Der Fliegende Holländer als maritime Geisterstunde mit liebevoller Erlösungsstimmung

  • Mit Richard Wagners Oper „Der Fliegender Holländer“ eröffnet das Staatstheater Braunschweig glanzvoll
    die neue Opernsaison

    Schon vor Beginn der Oper stimmte die Regisseurin Isabel Ostermann, die seit der letzten
    Spielzeit am Staatstheater Braunschweig als Operndirektorin wirkt, die
    Zuschauer im Großen Haus mit bedrohendem Gewitter vom Band sowie Blitzen im
    Zuschauerraum und mit großem Segelschiffmodel in der Eingangshalle auf den
    „Fliegenden Holländer“ ein. Wer bei „Blitz und Donner“ an Johann Strauß
    Schnellpolka denkt, findet sich in Braunschweig im „Fliegenden Holländer“
    wieder. Isabel Ostermann ist mit ihrer Inszenierung der romantisch gruseligen
    Seefahreroper eine dichte, dramatische Darstellung gelungen, die packend und
    nicht althergebracht ist. Der Holländer auf der Bühne des Staatstheaters wirkt
    alt und abgekämpft und es ist nicht nachvollziehbar, warum sich das blonde Mädel
    Senta unsterblich in ihn verliebt. Das Einheitsbühnenbild von Stephan von Wedel
    bietet eine geräumige Spielfläche und lässt sich als Empfangshalle eines
    Schifffahrtskonzerns interpretieren. Hier sind Dalands Schiff auf der linken
    Seite und das des Holländers auf der rechten Seite als Modelle zu erkennen. Eine
    Uhr am Bühnenportal und eine Uhr im Bühnenbild. Beide Uhren gehen gegenläufig
    und zeigen erst im Finale die gleiche Zeit an.


    Nach langer Zeit konnte man in Braunschweig wieder einen sehr gut geführten Chor und
    Opernsolisten erleben. Der Regisseurin ist es gelungen, den Choristen und
    natürlich auch den Solisten ihre Sicht der Inszenierung zu vermitteln. Dadurch
    können Szenen und Augenblicke entstehen, die über die übliche Chorsänger- und
    Solisten-Führung hinausgehen. Jeder Sänger hatte seinen darzustellenden
    Charakter verinnerlicht und spielt ihn voll aus. Ostermann führt jede Person
    glaubhaft und macht die Handlung nicht nur dadurch zu einem atemberaubenden
    Erlebnis. Wenn Senta im Brautkleid dem Holländer im Hochzeitsanzug während des Finales
    die Füße wäscht, erinnert diese rituelle Handlung an den Parzival. Der
    „Fliegende Holländer“ wird in Braunschweig ohne die Unterbrechung durch eine
    Pause gespielt. Die rund 135 Minuten sind niemals langweilig oder über die
    Maßen verstörend und für den dramaturgischen und musikalischen Fluss ist das
    ununterbrochene Spiel zu befürworten. Isabel Ostermann sei angeraten, zukünftig
    noch mehr auf die Positionierung und Körperhaltung der Sänger zu achten, um deren
    akustische Wirkung nicht einzuschränken. Ein Sonderlob verdient die Lichtregie
    von Katharina Müller. Wenn Sie beispielsweise den Holländer hinter seinem
    Schiffsmodel von einem Einzelscheinwerfer anstrahlt, macht das ungemein Effekt.


    Gesanglich rauben Chor- und Extrachor des Staatstheaters dem Publikum fast den Atem. Inbrünstig
    zaubern die Choristen gesangliche Gemälde. Lediglich die Soprane im Chorpart in
    Sentas Ballade müssen von der Chordirektion (Georg Menskes und Johanna Motter)
    für die nächsten Vorstellungen noch mehr hinsichtlich homogenem Gesang eingenordet
    werden. Es scheint als würden sich die Soprane des Extrachores zurückhalten und
    dadurch klingen die Soprane des Staatstheaterchores durch. Die Horngruppe des
    Staatsorchesters Braunschweig muss rasch zu ihrer Spielqualität zurückfinden,
    um ein komplett meisterliches Orchesterereignis möglich zu machen. Das sind die
    einzigen Kritikpunkte am Spiel des Orchesters und Gesang der Chöre. Die Kostüme
    von Stephan von Wedel und Julia Burkhardt sind modern und unauffällig oder wenn
    sie den Herrenchor in Shantychor-Outfit zeigen, der Inszenierung gut
    entsprechend.


    Die anrührende, spannungsgeladene Inszenierung wurde vom Staatsorchester
    Braunschweig unter seinem Generalmusikdirektor Srba Dinic fesselnd akzentuiert
    begleitet. Außerordentlich rasche Tempi entfalteten die Staatsmusiker nicht. In
    der stürmischen und aufwallenden Ouvertüre zeigt der Dirigent, dass er Wagners
    Partitur voll auskosten wird. Und doch ist Maestro Dinic ein feiner Begleiter
    der Sänger. Er trägt sie förmlich auf Händen und so geht kaum ein Wort der sehr
    gut verständlich singenden Darsteller verloren. Die Musik Wagners scheint den
    Musikern des Staatsorchesters Braunschweig besonders zu liegen und so spielen
    die Orchestergruppen aufmerksam und mustergültig. Wenn die Hörner nicht
    Intonationsprobleme gehabt hätten, müssten die Blechbläser des traditionsreichen
    Klangkörpers gesondert gelobt werden. Im Finale bietet die Theatertechnik, Chor
    und Orchester alles auf, was ein Opernbetrieb zulässt. Von besonderer Wucht sind
    hier die Chöre und das von Srba Dinic aufgepeitschte Staatsorchester
    Braunschweig. 135 Minuten lang hielt der Generalmusikdirektor Dinic sicher alle
    Fäden in der Hand. Wackler oder Unstimmigkeiten blieben aus.


    Seit Beginn der Generalintendanz von Dagmar Schlingmann, der Operndirektion von Isabel
    Ostermann und der Generalmusikdirektion von Srba Dinic in der vergangenen
    Spielzeit hat sich ein hervorragendes 14 Sängerinnen und Sänger umfassendes Ensemble
    entwickelt und so kann der „Fliegende Holländer“ in Braunschweig mit lediglich
    einem Gast – dem Holländer – gegeben werden. Mit klangvollem, heldenbaritonalem
    Organ wartet Jaco Venter als Holländer auf. Seine saftig kräftige Stimme macht
    ihn zu einem würdevollen Holländer, der ohne Probleme in der Höhe oder Tiefe
    sowie dem dramatischen Ausbruch blieb. Er stellt einen gealterten, verzweifelten
    Meereswanderer dar. Wenn er beim Kennenlernen Senta tapsig eine Tasse
    überreicht, statt sie zu umarmen, hat das berührendes Format. Seine Senta ist
    die Entdeckung des Abends! Mit Inga-Britt Andersson kommt eine junge,
    attraktive, blonde Sopranistin mit großer Ausstrahlung auf die Bühne des
    Staatstheaters. Womit sie der Holländer in den Bann zieht, bleibt unerklärlich.
    Liebt Senta der Liebe willen – um jeden Preis – bis zum Tod? Sie ist ein keckes
    Mädchen mit Selbstbewusstsein, das mit den anderen Mädels in der Fischfabrik
    unter Anleitung von Frau Mary Fische ausnimmt. Hat sie sich mehr vom Leben
    erhofft und der Holländer ist die Rettung? Sie besitzt einen nordischen,
    lyrisch-dramatischen Sopran, der klar und ohne Intonationsprobleme wundervoll
    anspricht. Die Sängerin verfügt über ausreichend Kraftreserven, um Senta auch
    ein dramatisches Profil zu geben. In der Ballade zeigt sie eine gute
    Klangbalance und präsentiert hier jubelnde Spitzentöne. Inga-Britt Andersson
    ist in Stimme und Spiel die ideale Senta! Mit Matthias Stier und Kwonsoo Jeon
    hat das Staatstheater Braunschweig zwei Tenöre unter Vertrag, die den lyrischen
    wie dramatischen Ansprüchen der Partien Steuermann und Erik gerecht werden.
    Mathias Stier ist mit seinem kraftvoll sonor und trotzdem lyrisch klingenden
    Tenor eine edle Besetzung für den Steuermann, wie ihn sich Bayreuth nur
    wünschen kann. Durchschlagskräftig ist auch Kwonsoo Jeon als Erik, der aber
    etwas mehr Schmelz in der Stimme haben dürfte. Im Vergleich der stimmlichen
    Qualität liegt Mathias Stier eindeutig vor Kwonsoo Jeon, der den Erik aggressiv
    spielt und zuweilen fast grobschlächtig singt. Bedauerlicherweise fehlt es
    Zhenyi Hou als Mary an einer satten tiefen Grundierung ihres angenehm
    ansprechenden Mezzosoprans. Die junge neu ins Ensemble des Staatstheaters
    gewechselte Sängerin kann schauspielerisch nicht ausgleichen, was ihrer Stimme
    an Fundament in der tiefen Lage fehlt. Das Staatstheater Braunschweig hätte
    mindestens eine Mezzosopranistin im Ensemble, die hier mehr satte Tiefe und
    Ausdruckskraft präsentieren könnte. Eine akustische und darstellerische Freude
    dagegen ist der seriöse Bass Michael Eder als trinkfreudiger Daland. Im Kostüm
    eines väterlich agierenden Versicherungsvertreters gibt der schlanke Sänger mit
    schwarzem Bass einen ernstzunehmenden Daland. Der in Wien ausgebildete Sänger,
    der mehr als 600 Auftritte an der Dresdner Semperoper während seiner
    künstlerischen Laufbahn gesammelt hat und der weltweit an vielen großen Häusern gastierte, zeigt einen glaubhaften
    Daland mit urdeutscher Stimme, die keine Einschränkungen oder Probleme zeigt.
    Im Gegenteil: Balsamisch, kraftvoll in allen Lagen macht sein Gesang Lust auf
    mehr. Für die Braunschweiger ist es ein Glücksfall, dass Michael Eder ab dieser
    Spielzeit zum Ensemble gehört und viele große und kleine Rollen übernehmen
    wird. Ohne Buffo-Attitüde agiert er als Daland und hat Glück, dass seine Senta
    sich sozusagen in die Liebe zum Holländer stürzen möchte, sodass er sie nicht an
    ihn „verkaufen“ muss und sich, nachdem sich Holländer und Senta kennengelernt
    haben, ruhig eine Flasche Schampus, den Erik eigentlich für Senta mitgebracht
    hatte, auf seinen neuen Reichtum gönnen kann.


    Das Publikum im fast ausverkauften Großen Haus des Staatstheaters Braunschweig bejubelt die
    Sänger, Srba Dinic, der wie bei jeder Musiktheaterpremiere die Musiker des
    Staatsorchesters Braunschweig vom Graben auf die Bühne holt, den Chor und
    Extrachor und zeigt sich auch beim Inszenierungsteam angetan. Trotz zeitgemäßer
    Umsetzung gerät bei Isabel Ostermann und ihrem Team nichts aus den Fugen oder
    zum Ärgernis für das Publikum. Musikalische Leistung mit einem wahren
    Sängerfest bei spannender szenischer Umsetzung, die nachdenklich macht und Langeweile
    keinen Raum lässt, machen diesen „Fliegenden Holländer“ sicher zu einem
    Publikumsrenner am Staatstheater Braunschweig. Hingehen! Hinfahren!

  • Lieber Classicmülller,


    Danke für Deinen informativen, inhaltsreichen Bericht vom Braunschweiger "Holländer". Die Bezeichnung Anfänger unter dem Avatar wird Dir nicht gerecht.Dafür schreibst Du zu kenntnisreich und routiniert. Bitte mach' weiter so. Ich freue mich schon auf Deine nächste Aufführungsbesprechung.

    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!