Man stelle sich vor, Giuseppe Verdi hätte es nicht geschafft, seinen DON CARLOS an der Pariser Oper unterzubringen, deshalb auf den OTELLO verzichtet und dennoch, obwohl schwer krank, nach seinen vielen Tragödien als letztes Bühnenwerk erstmals eine filigrane Komödie nach einem Stoff seines Lieblingsdramatikers geschrieben, nämlich den FALSTAFF.
So ähnlich war die Situation für Hector Berlioz, als er von Edouard Bénazet, dem Intendanten des damals hochmondänen Baden Baden, in dem der europäische Hochadel zu kuren beliebte, wenn er nicht gerade nach Bad Ems ging um Offenbach zu hören, den Auftrag einer Oper zur Einweihung seines neuen Opernhauses erhielt. Ursprünglich wollte Bénazet einen Stoff über den Dreißigjährigen Krieg vertont haben, aber Berlioz verspürte wenig Lust dazu und konnte seinen Auftraggeber schließlich überreden, die Shakespeare-Komödie VIEL LÄRM UM NICHTS zu akzeptieren, mit deren Vertonung Berlioz schon seit fast dreißig Jahren geliebäugelt hatte ohne jemals Gelegenheit zu finden, sie tatsächlich zu vertonen.
Es ist wirklich zu schade, dass Berlioz ein Leben lang mit so viel Widrigkeiten zu kämpfen hatte, denn wir können nur ahnen, wieviel wunderbare Musik uns aus diesem Grunde entgangen ist, denn von einer nachlassenden Inspiration ist in seinem letzten originären Werk (danach schrieb er nur noch eine Einleitung zu dem zweiten Teil der TROYENS, als diese eigenständig aufgeführt werden sollte) nicht das Geringste zu spüren. Tatsächlich ist es die zweite Krönung seines Schaffens und das perfekte Gegenstück zu der anderen. Es ist kurz, heiter und in einer Weise konzentriert, die für einen Romantiker mehr als erstaunlich ist.
Da er ursprünglich nur einen Einakter plante, übernahm Berlioz, der sich wie immer auch das Libretto selbst schrieb, von Shakespeare nur das Hauptthema der kontrastierten Liebe zwischen zwei schwärmerischen jungen Leuten und den schon erfahreneren, im Doppelsinn gewitzten Titelhelden, die einander so sehr verabscheuen, dass sie sich bei jeder Begegnung bis auf das Blut reizen müssen, irgendwann aber erkennen, dass sie einander brauchen und füreinander dasselbe empfinden, was andere Liebe nennen, auch wenn sie sich das bis zum Schluss nicht eingestehen, wie der letzte Dialog deutlich macht, in dem sie das selbe sagen, aber zu den irrlichternden Tönen, mit denen auch die Ouvertüre beginnt, als Streitduett formulieren:
BÉNÉDICT:
Die Liebe ist eine Fackel
BÉATRICE
Die Liebe ist eine Flamme
BÉNÉDICT
Ein Irrlicht von irgendwo her
BÉATRICE und BÉNEDICT
Das erglüht und verlischt
BÉATRICE
Um unsere Seele zu reizen
BÉNÉDICT
Und den angelockten Narren zum Wahnsinn zu treiben.
BÉATRICE und BÉNEDICT
Nun, Vernarrtheit ist schließlich besser als Dummheit
...
Für heute gelte Waffenruhe
Doch werden wir morgen wieder Feinde sein.
Klingt das nicht schon sehr nach Boitos Worten für Verdis Abschlusskanon zum FALSTAFF, „Auf der Welt ist alles Narrheit?“ Könnte es sein, dass Berlioz schon wusste, das er kein weiteres Werk schreiben würde, als er auf diesem Stoff bestand?
Man höre das mal von Susan Graham oder Janet Baker:
Nach dem großen Erfolg, der, wie schon zuvor L'ENFANCE DU CHRIST, von seiner Umwelt als "ein völlig neuer Berlioz" wahrgenommen wurde, hätte er die Möglichkeit dazu leichter bekommen als je zuvor in seinem Leben, das immerhin noch sechs Jahre halten sollte. Aber Berlioz verspürte wohl ähnlich wie Verdi, dass er seinem Schaffen nicht wirklich Neues mehr hinzufügen konnte - oder wollte, als er seiner Freundin, der Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein, schrieb, die ihm schon die TROYENS abgerungen hatte und nun eine Oper über Antonius und Cleopatra drängte: "Nichts mehr davon. Othellos Aufgaben sind erledigt." Erneut: welch eine seltsame Parallele. Aber vergessen wir nicht: Berlioz schrieb seine letzte Oper schon einige Jahrzehnte vor Verdis OTELLO und seinem FALSTAFF, den ich bekanntlich für die (fast) einzig perfekte Oper halte. Kein Wunder also, dass auch BÉATRICE ET BÉNÉDICT zu meinen absoluten Lieblingswerken gehört und, wie übrigens der FALSTAFF zu DON CARLOS und OTELLO, das perfekte Gegengift ist, wenn man zu tief und zu lange in den großen Leidenschaften der Vorgänger gebadet hat.
Wenn man dieses hochkonzentrierte und im Gegensatz zu dem frühen BENVENUTO CELLINI ganz und gar nicht laute, fast stillvergnügte Werk hört, kann man kaum glauben, dass Berlioz’ Leben zu diesem Zeitpunkt alles andere als heiter war. Sein Privatleben war unerfreulich, seine TROYENS nirgendwo unterzubringen, und er musste weiterhin sein Brot mit der ungeliebten Tätigkeit als Theaterkritiker fristen. Zudem litt er an einer schweren Nervenkrankheit, deren sehr schmerzhafte Symptome er nur mit starken Dosen von Beruhigungsmitteln lindern konnte, die auch jede Kreativität abdämpfen mussten. Um so erstaunlicher, wie heiter und frei von jeder Boshaftigkeit, an der es seinen Kritiken nie mangelte, diese Oper daher kommt. Selbst die Karikatur eines stockakademischen Chorleiters erhält versöhnliche Aspekte und bekommt eine besonders heitere Sicilienne gegönnt, aus der schiere Lebensfreude spricht.
Kontrastiert wird das unter anderem mit einem der schönsten lyrischen Duette der Operngeschichte, das „Nuit paisible et serène“ (Friedvolle, erhabene Nacht) zwischen der jungen, verliebten Héro und ihrer Dienerin Ursule. Als ich vor vielen Jahren und einige Zeit vorher das Duett zwischen Dido und Aerneas, „Nuit d’ivresse et d’extase infinie“ (Nacht der Trunkenheit und der unendlichen Extase) gehört hatte, war ich sicher, dass es nichts Schöneres gibt als dieses. Dann kam dieses in Duktus und Vollkommenheit sehr ähnliche, aber dennoch ganz andere Duett auf meinen Plattenteller, und ich war erneut hingerissen und fasziniert. Davon, mit welch relativ einfachen Mitteln man so viel Schönheit erzeugen kann, aber auch davon, wie unterschiedlich und ihrem sehr konträren Text angemessen diese Duette sind. Während das frühere in immer wieder aufsteigenden Bögen nach der Erfüllung einer unstillbaren Sehnsucht drängt, prangt das spätere von eben dieser Erfüllung, indem es einfach dahin schwebt und die Seele des Zuhörers mitnimmt. Wer sich von diesen Duetten nicht hinreißen lässt, ist nicht nur für die Oper verloren. Wer es nch gar nicht kennt, kann es - leider nicht nur technisch suboptimalen Fassung mit Nathalie Manfrino als Hero und Elodie Mechain als Ursule unter der - erstaunlich pauschalen - Stabführung von Colin Davis hier auf YouTube hören: "http://www.youtube.com/watch?v=hQk9KWRsEXk".
Aber ich will nicht zuviel von dem vorweg nehmen, was man zu diesem wundervollen Werk sagen kann, nur noch auf den neuen TMOO-Thread hinweisen, in dem ich meine beiden Lieblingsaufnahmen der Oper besprochen habe: TMOO - Béatrice et Bénédict
Nun seid erst einmal Ihr dran. Kennt Ihr dieses Werk? Wenn nein, warum nicht??????
Und vor allem, was haltet Ihr davon und von seinen Aufnahmen?
Ich warte jedenfalls sehnlichst auf die erste gute DVD.
Jacques Rideamus