Haydn Sinfonie Nr. 60 C-Dur "Il Distratto" (Der Zerstreute)
enstanden ca. 1774
Besetzung: je 2 Oboen, Hörner, Trompeten/Pauken, Fagott (mit Baß), Streicher
Nachdem schon bei etlichen anderen Werken auf die gesicherte oder begründet vermutete Wiederverwendung einzelner Sätze aus Schauspielmusiken hingewiesen wurde, kommen wir nun zu der einzigen Sinfonie, die nachgewiesenermaßen komplett aus der Musik zu der Komödie "Der Zerstreute" des französischen Autors Jean-Francois Regnard, besteht.
Äußerlich zeigt sich das am ungewöhnlichen Format in 6 Sätzen; überdies lassen einige Details eine Verbindung zum Inhalt des Stücks erschließen. Lt. Beitext zur Hogwood-Box diente der Kopfsatz als Ouverture, der 6. Satz als "Rausschmeißer" nach dem Theaterstück und die übrigen Sätze als Zwischenaktmusiken. Insgesamt handelt es sich um ein sehr farbiges, abwechslungsreiches Stück, das zu den beliebtesten Sinfonien dieser Schaffensperiode gehört.
1. Adagio (2/4) - Allegro di molto (3/4)
nach kurzer Einleitung folgt ein hauptsächlich rhythmisch bestimmter Sonatensatz in sehr schnellem Tempo. Das Hautpthema ist durch einen 3/8-Auftakt und sforzati geprägt (dadurch denkt man manchmal, es wäre ein 6/8-Takt). Auf das melodischere Seitenthema folgt eine Passage, die auf einem Ton "liegenbleibt", der im pianissimo verschwindet, als sei vergessen worden, wie es weiter gehen soll, bis ein tutti ff dreinfährt; vermutlich schon eine Anspielung auf den Zerstreuten, der u.a. seinen eigenen Hochzeitstermin vergißt.
Die kurze Durchführung verarbeitet zunächst das Hauptthema, dann taucht kurz der Beginn der "Abschiedssinfonie" auf (dürfte m.E. aber Zufall sein). Das Seitenthema leitet zur Reprise über, wobei der oben genannte Effekt des leisen Verebbens hier zum Einsatz des Hauptthemas führt. Die Reprise ist ein wenig verändert, bringt aber keine größeren Überraschungen.
2. Andante (2/4, G-Dur)
Das gemütliche Anfangsthema wird sogleich zweimal von einem Fanfarenmotiv unterbrochen; das zweite Thema (mit einer kanonischen Passage) findet aber wieder zu einer etwas steifen Behaglichkeit zurück. Ein weiteres prägnantes Motiv bestimmt die Schlußgruppe. Die Durchführung beginnt mit dem Hauptthema, das noch stärker als vorher durch Einwürfe gestört wird und bald einer neuen Figur mit Trillern und barocken Punktierungen Platz macht, dies mündet in eine recht geheimnisvolle Passage. (Man hat hier wohl versucht, die einzelnen Motive als Charakterisierungen einiger der Personen des Theaterstücks zu sehen.) Darauf setzt recht unvermittelt die Reprise ein, die in der Fortspinnung des Hauptthemas vorübergehend etwas gestört wird, aber das war nun die letzte Irritation und der Schluß verläuft völlig regulär.
3. Menuetto
Das Menuett beginnt zunächst konventionell, etwa pompös, entsprechend der Tonart und der Besetzung mit Pauken/Trompeten. Es folgt dann im piano eine "gelehrte" Passage der Streicher, die aber gar nicht recht in Gang kommt, sondern von einem Auftreten der Hauptphrase in Moll abgelöst wird, worauf sich als weiterer Kontrast eine Art lyrisches Seitenthema anschließt, bevor der erste Achttakter rekapituliert wird. Vielleicht wieder eine Anspielung auf die Zerstreutheit?
Das Trio (c-moll) beginnt mit einem Unisono, eine chromatische Staccato-Melodie der Oboen erzeugt eine "exotische" Atmosphäre, zunächst beinahe düster, dann nach Dur aufgehellt, aber durchweg pittoresk.
4. Presto (2/4, c-moll)
Das ist der vielleicht am offensichtlichsten theatralische Satz des Werkes. Das Stück beginnt nur mit Streichern (dann Oboen) mit einer in wuchtigem Unisono vorgetragenen tanzähnlichen Phrase. Die entwickelt sich dann aber in ein Sturm&Drang-ähnliches Stück (Die "Exposition" geht nach Es-Dur, aber es ist gibt keine greifbare Gestalt für ein "2. Thema"). Im Mittelteil tritt zuerst ein neues Unisono-Motiv auf, man meint, in einer Art Rondo zu sein, als das Eingangsthema kurz rekapituliert wird, dann schließt sich jedoch ein wilder, ziemlich sicher an balkanische Volksmusik anknüpfender Drehtanz (vgl. z.B. auch das Finale von op.33,3) an. In der Reprise (es handelt sich nicht um einen regulären Sonatensatz, aber von dem neu auftauchenden Material abgesehen, folgt er der wesentlichen Struktur) folgt dann die Wende zum festlichen C-Dur, mit einer Variante des Anfangsthemas und plötzlich vollem Orchester mit Blech und Pauken. Sehr mitreißend!
5. Adagio (2/4 F-Dur)
(Die Bedeutung des in einigen Abschriften zu findende Zusatz "di lamentatione" ist ungewiß, vielleicht wurde eine (unidentifizierte) gregorianische Melodie verarbeitet)
Serenadenhafter Beginn mit pizzicato der tiefen Streicher und Arpeggien der 2. Vl., zunächst nur Streicher. Dann verdoppelt die Oboe sehr effektiv. Auf eine kurze Molleintrübung folgen plötzlich Fanfaren des gesamten Orchesters im forte, denen sich ein neues punktiertes Motiv, in Oboen und hohen Hörnern, Streicher wieder pizzicato anschließt. Beides Fremdkörper in der schmeichelnden Seneradenstimmung (als ob die Militärkapelle das Ständchen stören würde). Die Serenade wird jedoch unbeirrt fortgesetzt, noch einmal unterbrochen von einer Triolenpassage (staccato).
Zum Abschluß folgt plötzlich eine "wiegende Figur", die in den letzten Takten zum Allegro beschleunigt und zum forte gesteigert zum überraschenden Schluß führt.
6. Finale Prestissimo (2/4)
Ein feuriger Einsatz mit Akkordschlägen und Tremoli mündet in Kakophonie! Der Maetro klopft ab: Die Violinen müssen das Stimmen nachholen, was krächzend geschieht. Nun kann es weitergehen. Als Kontrast tauchen im diesen rasenden Kehraus kurz eine kleine, vermutlich wieder der Volksmusik entlehnte oder nachempfundene Melodie (Streicher unisono) und ein Triolenmotiv auf.
JR