Am 04.12.1920 war der damals 23-jährige Komponist Erich Wolfgang Korngold an der Hamburgischen Staatsoper zu Gast . Er besuchte die umjubelte Uraufführung seiner Oper „Die tote Stadt“, die am selben Tag ebenfalls in Köln erstmals gezeigt wurde. Nach einer Vorlage des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach („Bruges-la-Mortes“ und „Le Mirage“) hatte ihm sein Vater, der Wiener Musikkritiker Julius Korngold, unter dem Pseudonym „Paul Schott“ (zusammengesetzt aus dem Namen der männlichen Hauptrolle der Oper „Die tote Stadt“ und dem Musikverlag Korngolds, B. Schott) das Libretto geschrieben.
Die Oper eroberte sich schnell weitere Bühnen, es war ein echtes Erfolgsstück in den 20-er und frühen 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ein Erfolg, der jäh abbrach, als Korngolds Musik, der Komponist galt den Nazis aufgrund seiner jüdischen Abstammung als „entartet“, verboten wurde. Korngold, der nach Amerika emigrierte, komponierte zunächst einiges an Filmmusik, versuchte aber später, auch mit klassischen Werken wieder mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen, was misslang. Als Korngold im Jahr 1957 in Los Angeles verstab, war ein Grossteil seiner Musik kaum noch bekannt.
Das „Landestheater Niederbayern“, das die Städte Landshut, Passau und Straubing bespielt, konnte nun am 04.04.2009 die Erstaufführung von Korngolds „toter Stadt“ in Passau vermelden. Premiere in Landshut war am 17.04.2009, diese Aufführung wurde von mir besucht.
Die Bühne zeigt eine karg eingerichtete, moderne Küche, links ein grosser Kühlschrank, in der Mitte rechts ein Tisch mit Frühstückskaffeeeindeckung, im Hintergrund eine kleine Küchenzeile, darüber drei versetzt angebrachte Fenster.
An den Wänden und auch am Kühlschrank hängen überall Kohlezeichnungen – Potraits, Rosen, eine Handfessel, z. B.
Zu den wenigen Einleitungstakten des Stückes lässt Regisseur Stefan Tilch schlaglichtartig Bilder auf der Bühne nachstellen, einer Fotoserie vergleichbar. Paul und Marie am Kaffeetisch sieht man da, aber auch ein Bild, dass die ermordete Marie im Stuhl sitzend zeigt, während der Mörder, ihr Ehemann Paul, hinter ihr stehend auf die Leiche blickt.
Dieses fotografische Element wird der Regisseur den ganzen Abend über immer wieder einsetzen, es werden oft dieselben Konstellationen zu sehen sein, es sind Erinnerungsbilder des schwer psychotischen Paul, aus dessen Perspektive diese Inszenierung die Geschichte der Oper erzählt.
Zu Beginn der eigentlichen Handlung stehen Brigitta und Frank in der Küche, sie mit einem Klemmbrett, er mit einem Notizbuch in der Hand, er im schwarzen Anzug, sie im schwarzen Kostüm. Beide, und dies ist eine weitere, durchaus raffinierte, Doppelbödigkeit, die der Regisseur in die Geschichte eingebaut hat, sind nicht jene Haushälterin und jener Freund des Hausherren, die das Libretto benennt, aber Paul hält sie in seinem Wahn für diese beiden Personen, die Auflösung dieser Situation liefert die Regie erst punktgenau und gekonnt im Schlussbild.
Auftritt Paul: gestreifte Pyjama-Hose, Bademantel darüber, schulterlanges dunkles Haar, unsteter Blick. Er, der seine Frau nicht nur verloren, sondern getötet hat – über die Hintergründe der Tat erfahren wir nichts -, lebt in einer Traumwelt. Er bewahrt das Gedenken an seine tote Frau mit fast religiöser Konnotation, im Falle der Aufbewahrung eines Zopfes im Grenzbereich des Fetischismus.
Nun hat er in der Stadt eine lebenslustige Tänzerin gesehen, die der Toten gleicht und die ihn besuchen kommt.
Die Tänzerin Marietta, im hochgeschlossenen, schwarzen, von schmalen Streifen durchzogenen und am Rücken durchbrochenen Kleid, gross, schlank, attraktiv beherrscht sofort die Szene. Paul, scheu, neurotisch, von Zwangshandlungen gequält, bestaunt die Frau, fühlt sich angezogen und doch auch abgestossen von ihrer sexuellen Ausstrahlung.
Durch die Fenster schauen die Nachbarn gespenstisch herein – über den Köpfen, grosse Masken mit verzerrten Gesichtern. Die Schlaglichter durchbrechen die tatsächlich ablaufende Szene mit dem Erinnerungskino in Pauls Kopf, wo Marie und Marietta zur nicht unterscheidbaren, einen Person werden.
Alle Requisiten, ob die Rosen oder die Mandoline, später der Schlüssel oder Mariens Zopf, existieren nicht. Es sind die Zeichnungen, die diese Gegenstände zeigen, die die Protagonisten anstelle der Gegenstände in den Händen halten werden.
Wenn Marietta also Mariens Mandoline in die Hand nimmt, um jenes Lied vom „Glück, das mir verblieb“ anzustimmen, steht die Sängerin mit der Zeichnung der Mandoline auf der Bühne. Die Perspektive wechselt blitzschnell – am Kaffeetisch sitzen Marie und Paul beim Frühstück und singen das Lied, sie schenkt Kaffee ein, beide berühren sich in einer zärtlichen Geste gegenseitig die Nasenspitze. Auch dieses Bild wird die Regie als Zitat immer wieder den Abend über wiederholen lassen.
Allerdings ist Marietta anders drauf, als die tote Ehefrau. Marietta nimmt sich aus dem Kühlschrank eine Dose „Brugge light“, spritzt sich und die Küche voll und Paul wird fast manisch den ihm heiligen Küchentisch von den Befleckungen reinigen.
Wenn der zweite Akt beginnt, verändert sich die Szene nicht: die rückwärtige Küchenzeile fährt nach oben – und gibt den Blick auf die völlig identische Küchenzeile dahinter frei.
Ein Kind (das Kind von Paul und Marie?) hüpft im roten Mantel über die Szene, auch dieses Mädchen scheint nur eine Phantasmagorie zu sein.
Die Aussenwelt dringt fast nur in Form der gespenstigen Nachbarn in diese Küchenzelle, in der Paul gefangen ist. Stumm und oft streng in der Choreografie ziehen sie anklagend über die Szene. Die Chöre werden über Lautsprecher zugespielt, die jene Nachbarn installieren.
Die Komödiantengruppe um Marietta klettert durch die Fenster in die Küche. Victorin als Trümmertunte ist mit dem im Army-Look auftretenden Graf Albert liiert, der ihm elegant die Beine rasiert, wendet sich aber auch schon mal dem knackigen, jungen Gaston mit seiner grossen Intellektuellenbrille zu, Fritz, im Zorro-Kostüm, ist der Drogendealer der Gruppe und schiesst Juliette das frisch aufgekochte Heroin in die Vene, Lucienne zeigt sich im Catwoman-Kostüm.
Zur Auferstehungsszene aus „Robert, le diable“ (jenes Stück von Meyerbeer spielt Marietta zum Zeitpunkt der Handlung an der Oper) kommt Marietta aus dem Kühlschrank, albtraumhafte Horrorclowns begleiten den Showdown zwischen Paul und Marietta, bevor Paul endgültig der schönen Frau verfällt.
Keine Prozession im dritten Akt, alles spielt sich zwischen Paul und Marietta ab – bis zu jenem Punkt, an dem Paul Marie/Marietta umbringen wird.
So, wie das Publikum diese Szene schon oft den Abend über als Schnappschuss gesehen hat, hängt jetzt Marie/Marietta im Stuhl und Paul zeichnet wie besessen die Tote. Alle Bilder sind also Zeichnungen von ihm und hier klärt sich auch langsam die Grundsituation des Stückes.
Im letzten Bild ist der Raum noch immer der gleiche – aber die Küchenzeile ist verschwunden und anstelle des Kühlschranks sieht man die gepolsterte Tür eines Raumes in einer psychiatrischen Anstalt. Wie zu Beginn stehen Frank und Brigitta mit dem Notizbuch und dem Klemmbrett vor Paul – nur tragen sie diesmal über der Zivilkleidung Ärztekittel. Sie beobachten den Patienten. Die Ärztin spricht Paul an, er hört, eine sehr stimmige Bühnensituation, die Stimme Brigittas, die über Lautsprecher zugespielt wird. Ihm wird eine Injektion gesetzt, vielleicht ein Medikament, das sediert. Die Nachbarn in den Fenstern sind nun auch als Ärzte zu erkennen, die ebenfalls den pathologisch anscheinend bemerkenswerten Fall Paul beobachten.
Nur Paul sieht Marietta zurückkommen, während das „Glück, das mir verblieb“ noch einmal erklingt, die Frühstückskaffeeszene wiederholt sich noch einmal. Zum letzten Mal folgt ganz am Ende ein Schnappschuss: er zeigt Paul am Kaffeetisch in seinem Krankenzimmer – und folgerichtig ist der Stuhl von Marie/Marietta leer.
Regisseur Stefan Tilch ist über weite Strecken sehr genau, auch in den Details: am Kühlschrank hängt ein Bild von Marie, das für die Szenen mit den Kirchenglocken oder der Prozession mit einem Kreuz überblendet und sich am Ende als Spiegel, in dem sich Marietta betrachtet, zeigen wird, bevor Paul das Portrait von Marie in den Rahmen setzt.
Oder die Handschellen am Hosenbund eines der Nachbarn, wohl ein Hinweis auf die Verhaftung des Gattinnenmörders Paul.
Einzig die Komödiantenszene überzeugt nicht wirklich – hier setzt der Regisseur zu sehr aufs plakativ-oberflächliche, was zu der psychologisch ausgefeilten, restlichen Inszenierung im Widerspruch steht.
Das Landshuter Theater ist sehr klein. Das gilt nicht nur für Bühne und Zuschauerraum, das gilt auch für den Orchestergraben. Ein gross besetztes Stück wie Korngolds „tote Stadt“ lässt sich nur in einer an diese räumlichen Verhältnisse angepassten Fassung spielen.
Für den Klang erschwerend kommt hinzu, dass etwa die Hälfte des kleinen Orchesters unter der Bühne sitzt – und somit gerade die Blechbläser einen „Deckel“ über sich haben, der den Schall nur nach vorne abstrahlen lässt, was sich für die Streicher insgesamt eher ungünstig auswirkt. Die drei Kontrabassisten – vor allem, der dritte – sitzen ganz rechts aussen, auf Höhe des Publikums, auch das verschiebt die Klangbalance.
So waren die ersten Takte der Korngold-Oper ein Klangereignis, an das sich der berichtende Zuhörer erst gewöhnen musste. Am besten gelangen dem Orchester dann auch die ruhigeren Passagen, die Tutti-Stellen blieben problematisch, besonders, wenn dann raumsprengend und schlecht ausgesteuert die Orgel zugespielt wurde. Was allerdings ohne viel Aufwand verbessert werden kann: die Orchesterdisziplin. Das Zusammenspiel, die rhythmische Präzision, der Wille zur Gestaltung, das alles hat mit der Orchestergrösse nichts zu tun – die meisten der hörbaren Fehler wären vermeidbar gewesen und wenn man das befeuernde Dirigat des GMD Basil H. E. Coleman, der mit zügigen Tempi an die Partitur herangeht, erlebt hat, wenn man gesehen hat, wie er sich bemüht, Bühne und Orchester zusammenzuhalten, auch Impulse zu geben, dann wünscht man ihm teilweise aufmerksamere Orchestermitglieder und mehr Proben, um die abzuholen, die nur „Dienst nach Vorschrift“ machen.
Die Sopranistin Sally du Randt in der Doppelrolle Marie/Marietta ist ein echter Gewinn für ein kleineres Theater – in ihren besten Momenten ist die Sängerin richtig gut: strahlkräftig, mit hellem Stimmklang, wortverständlich und höhensicher präsentiert sich Sally du Randt, geschickt auch da, wo sie kleinere Probleme kaschieren muss.
Dan Chamandy mutet sich die anstrengende Partie des Paul zu. Hörbar kämpft der Sänger mit der Lage seiner Rolle, trotzt aber seinem grobkörnigen, etwas unruhigem und nicht immer sicherem Tenor die Partie ab, ohne dass die Stimme schon echte Schäden hören lassen würde. Auch wenn der Tenor zeitweise an sein Limit gerät ist bemerkenswert, dass er immer zu gestalten versucht und vor allem bei den zurückgenommen Tönen zu punkten versteht.
Darstellerisch sind beide, vor allem Dan Chamandy, ausgezeichnet, da gibt es keinen Moment an Leerlauf und das Zusehen ist den ganzen Abend über richtig spannend.
Die anderen Partien sind so besetzt, wie das wohl an einem Theater dieser Grösse unvermeidlich ist, der Bariton Kyung Chun Kim als Frank/Fritz macht da, mit einigen Abstrichen, noch die beste Figur.
Starker Beifall für diese Produktion, Ovationen für du Randt, Chamandy, Coleman und Tilch, sicher ein Anreiz, solche Aufführungen auch in Zukunft ins Programm zu nehmen.
In der kommenden Spielzeit gibt’s gleich vier Erstaufführungen am „Niederbayerischen Landestheater“: Bellinis „Sonnambula“, Händels „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“, einen Abend mit Madrigalen von Gesualdo, gekoppelt mit Dallapiccolas „Prigioniero“, sowie Massenets (ganz reizende) Oper „Chérubin“.
Zu wünschen ist den Landshutern, dass die Stadt Gelder für eine notwendige Renovierung des in die Jahre gekommenen Theaters bewilligen möge – vielleicht lässt sich sogar der Orchestergraben behutsam modernisieren, aber auch der Zuschauerbereich braucht eine Verbesserung. Allein die Toilettensituation geht eigentlich nicht – es gibt eine einzige, winzige Herrentoilette, das ist nicht wirklich zumutbar.