Haydns Sinfonien sind unterschätzt

  • Nein - Werden die einen sagen, Haydn ist hochberühmt, Jeder kennt etliche seiner Sinfonien.


    Ja - werden manche sagen. Das kommt daher, weil er so viele geschrieben hat.


    Wie immer gibt es auch zu diesem Thread ein Schlüsselerlebnis - oder besser gesagt mehrere.


    Ich besitze nicht allle Haydn-Sinfonie - aber an die 80 sind es schon. Natürlich (warum eigentlich "natürlich ??) kenne ich nicht alle WIRKLICH, wie die meisten Musikfreunde kenne ich die Londoner Sinfonien , ein paar berühmte Namenssinfonien, und einiges aus der "Sturm und Drang" Periode .
    Eine gigantisches Projekt bei Tamino hat sich der Aufarbeitung aller Sinfonien angenommen - und irgendwann wird man das lesen - und vielleicht sogar Beiträge dort verfassen.


    Im Rahmen der kommenden Threads habe ich meine ziemlich komplette Sammlung um einige Einspielungen erweitert (nein ich habe nicht die Brilliant-Edition (ursprünglich bei Nimbus Classic erschienen) gekauft - sondern von jedem Dirigenten etwas.


    Als ich mit dem Kurzstückmeister gemeinsam die Sinfonie Nr 45 (Abschiedssinfonie) hörte, da bemerkte ich, wie oberflächlich ich diese (und nicht nur diese) Sinfonie bis dato gehört habe - und was mir dabei alles entgangen ist.


    Ich habe in den folgenden Tagen daher einige Einkäufe getätigt und die Samlung weiter komplettiert, wobei mir aufgefallen ist, wie wenig das Cliché von den allzuvielen Haydn Sinfonien eigentlich passt - jede einzelne ist ein Wunderwerk für sich - mesit sehr individuel und unverkennber - man muß nur hinhören.


    Ein Erlebnis der besonderen Art war, als ich bemerken musste, daß ich von der Sinfonie Nr 48 "Maria Theresia" - sie wird als nächstes Werk in "Alle sprechen über das selbe Musikwerk" besprochen - keine einzige Aufnahme auf CD besitze (auf LP hatte ich sie sehr wohl - sie war mir jedoch nicht im Gedächtnis geblieben.)
    Kurz in ein jpc Klangschnippsel hineingehört und: "wow !!!"
    Dieses "wow" stellt sich nun immer öfter ein, wenn ich Sinfonien von Joseph Haydn höre. Daher werde ich nicht nur die Sinfonie Nr 48 schleunigst beschaffen und konzentriert anhören sondern generell - auch unter Einbeziehung bereits bestehender Threads mich mehr mit Haydns Sinfonien befassen - sie haben es verdient (und ich auch ;) )


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Nein - Werden die einen sagen, Haydn ist hochberühmt, Jeder kennt etliche seiner Sinfonien.


    Allein hier würde ich schon widersprechen. So berühmt ist Haydn nun auch nicht. Natürlich, wer sich auch nur ein bischen näher mit Klassik befasst, wird nach Beethoven und Mozart auch irgendwann mit Haydn konfrontiert. Aber welches von Haydns Werken wäre denn in seiner Wirkung so bedeutsam (oder auch nur so populär) wie die bekannten Werke Beethovens oder Mozarts. Würde sich jemand auch nur eine von Haydns Sinfonien merken können, wenn die nicht hin und wieder einen Namen hätten? -- Ich denke Haydn ist vor allem für diejenigen interessant, die sich fragen, wer denn der Sinfonie den Weg bereitet hat (analog Streichquartett und Klaviersonate), den Mozart und Beethoven dann gegangen sind.


    Ich würde daher das "Jeder" einschränken. Zumindest jeder, der in diesem Forum unterwegs ist, kennt etliche seiner Sinfonien.


    Aber ich wüsste nicht, welche von Haydns Sinfonien einen der Eroica vergleichbaren Stellenwert/Rang einnimmt. Haydns Londoner Sinfonien verdienen sicherlich die gebührende Beachtung, aber ich empfinde Mozarts letzte Sinfonien doch prägender und richtungsweisender für die weitere Entwicklung. Aber im Grunde schätzt man doch die Sinfonien erst ab Beethoven.


    Insofern stellt sich die Frage: wie man Haydns Sinfonien einschätzen soll. Sind sie bedeutender als z.B. die Sinfonien Johann Christian Bachs? Und wenn ja welche Sinfonien sind bemerkenswert und wofür? Sind es nur die Gimmicks oder die originellen Einfälle, die manche dieser Sinfonien auszeichnen?


    Gruß enkidu2

    Nach Schlaganfall zurück im Leben.

  • Ich habe die Gesamtaufnahme mit Antal Dorati (noch in der dicken Decca-Box) und habe versucht, mich der Materie mit einem kleinen Büchlein von Beck zu zu nähern (s.u.).


    Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass in den Symphonien mehr steckt, als man gemeinhin glaubt, aber diesen Berg zu besteigen sehe ich mich ohne Anleitung fast nicht in der Lage.
    Das Buch jedoch reißt das Thema letztlich auch nur an, bespricht einige Glanzlichter, vermag aber keine umfassende Darstellung zu geben.
    Derzeit lese ich die Irmen-Biographie (s.u.); darin wird auf den einen oder anderen Aspekt bei den Symphonien auch eingegangen, gerade die Abschiedssymphonie ist natürlich wegen ihres Mythos etwas ausführlicher dargestellt. Aber immerhin, Irmer geht nicht nur auf den Mythos und seine Hintergründe ein, sondern hat mir auch musikalisch einiges mehr dazu sagen können, insbesondere auch den Zusammenhang mit der folgenden H-dur-Symphonie.


    Für die Threads hier im Forum zu den Symphonien bin ich sehr dankbar, wenn ich auch wenig dazu beitragen kann - ich sehe meine Rolle hier eher lesend, verfolgend und staunnend lernend.


    Vielleicht kann man die Threads ja anschließend als Buch herausbringen - als Book-on-demand oder so. :)


  • Zitat

    Original von Travinius
    Das Buch jedoch reißt das Thema letztlich auch nur an, bespricht einige Glanzlichter, vermag aber keine umfassende Darstellung zu geben.


    Ich hatte das Buch neulich auch in der Hand - und nach einem Querblättern enttäuscht wieder weggelegt. Da ist Feder's Quartettbüchlein aus dieser Reihe um Welten überlegen (aber leider zum falschen Thema :D ).


    Am besten, Du besorgst Dir Walter Lessings Radioskript vom damaligen SWF.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Zitat

    Original von Travinius


    Gibt es das als Buch?


    Ja, soweit ich mich erinnere, sind es drei (hellblaue) Bände. Beim SWR müßte man diese ggfs. noch erhalten. Ich hatte sie damals nach Abschluß des Radioprojektes gleich bestellt und erhalten. Soweit mir bekannt ist, haben einige Taminos im Rahmen unseres Sinfonienprojekts dieses Skript im lfd. Jahr bestellt und erhalten.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Es gibt hier zunächst ein Phänomen, das bei Haydn und noch mehr bei den anderen Jubilaren, Händel und Mendelssohn auftritt: Natürlich kennt sie jeder, einige Werke sind außerordentlich berühmt und wohlbekannt. Aber es besteht ein erhebliches Mißverhältnis zwischen dieser Handvoll "Schlager" und dem restlichen Oeuvre, das oft zu einer sehr einseitigen Gesamtwahrnehmung führt, die oft zu einer Unterschätzung führen mag.
    (Selbst wenn es auch einseitige Bach, Mozart- oder Beethovenbilder geben mag, ist das in keinem dieser Fälle annähernd so verzerrt wie bei obigen Komponisten.)


    Zitat

    Alfred Als ich mit dem Kurzstückmeister gemeinsam die Sinfonie Nr 45 (Abschiedssinfonie) hörte, da bemerkte ich, wie oberflächlich ich diese (und nicht nur diese) Sinfonie bis dato gehört habe - und was mir dabei alles entgangen ist.


    Das ist meiner Erfahrung nach aber beinahe immer so, wenn man sich mal näher mit irgendwas befaßt. Ich habe das sogar bei Nr. 94 im letzten Sommer erlebt, die ich sei über 20 Jahren kenne und meinte, wirklich ziemlich gut zu kennen. Und ich merke bei diesem Haydn-Projekt, daß ich eigentlich dasselbe mit vielen Stücken von Mozart, Beethoven, Brahms machen müßte, weil ich auch hier noch vieles entdecken könnte, obwohl ich sie seit vielen Jahren meine, ganz gut zu kennen.


    Zitat

    Aber welches von Haydns Werken wäre denn in seiner Wirkung so bedeutsam (oder auch nur so populär) wie die bekannten Werke Beethovens oder Mozarts. Würde sich jemand auch nur eine von Haydns Sinfonien merken können, wenn die nicht hin und wieder einen Namen hätten? -- Ich denke Haydn ist vor allem für diejenigen interessant, die sich fragen, wer denn der Sinfonie den Weg bereitet hat (analog Streichquartett und Klaviersonate), den Mozart und Beethoven dann gegangen sind.


    Nun gibt es zwar Wegbereiter, die selbst nicht mit außerordentlichen Werken hervorgetreten sind (dazu würde ich z.B. JC Bach, Wagenseil u.ä. zählen), Haydn aber ganz gewiß nicht. (Auch nicht bei den Klaviersonaten, die ich für bedeutender als Mozarts halte und bei den Quartetten schon gar nicht.)


    Zitat


    Aber ich wüsste nicht, welche von Haydns Sinfonien einen der Eroica vergleichbaren Stellenwert/Rang einnimmt.


    Das ist kein guter Vergleich, denn es nehmen in der gesamten Gattungsgeschichte höchstens zwei weitere Werke einen ähnlichen Rang ein wie die Eroica, besonders was den Vorbildcharakter usw. betrifft, nämlich Beethovens 5. u. 9, an denen sich Komponisten bis ins 20. Jhd. abarbeiten ;)
    Ich persönlich halte die letzten 3 Sinfonien Haydns für ebenso bedeutend wie die letzten 3 Mozarts, ähnlich auch Nr. 82, 86, 88, 90, 92 und die meisten der Londoner. Ich sehe auch wenig bekannte Haydn-Sinfonien wie z.B. Nr. 48 (ca. 1769) oder Nr. 56 von 1774 durchaus gleichrangig mit Mozarts 33 oder 34 (1779/80).


    Zitat


    Aber im Grunde schätzt man doch die Sinfonien erst ab Beethoven.


    Ja, eine bestimmte Klientel tut das sicher... das meinen wir ja mit "unterschätzt" ;)


    Zitat


    Insofern stellt sich die Frage: wie man Haydns Sinfonien einschätzen soll. Sind sie bedeutender als z.B. die Sinfonien Johann Christian Bachs? Und wenn ja welche Sinfonien sind bemerkenswert und wofür? Sind es nur die Gimmicks oder die originellen Einfälle, die manche dieser Sinfonien auszeichnen?


    Es steht für mich völlig außer Frage, daß Haydns Sinfonien weitaus bedeutender sind als die JC Bachs; ich halte sie in summa auch für bedeutender als fast alle von Mozart, mit Ausnahme von dessen letzten 4. Natürlich ist das eine Entwicklung; wir haben das gerade anhand einiger Beispiele (im thread zu Nr. 39 g-moll) angesprochen. Aber schon die wenige Jahre später entstandenen "Trauer-" oder die "Abschiedssinfonie" sind m.E. wesentlich bedeutender als irgendein mir bekanntes Instrumentalwerk von JC Bach (und sogar als das meiste von CPE). Die "Gimmicks" und Beinamen verstellen m.E. häufig eher den Blick auf die Bedeutung der Werke.


    Wie will man diesen Einfluß "messen"? z.B. an der Verbreitung, die schon viele der Sinfonien mit 40er u. 50er Nummern seinerzeit in ganz Europa gefunden haben, anhand der Tatsache, daß zusätzlich zu den 107 oder so authentischen Sinfonien nochmal ebensoviele unter Haydns Namen überliefert waren, weil man meinte, sie so besser an den Mann bringen zu können. Daran, daß in dem 1780ern in Paris mehr Sinfonien von Haydn gespielt wurden als von irgendeinem anderen Komponisten (erst recht keinem französischen...) Die Anerkennung und der Einfluß zu Lebzeiten sind also historisch unbestritten. Die Frage ist nun, inwieweit man den Rang auch außerhalb dieser unmittelbaren Wirkung beurteilen kann. Hier haben wir das Phänomen, das ich schon mehrfach erwähnt habe, daß Beethoven Haydn (und auch Mozart weitgehend) "abschirmt". Fast alles, was die Komponisten nach Beethoven an Haydn interessieren konnte, fanden sie in ähnlicher (oft zugespitzter) Form bei Beethoven (was nicht ausschließt, daß einige klassizistisch eingestellte Musiker wie Brahms teilweise auch wieder auf Haydn direkt zurückgreifen).


    Um den Einfluß auf Beethoven auszumachen, müßte man ins Detail gehen. Und hier kommt natürlich noch hinzu, daß Beethoven von Beginn an ein sehr eigensinniger Komponist war, bei dem sich direkte Anklänge nur selten finden (dann eher an Mozart, wie bei den Bläserquintetten der beiden oder bei KV 464 und op.18,5). Die anderen Komponisten der Generation Mozarts und Beethovens kennt man ja kaum. Ich vermute aber, daß der Einfluß Haydnscher Sinfonien eher größer war als der von Mozarts späten, allein weil Haydn schon ab Mitte der 1770er europaweit bekannt war und seine Werke sicher auch Ende des Jahrhunderts verbreiteter waren als Mozarts.
    Ich kenne nur je ein Beispiel: ETA Hoffmanns Es-Dur-Sinfonie nimmt recht deutlich Mozarts KV 543 zum Vorbild und die eine Zeitlang Beethoven zugeschriebene Jenaer Sinfonie (von F. Witt) Haydns Nr. 97. Man müßte sich also eine Anzahl Sinfonien von zwischen ca. 1750 und 1790 geborener Komponisten ansehen...


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Ulli


    Ja, soweit ich mich erinnere, sind es drei (hellblaue) Bände. Beim SWR müßte man diese ggfs. noch erhalten. Ich hatte sie damals nach Abschluß des Radioprojektes gleich bestellt und erhalten. Soweit mir bekannt ist, haben einige Taminos im Rahmen unseres Sinfonienprojekts dieses Skript im lfd. Jahr bestellt und erhalten.


    Also ich glaube, daß bezog sich nur auf UB-Fernleihen. Wäre natürlich toll, wenn der SWR das noch vorhielte.
    Von dem Walter war ich auch enttäuscht. Es gab wohl in den 70ern mal ein (englischsprachiges) Buch von Papst Robbins-Landon; jetzt aber wohl nur noch ein 5bändiges opus magnum. Ähnlich gut sollen auch seine Kommentare zu älteren Ausgaben der Dorati-LPs sein. (Betrifft leider NICHT deren Wiederveröffentlichung in Form von zwei sehr dicken LP-Boxen und erst recht nicht auf CD).
    Ordentlich sind jedenfalls auch die Kommentare auf
    "http://www.haydn107.com/index.php?id=2"


    :hello:


    JR

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  • Werden Haydns Sinfonien unterschätzt? Nach den Beiträgen von Johannes frage ich mich, ob das nicht vielleicht auch daran liegt, dass Haydn insgesamt unterschätzt wird. Es ist ja nicht nur der Schatten Beethovens, der ihn verdunkelt, sondern auch das Licht Mozarts, dass ihn überstrahlt. "Mozarts Geist aus Haydns Händen", da wird Haydn in der populären Darstellung doch zum reinen Postboten degradiert.


    Ähnlich geht es mir, wenn ich mit Bekannten über Klassik rede. Die einen mögen Mozart, dann aber weniger Beethoven oder umgekehrt und gelegentlich beide. Man kennt zwar Haydn als Teil des bildungsbürgerlich relevanten Trios der Wiener Klassik, aber mir scheint, Haydn taugt dann leider doch immer nur für die Gimmicks, quasi als Beispiel für Humor in der klassischen Musik. Mit dem Duo/Dipol Mozart und Beethoven sind die Interessen scheinbar hinreichend bedient, niemand braucht Haydn dazwischen.


    Auch registriere ich in Konzertprogrammen, dass Haydns Sinfonien immer nur Beiwerk sind: quasi das entspannende Vorprogramm zu Beethoven, Brahms oder Bruckner. Insbesondere bei letzterem ist er mir schon öfter so verkauft worden. Niemand passt scheinbar besser, weil neutraler, als Haydn zu Bruckner. Einen reinen Haydn-Sinfonien- oder -Konzert-Abend habe ich auf Programmen nie gelesen. Jedenfalls erinnere ich mich an keinen. Oder zumindest, dass eine Haydn-Sinfonie mal als Hauptwerk eines Konzerts präsentiert wurde. Also auch so gesehen, wird Haydn hier gering geschätzt.


    Ein anderer Aspekt, den Johannes und Alfred angesprochen haben, ist natürlich der der persönlichen "Unterschätzung" eines Werkes. Es ist ähnlich wie bei Bildern, auch wenn man sie schon zig Male betrachtet hat, gibt es doch wieder Momente, wo man in einem Bild ein Detail erkennt, das einem bislang gänzlich entgangen war (und man eigentlich auch nicht versteht, wie das einem passieren konnte). Aber unterschätzen wir Haydns Sinfonien, wenn wir uns bevorzugt mit jenen Werken befassen, die uns gewichtiger erscheinen, wie z.B. die Sinfonien Bruckners (Beethoven hatte ich ja schon oft genug genannt) oder Mahlers oder Schostakowitschs? Oder vernachlässigen wir Haydns Sinfonien blos zugunsten anderer, vordergründig bzw. wirklich spannenderer Werke? Unsere Zeit ist halt endlich und das Angebot überreichlich.


    ------


    Aber mir scheint, ich treffe den Kern noch nicht. Tschuldigung. Ich grübele immer noch über den Begriff "unterschätzt" und frage mich, wie sollten denn Haydns Sinfoniens richtig geschätzt werden? Und in welcher Weise werden Haydns Sinfonien unterschätzt? Und was soll ich tun, um sie richtig zu schätzen? Oder ist es zwangsläufig, dass wir heute Haydns Sinfonien unterschätzen müssen?


    Geht es um die musikalische, kompositorische, spieltechnische oder gattunsgeschichtliche Bedeutung der Haydn'schen Sinfonien, die verkannt wird?


    Geht es um die Zeit, die wir dem Hören der Haydn Sinfonien nicht im ausreichendem Maße widmen? Geht es um die persönliche Wertschätzung der Sinfonien? Ich für meinen Teil finde sie nicht so prickelnd wie manches andere. Aber mir geht es beim Hören auch mehr um den reinen emotionalen Genuß als um eine intellektuelle Befriedigung: da ist es bei dem umfangreichen Schaffen Haydns für mich nicht immer leicht, die mir genehmen Perlen zu finden. Und dann braucht man auch noch den idealen Interpreten, der die Schönheit einer Sinfonie richtig zur Geltung bringt. Doch die Zeit ist knapp und man darf ja auch die zahlreichen Streichquartette und Klaviersonaten Haydns nicht ungehört lassen (Bin schon auf Hamelins Teil 2 der Haydnschen Klaviersonaten gespannt).


    Ich hier mal 'nen Punkt -- der Haushalt ruft. Und grüble weiter.


    Gruß enkidu2

    Nach Schlaganfall zurück im Leben.

  • Hallo!


    Diese Debatte scheint eine Richtung zu nehmen wie die über Mozarts frühe Symphonien von neulich. Dass diese zwar ein Entwicklungsschritt auf dem Weg zur "großen" romantischen Symphonie sind, aber das Konzept noch nicht in ihrer Gänze verkörpern, gilt m.E. auch für Haydns Symphonien. Das ist umso bitterer für die Werke, weil sie von einigen Zeitgenossen schon genauso wahrgenommen wurden - man lese die Einlassungen von Tieck und Wackenroder (ich weiß jetzt nicht, inwiefern die sich speziell auf Haydn beziehen, aber da dessen Symphonien damals die Speerspitze des Fortschritts verkörperten, sollte es sich auf sie beziehen lassen). Aber Beethoven hat eben in vielerlei Hinsicht noch einen oder zwei draufgesetzt, wie Johannes schon gesagt hat, und das macht seine Symphonien ab der Eroica nur noch bedingt vergleichbar mit denen Haydns.
    Deswegen ist es ebenso unfair, Haydn als Symphoniker zu belächeln, wie es das bei Mozart ist. Die Werke sind vielfach großartig, aber es sind keine Beethovenschen oder romantischen "Ideenkunstwerke", wollen es nicht sein.
    Erstaunlich ist dann wiederum, dass man sich ein oder zwei Symphonien (94 und 104) wie wahllos herausgreift und zum innersten Heiligtum des symphonischen Kanons rechnet...



    Zitat

    Original von enkidu2
    Auch registriere ich in Konzertprogrammen, dass Haydns Sinfonien immer nur Beiwerk sind: quasi das entspannende Vorprogramm zu Beethoven, Brahms oder Bruckner. Insbesondere bei letzterem ist er mir schon öfter so verkauft worden. Niemand passt scheinbar besser, weil neutraler, als Haydn zu Bruckner. Einen reinen Haydn-Sinfonien- oder -Konzert-Abend habe ich auf Programmen nie gelesen. Jedenfalls erinnere ich mich an keinen. Oder zumindest, dass eine Haydn-Sinfonie mal als Hauptwerk eines Konzerts präsentiert wurde. Also auch so gesehen, wird Haydn hier gering geschätzt.


    Ich glaube, der Grund hierfür ist einfach: Sie bieten sich dafür an. Sie sind sowohl für die Musiker technisch als auch für das Publikum emotional weniger schwer - und damit besser als Einstieg geeignet. Aber wer sagt denn, dass Musik technisch oder emotional schwer sein muss, um gut, sehr gut, großartig zu sein?



    Gruß,
    Frank.

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  • Ich habe heute in meinem 'Irmer' (s. Beitrag oben) ein zeitgenössisches Urteil über Haydns Symphonien aus Paris gelesen, dass ich sinngemäß folgendermassen zusammenfassen möchte: Haydns Symphonien seien voll von originellen und genialen Ideen, wie auch viele der Zeitgenossen. Aber im Gegensatz zu diesen sei Haydn in der Lage, mit diesen Ideen zu 'arbeiten', sie nicht zu nebeneinander zu stellen.
    Vielleicht macht das Haydns Bedeutung aus.
    Er hat sich eine symphonische Form erarbeitet, die direkt den Weg zur Symphonie der Romantik ebnet.


    Offenbar wussten seine Zeitgenossen das durchaus zu schätzen; warum das Publikum heute nicht mehr?


    Liegt es vielleicht auch am Publikum? Liegt es an der Erziehung? Ich glaube, die Menschen, die bereit und in der Lage sind, sich mit Haydns Werk in adäquater Weise auseinanderzusetzen, sind in unserer Reizüberfluteten Welt einfach in einer für die Massenmedien irrelevanten Minderheit.


    Meistens, so meine Erfahrung, werden Haydn-Symphonien (ähnlich wie auch Mozart im Übrigen) gerne sperrigen, moderneren Werken vorweggestellt, um die Leute ins KOnzert zu 'locken'...

  • Zitat

    Original von Spradow
    Hallo!


    Diese Debatte scheint eine Richtung zu nehmen wie die über Mozarts frühe Symphonien von neulich.


    Die Diskussion habe ich leider verpasst.


    Zitat

    Original von Spradow
    Deswegen ist es ebenso unfair, Haydn als Symphoniker zu belächeln, wie es das bei Mozart ist. Die Werke sind vielfach großartig, aber es sind keine Beethovenschen oder romantischen "Ideenkunstwerke", wollen es nicht sein.
    Erstaunlich ist dann wiederum, dass man sich ein oder zwei Symphonien (94 und 104) wie wahllos herausgreift und zum innersten Heiligtum des symphonischen Kanons rechnet...


    Dem würde ich durchaus zustimmen. Es war nicht meine Absicht, Haydns Sinfonien herabwürdigen zu wollen, wollte aber schon ein wenig Widerspruch provozieren.


    Es ist wahrscheinlich wieder mal eine Sache der Perspektive. Wir schauen aus unserer Zeit zurück, in Kenntnis all jener Gipfelwerke, die der sinfonischen Gattung zuzurechnen sind, wogegen Haydns Zeitgenossen die ersten kühnen Aufschwünge dieser damals noch relativ jungen Gattung in Haydns Sinfonien registriert haben mögen.


    Andererseits scheinen die Werke ab der Beethoven Ära mehr noch um Originalität bemüht gewesen zu sein, will sagen, sie hatten etwas eigenes, sozusagen eine eigene Identität, wodurch sie sich signifikant von anderen Werken unterschieden, unverwechselbar waren bzw. es von nun an werden mussten. Massenproduktionen a la Haydn waren nicht mehr angesagt (Was nicht heißen soll, dass es den Haydnschen Sinfonien an Qualität mangeln würde). Aber ich denke, es ist diese Identität (bzw. Identifizierbarkeit) nachfolgender Sinfonien, die dann auch ihre Popularität ausmacht.


    Zitat

    Original von Spradow


    Ich glaube, der Grund hierfür ist einfach: Sie bieten sich dafür an. Sie sind sowohl für die Musiker technisch als auch für das Publikum emotional weniger schwer - und damit besser als Einstieg geeignet. Aber wer sagt denn, dass Musik technisch oder emotional schwer sein muss, um gut, sehr gut, großartig zu sein?


    Aber leiden prägen derartige Programme die Hörgewohnheiten des Publikums und setzen den Standard. Insofern werden die Haydnschen Sinfonien nicht nur vom Publikum, sondern auch von den Veranstaltern unterschätzt, und von der Musik produzierenden Industrie, etc.


    Gruß enkidu2

    Nach Schlaganfall zurück im Leben.

  • Ich glaube, daß man von der musikgeschichtlichen Seite heute auf gar keinen Fall mehr von Unterschätzung sprechen kann, auch kaum noch bei populären Werken wie Konzertführern. Besonders wenn man es mit der ersten Hälfte des 20. Jhds. vergleicht, als nur wenige Sinfonien überhaupt auf den Programmen auftauchten, keine ordentlichen Ausgaben existierten usw. Da hat sich seit den 1950er Jahren nicht nur wissenschaftlich, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung einiges getan.


    Der Vergleich mit der "zweiten Welle" der Sinfoniekompositon in der Spätromantik ist m.E. nur schwer möglich. Dennoch halte ich die Sichtweise von Haydns Sinfonien als "Vorstufen" oder Durchgangsstadium für falsch und für eine Unterschätzung. Haydns 45 ist die Avantgarde von 1772, die Pariser Sinfonien die von 1786, aber Schostakowitschs 10. nicht die Avantgarde von 1950 (das ist freilich ein anderes Problem).


    Aber wenn man z.B. die ersten beiden Beethovensinfonien (oder auch 4,6,8), die ersten 6 von Schubert, Mendelssohns 4. oder Schumanns 1. zum Vergleich nimmt, sehe ich eigentlich nicht ein, warum man nicht eine Anzahl von Haydnschen Sinfonien auch aus heutiger Sicht für vergleichbar gewichtig halten sollte; z.B. 86, 88, 102 oder 104, aber auch einige der hochemotionalen mittleren wie 44 usw.
    Es handelte sich hierbei auch nicht um eine Massenproduktion; gewiß schrieb Haydn etwas schneller als Beethoven (aber man muß den teils deutlich geringeren Umfang der Werke in Rechnung stellen), aber in der Reifezeit schrieb er ca. 3 Sinfonien pro Jahr (allerdings daneben auch noch anderes), bei den früheren Werken auch mal 5.
    (Bei Bach-Kantaten könnte man überdies einen ähnlichen Einwand bringen...)


    Es wurde schon angedeutet, und es wird in vielen der detaillierteren Diskussionen zu den einzelnen Sinfonien deutlich: Man muß hier etwas anders zuhören als bei Bruckner oder Tschaikowsky. Damit will ich nicht sagen, daß es dort keine subtilen Details gäbe. Aber deren Werke sind auf einer Ebene rezipierbar, wo man die weitgehend ignorieren kann. Eine Exposition bei Haydn dauert oft weniger als 2 min., ein ganzer Satz 5-8, mit Wdh. mal 10-12 min. In diesen 2 min. hat Bruckner gerade mal sein Hauptthema richtig aufgebaut, während bei Haydn (bzw. überhaupt in der Klassik) zwei, oft drei wichtige Motive vorgestellt wurden, die den restlichen Satz bestimmen werden. Wir haben (das geht mir nicht anders, KSM ist die rühmliche Ausnahme) teils verlernt, auf die, verglichen mit dem 19. Jhd. subtileren, Kontraste und Variationen zu hören. Damit verpassen wir aber sehr viel, wenn nicht manchmal gar das wesentliche. Das ist auch kein rein intellektuelles Vergnügen, man muß keine Partitur analysieren. Nur ist es damit eben leichter, die verlorene Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit auszugleichen. Aber alle diese Dinge haben, wenn man die Sensibilität dafür entwickelt, natürlich auch eine (im weiten Sinne) emotionale Bedeutung.


    Die allgegenwärtige, mitunter abgenudelte 94 ist ein gutes Beispiel dafür. Manch einer hört im ersten Satz nur charmant-galanten Rokoko. Damit verpaßt er beinahe alles. Er hört an dem Stück vorbei und es ist gar kein Wunder, daß er Haydn unterschätzt. Man muß die für Haydn ungewöhnlich breite Anlage, die eigenartige Balance mit einer ausgedehnten Reprise/Coda und eben auch die Spannungen wieder neu entdecken. Durch welche Transformationen aus dem labil-nervösen Hauptthema am Ende ein entspannt-bukolische Melodie wird, ist zweitrangig. Aber wer das von Beginn an nur als nette Melodie hört, der verpaßt diese Metamorphose und damit auch etwas vom emotionalen Gehalt.
    Bei den mittleren Moll-Sinfonien ist dieser Gehalt vielleicht etwas offensichtlicher, daher mag manchem der Zugang über diese Werke näher liegen.


    :hello:


    JR

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  • Ich schätze Haydns Sinfonien sehr. Eine solche Vielseitigkeit, eine solche Fülle an Ideen, eine solche Ansammlung an musikalischen Finessen ist sehr selten in der Komponistenwelt.
    Wie viele "Hofkomponisten" sind in der Versenkung verschwunden und nur dem Lullisten noch ein Begriff?
    Es ist schon ein Wunder, dass Haydn in der Abgeschiedenheit des Esterhazy-Fürstentums eine solche musikalische Entwicklung durchgemacht und ausgelöst hat. Wie hier ein Leben nicht nur lang sondern auch durchgehend voller Schaffen war und ohne wesentliche Schwächen, ist schon für sich eine Leistung.
    Für die meisten ist das Problem aus meiner Sicht, dass es eben nicht nur 9 Sinfonien von Haydn gibt oder meinetwegen ca. 40 wie bei Mozart (wobei bei dem schon die frühen meist unter den Tisch fallen). Es sind über 100 und die auch noch in einem Stil, der auf den ersten Blick wenig fassbar eigenständiges enthält. Es finden sich nur sehr selten leicht einprägsame, unverwechselbare Themen. Aber das verkennt natürlich Sinn und Zweck der Sinfonik Haydns ebenso wie die vielen kleinen Preziosen innerhalb der Werke. Man sollte schließlich nie vergessen, dass die Musik in ihrer überwiegenden Mehrheit als höfische Unterhaltung konzipiert war, also einerseits für Musikkenner, andererseits für ein Publikum, das schlicht bei Laune gehalten werden musste. Diesen Spagat meistert wohl niemand so elegant und über so eine lange Zeitspanne wie Haydn.
    Die Entwicklung und das Verwobensein seiner Sinfonien mit der Kammermusik findet sich immer wieder, schöne Bsp. sind hierfür die Sturm-und-Drang-Sinfonien, aber auch die Sinfonia concertante. Alle Werke zeichnet eine so wunderbar elegante Leichtigkeit aus.


    Ist man mal im Haydn-Kosmos, findet man alles bei ihm. Und gerade bei den Sinfonien kann man nur staunen, wie da einer tagtäglich solche Kracher rausgehauen hat. Da spricht man über das nahezu manische Schaffen Mozarts, aber was Haydn geleistet hat, steht dem nicht wirklich nach.


    Ich kann jedem nur empfehlen, sich mit Haydn zu beschäftigen und sich nicht von der Zahl der Sinfonien verrückt machen zu lassen. Zunächst sollte die Freude an der Musik im Vordergrund stehen.


    Und für den Konzertsaal wünsche ich mir, dass man Haydn weniger als "Lückenfüller" missbraucht, weil man noch ein 30minütiges Werk vor eine große romatische Sinfonie packen muss, damit die Leute was für ihr Geld kriegen. Da ist Haydn zu schade für.

  • Aus dem was Johannes schreibt, entnehme ich, dass ähnlich wie bei manchen (wahrscheinlich gleichfalls unterschätzten) Werken J.S. Bachs sich dem Hörer die Qualität der Komposition erst erschließt, wenn er die innere Architektur, also die Komposition erkennt und sie auch in ihren zeitlichen Kontext setzen kann. Was wiederum ein gerüttet Maß an Bildung voraussetzt, das man vom durschnittlichen Klassikkonsumenten wohl nicht mehr erwarten kann. Äußerliche Faszination/Ergriffenheit des Werkes reicht nicht, um es richtig einschätzen zu können. Folglich ist es dann schon fast zwangsläufig, dass Haydns Sinfonien unterschätzt werden, denn diese Feinheiten im Detail und das für die damalige Zeiten Neue werden eben von vielen Hörern nicht erkannt. -- Wobei man, wenn man richtig hinhört, auch einige auch äußerlich/oberflächlich zu genießende Stellen findet, sofern sie durch lahmes, mechanisches Spiel nicht ruiniert werden.


    Zur musikgeschichtlichen Seite wäre anzumerken, dass die Forschung ja sehr wohl auf einem neuen Erkenntnisstand sein mag, aber diese populären Bilder aus der Schulzeit sind meist unausrottbar, da sie immer wieder gern in den breitenwirksamen Medien kolportiert werden. Dabei betrifft ein Teil des Verkennens stets die Leistung, die nötig ist, um die Grundlagen für eine neue Form zu setzen. Das Entwickeln der neuen Form und sozusagen der Grundlagen bzw. des Instrumentariums, auf dem dann nachfolgende Generationen aufgesetzt haben, ist ja kein Durchgang im Sinne einer Stagnation, sondern eben die Wegentwicklung vom Alten (Überkommenen) hin zu etwas Neuem. In diesem Sinne also Avantgarde. Wenn man bedenkt, wo Haydn gestartet ist und wo er geendet hat, dann ist das schon ein abgeschlossener Entwicklungsprozess. Am Ende erscheint es uns, als hätte Haydn im Sinne eines mathematischen Axioms die Sinfonie definiert, und alle nachfolgenden Generationen haben damit gearbeitet und daran gearbeitet, teilweise im Bestreben diese Form wieder aufzubrechen.


    Insofern möchte ich nicht ganz von diesem Bild des Vorbereiters abrücken, weil ich schon finde, dass das große Kommende vorbereitet zu haben, ein Verdienst ist, dass man nicht gering schätzen sollte.


    Vielleicht ist Haydns Problem, dass er es verstand, dabei nicht anzuecken. Seine Sinfonien waren evolutionär, nicht revolutionär.


    Gruß enkidu2

    Nach Schlaganfall zurück im Leben.

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  • Nachtrag: In einem Punkt schätze ich Haydn sehr: seine Musik ist kompakt, nicht ausufernd. Insofern überstrapaziert er nicht die Geduld/Konzentrationsfähigkeit der Hörer. Was bei Bruckner ein Satz, ist bei Haydn eine ganze Sinfonie. Also eigentlich ideal für heutige Verhältnisse.

    Nach Schlaganfall zurück im Leben.

  • Zitat

    Original von enkidu2
    Aus dem was Johannes schreibt, entnehme ich, dass ähnlich wie bei manchen (wahrscheinlich gleichfalls unterschätzten) Werken J.S. Bachs sich dem Hörer die Qualität der Komposition erst erschließt, wenn er die innere Architektur, also die Komposition erkennt und sie auch in ihren zeitlichen Kontext setzen kann. Was wiederum ein gerüttet Maß an Bildung voraussetzt, das man vom durschnittlichen Klassikkonsumenten wohl nicht mehr erwarten kann. Äußerliche Faszination/Ergriffenheit des Werkes reicht nicht, um es richtig einschätzen zu können.


    Den Eindruck, daß Bach unterschätzt wird, kann ich nun nicht unbedingt teilen. Du hast mich ein wenig mißverstanden. Es besteht hier überhaupt kein prinzipieller Unterschied zwischen Bach, Haydn und z.B. Bruckner oder Brahms. Deren Sinfonien sind ja keineswegs weniger komplex. Der Unterschied liegt eben darin, daß sich jemand eher oberflächlich von Bruckner beeindrucken läßt (denn von einer Blechexplosion ist man beinahe sogleich entweder abgestoßen oder fasziniert), obwohl er sehr wenig von dieser Komplexität erfaßt, während Haydn an ihm vorüberplätschern wird, weil er, erstmal unabhängig von musikalischer Schulung, z.B. eine andere Zeitskala gewohnt ist. Wer sorgfältig und konzentriert zuhört, wird Details und Zusammenhänge wahrnehmen. Und es gilt ja auch für viele andere Komponisten, daß wir über vieles leicht hinweghören, z.B. Beethoven und Mozart natürlich ebenfalls. Wer sich jahrelang nur Tristan und Salome reingezogen hat, wird Don Giovanni vielleicht erstmal als eher leichte Komödie wahrnehmen.


    Luis Keucos Rede von "höfischer Unterhaltungsmusik" bringt uns m.E. nicht weiter. Zum einen trifft es auf die späten Sinfonien 82-104 schlicht nicht zu; sie wurden für öffentliche Konzerte komponiert. Zum anderen trifft es trivialerweise auf fast alle Instrumentalmusik des 17. und eines Großteils des 18. Jhds. zu. :D Es taugt daher nicht, Unterschiede zwischen einer Corellischen Triosonate, einem Vivaldi-Konzert, einer Bach-Suite und einer Haydn-Sinfonie zu erfassen. Insbesondere muß man sich hüten hier ein "nur" mitzulesen. Die Adressaten der Musik waren eben nicht selten selbst recht ordentliche Musiker und jedenfalls ein mindestens so anspruchsvolles Publikum wie das bürgerliche 100 Jahre später.


    Walter versucht in dem o.g. Büchlein z.B. Unterschiede zwischen den "Pariser" Sinfonien, die angeblich an ein sehr kundiges Publikum gerichtet waren, und den Londonern, die eingängiger und volkstümlicher sein sollten, aufzuzeigen. Wenn er damit recht hat, zeigt das schon, wie schwer es uns oft fällt, solche Differenzen überhaupt wahrzunehmen, ohne darauf aufmerksam gemacht zu werden. Es ist aber sicher richtig und das relativiert doch ziemlich, was ich weiter oben geschrieben habe, daß sich Haydn häufig bemüht, seine kompositorischen Errungenschaften mit einem möglichst populären Stil zu verbinden. Man nehme etwa den Variationensatz aus der Nr. 94. Hier wird auch ein unerfahrener Hörer das Thema leicht durch alle Variationen verfolgen können. Ähnliches gilt für viele andere Stellen (nicht nur) in den Londoner Sinfonien.


    Übrigens habe ich mal wieder drei deja vu's:


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich glaube daß es sich um drei vom Thema her völlig unterschiedliche Thrteads handelt - wobei es natürlich von den Usern abhängt was sie daraus machen.


    Ich teile übrigerns keineswegs die Ansicht, daß man eine Haydn Sinfonie erst mit entsprechendem musiktheoretischem Hintergrund "erfassen" oder "schätzen" kann. Letztlich wurden die Sinfonien fürs Publikum gemacht - und nicht für Musikerkollegen.
    Es ist natürlich für einen Koch leichter zu analysieren was bei der Zubereitung einer Speise die jemand anderer gekocht hat schiefgelaufen sein könnte, bzw worin die Geniaslität dieses Gerichtes liegt, wenn es perfekt zubereitet wurde. Jedoch sollte auch der Kenner und Geniesser ohne eigene Kochkenntnisse die Qualität oder das Mißlingen der Speise erkennen können.


    Haydns späte Sinfonien sind, wenngelich berühmter als seine frühen mit Sicherheit nicht Besser - nur anders. Haydn war stets mit seinen Sinfonien am Puls der Zeit - wobei sich der Zwitgeschmack natürlich im Laufe von Haydns Leben änderte.


    Ich selbst habe die Pracht der (meisten) Haydn-Sinfonien erst nach und nach erkennen und schätzen, ja lieben gelernt. Vielleicht muß man sie öfter hören um die letzten Feinheiten auskosten zu können. Ausserdem sind sie - zumindest meiner Meinung nach - sehr interpretationsempfindlich - im Gegensatz zu Mozarts und Beethovens Werken. Soll heißen, daß manche Qualitäten sich erst bei "idealer" Interpretation zutage treten, während ansonsten die Sinfonien gelegentlich "belanglos" klingen können...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich wollte keineswegs behaupten, daß man für eine Haydn-Sinfonie einen besonderen musiktheoretischen Hintergrund benötigt, jedenfalls nicht mehr oder weniger als für eine von Beethoven, Brahms oder Bruckner.


    Man sollte aber die historische Distanz und die Prägung vieler Hörer durch Beethoven und spätere Komponisten nicht unterschätzen. Das seinerzeitige Publikum war "unverdorben" und hat die Feinheiten viel eher mitbekommen, es sollte sich ja an derlei geistreichen Abwechslungen und Überraschungen erfreuen. Walter hat insofern recht, als daß einige der Scherze in den späten Sinfonien wie der "Paukenschlag", die Invasion der "türkischen Musik" usw. schon vergleichsweise plump daher kommen. Während das Pariser Publikum mit dichten monothematischen Sätzen, feinsinnigen Variationen und Anspielungen auf die Abschiedssinfonien ergötzt wurde. Insgesamt finde ich die These aber ein wenig überspitzt, jedenfalls hat Haydn immer eine Synthese aus Anspruch und Eingängigkeit gefunden und es gibt natürlich auch in den "Londonern" sehr dichte, tiefgründige Sätze.


    Die Aufmerksamkeit, die der vom 19. Jhd. geprägte Hörer evtl. erst lernen muß, ist keine bloße theoretische Angelegenheit. Es ist, wie schon gesagt, erst einmal ein Einlassen auf viel mehr musikalische Ereignisse auf recht engem Raum in ziemlich kurzer Zeit, auf Kontraste anderer Art als in der Romantik usw.
    Abgesehen davon ging es ja nicht um die, die Haydns Sinfonien schätzen, sondern um die Hörer, die sie für tendenziell leichtgewichtig, eher belanglos, Vorstufen oder was weiß ich halten.


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Man sollte aber die historische Distanz und die Prägung vieler Hörer durch Beethoven und spätere Komponisten nicht unterschätzen. Das seinerzeitige Publikum war "unverdorben" und hat die Feinheiten viel eher mitbekommen, es sollte sich ja an derlei geistreichen Abwechslungen und Überraschungen erfreuen. Walter hat insofern recht, als daß einige der Scherze in den späten Sinfonien wie der "Paukenschlag", die Invasion der "türkischen Musik" usw. schon vergleichsweise plump daher kommen. Während das Pariser Publikum mit dichten monothematischen Sätzen, feinsinnigen Variationen und Anspielungen auf die Abschiedssinfonien ergötzt wurde. Insgesamt finde ich die These aber ein wenig überspitzt, jedenfalls hat Haydn immer eine Synthese aus Anspruch und Eingängigkeit gefunden und es gibt natürlich auch in den "Londonern" sehr dichte, tiefgründige Sätze.


    Den mit der Oxfordsymphonie - ebenfalls für Paris geschrieben - eingeschlagenen Weg hat Haydn sich aber nicht getraut in London fortzusetzen; zumindest im ersten Sechser sehe ich nichts, was so dicht wäre wie deren Ecksätze, und auch der zweite Sechser hat fast durchweg leichtere Finali; von den Kopfsätzen kommen auch nicht alle an die 92 heran.


    Finscher argumentiert in seinem Haydn-Buch übrigens ähnlich wie Du, und als Hauptzeuge dient ihm die Londoner Presse, die ein ums andere Mal die Feinheiten der Musik lobt und darauf hinweist, dass es sich um Musik handele, die sowohl dem normalen Hörer, als auch dem "scientific ear" (!) viel Freude biete. Er folgert daraus, dass diese Musik auch darauf angelegt ist, letztere Bedürfnisse zu erfüllen.



    Gruß,
    Frank.

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    Original von Spradow


    Den mit der Oxfordsymphonie - ebenfalls für Paris geschrieben - eingeschlagenen Weg hat Haydn sich aber nicht getraut in London fortzusetzen; zumindest im ersten Sechser sehe ich nichts, was so dicht wäre wie deren Ecksätze, und auch der zweite Sechser hat fast durchweg leichtere Finali; von den Kopfsätzen kommen auch nicht alle an die 92 heran.


    Ich sehe in der 92 keinen "eigenen Weg", sondern vielleicht eine extrem Ausprägung im Spektrum; ähnlich gewichtige Finali haben vorher ja auch nur 82 und 86, und z.B. 89 würde ich als "leichter" ansehen als alle Londoner. Ebenso sind die Kopfsätze von 94, 97 und 98 jedenfalls deutlich länger als in 92 und die beiden letzteren, wenn auch nicht dichter, so doch wesentlich "wuchtiger". Walter meint, daß Haydn mit den ersten Londoner Sinfonien etwas herumexperimentiert und dann recht direkt auf Vorlieben des dortigen Publikums reagiert habe.


    Zitat


    Finscher argumentiert in seinem Haydn-Buch übrigens ähnlich wie Du, und als Hauptzeuge dient ihm die Londoner Presse, die ein ums andere Mal die Feinheiten der Musik lobt und darauf hinweist, dass es sich um Musik handele, die sowohl dem normalen Hörer, als auch dem "scientific ear" (!) viel Freude biete. Er folgert daraus, dass diese Musik auch darauf angelegt ist, letztere Bedürfnisse zu erfüllen.


    Ich habe ja im wesentlichen Walters Ausführungen wiedergegeben; das scheint wohl in Grundzügen Konsens zu sein. Es gibt ja in der Korrespondenz von Wolfgang und Leopold Mozart ähnliche Aussagen, daß eben sowohl Kenner als auch Liebhaber zufriedengestellt werden müssen.


    Ursprünglich ging es mir aber auch darum, daß mir vorher besagte stilistische Unterschiede innerhalb der Sinfonien ab 82, die nachweisbar und sogar teils aufgrund äußerer Umstände erklärbar sind, nie groß aufgefallen waren. Das sollte als weiterer Beleg für unsere relative "Ignoranz" gegenüber solchen Feinheiten dienen. Wenn, dann hätte ich früher höchstens gesagt, daß die Londoner im Mittel eben noch etwas grandioser, näher am Bild der Sinfonie, wie wir es seit Beethoven kennen usw. seien. Daß sie, jedenfalls in mancher Hinsicht auch simpler und mehr auf Effekt bedacht sein könnten, ist mir so nicht bewußt geworden. Und daß eben der "Normalhörer" in London ein anderer war als in Paris...


    :hello:


    JR

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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Luis Keucos Rede von "höfischer Unterhaltungsmusik" bringt uns m.E. nicht weiter. Zum einen trifft es auf die späten Sinfonien 82-104 schlicht nicht zu; sie wurden für öffentliche Konzerte komponiert. Zum anderen trifft es trivialerweise auf fast alle Instrumentalmusik des 17. und eines Großteils des 18. Jhds. zu. großes Grinsen Es taugt daher nicht, Unterschiede zwischen einer Corellischen Triosonate, einem Vivaldi-Konzert, einer Bach-Suite und einer Haydn-Sinfonie zu erfassen. Insbesondere muß man sich hüten hier ein "nur" mitzulesen. Die Adressaten der Musik waren eben nicht selten selbst recht ordentliche Musiker und jedenfalls ein mindestens so anspruchsvolles Publikum wie das bürgerliche 100 Jahre später.


    Da schreibe ich eine Hymne auf Haydns Werk und dann ist es auch nicht recht :boese2:.
    Ich wollte damit Haydns Besonderheit hervorheben, dass er eben nicht wie so viele andere in Vergessenheit geriet, sondern sich durchweg im Gedächtnis der Musikschaffenden und des Publikums hielt, was durchaus schon auf eine besondere Qualität seiner Musik hindeutet.
    Die späten Sinfonien waren Produkte seines verdienten allgemeinen Erfolges und setzten den von ihm eingeschlagenen Weg nur auf einer breiteren Basis fort.
    Ich habe außerdem auf die Kennerschaft des höfischen Publukms hingewiesen, guggst du:


    Zitat

    Man sollte schließlich nie vergessen, dass die Musik in ihrer überwiegenden Mehrheit als höfische Unterhaltung konzipiert war, also einerseits für Musikkenner, andererseits für ein Publikum, das schlicht bei Laune gehalten werden musste.


    Im Übrigen geht keiner auf ein wesentliches Argument ein X(: Die schiere Masse der Sinfonien. Aus 100 eine Lieblingssinfonie zu bestimmen ist schwerer als aus 9.


  • Mit dem Rest bzw. der Lobeshymne war ich ja im wesentlichen d'accord. ("Nichts faßbar Eigenständiges" enthält der Stil aber wieder nur für die, die nur sehr oberflächlich zuzuhören vermögen.) Da ich formal auf Enkidus Beitrag geantwortet hatte, war ich dann zu faul, das auch noch mal ausdrücklich zu sagen.
    Daß die schiere Anzahl abschreckend wirkt, ist sicher ein maßgeblicher Punkt. Man muß sich aber ja nicht gleich mit allen 107 auf einmal befassen. Wenn man die bekanntesten (und vielleicht auch wichtigsten) nimmt, kommt man vielleicht auf 30-40 Werke. (zum Einstieg z.B. 6-8, 44-52, 82-87, 88, 90, 92, 93-104)
    Das sind nicht viel mehr als Beethovens Klaviersonaten und einigermaßen überschaubar. Ich kann auch nur noch mal zustimmen, daß ich es für wesentlich lohnender halte, sich mit diesen Werken (und dem Rest) zu befassen, als den 10. Beethoven- oder den 5. Mahlerzyklus ins Regal zu stellen. Aber jeder, wie er mag...


    :hello:


    JR

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    (Bob Dylan)

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    Original von Johannes Roehl
    Ich sehe in der 92 keinen "eigenen Weg", sondern vielleicht eine extrem Ausprägung im Spektrum; ähnlich gewichtige Finali haben vorher ja auch nur 82 und 86, und z.B. 89 würde ich als "leichter" ansehen als alle Londoner. Ebenso sind die Kopfsätze von 94, 97 und 98 jedenfalls deutlich länger als in 92 und die beiden letzteren, wenn auch nicht dichter, so doch wesentlich "wuchtiger". Walter meint, daß Haydn mit den ersten Londoner Sinfonien etwas herumexperimentiert und dann recht direkt auf Vorlieben des dortigen Publikums reagiert habe.


    Vielleicht war es doch ein Weg; eine interessante Parallele sind hier möglicherweise die Streichquartette (aus dem Gedächtnis, ich höre nachher nochmal genau rein): Im vor dem ersten Londoner Besuch - wenngleich möglicherweise bei den letzten beiden Quartetten mit Blick auf diesen - geschriebenen op. 64 sind viele Durchführungen in einem ähnlichen kontrapunktisch verdichtenden Stil geschrieben wie in der Oxford-Symphonie; im späteren op. 76, nach dem zweiten Londonbesuch geschrieben, tritt dies allerdings wie bei den Londoner Symphonien zurück, eigentlich fällt mir gerade keine Durchführungspassage dieses Stils ein (aber in op. 77, nämlich im Finale von 77,2).
    Das würde bei Vergleichbarkeit zwischen Symphonien und Quartetten bedeuten, dass Haydn den Londoner Symphonienstil nicht so sehr aus der Not entwickelt hat, um ihn bei fähigerem Publikum zugunsten des früheren wieder zu verwerfen, sondern dass er auch später nicht zu dem vorher gepflegten Stil zurückgekehrt ist.



    Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Im Übrigen geht keiner auf ein wesentliches Argument ein böse : Die schiere Masse der Sinfonien. Aus 100 eine Lieblingssinfonie zu bestimmen ist schwerer als aus 9.


    Das sehe ich absolut genauso! Es ist ja überhaupt kein Problem, aus Haydns Symphonien neun auszuwählen, die mindestens so individuell sind wie die neun Beethovens - aber die Masse schreckt einen Haydn-Neuling ab, ganz klar.



    Gruß,
    Frank.

  • Noch mal Glück gehabt, lieber JR.


    Wenn man sich aber ansiet, dass du jetzt mal entspannt 33 Sinfonien als "Basis" angibst, kann man sich da mal schnell 3,5 Beethovenzyklen für ins Regal stellen.
    Dazu kommt, dass jeder große oder halbgroße Dirigent mindestens einen Beethovenzyklus macht, aber bei Haydn ist das oft stiefmütterlich.
    Von den großen Dirigenten gibt es immer nur ein paar Haydn-Sachen und dann oft die selben: Die Londoner Sinfonien, ein paar Messen, vielleicht noch ein paar Namenssinfonien bzw die Pariser und fertig. Das wirkt ein bisschen beliebig. Außer Dorati und Fischer gibt es auch keine ernstzunehmenden GA. Rattle hat zwar neulich im Interview ein große Loblied auf Haydn gesungen, aber herausragende Einspielungen kenne ich von ihm nicht.
    Das Argument, wonach Haydns kurze Sinfonien gut in unsere Zeit passen, finde ich eigentlich einen guten Ansatz, um Haydn populärer zu machen. Keine stundenlangen Werke, sondern schön kompakt, fröhlich, wunderbar gearbeitet, eigentlich ideal für die heutige Zeit.
    Man soll die Hoffnung nie aufgeben...

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  • Zitat

    Original von Spradow


    Vielleicht war es doch ein Weg; eine interessante Parallele sind hier möglicherweise die Streichquartette (aus dem Gedächtnis, ich höre nachher nochmal genau rein): Im vor dem ersten Londoner Besuch - wenngleich möglicherweise bei den letzten beiden Quartetten mit Blick auf diesen - geschriebenen op. 64 sind viele Durchführungen in einem ähnlichen kontrapunktisch verdichtenden Stil geschrieben wie in der Oxford-Symphonie; im späteren op. 76, nach dem zweiten Londonbesuch geschrieben, tritt dies allerdings wie bei den Londoner Symphonien zurück, eigentlich fällt mir gerade keine Durchführungspassage dieses Stils ein (aber in op. 77, nämlich im Finale von 77,2).
    Das würde bei Vergleichbarkeit zwischen Symphonien und Quartetten bedeuten, dass Haydn den Londoner Symphonienstil nicht so sehr aus der Not entwickelt hat, um ihn bei fähigerem Publikum zugunsten des früheren wieder zu verwerfen, sondern dass er auch später nicht zu dem vorher gepflegten Stil zurückgekehrt ist.


    Das kann ich bei den Quartetten nur schwer nachvollziehen und es paßt auch chronologisch schlecht. Im Gegenteil: Vermutlich wurde zumindest op.64,5 in London aufgeführt (evtl. weitere aus dem Opus), op. 71/74 ausdrücklich für London geschrieben, wohingegen op.76 und 77 gar nichts mehr mit London zu tun hatten. In op.76 finden sich überdies etliche sehr dichte Sätze, nicht nur motivisch, sondern auch kontrapunktisch und insgesamt finde ich op.64 eher volkstümlicher und zugänglicher.


    "Aus der Not" ist sicher eine zu starke Formulierung; es handelt sich letztlich um Nuancen und m.E. stehen z.B. 99 und 101-104 an Konzentration und Dichte den Pariser Sinfonien in keiner Weise nach. Haydn kannte das Pariser Publikum ja gar nicht so genau; er ist nie dort gewesen, hat vermutlich einfach im Hinblick auf das sehr gute Orchester die Sinfonien komponiert als systematische Bestandsaufnahme unter Verwendung der mit op.33 eröffneten stilistischen Mittel. Ich müßte aber auch noch einmal nachsehen, was Walter für konkrete Unterschiede nennt.
    Er geht, wenn ich recht erinnere, auch auf die Sinfonien 76-81, die ja ebenfalls schon explizit für ein "unbekanntes Publikum" gedacht waren, ein.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich dachte eigentlich immer, dass Haydn für einen der größten Komponisten gehalten wird und das auch wegen seiner Sinfonien.


    Dass man früher seine vor-Londoner nicht so hoch geschätzt hat, ist mir erst in letzter Zeit bewußt geworden - ich hoffe ja, dass die Zeiten vorüber sind und heute 44 und 45 zu den bedeutendsten und besten Sinfonien der Geschichte dieser Gattung gezählt werden (also neben Mozarts 38-41 oder Beethovens 3-9).


    Außerdem hatte ich nie den Eindruck, dass Haydn besonders kurze Sinfonien geschrieben hätte. Bis 1750 ist die normale Länge einer Sinfonie 5-15 Minuten, um 1770, also zur Zeit von Haydns ersten genialen Sinfonien, ist eine halbe Stunde eher besonders lang als besonders kurz. Ich empfinde auch dementsprechend Haydns Sinfonien keineswegs als kurz und auch nicht besonders dicht in der Fülle des Materials, das ist ganz normal so.


    Es ist viel eher so, dass Bruckner und Mahler ziemlich ausufernde Dinger geschrieben haben. Auch zu deren Zeit sind halbstündige Sinfonien aufzutreiben.


    Im 20. Jahrhundert schätze ich die durchschnittliche Sinfonielänge sogar eher auf eine halbe denn auf eine ganze Stunde. Bei Bedarf kann ich einige sinfonische Zyklen angeben mit Werkdauern (aus dem 20. Jahrhundert habe ich recht viel Orchestermusik gesammelt und eben auch einige Sinfonienzyklen).

  • Zitat

    Original von Luis.Keuco
    Wenn man sich aber ansiet, dass du jetzt mal entspannt 33 Sinfonien als "Basis" angibst, kann man sich da mal schnell 3,5 Beethovenzyklen für ins Regal stellen.


    1 Beethovenzyklus = 5 CDs
    JRs Auswahl = 12 CDs


    1 Mahlerzyklus = 12 CDs
    1 Schostakowitsch-Zyklus = 11 Cds


    Immer schön entspannt bleiben ...

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich teile übrigerns keineswegs die Ansicht, daß man eine Haydn Sinfonie erst mit entsprechendem musiktheoretischem Hintergrund "erfassen" oder "schätzen" kann. Letztlich wurden die Sinfonien fürs Publikum gemacht - und nicht für Musikerkollegen.
    Es ist natürlich für einen Koch leichter zu analysieren was bei der Zubereitung einer Speise die jemand anderer gekocht hat schiefgelaufen sein könnte, bzw worin die Geniaslität dieses Gerichtes liegt, wenn es perfekt zubereitet wurde. Jedoch sollte auch der Kenner und Geniesser ohne eigene Kochkenntnisse die Qualität oder das Mißlingen der Speise erkennen können.


    Der Kenner kennt sich aber auch in der Theorie aus, sonst ist er nur ein Genießer oder Liebhaber ...


    Natürlich kann man das genießen, auch wenn man musiktheoretisch ungebildet ist. Aber man bekommt sehr viel nicht mit, was für ein Kennerpublikum "gemacht war".


    Wie weit das geht, weiß ich nicht. Ich fürchte aber, dass es über das Erkennen von Formteilen und das Wiedererkennen von Motiven (oder "Ideen") hinausgehen sollte.
    8)

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Ich dachte eigentlich immer, dass Haydn für einen der größten Komponisten gehalten wird und das auch wegen seiner Sinfonien.


    Das denke ich eigentlich auch. Zumindest wenn man sich Aufnahmen anschaut, sieht es heute eigentlich auch ziemlich gut aus; wie das in Konzerten außerhalb von Jubiläen ist, weiß ich nicht. Aber daß z.B. Rattle unlängst 88-92 + Concertante mit den Berlinern herausgebracht hat, wovon ja drei Werke nicht so sehr bekannt sind, spricht doch für eine verbreitete höhere Wertschätzung nicht nur der bekanntesten Stücke mit Beinamen. Wie oben schon gesagt wurde, sterben allerdings manche Vorurteile nur sehr langsam aus und mir sind auch noch Konzertführer begegnet, die nur wenige Sinfonien behandeln.


    Zitat


    Außerdem hatte ich nie den Eindruck, dass Haydn besonders kurze Sinfonien geschrieben hätte. Bis 1750 ist die normale Länge einer Sinfonie 5-15 Minuten, um 1770, also zur Zeit von Haydns ersten genialen Sinfonien, ist eine halbe Stunde eher besonders lang als besonders kurz. Ich empfinde auch dementsprechend Haydns Sinfonien keineswegs als kurz und auch nicht besonders dicht in der Fülle des Materials, das ist ganz normal so.


    Das ist im historischen Vergleich sicher richtig.
    Wenn man aber die späteren Werke Haydns etwa denen Mozarts gegenüberstellt, fällt schon auf, daß Mozarts Werke fast immer länger sind, oft deutlich (ca. 20-30% bei Sonatenhauptsätzen wäre meine Schätzung). Es ist aber wohl richtig, daß das eher auf die Breite Mozarts als auf die besondere Knappheit Haydns zurückzuführen ist. Ich meinte allerdings hauptsächlich im Vergleich zu Werken Beethovens (auch da stimmt es freilich nicht immer) oder der Romantik/Spätromantik. Und da halte ich es für richtig, daß man sich auf eine etwas andere Zeitskala einstellen muß, weil man bei Haydn sonst nicht merkt, wie viel sich in vergleichsweise kurzer Zeit tut.


    Zitat


    Es ist viel eher so, dass Bruckner und Mahler ziemlich ausufernde Dinger geschrieben haben. Auch zu deren Zeit sind halbstündige Sinfonien aufzutreiben.


    Kann man wohl so sagen. Wobei 30-45 schon ziemlich normal im 19. Jhd. ist und das ist eben ein Stück länger als Haydns 20-30.


    Zitat


    Im 20. Jahrhundert schätze ich die durchschnittliche Sinfonielänge sogar eher auf eine halbe denn auf eine ganze Stunde. Bei Bedarf kann ich einige sinfonische Zyklen angeben mit Werkdauern (aus dem 20. Jahrhundert habe ich recht viel Orchestermusik gesammelt und eben auch einige Sinfonienzyklen).


    Das glauben wir auch so ;)
    Strawinskys dauern z.B. alle unter 30 min.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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