Joseph Haydn: Symphonie Nr. 43 Es-Dur "Merkur"
Komponiert 1770 oder 1771, in zeitlicher Nachbarschaft zu den Symphonien 42, 44 ("Trauer") und 52.
Besetzung: 2 Oboen, Fagott, 2 Hörner, Streicher.
Der Kopfsatz (Allegro, 3/4-Takt) beginnt mit einem lyrischen, weit ausgesponnenen Thema; dreimal initiieren dabei Forte-Schläge eine kurze gesangliche Passage, die jedoch schnell "liegenbleibt". Erst danach darf sich das Thema aussingen, bis dann in Takt 26 plötzlich die Violinen mit Sechzehntelläufen und Tremoli in die Idylle platzen. Über den Tremoli entwickeln nun absteigende Skalen der Oboen Vorwärtstrieb; etwas abgewandelt, bestimmen diese Skalen in den Streichern den Rest dieser Überleitungspassage. Das Seitenthema (ab Takt 60) ist wieder sehr lyrisch und verwendet überdies Material des Hauptthemas, so dass der Kontrast zu diesem minimal ist. Die Schlussgruppe entwickelt über synkopische Rhythmen und Skalenmotive wieder einige Energie.
Die Durchführung (ab Takt 99) verarbeitet nach diesem bewegten Abschnitt erstaunlich ruhig eine kurze Zeit das Hauptthema modulierend. Es entwickelt sich keine Spannung (woher auch, hatten Haupt- und Seitenthema doch einen völlig identischen Tonfall), und so wird schon in Takt 113 das Hauptthema in der Tonika und damit die Reprise erreicht. Doch das Thema findet keine Fortsetzung, und nun melden sich die in der Durchführung schändlicherweise übergangenen Skalen- und Oktavsprung-"Motive" und Tremoli aus den Überleitungen zu Wort und fordern ihr Recht in wütenden Entladungen ein. Wie auch die Durchführung im ersten Satz der "Trauersymphonie" entwickelt diese Passage ihre Wucht durch die kontrapunktische Verarbeitung von einfachstem Material, kombiniert mit synkopischen Rhythmen.
Nach dieser Entladung muss sich das Hauptthema erst wieder "finden": Teile desselben, teils dissonant im Abstand einer kleinen Sekunde, melden sich zu Wort und leiten chromatisch zum Einsatz des Hauptthemas über - allerdings in der falschen Tonart As-Dur. Auch der zweite Anlauf verfehlt mit F-Dur das Ziel, und erst beim dritten Einsatz findet sich das Hauptthema in Es-Dur wieder, um die Reprise nun geregelt zuende zu bringen. Die Tremoli haben sich dabei in ihrem Ausbruch anscheinend völlig entladen und erscheinen in der Reprise nicht wieder; stattdessen darf das Hauptthema sich noch ausgiebiger aussingen, und der Satz endet ruhig und ohne weitere Konflikte.
Der zweite Satz (Adagio, As-Dur, 2/4-Takt) ist in Sonatenform gehalten. Die Violinen spielen con sordino, und die Bläser werden recht sparsam eingesetzt. Das Hauptthema weist eine eine recht komplexe Rhythmik mit punktierten Achteln und Sechzehnteln und Triolen auf, außerdem den Hang zu Tonrepetitionen. Diese durchziehen in der Folge den ganzen Satz, vor allem die dem Hauptthema und einer schmerzlichen Sforzato-Dissonanz folgende Überleitungspassage; in dieser werden auch die Hörner zum ersten Mal aktiv. Das Seitenthema beginnt (wenn ich es korrekt einordne) in Takt 37 und wird unter starker Mitwirkung der Hörner und zum ersten Mal auch der Oboen gestaltet.
Die Durchführung (Takt 49) führt zunächst eine charakteristische Wendung aus dem Hauptthema in dunklere Regionen, bevor nach einer kurzen bewegteren Phase mit den Tonrepetitionen ein anderer Teil des Hauptthemas das Regiment übernimmt und nach einer erstaunlich langen Zeit ohne "Fortschritt" in die Reprise (Takt 81) überleitet.
Wie im Kopfsatz wirken die Wogen auch hier etwas geglättet, weil das dissonante Sforzato aus der Exposition einem weicheren Übergang weicht. Ansonsten ist die Reprise unverändert.
Es folgt als dritter Satz ein Menuett in Es-Dur, das durch stampfende Tonrepetitionen gekennzeichnet ist, aus denen eine recht derbe Melodie gebildet wird. Das Trio wirkt dagegen weitaus zierlicher; das Material ist hier im Prinzip nur ein kurzes Motiv, das in beiden Abschnitten des Trios unter wechselnder instrumentatorischer und harmonischer Beleuchtung und teils etwas variiert wiederholt wird.
Der Finalsatz (Allegro, Es-Dur, 4/4 Takt (alla breve)) beginnt mit einem recht ruhigen, lyrischen Thema, das dann aber durch Sforzati intensiviert wird und in eine ziemlich wilde Passage mit Tremoli in den tiefen Streichern überleitet.
Das Seitenthema (ab Takt 34) besteht aus einer fallenden Achtelkette, zunächst pianissimo in den Violinen und dann durch die restlichen Streicher und forte-Anweisung verstärkt.
Die Durchführung beginnt in Takt 65 mit dem Hauptthema in B-Dur, führt dann aber die energische Überleitungspassage durch, worauf das Seitenthema in die Reprise überleitet, in der die Überleitungspassage verkürzt ist.
Im Gegensatz zu Haydns anderen Symphonien dieser Zeit folgt der Reprise eine lange Coda (die auch erst nach der Wiederholung von Durchführung und Reprise gespielt wird), in der Haydn das Hauptthema durch den Kakao zieht, indem er es immer wieder mit sehr großen Notenwerten einbremst und neu ansetzen lässt, versucht, durch Elemente der Überleitungspassage dem Geschehen Schwung zu verleihen, aber wieder auf dem Hauptthema bis zum völligen Stillstand abbremst, um die Symphonie zum Schluss dann doch mit einer jubelnden Stretta zu beenden.
Insgesamt eine sehr interessante Symphonie, mit formellen Ungewöhnlichkeiten und ausgeprägtem Spiel mit den Erwartungen des Zuhörers. Charles Rosen verwendet den Beginn des ersten Satzes in seinem Buch "der klassische Stil" als Negativbeispiel für die Entwicklung von Vorwärtsdrang aus einem lyrischen Thema heraus beim mittleren Haydn (die er später perfekt beherrsche); James Webster (auf Haydn107.com) widerspricht dem und sieht die "beschauliche entspannte Schönheit" (Rosen) als Zweck. Seine Argumentation, die Passage mit den Tremolo-Sechzehnteln biete dem Hörer nach dem weit ausgebreiteten Thema das ersehnte Neue, geht aber leider nicht auf Rosens Bemerkung ein, diese Passage könne eben keinen Vorwärtstrieb erzeugen, sondern wirke nur als eine "Irritation in den Violinen" (zitiert aus dem Gedächtnis, das Buch liegt mir zur Zeit nicht vor).
Laut Webster stammt der Beinahme "Merkur" der Symphonie aus dem 19. Jahrhundert, ohne dass es eine erkennbare Begründung für ihn gibt.
Gruß,
Frank.