nicht so schlecht, wenn er die Figur als solche durch eine massvolle Detaildynamik "ausgesprochen" hätte. So wie er es gemacht hat, geht es in die Richtung seines geliebten Klangstroms, den er gerne bei jeder Musik hören wollte.
    Vielleicht finde ich diesen hier aber immer noch weniger "hausbacken" als jenes "schicksalhaftes" Staccato-Hämmern auf jedem Einzelton.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Glockenton:
    Vielen Dank für diese Darstellung, die mich nahezu bewegt hat.


    Der Grund für den entstandenen "Stellungskrieg" liegt auch möglicherweise daran, dass Alfred für einen Großteil jener kontroversen Threads als Diskussionsstarter verantwortlich ist und somit bestimmte Vorstellungen und Gegensätze anderer "Alteingesessener" aufeinander prallen, zT durchaus gewollt, wie ich meine.


    Nur halte ich solche Grundsatzdiskussionen manchmal für sehr interessant und hilfreich, weil spannende Anregungen von Diskutanden (für Ulli: Diskotanten :D :hello:) vorgebracht werden. Aber klar: Wenn es zum 20. Mal um die Vorzüge von Karajans Beethoven geht, weiß man schon, was rauskommt.


    Das Niveau und das Interesse an bestimmten Epochen ist unterschiedlich verteilt und bei sehr musiktheoretischen Themen (s. die Anmerkungen zu Beethovens 7.) wird es für viele schwierig delameng mitzudiskutieren. Ich sitze hier und grüble, wie sich das wohl bei meinen Aufnahmen anhört (werde heute abend mal gegenhören). Manchmal wird es ohne Partitur wirklich schwierig. Und das können viele, insbesondere die, denen es um das Hören geht, nicht leisten.
    Klar, die von dir aufgezählten Argumente kommen immer wieder. Andererseits ist auch immer wieder eine interessante Alternativaufnahme dabei, die man mal anhören kann.


    Meine Cellolehrerin hat letzte Stunde gesagt, ich solle mir zu jeder Phrase eines Stückes ein Adjektiv denken, um diese Empfindung dann klanglich umzusetzen.
    Das könnte man im Forum mal probieren. Jeder soll mal anhand eines Werkes das Thema ähnlich einer Weinprobe mit Adjektiven oder Umschreibungen charakterisieren. Dann kann man vielleicht auch mal analysieren, ob es hier schlicht um Ideologie geht oder um ein tatsächlich anderes Rezipieren von Musik. Und damit erklärt sich vielleicht auch, warum der eine lieber die 70er DG-Aufnahmen mag und der andere die HIP-Aufnahmen von heute. Haben wir also eine Art "Generationenkonflikt" oder eine sehr individuelle Hörweise?


    Am Bsp. von Beethovens 7., wo man nur eine winzige Stelle herauspickt, kann man Musik nicht fassbar machen. Musik bedeckt die Seele des Hörers und soll erst danach das Hirn des Partiturstudenten fordern.


    Nachfolgendes Zitat stammt aus einem Zeit-Artikel über J Littells Roman Die Wohlgesinnten und bezieht sich auf den Besuch Hitlers in Paris nach der Einnahme der Stadt. Hitler war ein profunder Kenner der Architektur und wusste über Details der Pariser Oper Bescheid, die nicht einmal den dort arbeitenden bekannt waren.


    Zitat

    Dilettanten zeichnet eine radikale Gleichgültigkeit gegenüber der Frage aus, ob etwas wichtig ist oder nicht – es muss gewusst werden. Solches Wissen, das das von Fachleuten leicht übertrifft, vermag durchaus zu beeindrucken; seine Krux liegt freilich darin, dass der Liebhaber es nicht ordnen kann, und das kann er deshalb nicht, weil er keine Frage hat.


    Das finde ich bei der Diskussion eines Werkes enorm wichtig. Man kann sich mit winzigen Details eines Werkes befassen, ohne jedoch den großen Sinn zu erfassen. Das Zerpflücken einer kleinen Themastelle und diese dann als Referenzkriterium für die Güte einer Interpretation heranzuziehen, halte ich für gefährlich. Man sollte ja immer im Hinterkopf haben, dass ein Dirigent sich ausführlich mit einer Partitur auseinandersetzt und das eine oder andere ja nicht einfach übergeht, sondern seinen Klangvorstellungen anpasst.


    Deshalb fand ich die Diskussion um HIP und Nicht-HIP auch so schwierig, weil letztendlich keiner sich festlegen wollte, was an HIP denn nun "besser" ist, außer der rein historisch-technischen Seite. Das ist wie das Gejammer um die "neumodischen" Inszenierungen von Opern. Als ob einer mit Perücke oder Wikingerhelm besser oder schlechter sänge.


    Es stellt natürlich eine besondere Herausforderung dar, schriftlich über die Sinneswahrnehmung Hören zu diskutieren und das nicht mit Beispielen belegen zu können, was man zuhause hört. Aber es sollte doch die Empfindung sein, die man beim Hören eines Werkes hat, über die diskutiert werden sollte.
    Das schließt die Zuletzt gehört/gekauft ja nicht aus, sondern ergänzt sie. Musiktheoretische Betrachtungen wie die über die Haydn-Sinfonien (vielen Dank, JR) sind wiederum ein weiteres Element des Forums, das aber mehr für den hilfreich ist, der sich näher mit einem Werk beschäftigen möchte.

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  • Hallo Luis,


    danke für Deinen Beitrag.


    Einige Anmerkungen:


    Zitat

    ...und bei sehr musiktheoretischen Themen (s. die Anmerkungen zu Beethovens 7.) wird es für viele schwierig...


    Den ersten Teil des zitierten Satzes kann ich nicht ganz nachvollziehen, denn meine Anmerkungen zum zweiten Satz der 7. von Beethoven sind keineswegs musiktheoretisch, schon gar nicht sehr.
    Sie sind eher musikpraktisch, denn letztendlich ging es um so einfache, elementare Dinge wie leise-laut ( Dynamik) und kurz- lang ( Artikulation), schnell-langsam( Tempo) und die sinnige Hinführung auf kleine Schwerpunkte der Melodie ( Phrasierung)


    Zitat

    Man kann sich mit winzigen Details eines Werkes befassen, ohne jedoch den großen Sinn zu erfassen. Das Zerpflücken einer kleinen Themastelle und diese dann als Referenzkriterium für die Güte einer Interpretation heranzuziehen, halte ich für gefährlich.


    Gefährlich ja, aber es kommt auf das Stück an, wie gefährlich das wird.
    Je mehr man zeitlich zurück in Richtung Barock geht, desto weniger gefährlich wird es. Und der grosse Sinn eines Stückes ist bei allen Spitzenaufführungen, über die wir hier nahezu ausschliesslich reden, nachvollziehbar. Beim 2. Satz der Siebten kann ich in jeder der hier genannten Interpretationen im Grossen und Ganzen nachvollziehen, was Beethoven wollte.


    Wenn ich nun aber in die ersten Takte einer Aufnahme des 3. Brandenburgischen Konzerts, 1. Satz (nur das Orchestertutti und noch etwas von den solistischen Einsätzen) vergleichend gehört habe, kann ich durchaus beurteilen, wie in etwa der Rest jeweils weitergeht.


    Ich möchte zur Verdeutlichung hier einen Vergleich mit einer Kombination aus kurzen, von Dir vorgeschlagenen Adjektiven, Klangbeispielen und näheren Erläuterungen anhand der Partitur machen.
    Übrigens erläutere ich nur, warum ich zu diesen oder jenen durch Adjektive halbwegs treffend beschriebenen Eindrücken und Empfindungen komme.. Ich erhebe jedoch aufgrund dessen, dass ich eine Begründung liefere, nicht den Anspruch auf definitorische Wahrheit.


    Es geht hier also um die Adjektive wie "langweilig/behäbig/altbacken", "innig-schwingend/gestisch-rhetorisch" und "modern-zackig".


    Anderswo habe ich ja bemerkt, dass mir dieser erste Satz bei manchen heutigen Aufnahmen zu militärisch-zackig klingt ( oder soll ich wegen der heftig-kurzen Akzente schon "punkig" sagen?)
    Bei einer Aufnahme aus der Zeit von " Bach, so wie man ihn früher spielte"
    meine ich aufgrund der kompositorischen Besonderheit zu wissen, wie es hernach weitergeht, auch wenn ich nur die ersten Takte höre und hier öffentlich vergleiche:



    Track 8 anklicken


    So ein Bachspiel klingt für mich -sorry- ziemlich behäbig und altbacken. - in meinen Ohren. Auf nahezu jedem Ton lastet ein schwerer Druck, uvm...


    Auch diese folgende Aufnahme kann man davon wohl nicht freisprechen, wobei ich deren Energie und Musikalität jedoch sehr anerkenne und die furchtbare Aufnahmetechnik ihren Beitrag leistet, dass man das Gehörte nicht gerade als angenehm schwingend empfindet:



    Track 6 anklicken


    Das sind übrigens -wie ich meine- gute Beispiele dafür, dass HIP nicht nur eine Modeerscheinung ist, sondern auch sehr viele gute Veränderungen gebracht hat.
    Den möchte ich sehen, der sich hier ernsthaft ein interpretatorisches Zurück in diese Zeit wünscht und alles, was HIP bewirkt hat, nur als abträgliche Modeerscheinung und Geschmacksverirrung im Sinne von zuviel Gewöhnung an scharfe Gewürze abtut.


    In welche Richtung die HIP sich bei manchen Gruppen und Dirigenten heute entwickelt hat und entwickeln mag, ist wieder eine ganz andere Frage.


    Ideal ist für mich hier immer noch die gestisch schwingende und vor allem musikantische Aufnahme Harnoncourts aus den 80er-Jahren:



    Track 6 anklicken


    Es ist die einzige mir bekannte HIP-Aufnahme, bei der man z.B. im Continuo des Orchestertuttis die Unterstützung der Leittönigkeit ( Auftakt Takt 4, fis->g) und die organisch-gestische Betonung der Zählzeit 3 anstelle der üblichen 1 (!) bei Takt 4 ( e-moll) derart eindrucksvoll erleben und nachfühlen kann. Dies wird u.a. durch eine ziehende, quasi gebundene Artikulation der Bassnoten c->d->e und eine dementsprechende Dynamik erreicht.


    Statt wie bei Anderen, bei denen diese Noten auf der "3" nur einen kurzen, ruckigen Akzent bekommen, wird hier ein runder, glockentonartiger Akzent mit schönem Ausdrucksvibrato gespielt, wodurch es gestisch schwingend, rhetorisch bedeutsam und substanziell-innig zugleich klingt.


    Zudem wird die simple Schönheit der Progression G-Dur ->e-moll-> a-moll mit c im Bass-> D-dur (4->3) e-moll erfahrbar, die ihren Zusammenhang ja auch in der von e-moll an rhetorisch effektvollen Verschiebung der jeweils nachfolgenden Betonungsschwerpunkte von der Eins ( wie in Takt 1) auf die Drei ( ab Takt 4ff.) hat.
    Diese Art des sprechenden Musizierens setzt sich den ganzen Satz über fort. Aufgrund der dialogischen Struktur des Satzes ist für interessante Überraschungsmomente gesorgt.


    Das liest sich jetzt möglicherweise schwer, und wahrscheinlich wird es von Einigen es als zu kompliziert überlesen.
    In Wirklichkeit ist es aber nichts als die pure Freude, solche Dinge mit Geist, Seele und Leib hörend nachzuvollziehen :D :D :D
    Ich rede hier von intensiven Erlebnissen, von einem riesengrossen SPASS, auch wenn es hier so trocken aussehen mag!


    Bevor ich weiter abschweife, noch ein Beispiel für das, was ich mit dem Wort "2009zackig" beschreibe:



    Track 8 anklicken


    Das Tempo sorgt allein schon dafür, dass die Figuren schwer aufgefasst werden könne. Es atmet nicht, man hört ruckartige Akzente, die sich in ihrer Wirkung durch die ständigen Wiederholungen gegenseitig "totschlagen", so dass als Ergebnis die hektische Schale einer stressigen Autobahnatmosphäre mit einem im Grunde langweiligen und wenig von rhetorischen Verständnis zeugenden Kern übrigbleibt.
    Es fehlt mir da an innerer Substanz.
    Wenn man das nun oberflächlich, d.h. mit halbem Ohr hört, dann mag es zunächst "das Fleisch anstacheln" , aber es lässt die Seele und den Geist leer ausgehen.
    Mit dem Klang von alten Instrumenten alleine kann ich mich da nicht zufrieden geben.
    Schneller ist gerade bei Bach keineswegs gleichbedeutend mit lebendiger.


    Natürlich ist Bachs Musik immer toll, bei allen hier genannten Beispielen.
    Ich kann alles hören und dabei gute Erlebnisse haben.
    Dieser extrem dialogisch aufgebaute Satz hat jedoch viel mehr zu bieten, als nur eine ruppig-rasante Oberfläche.


    Wenn ich also den Anfang derart höre und vergleiche, dann weiss ich - unter der Voraussetzung, dass ich das Stück wirklich kenne- wie ungefähr z.B. die später folgende Unisono-Stelle in Moll klingen wird, ja eigentlich klingen muss.
    Das liegt einfach an der Struktur der Komposition: Bach brauchte eben keinen riesigen motivischen Materialvorrat, um ein überragendes Meisterwerk zu schaffen.
    Bestimmte mehr oder weniger gute Lösungen wird der Interpret dann z.B. von Takt 4 an bis zum letzten Takt fortsetzen.


    Beim genannten zweiten Satz der 7. von Beethoven ist es aufgrund der Mischung von ostinaten thematischen Wiederholungen und einer Fugato-Struktur ähnlich, wenn auch nicht so streng voraussagbar, wie bei Bach.
    Es ist daher unwahrscheinlich, dass z.B. Solti 30 Takte später als bei der von mir besprochenen Stelle das Thema plötzlich so klangströmend wie Karajan spielen lassen wird.
    Auch sein Grundtempo wird er sehr wahrscheinlich beibehalten.
    (Übrigens finde ich seine Darstellung heute gar nicht mehr so schlecht - das hängt auch etwas von der Tagesform und davon ab, welche Aufnahmen man beim Vergleich zuerst hört)


    Es kommt also sehr auf das Stück an, ob man von "Zerpflücken" einer Interpretation reden kann, wenn man sich die Interpretation eines Themas ansieht, oder nicht.


    Ich gebe Dir aber Recht, wenn es z.B. um Mahler oder Sibelius geht.
    Da passiert ständig so viel Neues, dass man mit der Interpretationsanalyse einiger bestimmter Takte eben gerade nur diese Takte erfasst, davon aber nicht auf die Gesamtinterpretation schliessen kann, auch nicht ansatzweise.


    Zitat

    Aber es sollte doch die Empfindung sein, die man beim Hören eines Werkes hat, über die diskutiert werden sollte.


    Sicher sollten die Empfindungen beschrieben werden, was ja schwer genug ist, wenn nicht unmöglich.
    Aber jeder empfindet anders und beschreibt die Empfindungen anders.
    Hier sehe ich eine viel grössere Gefahr, als die von Dir oben beschriebene:
    Nämlich die, dass man aneinander vorbeiredet, weil man nicht über dieselbe Sache spricht.
    Man diskutiert zwar, aber im Extremfall diskutiert jeder in seiner eigenen Welt über etwas Anderes, selbst wenn man scheinbar über den gleichen Inhalt redet.
    So entstehen dann Missverständnisse und innere Reaktionen wie diese:


    :no: :wacky: :rolleyes: :boese2: ?( :angry: ...


    Deswegen finde ich es schon sehr gut, wenn man es etwas etwas konkreter macht. Die Emotionen muss man ja nicht ausklammern; doch wenn man sich fragt, warum ich etwas so und nicht anders empfinde, dann hat man etwas Greifbareres, über das man besser diskutieren kann.


    Zitat

    Deshalb fand ich die Diskussion um HIP und Nicht-HIP auch so schwierig, weil letztendlich keiner sich festlegen wollte, was an HIP denn nun "besser" ist, außer der rein historisch-technischen Seite


    Ich wäre schon bereit, mich da eindeutig Pro-HIP festzulegen, und zwar musikalisch, auf jeden Fall für die Barockmusik und davor.
    Je älter die Musik wird, desto mehr braucht man hinsichtlich der Spielweise und auch der Instrumente Infos über den historischen Kontext, vereinfachend gesagt.
    Ich finde die obigen Beispiele machen das auch deutlich.


    Es ist aber so, dass dies eigentlich nicht in diesen Thread gehört, weswegen ich es hier nicht weiter -und zum 1000sten Mal...- begründend ausführe.


    In dem anderen Thread sprachen wir ja eigentlich über das Tabu(?)-thema der heutigen Verwendung moderner Instrumente für die Barockmusik.
    Hier war ich ja der Meinung, dass man diese durchaus auch nehmen könne, obschon ich zu 90% die alten lieber höre, ohne aus ihnen nun ein Fetisch zu machen ( 10% für gewisse Klavierwerke auf dem Flügel...)


    Für das HIP bin ich aber schon, nur nicht oberflächlich als Mode, sondern mit einer in die Tiefe gehenden intellektuell-forschenden Substanz und mit viel geschmackvoller Individualität und Feuer.
    Wenn wir da über "HIP ja oder nein" im Grundsätzlichen sprachen, dann war das ein leichtes Abweichen vom Thema.


    Nun aber genug davon... ;)


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Interessant finde ich die Tonbeispiele des Brandenburgischen Konzerts Nr. 3 von den 40er Jahren bis heute.


    Aber schon Karl Richter, der ja nun alles andere als HIP ist, klang in den 60ern durchaus beschwingt:



    Track 8


    Klingt für mich jedenfalls auch heute noch sehr gut anhörbar.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Den ersten Teil des zitierten Satzes kann ich nicht ganz nachvollziehen, denn meine Anmerkungen zum zweiten Satz der 7. von Beethoven sind keineswegs musiktheoretisch, schon gar nicht sehr.
    Sie sind eher musikpraktisch, denn letztendlich ging es um so einfache, elementare Dinge wie leise-laut ( Dynamik) und kurz- lang ( Artikulation), schnell-langsam( Tempo) und die sinnige Hinführung auf kleine Schwerpunkte der Melodie ( Phrasierung)


    Das mag für dich "musikpraktisch" sein. Für mich cellokratzenden Laien, der jedesmal in seinen wenig profunden LAtein- und Italienisch-Kenntnissen wühlen muss oder fragend seine Cellolehrerin angaffen muss, um die Begriffe zwischen den Noten verstehen zu können, ist das nicht ganz so selbstverständlich. Begriffe wie Dynamik, Artikulation oder Phrasierung kann ich nicht so ohne weiteres zuordnen, da muss ich mir erst Gedanken machen. Nicht zuletzt deshalb wünsche ich mir eine Art "Wörterbuch" für musikalische Begriffe und Grundlagen zu Weihnachten (kannst du da was empfehlen? Ich hatte mal Bücher, als ich im zarten Grundschulalter Klavier lernen sollte. Diese Bücher sind leider verschollen :(). Ich kann Noten auch nicht lesen wie ein Buch. Ich muss mir das immer erarbeiten. Und wenn beim Bassschlüssel dann unter den Noten viele Hilfslinien kommen oder plötzlich zum Tenorschlüssel gewechselt wird, dann ist das für mich Mathematik und weniger Musik.
    Vor diesem Hintergrund ist für mich auch folgendes Zitat eben eine Herausforderung


    Zitat

    Es ist die einzige mir bekannte HIP-Aufnahme, bei der man z.B. im Continuo des Orchestertuttis die Unterstützung der Leittönigkeit ( Auftakt Takt 4, fis->g) und die organisch-gestische Betonung der Zählzeit 3 anstelle der üblichen 1 (!) bei Takt 4 ( e-moll) derart eindrucksvoll erleben und nachfühlen kann. Dies wird u.a. durch eine ziehende, quasi gebundene Artikulation der Bassnoten c->d->e und eine dementsprechende Dynamik erreicht.


    Soll man diese Tonartwechsel wirklich hören? Ich meine jetzt nicht Wechsel Dur-moll, aber dass ich jetzt weiß, dass da ein Wechsel von fis nach g ist, ohne die Noten zu kennen, finde ich doch sehr fachmännisch. Halbton meinetwegen, aber der Rest?


    Das andere finde ich gut und problemlos nachvollziehbar, weil man so versteht, was du beim Hören empfindest und warum du das empfindest. Da kann jeder auch anderer Meinung sein, aber das ist Geschmackssache.


    Bei den Brandenburgischen Konzerten finde ich Il Giardino Armonico im 1. Satz des 1. rockig. Das Orchestra of the Age of Enlightenment dagegen eher erhaben. Da kommt der Trompetenstoß (?) mehr wie ein ungezogenes Kind daher, bei Giardino ist das eher der Übermütige, der sich zur Wort meldet, um überhaupt wahrgenommen zu werden.


    Bei Bach ist vieles Temposache und im Thread zu den Bacheinspielungen habe ich auch schon ein paar Kommentare hinterlassen.


    Dass im Barock die Welt noch in Ordnung war, man also auf eine feste Struktur eines Werks bauen konnte, die dem Hörer Halt gibt, trifft sicher zu.


    Umso mehr ist es in anderen Epochen schwierig, aufgrund eines kleinen Werkteils Rückschlüsse auf die gesamte Interpretation zu ziehen. Und das dem Dirigenten als "Fehler" anzukreiden. Ich denke nicht, dass du so Musik hörst. Wenn du mit Musik auch noch Geld verdienst, weisst du umso besser, wie fies solche Kritik sein kann.
    Ich meine eben, man sollte den Wein nach dem Geschmack und den Kopfschmerzen am nächsten Morgen beurteilen und nicht nach dem Etikett und dem Glas.

  • Joseph II. über die Richter-Aufnahme:


    Zitat

    Klingt für mich jedenfalls auch heute noch sehr gut anhörbar.


    Stimmt, das kann man in der Tat immer noch hören.
    Das liegt auch daran, dass es hier im diesem Satz vor allem kurze Noten gibt, bei denen das Non-HIP-typische Fehlen der Einzeltondynamik ( z.B. die standardmässe Glockentonkurve oder "Messa di Voce" bei besonders langen Tönen) nicht auffallen kann.
    Diese Richter-Aufnahme kam mir damals, im Vergleich mit Karajans späterer (!) Version und anderen, die ich in dieser Zeit kannte, regelrecht sportlich- modern vor.
    Ich war als Jugendlicher sehr stolz und glücklich, gerade diese Aufnahme zu haben.
    Wenn ich mir das jetzt länger anhöre, kann ich das sogar noch nostalgisch nachfühlen...
    Für mich ist Karl Richter der wahrscheinlich wichtigste Bachdirigent der Pre-HIP-Epoche.


    Es gibt aber, wo wir schon einmal beim Thema sind, noch eine Pre-HIP-Aufnahme dieses 3. Brandenburgischen Konzerts, bei sehr viele Dinge -einfach aufgrund der Genialität des Interpreten-Dirigenten- intuitiv "richtig" gemacht werden, und die ich ebenfalls noch gut anhören kann.
    Erstaunlich ist, dass Casals von sich aus auf Ideen gekommen ist, die in einigen Aspekten wie eine Voraussicht auf die ca. 20 Jahre später erschienene Harnoncourt-Aufnahme wirken:



    ebenfalls Nr. 8


    Sowohl die Richter- als auch die Casals-Aufnahme ordne ich nicht unter "behäbig/langweilig" ein, weshalb ich es auch vermied, sie in dem obigen Vergleich zu erwähnen.
    Man sieht, dass man bei diesen Epochen der Interpretationsgeschichte eben nur Tendenzen formulieren kann. Pauschal alles über einen Kamm zu scheren, wäre da wirklichkeitsfern.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat


    Original Luis.Keuco
    Wenn du mit Musik auch noch Geld verdienst, weisst du umso besser, wie fies solche Kritik sein kann.


    Das ist ohnehin etwas, was man ggf. in einem anderen Thread eingehender thematisieren sollte.
    Wir sollten hier nicht vergessen, dass bei der Erstellung all dieser CDs, über die wir hier reden, unglaublich harte Arbeit, Konzentration und sehr viel Herzblut mit im Spiel war.


    Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir auch dann, wenn uns eine Einspielung nicht eben zusagt, einen gewissen persönlichen Respekt für die grundsätzliche Leistung des/der Musiker/innen mitschwingen lassen, allein schon, weil wir uns hier im öffentlichen Netz bewegen.


    Dass wir diese Leute überhaupt zur Kenntnis nehmen können, sollte eigentlich schon davon zeugen, dass da Etliches an Kompetenz dahinterstecken müsste.
    Möglichweise kann in anderen Sparten "jeder Stümper" eine CD herausbringen ( meistens auch nicht), doch in der Klassik ist das, so hoffe ich doch, immer noch nicht der Fall.


    Vielleicht hat jemand ja Lust, diese Dinge in einem andere Thread genauer anzusprechen.


    Zitat

    Soll man diese Tonartwechsel wirklich hören? Ich meine jetzt nicht Wechsel Dur-moll, aber dass ich jetzt weiß, dass da ein Wechsel von fis nach g ist, ohne die Noten zu kennen, finde ich doch sehr fachmännisch. Halbton meinetwegen, aber der Rest?


    Ich könnte es Dir jetzt am Klavier vorspielen/vorsingen und es Dir gleichzeitig von der Partitur her zeigen, und Du wüsstest sofort genau, was ich meine.
    Das geht aber leider nicht.
    Ich versuchs noch einmal, weil Du so schön geschrieben hast, dass es eine Herausforderung für Dich sei ( dann nimm sie auch an! :D )


    Die besagte Stelle ( Takt 4 mit Auftakt) kannst Du auch im Netz bei jpc hören.
    Du rechnest die zwei ersten erklingenden Töne der ersten Violinen als 16tel-Auftakt und dann zähltst Du die 4tel mit, immer schön "1 / 2 / 3 / 4".
    Die Basstöne von Takt 1 sind Achtel, was das Zählen in 4teln erleichtern sollte.


    Wenn Du nun zum dritten Mal mit 1 anfängst zu zählen, dann bist Du bei dem besagten Takt 4 angelangt.


    Der Auftakt zu Takt 4 ( also der letzte Akkord von Takt 3) ist im Continuo-Bass leittönig zur Eins von Takt 4.


    Hier steht nämlich der Basston "fis" als Terz des D-Dur Dreiklanges, der auf diesem Schlag ("4 und") gespielt wird und nach g, also G-Dur hindrängt.


    Auf der Eins von Takt 4 hast Du dann einen normalen G-Dur, mit G im Bass und der Terz in der ersten Violine.


    Danach kommt die genannte Progression ( nicht ein Tonartwechsel) über e-moll_ C6_D-Dur nach dem gestisch-rhetorisch wichtigen e-moll auf der Zählzeit 3 - alles in Takt 4.


    Der Bass unterstützt bei Harnoncourt diesen Aufgang zum e-moll Akkord vor allem aus Gründen der melodischen Entwicklung der ersten Violinen mit.


    Von da ab beginnt eine "Serie" mit Betonungen auf der 3 des Taktes, wodurch der Hörer reizvoll unsicher gemacht wird, wo denn jetzt die sonst immer klare Takteins liegt, was erst etwas später wieder "ins Lot" kommt.


    Harnoncourt vollzieht diese von Bach in der Partitur aufgeschriebenen Leckerbissen hörbar nach, weshalb ich seine Version so gut finde.


    Ich muss mich jetzt für 2 1/2 Tage aus der Diskussion verabschieden, weil ein intensives musikalisches Wochenende mit viel Üben vor mir liegt....


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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