Ludwig van Beethoven. Liedmusik im Geist der Klassik

  • Es ging mir bei dieser Aufnahme von "Bitten" mit Peter Schreier als Interpreten so wie Dir, lieber hart.
    Ich war so tief beeindruckt, ja hingerissen, dass ich von meinem bei der Thread-Eröffnung verkündeten Vorsatz abwich, die den Liedbesprechungen beigegebenen Aufnahmen nicht zu kommentieren.
    Hab Dank für Deine Anmerkungen zu diesem Thread!
    Sie bedeuten mir viel, kommen sie doch von einem großen Kenner der Materie.

  • „Die Liebe des Nächsten“, op.48, Nr.2


    So jemand spricht: Ich liebe Gott,
    Und haßt doch seine Brüder,
    Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott
    Und reißt sie ganz darnieder.
    Gott ist die Lieb´, und will, daß ich
    Den Nächsten liebe, gleich als mich.


    Das ist die erste von insgesamt vierzehn Strophen dieses Gedichts. Die Tatsache, dass Beethoven nicht wenigstens einige von ihnen ausgewählt und in seine Liedkomposition aufgenommen hat, sondern sich auf diese beschränkte, zeigt, dass es ihm nicht, wie Gellert, um die Auslotung des Themas „Nächstenliebe“ in seinen christlich-theologischen Aspekten ging, sondern, wie durchweg in diesen sechs Liedern, um die künstlerisch-kompositorische Auseinandersetzung mit Grundfragen der menschlichen Existenz aus religiöser Perspektive. Dazu genügen ihm die Strophen Gellerts, in denen diese Fragen in grundsätzlicher Weise lyrisch aufgegriffen werden. Hier, in diesem Gedicht, ist die Aussage der beiden letzten Verse die für Beethoven relevante, - relevant in seiner Suche nach Antworten der christlichen Religion auf die Frage des richtigen Verhaltens dem Mitmenschen gegenüber. Und seine Liedmusik lässt dies deutlich vernehmen.


    Sie steht in Es-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „Lebhaft, doch nicht zu sehr“ vorgetragen werden. Charakteristisch für sie, und vielsagend, was die Rezeption des lyrischen Textes durch ihren Komponisten anbelangt, ist ihre Zweiteilung. Auf den ersten vier Versen liegt eine andere Liedmusik als auf den beiden letzten. Die eine ist von einem rhythmisch markanten, und darin vom Klavier unterstützten deklamatorischen Ton geprägt; die andere tritt, vor allem durch einen anderen Klaviersatz bedingt, eher in rhythmisch fließendem, leicht von klanglicher Lieblichkeit angehauchtem Gestus auf. Aber es ist wirklich nur ein Hauch Und das ist, wie mir scheint, durchaus repräsentativ für die Verhaltenheit, in der Beethoven affektive Elemente Eingang in die Liedmusik dieser Gellert-Kompositionen finden lassen will. Sie könnten die von ihm intendierte Objektivität der liedmusikalischen Aussage stören, - eine kompositorische Haltung, die ihn als Vertreter klassischen Denkens ausweist und von genuin romantischem liedkompositorischem Denken abhebt.


    Bezeichnend für den kompositorischen Geist, der hier herrscht, ist der Einsatz der Liedmusik: Er erfolgt in Gestalt eines forte angeschlagenen und mit einer Fermate versehenen, also lang gehaltenen siebenstimmigen Es-Dur-Akkords. Und das will sagen: Was jetzt liedmusikalisch nachfolgt, ist von eminenter, in seinem Gehalt unbezweifelbarer Bedeutsamkeit und als solches aufzunehmen.
    Und diesen Anspruch lösen Melodik und Klaviersatz auf den nachfolgenden vier Versen auch tatsächlich ein, in dieser Absicht darin zusammen und im Einklang agierend. Auf den Worten „So jemand spricht: Ich liebe Gott“ liegt eine melodische Linie, die mit einem markanten Sextsprung auftaktig einsetzt, danach auf der damit erreichten tonalen Ebene in insistierendem Gestus bemerkenswert lange, und dies in Gestalt deklamatorisch gedehnter Schritte verharrt, und erst bei „ich liebe Gott“ mit einem Quartsprung zu einem gedehnten Legato-Fallbogen über eine Sekunde übergeht. Das Klavier begleitet das zunächst mit Einzeltönen im Diskant, die der Bewegung der melodischen Linie genau folgen, ihr aber einen Akzent verleihen, indem sie vor dem Wort „spricht“ einen triolischen Sechzehntel-Vorschlag erklingen lassen. Die Harmonik verbleibt hier zunächst in der Grundtonart, geht dann aber bei dem melodischen Bogen auf „Gott“ zu einer Rückung in die Dominante über.


    Auch die melodische Linie auf dem nachfolgenden Vers („und haßt doch seine Brüder“), die ohne Pause unmittelbar anschließt, setzt mit einem Sprung ein. Dieses Mal ist es zwar nur ein Quartsprung, aber er wiederholt sich sofort danach, um eine Sekunde in der tonalen Ebene abgesenkt, gleich noch einmal, und auch die deklamatorischen Tonrepetitionen kehren wieder, sogar auf der gleichen tonalen Ebene wie beim ersten Vers. Das Klavier begleitet weiterhin – wie das ja durchweg bei den ersten vier Versen der Fall ist – mit synchron zu den deklamatorischen Schritten angeschlagenen, Bass und Diskant übergreifenden Akkorden, nur die Harmonik weicht nun von der Tonika und ihrer Dominante ab und rückt kurz nach f-Moll. Es ist wohl das Thema „Hass“, das diese harmonische Rückung auslöst.


    Auf den Worten „Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott“ entfaltet sich die melodische Linie, ihrem Gestus der gewichtigen Deklamation nicht nur treu bleibend, sondern ihn sogar noch intensivierend, fast ausschließlich in Gestalt von Tonrepetitionen. Gleichwohl reflektiert sie dabei die lyrische Aussage. Auf dem Wort „Wahrheit“ liegt ein expressiver, weil mit einem in hohe Lage führendem Sextsprung einsetzender gedehnter Sextfall, der in der Dominante harmonisiert ist und bei dem Wort „Spott“ mit einen Sekundfall in Tonika-Harmonik übergeht. Die nachfolgenden Worte „und reißt sie ganz darnieder“, werden zunächst erneut silbengetreu in Gestalt von Tonrepetitionen deklamiert, allerdings auf einer um eine halbe Sekunde abgesenkten tonalen Ebene und nun in as-Moll harmonisiert. Dem Wort „reißt“ wird dabei nicht nur durch die Harmonik, sondern auch melodisch ein markanter Akzent verliehen: Durch eine kleine Dehnung mittels Punktierung des melodischen Viertels. Und auch das Wort „darnieder“ erfährt eine Berücksichtigung seines semantischen Gehalts durch einen mit einer Rückung in die Dominante B-Dur verbundenen kleinen Sekundfall.


    Ein kurzes dreitaktiges Zwischenspiel aus bitonalen, eine Rückung von B-Dur über es-Moll beschreibenden Akkorden folgt nach. Es leitet zum zweiten Teil des Liedes über. Hier, bei den beiden letzten Versen, lässt die melodische Linie von ihrem deklamatorisch gewichtigen, die Tonrepetitionen bevorzugenden Gestus ab. Und das Klavier begleitet nun in einer sich deutlich vom Gestus in der ersten Liedhälfte abhebenden Art und Weise. Zwar folgt es der melodischen Linie in Diskant immer noch getreu in allen ihren deklamatorischen Schritten. Aber das tut es nun fast bis zum Ende der Melodik nur noch in Gestalt von Einzeltönen, also nicht mehr mit klanglich markanten Akkorden, und vor allem ergeht es sich im Bass nun auf ganz und gar ungewöhnliche Weise in fallend angelegten Viertelton-Figuren. Sie tragen ganz wesentlich zu dem ganz eigenen, einen Anflug von Lieblichkeit aufweisenden, und darin die lyrische Aussage reflektierenden klanglichen Charakter der Liedmusik auf dem letzten Verspaar bei. Denn dort geht es um die Interdependenz von Nächstenliebe und Gottes Liebe zu den Menschen. Und dort, wo die melodische Linie noch einmal kurz in den Gestus der deklamatorischen Tonrepetition verfällt, bei den Worten „daß ich den Nächsten liebe“ nämlich, setzt sich der Klavierbass über den getreulich ebenfalls repetierenden Diskant hinweg und nimmt der Liedmusik ihre kurze Starre durch fallende Viertel.


    Den Worten „liebe, gleich als mich“ verleiht Beethoven, darin dieser Eigenart der christlichen Nächstenliebe den angemessenen Akzent verleihend, besonderes liedmusikalisches Gewicht. Die melodische Linie beschreibt einen Legato-Bogen, der in einen ausdrucksstarken Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg auf den Worten „als mich“ mündet. Das Klavier kehrt hier zur synchronen Begleitung mittels Akkorden zurück. Und wie bedeutsam Beethoven diese Aussage des lyrischen Textes war, wird daraus ersichtlich, dass das Klavier im Mitvollzug der Kombination aus gedehntem Legato-Sekundfall und Quartsprung auf dem Wort „liebe“ spontan von einem Sforzato ins Piano verfällt und die Harmonik eine punktuelle Rückung vom vorangehenden B-Dur nach f-Moll vollzieht, bevor sie dann am Ende über die Dominante B-Dur zur Tonika findet.


    Im achttaktigen Nachspiel schlägt das Klavier einen Ton an, der auf dem Hintergrund der gewichtigen Ernsthaftigkeit der vorangehenden Liedmusik erstaunlich leichtfüßig wirkt: Es umspielt mit fließenden Achtelketten Motive der Melodik. Will es sich dem Bild eines Lebens nach dem Gebot der Nächstenliebe hingeben? Man kann dieses Nachspiel so hören.

  • „Vom Tode“, op.48, Nr.3


    Meine Lebenszeit verstreicht,
    Stündlich eil´ ich zu dem Grabe,
    Und was ist's, das ich vielleicht,
    Das ich noch zu leben habe?
    Denk´, o Mensch, an deinen Tod!
    Säume nicht, denn Eins ist Not!


    Auch diese Strophe weist eine innere Zweigliedrigkeit auf. Das lyrische Ich erfährt die Vergänglichkeit seiner Lebenszeit als Annäherung an den Tod. Daraus leitet es die Notwendigkeit ab, nach dem Prinzip „Memento mori“ zu leben Der letzte Vers bleibt mit seinem Abheben auf die Worte „Eins ist not“ unverständlich. Was damit gemeint ist, ergibt sich aus der zweiten Strophe, die also eigentlich mitgesungen werden müsste:


    Lebe, wie du, wenn du stirbst,
    Wünschen wirst, gelebt zu haben,
    Güter, die du hier erwirbst,
    Würden, die dir Menschen gaben;
    Nichts wird dich im Tod erfreun;
    Diese Güter sind nicht dein.


    Beethovens Komposition auf diese Verse steht in fis-Moll als Grundtonart, ihr liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, und sie soll „Mässig und eher langsam als geschwind“ vorgetragen werden. Wie die vorangehende setzt auch sie mit einem ebenfalls lang gehaltenen, nun allerdings piano anzuschlagenden Akkord ein: Es ist ein siebenstimmiger fis-Moll-Akkord, der wie eine Eröffnung der Liedmusik im Sinne eines Verweises auf die Bedeutsamkeit ihrer Aussage wirkt. Auch hier schlägt sich, wie im vorangehenden Lied, die innere Gliederung der Strophe in der Liedmusik nieder, und zwar sowohl in der Struktur der melodischen Linie und ihrer Harmonisierung, wie auch im Klaviersatz. Der Memento mori-Mahnung der beiden letzten Verse misst Beethoven – bezeichnend für die kompositorische Intention seines Zugriffs auf Gellert - ein solches Gewicht bei, dass er zum Mittel der Wiederholung greift. Die Worte „Säume nicht, denn eins ist Not“ werden drei Mal auf strukturell voneinander abweichenden melodischen Linien deklamiert, wobei das Mittel der Steigerung der Expressivität zum Einsatz kommt.


    Den tiefen Ernst und die existenzielle Bedeutsamkeit des Themas greift die Liedmusik mit einer Melodik auf, die in ihrem deklamatorischen Gestus durchgängig und fast bis zum Ende geprägt ist von der permanenten, gewichtig wirkenden Aufeinanderfolge von Schritten im Wert einer halben und einer Viertelnote. Nur wenn es um einen Auftakt geht, und das ist nur bei den Worten „und was“ und „daß ich“ der Fall, weicht die Melodik von diesem deklamatorischen Gestus ab und setzt mit zwei Viertel-Schritten ein. Ansonsten ereignet sich tatsächlich pro Takt nur diese deklamatorische Schrittfolge, - bis hin zu den beiden Wiederholungen der Worte des letzten Verses. Aber hört man genau hin und schaut dabei in die Noten, dann wird einem bewusst:
    Die Liedmusik hat auch hier diesen melodischen Gestus nicht aufgegeben, sie hat ihn vielmehr in seiner so schwer lastend wirkenden Gewichtigkeit noch gesteigert, indem sie die Dehnung auf dem Wort „nicht“ von einer halben Note zu einer ganzen ausgeweitet hat und aus dem Viertel-Schritt auf dem Hilfsverb „ist“ bei den Worten „eins ist Not“ einen im Wert von einer punktierten halben Note werden lässt.


    Es sind alles lyrisch gewichtige und existenziell hoch relevante, weil das „Sein zum Tode“ reflektierende Aussagen, die Beethoven diesen Versen Gellerts entnimmt, und so kann sich denn die Liedmusik nur in diesem beharrlich und ausschließlich das trochäische Versmaß des lyrischen Textes aufgreifenden und es darin akzentuierenden deklamatorischen Gestus entfalten. Bis zu dem Augenblick, wo das nicht mehr genügt. Und der ist vielsagend, meldet sich darin doch der Liedkomponist Beethoven zu Wort, - in seiner durchaus subjektiven Rezeption und musikalischen Auslegung dieser Verse.
    Das ist ganz zweifellos ein Indiz für ein bedeutsames, weil die Quelle von Liedmusik aufzeigendes und in ihre Zukunft weisendes Ereignis: Das subjektive Sich-angesprochen-Fühlen des Komponisten durch Lyrik und das Betroffen-Sein davon.


    Der erste Teil des Liedes umfasst drei Melodiezeilen, wovon die erste die beiden ersten Verse beinhaltet und die beiden anderen, jeweils durch eine Viertelpause eingehegt, die Verse drei und vier. Danach folgt eine viertaktige Pause für die Singstimme, die vom Klavier mit einer Vorgabe der melodischen Linie auf den Worten „Denk´, o Mensch, an deinen Tod“ in Gestalt von Einzeltönen im Diskant und sie begleitenden Akkorden im Bass ausgefüllt wird,- darauf hinweisend, welche liedmusikalische Bedeutung ihr zukommt. Der zweite Teil beinhaltet die Liedmusik auf dem letzten Verspaar, einschließlich der Wiederholungen des letzten von ihm. Ein achttaktiges Nachspiel schließt sich an.


    Der deklamatorische Grund-Gestus der Melodik entfaltet deshalb so große musikalische Eindringlichkeit, weil er sich in einem lang anhaltenden Verharren auf der tonalen Ebene ereignet, diese aber zum Zwecke der Steigerung der Expressivität nicht nur Anhebungen erfährt, sondern sich daraus sogar regelrechte Ausbrüche ereignen. Die erste Melodiezeile lässt dies auf exemplarische Weise vernehmen. Bei den Worten „Meine Lebenszeit verstreicht“ verharrt die melodische Linie auf der Ebene des Grundtons „Fis“, um am Ende einen bemerkenswert kleinen Sekundsprung zu vollziehen. Das Klavier, das ihr bislang synchron mit einem „Fis“ im Diskant folgte, will diesen melodischen Sprung aber nicht ganz mitvollziehen, sondern behält bei der kleinen Dehnung auf der zweiten Silbe von „verstreicht“ und dem nachfolgenden Wort „stündlich“ dieses „Fis“ bei, kombiniert es aber mit einem „G“, so dass ein dissonanter Akkord entsteht, der diesen Gestus des melodischen Verharrens auf der tonalen Ebene in ein klanglich trübes Licht taucht. Erst bei den nachfolgenden Worten „eilt´ ich“, die weiterhin auf der um diese kleine Sekunde angehobenen tonalen Ebene deklamiert werden, lässt sich das Klavier auf eine harmonische Rückung nach e-Moll ein. Durchweg, und dies ohne Ausnahme, begleitet es die melodische Linie dergestalt, dass es jedem ihrer Schritte mit Diskant und Bass übergreifenden Akkorden folgt und so die ihr innewohnende lastende Schwere noch verstärkt.


    Zwei Mal ereignet sich im ersten Teil des Liedes ein Ausbrechen der melodischen Linie aus dem Gestus des Verharrens auf der tonalen Ebene. Bei den Worten „eilt´ ich zu dem Grabe“ beschreibt sie einen Quartsprung, der mit einer Rückung von e-Moll nach C-Dur verbunden ist, und bei „was ist´s, das ich vielleicht“ steigt sie mit einem Sekundsprung und zwei nachfolgenden Sekundschritten zum höchsten Ton des Liedes (einem „G“) empor und geht von dort in einen ausdrucksstarken verminderten Septfall über. Die melodische Linie entfaltet an dieser Stelle, bedingt durch das Erschrecken des lyrischen Ichs über die Begrenztheit seiner Lebenszeit, ihre größte Expressivität auch dadurch, dass sie nach dem vorangehenden Piano nun forte vorgetragen und vom Klavier mit Oktaven im Diskant über mehrstimmigen Akkorden im Bass begleitet wird. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von e-Moll nach h-Moll. Noch ein weiteres Mal kommt es zu einer Steigerung der Dynamik ins Forte: Bei dem Oktavfall der melodischen Linie auf dem Wort „habe“ am Ende des vierten Verses, die mit einer harmonischen Rückung von D-Dur nach Cis-Dur einhergeht. Auch das dem Erschrecken geschuldet.


    Große Eindringlichkeit entfaltet die melodische Linie bei den Worten „Denk´, o Mensch, an deinen Tod“. Hier lässt sie von ihren deklamatorischen Tonrepetitionen ab und beschreibt, in tiefer Lage ansetzend, eine Bogenbewegung über das Intervall einer Sexte, an deren Ende sie wieder ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung von einem anfänglichen Cis-Dur nach fis-Moll und kehrt danach ebenfalls zu ihrer Ausgangstonalität zurück. Beim letzten Vers, jenem „Säume nicht, denn Eins ist Not“, das noch zwei weitere Male deklamatorisch auftritt, bewegt sich die melodische Linie zunächst wieder auf nur einer tonalen Ebene. Es ist freilich eine auf einem tiefen „Eis“, und allein schon deshalb wirkt die hier ausgesprochene Mahnung mit dem Sekundanstieg auf dem Wort „Not“ am Ende nachdrücklich. Das steigert sich aber dadurch, dass die Harmonik während dieses Verharrens der melodischen Linie eine Modulation von Cis-Dur nach fis-Moll vollzieht, das Klavier im Bass hohl wirkende Oktaven einen Fall beschreiben lässt und die Dynamik in ein Crescendo übergeht.


    Bei den beiden Wiederholungen beschreibt die melodische Line strukturell die gleiche Bewegung. Es ist eine, die man wie eine Steigerung der Nachdrücklichkeit empfindet, die schon die erste Melodiezeile auf diesen Worten aufweist. Nun setzt sie, in e-Moll-Harmonisierung, eine Terz höher ein, wieder im Gestus der Tonrepetition, dies aber in stark gedehnter Gestalt, womit dem so wichtigen Wort „nicht“ ein starker Akzent verliehen wird. Die Worte „Eins ist Not“ erhalten einen noch stärkeren. Mit einem Quintsprung setzt die melodische Linie ein und bewegt sich danach nur noch in deklamatorisch stark gedehnten Schritten von punktierten halben Noten. Und da diese aus einem ausdrucksstarken Oktavfall mit nachfolgendem Sekundanstieg bestehen, das Klavier dies wieder mit Oktaven im Bass und lang gehaltenen Akkorden im Diskant begleitet und die Harmonik eine markante Rückung von fis-Moll über Cis-Dur nach D-Dur vollzieht, wirkt die Liedmusik in ihrer Expressivität deutlich gesteigert. Es ist eine der Memento-mori-Mahnung, und deshalb erklingt sie in gleicher musikalischer Gestalt noch einmal, - mit der kleinen Abweichung, die sich aus den Erfordernissen einer Kadenz ergeben. Nach dem Oktavfall auf den Worten „Eins ist“ folgt nun kein Sekundschritt nach, sondern ein die Melodik zum Grundton „Fis“ führender Quartsprung.


    Ein achttaktiges Nachspiel folgt. Auch dieses entfaltet starke, den Geist dieses Liedes repräsentierende klangliche Eindringlichkeit. Über einem permanent repetierenden abgrundtiefen Fis im Bass sinken im deklamatorischen Gestus der melodischen Linie langsam Moll-Akkorde in die Tiefe, dabei eine harmonische Rückung von e-Moll über g-Moll nach fis-Moll beschreibend und am Ende in einen fermatierten fünfstimmigen fis-Moll-Akkord mündend.

  • „Die Ehre Gottes aus der Natur“, op.48, Nr.4


    Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre;
    Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort.
    Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere;
    Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort!


    Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?
    Wer führt die Sonn aus ihrem Zelt?
    Sie kommt und leuchtet und lacht uns von ferne
    Und läuft den Weg, gleich als ein Held.


    Ein sich in den hymnischen Lobpreis des „Ewigen“ geradezu hineinsteigernder lyrischer Text. Dies deshalb, weil er, anfänglich in der Haltung des Verkündens auftretend, sich darin einer Metaphorik von kosmischen Ausmaßen bedient: Erdkreis, die Meere im Plural, die Sonne und die „unzählbaren Sterne“. Und doch erschöpft er sich in diesem Gestus nicht. Mit einem Mal kehrt Nachdenklichkeit ein, in Gestalt von Fragen, die an die Stelle des verkündenden Konstatierens treten. Und das verrät:
    Hier artikuliert sich ein lyrisches Ich. Diese Verse sind als lyrisch-sprachlicher Niederschlag einer Erfahrung von Lebenswelt unter dem reflexiven Aspekt ihres Schöpfertums zu lesen, das dieses Ich als ein göttliches versteht.
    Schon die zweite Strophe lässt dies sehr deutlich erkennen, und im weiteren Verlauf des lyrischen Textes prägt es sich noch stärker aus, dergestalt, dass das lyrische Ich sich so ganz und gar aus dem subjektiven Erleben von Schöpfung kommende Fragen stellt wie: „Kannst du der Wesen unzählbare Heere, / Den kleinsten Staub fühllos beschaun?“ Die großen lyrischen Bilder, in jenes vom heldischen Charakter der Sonne mündend, sind also in ihrer genuinen Subjektivität zu rezipieren und nicht als vordergründiger Jubelruf zu verstehen.


    Beethovens Liedkomposition auf diese Verse – er hat nur die beiden ersten von insgesamt sechs Strophen des Gellert-Gedichts in sie aufgenommen – ist nicht nur das bei weitem bekannteste unter den Gellert-Liedern, sie ist in den vielen Bearbeitungen für Chöre, darunter die von Joseph Dantonello für vierstimmigen gemischten Chor, Orgel und Orchester, zu regelrechter Berühmtheit gelangt, - einer fragwürdigen freilich.
    Fragwürdig (die Freunde des Chorgesangs hier im Forum mögen Nachsicht walten lassen), weil die Transformation des Klavierlied-Satzes in einen für Chorgesang dem Wesen dieser Liedmusik auf einen lyrischen Text abträglich ist, in dem es um die in einem lyrischen Ich sich ereignende Erfahrung der Größe Gottes in der Begegnung mit Welt und Natur geht, um die „Ehre Gottes aus der Natur“, wie der Titel von Gellerts Gedicht ja lautet. Es ist eine wesenhaft individuell-subjektive, keine kollektive, wie es ein Chorgesang zwangsläufig insinuieren muss, - besonders dann, wenn er auch unter Orchester-Begleitung stattfindet und damit der Beitrag des Klaviers in Gestalt seines spezifischen Satzes verlustig geht.


    Beethovens Komposition reflektiert diesen Sachverhalt mit einer hochgradigen Binnendifferenzierung der Liedmusik im Bereich der Melodik, der Harmonik und der Dynamik. Besonders den letzten beiden Faktoren kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion zu. Die Harmonik beschränkt sich eben nicht auf das für den Lobpreis-Gestus konstitutive C-Dur einschließlich seiner Dominanten, sie beschreibt vielfältige Rückungen, die von A-Dur bis nach Es-Dur reichen und auch das Tongeschlecht Moll umfassen. Und so ist es auch mit der Dynamik: Wie die C-Dur-Harmonik, so ist auch das Fortissimo die dem preisenden Teil des lyrischen Textes dynamisch gemäße musikalische Ausdrucksform. Aber sie würde den Fragen nicht gerecht, die das lyrische Ich an sich selbst und an seine Außenwelt richtet. Und auch nicht den lyrischen Bildern, mit denen es seine Erfahrung von Gottes Schöpfung in Worte zu fassen versucht.


    C-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, ein Viervierteltakt liegt zugrunde. Die Vortragsanweisung lautet: „Majestätisch und erhaben“. Und so setzt die Liedmusik auch ein: Mit vier mächtigen, weil acht- und siebenstimmigen, zweimal halbtaktigen und fortissimo ausgeführten C-Dur-Akkorden. Aber schon hier wird vernehmlich: Beethoven will keine undifferenzierte majestätische Erhabenheit. Die Akkorde wechseln in ihrer Abfolge die tonale Ebene und ihren klanglichen Umfang. Und diese Differenzierung weist auch die melodische Linie der ersten Strophe auf. Zunächst ist sie, bei den ersten beiden Versen, tatsächlich auf den Ausdruck eines hochexpressiven Rühmens hin angelegt. Dies allein schon in der Art und Weise, wie sie in ihren deklamatorischen Schritten ein großes tonales Intervall durchmisst: Es ist das einer Duodezime, und die Schritte erfolgen partiell in der unmittelbaren Aufeinanderfolge von Terzen und Quarten. Aber das ist nicht alles an melodischer Expressivität. Diese generiert sich auch noch aus Sprüngen über extreme Intervalle und aus stark gedehnten, weil fermatierten Fallbewegungen und solchen, die mit einem Legato versehen sind.


    Und bei all dem macht das Klavier auch noch mit. Wenn die melodische Linie bei den Worten „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ nach einem Quartsprung-Einsatz erst einen Fall über eine ganze Oktave beschreibt, dann mit einem Duodezimen-Sprung zu einem zweifachen Sekundfall in hoher Lage übergeht und am Ende eine mit Fermaten versehene Kombination aus Sekund- und Terzfall beschreibt, wobei die Harmonik von C-Dur in die Dominante rückt, dann folgt das Klavier all diesen melodischen Bewegungen mit bitonalen Akkorden und Einzeltönen in Bass und Diskant, und dem stark gedehnten melodischen Fall auf dem Wort „Ehre“ verleiht es sogar noch mit einem Sechzehntel-Vorschlag vor seinen ebenfalls fermatierten G-Dur-Akkorden Nachdruck.


    Aber dann, schon beim zweiten Verspaar der ersten Strophe, tritt ein neuer Geist in die Liedmusik. Nach einem lang gehaltenen, weil mit einer Fermate versehenen C-Dur-Akkord geht das Klavier zu Akkord-Repetitionen über, und die Harmonik setzt dabei – überraschenderweise – mit E-Dur ein, um danach sofort eine Rückung nach a-Moll zu vollziehen und dann, wiederum bemerkenswert, nach F-Dur und B-Dur zu rücken und schließlich nach D-Dur und g-Moll überzugehen, um am Ende, bei dem wiederum fermatierten Akkord auf „Wort“ in G-Dur den Endpunkt ihres Wandels zu erreichen. Es ist einer, den man als klanglichen Aufstieg empfindet, - freilich nicht als ungebrochenen, angesichts der zweimaligen Rückung in das Tongeschlecht Moll. Die Harmonik folgt darin der melodischen Linie, die, wie das Klavier, sich nun in Repetitionen entfaltet, mit dem deklamatorischen Schwerpunkt jeweils auf dem Taktanfang in Gestalt von Schritten im Wert einer halben Note.
    Das die liedmusikalische Aussage Bestimmende ist dabei aber: Die tonale Ebene steigt bei diesen Tonrepetitionen permanent an, womit sich eine fortdauernde Steigerung der Expressivität ereignet, die ihren Höhepunkt in den mahnenden Worten „Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort“ findet. Dies in Gestalt eines deklamatorisch markanten, weil gedehnten Ausbruchs aus der Tonrepetition durch zweimaligen Anstieg und Fall, den das Klavier im Diskant mit drei- und zweistimmigen Akkorden mitvollzieht.


    Große Eindringlichkeit entfaltet die melodische Linie bei den beiden ersten Versen der zweiten Strophe, - darin ihren Frage-Charakter und die dahinter stehende Haltung des lyrischen Ichs in markanter Weise hervorhebend. Die beiden Melodiezeilen sind durch lange Pausen (fast zwei Takte) nicht nur eingehegt und damit hervorgehoben, sie sind auch auf diese Weise voneinander abgesetzt. Und sie entfalten sich, auch dies ein die Bedeutsamkeit ihrer Aussage steigernder Sachverhalt, auf der Grundlage von ununterbrochenen Akkordrepetitionen in Bass und Diskant. Hinzu kommt ein weiteres: Die Harmonik vollzieht eine ausdrucksstarke, nicht modulatorisch vermittelte, sondern unmittelbar einsetzende Rückung vom vorangehenden G-Dur nach Es-Dur. Und darin setzen die Akkordrepetitionen nun pianissimo ein, nachdem das Klavier die melodische Linie bei „vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort“ mit sforzato angeschlagenen Akkorden begleitet hat.


    Es sind Fragen, die, so fasst sie Beethoven ganz offensichtlich auf, das lyrische Ich nun nicht nach außen richtet, wie das beim Lobpreis der ersten Strophe der Fall ist, sondern mit sich selbst in monologischem Gestus ausmacht. Daher die harmonische Rückung vom klanglich hellen G-Dur in die tief wirkende Tonart Es. Daher auch eine melodische Linie, die sich, nach einem anfänglichen Quartsprung, in Tonrepetitionen erst in der hohen Lage eines „Es“ und dann eines „C“ entfaltet. Bei den Worten „unzählbare Sterne“ geht sie in einen dreischrittigen Sekundfall über, der mit einer im Quintenzirkel weit ausgreifenden Rückung nach G-Dur verbunden ist, die eine Steigerung der Nachdrücklichkeit der Frage mit sich bringt. In dieser Tonart ist auch anfänglich die Tonrepetition auf den Worten „Wer führt die Sonn´ aus ihrem Zelt?“ harmonisiert, Allerdings in der Dominantsept-Variante, denn bei „Sonn´ aus ihrem Zelt“ geht die melodische Linie kurz zu einem Sekundfall über, um danach einen Sekundanstieg zu beschreiben, der in eine Dehnung mündet, und die Harmonik vollzieht hierbei eine Rückung über ein kurzes f-Moll hin nach G-Dur. Auch dies eine Akzentuierung der Frage, aber eben eine äußerst verhaltene, denn sie verbleibt im Pianissimo, das die Liedmusik bei diesen beiden Fragen durchweg wahrt, ihren monologischen Charakter betonend.


    Mit den beiden letzten Versen kehrt die Liedmusik zu ihrem Anfangsgestus des Rühmens und Preisens zurück. Melodische Linie und Klaviersatz auf den Worten „Sie kommt und leuchtet und lacht uns von ferne“ sind identisch mit jenen auf dem ersten Vers. Bis zum Ende entfaltet sie sich nun wieder im dynamischen Bereich von Forte und Fortissimo und im harmonischen Raum von C-Dur und seinen Dominanten, - mit Ausnahme einer Rückung nach A-Dur, die aber aus der gleichen kompositorischen Intention heraus erfolgt: Die Emphase des Rühmens der Ehre des „Ewigen“ zum Ende der Liedmusik hin zu ihrem Höhepunkt zu steigern.


    Und so beschreibt denn die melodische Linie bei den Worten „und läuft den Weg“ einen Fall über zwei Terzintervalle in Gestalt von gedehnten deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten, setzt diesen Weg zu dem Wort „gleich“ hin fort, um danach bei „als ein Held“ in der deklamatorisch gleich gewichtigen Weise eine Aufstieg zu einem hohen „E“ zu beschreiben, wo sie nun, und das ist ein geradezu raffinierter Weg zur Steigerung ihrer Expressivität, zur Wiederholung der Worte des letzten Versen ansetzt. Dies in Gestalt einer anfänglichen, nun aber in A-Dur mit Rückung nach d-Moll harmonisierten deklamatorischen Tonrepetition auf diesem hohen „E“, die dann aber zu im Intervall sich gewaltig ausweitenden Sprung- und Fallbewegungen übergeht, so dass auf den Schlussworten „als ein Held“ nun ein veritabler, in schwer wiegenden Schritten vollzogener Oktavfall mit nachfolgendem Quartsprung liegt, der die melodische Linie zum Grundton in mittlerer Lage führt.


    Und natürlich wird er vom Klavier mit einem achtstimmigen, Bass und Diskant übergreifenden und fortissimo ausgeführten C-Dur-Akkord begleitet, dem das Klavier, in diesem bei den beiden Schlussversen eingenommenen Gestus der klanglich mächtigen Akzentuierung der melodischen Linie verbleibend, im Nachspiel – das ja eigentlich gar keines ist – nur noch vier weitere Fortissimo-C-Dur-Akkorde hinzuzufügen hat.

  • „Gottes Macht und Vorsehung“, op.48, Nr.5


    Gott ist mein Lied!
    Er ist der Gott der Stärke,
    Hehr ist sein Nam', und groß sind seine Werke,
    Und alle Himmel sein Gebiet.


    Fünfzehn Strophen umfasst dieses Gedicht von Gellert. Und wieder, vielleicht mehr noch als bei den anderen Liedern Beethovens in diesem Zyklus, möchte man bedauern, dass er nicht wenigstens einige von ihnen noch in den Notentext dieser kürzesten von den sechs Kompositionen aufgenommen hat, entfaltet doch Gellert darin wahrlich höchst kunstvolle, hymnisch angehauchte und in entsprechende Bilder umgesetzte lyrische Sprachlichkeit, - wie man den beiden nachfolgenden Strophen beispielhaft entnehmen kann:


    Er will und spricht's;
    So sind und leben Welten.
    Und er gebeut; so fallen durch sein Schelten
    Die Himmel wieder in ihr Nichts.


    Licht ist sein Kleid,
    Und seine Wahl das Beste;
    Er herrscht als Gott, und seines Thrones Feste
    Ist Wahrheit und Gerechtigkeit.


    Was die bei diesem Lied in besonderer Weise sich aufdrängende Frage der Aufnahme von weiteren Strophen der Gellert-Gedichte anbelangt, so entnehme ich der Literatur, dass Beethoven in der Original-Ausgabe bei den Liedern zwei und drei am Ende Wiederholungszeichen gesetzt hat, nicht aber bei den Liedern eins, vier und fünf. Ob er sie hier nur vergessen hat oder wirklich eine Beschränkung des Vortrags auf den von ihm in den Notentext aufgenommenen lyrischen Text wollte, lässt sich nicht klären.
    Seine Liedmusik hat hier freilich, ganz gewiss aus der Kenntnis aller Strophen hervorgehend, den lyrisch-sprachlichen Geist von Gellerts Gedicht auf den Punkt getroffen. Die lyrischen Bilder wirken in den einzelnen Strophen wie ausgelöst durch gleichsam thesenhafte, das Wesen Gottes umkreisende Aussagen. Sie bilden den eigentlichen Kern des Gedichts, und an ihm setzt Beethovens Musik an. Dies in Gestalt einer linear-zielgerichteten, deklamatorisch elementar anmutenden Melodik und eines gleichsam archaischen, sich aus der Oktave generierenden Klaviersatzes.


    Das gerade mal 18 Takte umfassende, davon fünf vom Nachspiel in Anspruch genommene kleine Lied steht in C-Dur als Grundtonart, weist einen Viervierteltakt auf, und soll „Mit Kraft und Feuer“ vorgetragen werden. Dem Blick auf das Notenblatt bieten sich auffallend wenige Noten dar, aber in n der interpretatorischen Realisation stellt sich das Lied seinen Hörern als geradezu klangmächtige Komposition dar. Im ersten Augenblick der Rezeption mutet das verwunderlich an, im nachdenklichen Umgang mit dieser Hörerfahrung enthüllt sich dieses so kleine Werkchen dann aber als Manifestation beethovenscher Musiksprache. Ihr wohnt, auch wenn sie sich nur in Einzeltönen manifestiert, wie das hier der Fall ist, eine eigenartige, geradezu urwüchsig anmutende Klangmächtigkeit inne.


    Die beiden ersten Verse sind in einer Melodiezeile zusammengefasst, den beiden nachfolgenden Verse ist eine eigene, durch eine Viertelpause eingehegte Zeile zugeordnet. Beide aber heben sich weder im deklamatorischen Gestus der Melodik, noch in dem ihr zugeordneten Klaviersatz in grundlegender Weise von der ersten Zeile ab. Es ist ein einheitlicher Geist, den die Liedmusik hier atmet. Gleichwohl reflektiert die melodische Linie dabei in ihrer Struktur die jeweilige lyrische Aussage. Die beiden ersten Verse sind lyrisch-sprachlich geprägt durch einen thesenhaft konstatierenden Gestus, dem gleichwohl durch die Worte „mein Lied“ ein Element des subjektiven Bekenntnisses innewohnt. Diesen Sachverhalt greift die melodische Linie dergestalt auf, dass sie sich in höchst gewichtigen, nämlich in Gestalt von forte ausgeführten deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erst einmal über eine Sekunde und eine Terz absenkt und dann, nach einem Sekundanstieg bei dem Wort „Lied“, in einer kleinen Dehnung (punktierte halbe Note), darin gleichsam das Ausrufezeichen berücksichtigend, kurz innehält.


    Aber weil dieser Vers ja eigentlich ein Bekenntnis des lyrischen Ichs darstellt, will Beethoven den zweiten Vers als eine Art inhaltliche Ausfüllung desselben verstanden wissen, und deshalb setzt sich die melodische Linie ohne Pause fort und geht, nun mit zwei auftaktig wirkenden deklamatorischen Vierteltonschritten vor den weiterhin gewichtigen im Wert von halben Noten vollzogenen, in eine sie in hohe Lage führende Aufstiegsbewegung über, die am Ende, bei dem Wort „Stärke“ in einen ausdrucksstarken Oktavfall mündet. Das Klavier folgt all diesen melodisch-deklamatorischen Schritten mit zwei- und dreistimmigen Akkorden im Diskant, wahrt aber im Bass Eigenständigkeit, indem es zur Melodik gegenläufige Oktaven artikuliert und diese sogar während der neuerlichen kleinen melodischen Dehnung auf dem Hilfsverb „ist“ eine dreischrittige Sekundfall-Bewegung beschreiben lässt, die der lyrischen Aussage deutlichen Nachdruck verschafft. Die Harmonik trägt das Ihre dazu bei, indem sie von der anfänglichen Tonika C-Dur abrückt und sich über ein eine Dominant-Funktion einnehmendes D-Dur auf die Ebene von G-Dur als neue Tonika begibt.


    Und in dieser Tonart harmonisiert, setzt dann auch die melodische Linie auf den Worten des dritten Verses ein. Wieder ist es ein anfänglicher Fall, der, wie bei der ersten Melodiezeile, danach in einen emphatisch anmutenden Aufstieg in höhere tonale Lage übergeht. In diesem Fall ereignet sich beides in strukturell gewandelter Weise. Und das, weil die lyrische Aussage dies erfordert. Bei den Worten „Hehr ist sein Nam´“ beschreibt die melodische Linie einen dreischrittigen Terzfall und hält bei „Nam´“ in einer Dehnung inne, die das Klavier, das zuvor den melodischen Fall schon mit Staccato-Vierteln mitvollzogen hat, nun mit einem dreistimmigen Sforzato-G-Dur-Akkord akzentuiert. Die Worte „und groß sind seine Werke“ werden nach einem Septsprung auf einer Tonrepetition in hoher Lage deklamiert, wobei die Harmonik hier eine Rückung vom anfänglichen G-Dur nach E-Dur vollzieht, das am Ede aber zu a-Moll übergeht. Auch die deklamatorische Tonrepetition wird vom Klavier mit Oktaven im Diskant und Terzen im Bass mitvollzogen. Es ist also ganz offenkundig: Beethoven setzt alle Mittel ein, um der lyrischen Aussage Gewicht und Bedeutung zu verleihen.


    Die letzte Melodiezeile wirkt von daher wie eine Fortführung und Steigerung dieser kompositorischen Intention, der emphatischen Glorifizierung Gottes den angemessenen musikalischen Ausdruck zu verleihen. Nun vollzieht die melodische Linie bei „und alle Himmel“ forte einen mit einer Rückung nach F-Dur verbundenen Quartsprung zu einem hohen „F“, verharrt dort erneut in einer Tonrepetition, die das Klavier mir Sforzato-Oktaven mitvollzieht, denen sich im Bass vierstimmige Fortissimo-Akkorde zugesellen, und am Ende geht sie dann bei den Worten „sein Gebiet“ in einen Fall über, der freilich auch kein einfach kontinuierlicher ist, sondern sich, um ihm das erforderliche deklamatorische Gewicht zu verleihen, erst über eine Sekunde und dann über eine Quinte vollzieht, um über einen Quartsprung dann schließlich auf dem Grundton zu enden. Auch hier begleitet das Klavier alle deklamatorischen Schritte mit Fortissimo-Akkorden.


    Im Nachspiel verleihen in Dehnungen mündende Oktavsprünge den gerade getroffenen melodischen Aussagen noch einmal Nachdruck, bevor die Liedmusik über in der Dominante fallende dreistimmige Akkorde in einem fünfstimmigen C-Dur-Akkord endgültig zur Ruhe findet.

  • „Bußlied“, op.48, Nr.6


    An dir, allein an dir hab ich gesündigt,
    Und übel oft vor dir getan.
    Du siehst die Schuld, die mir den Fluch verkündigt;
    Sieh, Gott, auch meinen Jammer an.


    Dir ist mein Flehn, mein Seufzen nicht verborgen,
    Und meine Tränen sind vor dir.
    Ach Gott, mein Gott, wie lange soll ich sorgen?
    Wie lang entfernst du dich von mir?


    Herr, handle nicht mit mir nach meinen Sünden,
    Vergilt mir nicht nach meiner Schuld.
    Ich suche dich, laß mich dein Antlitz finden,
    Du Gott der Langmut und Geduld.


    Früh wollst du mich mit deiner Gnade füllen,
    Gott, Vater der Barmherzigkeit.
    Erfreue mich um deines Namens willen,
    Du bist mein Gott, der gern erfreut.


    Laß deinen Weg mich wieder freudig wallen
    Und lehre mich dein heilig Recht
    Mich täglich tun nach deinem Wohlgefallen;
    Du bist mein Gott, ich bin dein Knecht.


    Herr, eile du, mein Schutz, mir beizustehen,
    Und leite mich auf ebner Bahn.
    Er hört mein Schrei'n, der Herr erhört mein Flehen
    Und nimmt sich meiner Seele an.


    Dies ist das einzige Lied, bei dem Beethoven alle Strophen des Gellert-Gedichts berücksichtigt und aufgenommen hat, und dies auch noch in durchkomponierter Gestalt. Es nimmt insofern eine herausragende Stellung in diesem Zyklus ein. Für die Tatsache, dass er nicht zur Form des Strophenliedes greifen konnte, vielmehr durchkomponieren musste, sind die Gründe offensichtlich:
    In der Abfolge der Strophen bildet sich eine prozessuale Entwicklung in der Haltung des lyrischen Ichs ab. Auf das anfängliche Bekenntnis der Sündhaftigkeit, das sich in den ersten drei Strophen beim lyrischen Ich zur an Gott gerichteten flehentlichen Bitte steigert, das Flehen und Seufzen zu erhören und nicht nach dem Grad der Schuld bestraft zu werden, folgen das Bewusstsein, dass dieser Gott einer der Barmherzigkeit ist und die daraus resultierende Hoffnung, dass die Bitte um Gnade, Vergebung und Schutz Erhörung finden würde.


    Aber die Durchkomposition ist ja nur die Folge der ursprünglichen Entscheidung Beethovens, dieses Mal, anders als in allen Fällen davor, das ganze Gedicht zum Gegenstand einer Liedkomposition zu machen. Was ihn dazu bewogen haben mag, kann zwar man nicht wissen, es könnte aber durchaus an der spezifischen Eigenart dieses Gedichts liegen: Es ist in seinem Gehalt ganz und gar subjektivistisch ausgerichtet und geprägt: Als ein emotionales und kognitives Ringen eines lyrischen Ichs mit sich selbst als Sünder in seinem Verhältnis zu einem richtenden oder gnädigen Gott.
    Dieses existenziell hochgradig relevante Potential, in dem sich das Gedicht von den Textgrundlagen der vorangehenden Lieder unterscheidet, könnte durchaus einen entsprechend hohen Grad der Identifikation des Komponisten mit dem lyrischen Text bewirkt haben: Klassischer Fall von durch existenzielle Betroffenheit von Lyrik inspirierter und motivierter Liedkomposition.


    Und tatsächlich: Dieses Lied lässt, mehr als alle anderen Lieder davor in diesem Zyklus, diese Betroffenheit im Sinne einer subjektiven Identifikation mit der Aussage des lyrischen Textes vernehmen. So dass man feststellen möchte:
    Hier ist Beethoven einen deutlichen Schritt weiter in Richtung romantisches Klavierlied gegangen.
    Das Lied weist einen hochgradigen und vielfältigen, eben diese kompositorische Betroffenheit reflektierenden liedmusikalischen Aussage-Reichtum auf. Und wie tief die Liedkomposition in den Prozess der Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit sich selbst in seinem Verhältnis zu Gott eindringt und sie dabei in ihren Tiefendimensionen erfasst, das schlägt sich, abgesehen von der spezifischen Struktur der Melodik, ihrer Harmonisierung und dem ihr zugeordneten Klaviersatz, in der formalen Anlage dergestalt nieder, dass die Komposition zweigliedrig angelegt ist. Allen Strophen liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, aber die Liedmusik auf den ersten drei Strophen steht in a-Moll als Grundtonart und soll „poco adagio“ vorgetragen werden, die auf den letzten drei entfaltet sich hingegen in A-Dur als Grundtonart, und sie reklamiert ein „Allegro ma non troppo“ als Vortragsweise. +++


    Beethovens Liedmusik bringt das Bekenntnis von Sündhaftigkeit und Schuld auf höchst eindringliche und sich in den ersten Strophen sogar darin noch steigernder Weise zum Ausdruck. Sich geradezu ins Ohr drängend sind die vielen, allesamt in Moll-Harmonik gebetteten Fallbewegungen der melodischen Linie, - in Gestalt von direkten Stürzen über ein großes Intervall oder einer Folge von deklamatorisch in Sekunden fallenden Sechzehntelschritten. Der Ansprache-Gestus findet zumeist in Anstiegsbewegungen der melodischen Linie seinen Ausdruck, die Eindringlichkeit von Bekenntnis und Bitte hingegen in der deklamatorischen Tonrepetition oder im Verharren der melodischen Linie auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene unter nur kleinschrittigen Abweichungen davon.


    Die erste Strophe lässt all dieses vernehmen. Auf den Worten „An dir allein“, bei denen Beethoven syntaktisch anders verfährt als Gellert (er ignoriert das Komma nach „dir“), liegt eine melodische Aufstiegsbewegung, aber schon die Worte „hab ich gesündigt“ lösen einen mit einem Terzsprung eingeleiteten und in hoher Lage ansetzenden melodischen Fall aus, der erst in Sechzehntel-Schritten erfolgt, dann aber in solche im Wert eines Viertels übergeht. Das Klavier begleitet und akzentuiert damit diese melodische Bewegung mit bitonalen Akkorden im Diskant und Einzeltönen im Bass, und die Harmonik verschafft ihrerseits dieser melodischen Aussage dadurch Nachdruck, dass sie eine Rückung vom anfänglichen a-Moll erst zur Subdominante d-Moll und danach zur Tonika vollzieht, dies aber zur Dur-Variante derselben. Bei dem Geständnis „Und übel oft vor dir getan“ geht die melodische Linie in Tonrepetitionen auf einem „H“ in mittlerer Lage über, die in H-Dur harmonisiert sind und vom Klavier mit repetierenden bitonalen Akkorden begleitet werden. Bei den Worten „Du siehst die Schuld“ ist es eine ruhig in Sekunden fallende und in e-Moll harmonisierte melodische Bewegung, in der sich die Haltung des lyrischen Ichs ausdrückt, und die hinter dem Wort „Fluch“ stehende Angst löst in der melodischen Linie eine expressive Kombination aus Sextsprung und –fall aus.


    Am Ende der Strophe sind es dann die von Beethoven in Wiederholung eingesetzten Worte „meinen Jammer“, die erneut zu extremen Ausschlägen in der Struktur der melodischen Linie führen. Zunächst beschreibt sie bei dem Wort „Jammer“ einen aus einer Tonrepetition in hoher Lage hervorgehenden verminderten Septfall, geht danach bei dem neuerlichen „meinen“ in einen triolischen Anstieg über, um danach bei „Jammer“ erneut einen, nun in gedehnter Weise vollzogenen Fall über das Intervall einer verminderten Septe zu beschreiben, der am Ende in einen Sekundanstieg übergeht. Die Steigerung der Expressivität kommt dabei auch dadurch zustande, dass die Wiederholung der beiden Worte nun in e-Moll mit kurzer Rückung nach H-Dur harmonisiert ist.


    Die Liedmusik auf der ersten Strophe wurde deshalb so detailliert beschrieben, weil sich darin die Art und Weise ausdrückt, wie Beethoven die Haltung der „Contritio cordis“, wie sie zentraler Gegenstand von Gellerts Versen ist, kompositorisch umgesetzt hat. In den beiden folgenden Strophen setzt sich dies mit den gleichen melodischen Ausdrucksmitteln und fast identischer Harmonisierung fort, so dass sich eine Fortsetzung der genauen Beschreibung der Liedmusik auf den Strophen zwei und drei erübrigt. Sowohl den deklamatorischen Sechzehntel-Figuren begegnet man hier wieder, als auch den melodischen Stürzen über große Intervalle und den insistierenden, die Nachdrücklichkeit des Bekenntnisses melodisch verkörpernden Tonrepetitionen.


    Aber alles wirkt in dem jeweils eigenen expressiven Potential ein wenig gesteigert. Und das gilt auch für den Klaviersatz, der nun, vor allem in der zweiten Strophe, die melodische Linie über lange Passagen mittels Akkordrepetitionen begleitet und ihrer Aussage auf diese Weise noch stärkeren Nachdruck verleiht. Bei dem in eine melismatische Sechzehntel-Figur übergehenden weit gespannten melodischen Bogen auf den Worten „Und meine Tränen sind vor dir“ kann man dies auf eindrückliche Weise vernehmen. Wie tiefgreifend die Liedmusik auf das Ausloten der Dimensionen des Sündenbewusstseins des lyrischen Ichs ausgerichtet ist, das zeigen die starken Sprungbewegungen der melodischen Linie auf den Worten „Herr, handle nicht mit mir nach meinen Sünden“ und der sich über das Intervall einer Septe erstreckende Sechzehntel-Fall auf dem Wort „meiner Schuld“, bei dem Beethoven erneut zum Mittel der Wiederholung greift, - nun allerdings in Gestalt eines gedehnten Terzsprungs mit nachfolgendem Sekundfall, um dem Bekenntnis und der Bitte des lyrischen Ichs seelische Tiefe zu verleihen.


    Bei den Worten „Du Gott der Langmut und Geduld“ lässt Beethoven den ersten Teil des Liedes auf eindrückliche Weise ausklingen, indem er die Worte „Langmut und Geduld“ erneut deklamieren lässt, und dies auf einer melodischen Linie, die, wie beim ersten Mal, fallend angelegt ist, nun aber auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene einsetzt und auf der Silbe „Lang-“ eine mit einer Fermate versehene Dehnung trägt, die das Klavier mit einem ebenfalls lang gehaltenen verminderten Akkord in der Tonart „A“ begleitet. „Adagio“ lautet die Anweisung für den Vortrag dieses über mehr als einen Takt sich erstreckenden und auf einem tiefen „E“ endenden Falls der melodischen Linie, der diesen beiden Worten starken Ausdruck verleiht. Ein fermatierter E-Dur-Akkord beschließt diesen ersten Teil des Liedes. Mit dem Hinweis „Attacca subito“ ist er versehen.


    Zwar gilt für den zweiten Teil die Anweisung „Allegro“, aber das „ma non troppo“ hat Beethoven aus gutem Grund beigefügt. Er will, obgleich sich die Harmonik nun auf der Basis von A-Dur als Grundtonart entfaltet, keinen Bruch in diese Liedmusik bringen, da ja die Strophen vier bis sechs um das gleiche Thema kreisen. Und so lässt er denn das Klavier im neuntaktigen Vorspiel der Singstimme die melodische Linie vorgeben, auf der sie anschließend die Worte „Früh wollst du mich mit deiner Gnade füllen“ deklamiert.
    Es ist der neue liedmusikalische Ton, der hier angeschlagen wird. Die melodische Linie ist nun stärker auf kantable Gebundenheit hin angelegt und reflektiert darin die Tatsache, dass das lyrische Ich in seiner Ansprache an Gott immer mehr zum Gestus des Preisens übergeht, in der Hoffnung, dass der Gott der „Barmherzigkeit“ sich seiner Seele annimmt. Und auch das Klavier schlägt in der Begleitung der Singstimme einen neuen Ton an: Es ist der eines klanglichen Umspielens der melodischen Linie im Mitvollzug ihrer Bewegungen. Dabei entfaltet es, indem es sich von der fünften Strophe an fast ausschließlich in Gestalt von fließenden Sechzehntelketten artikuliert, einen immer höheren Grad an Eigenständigkeit der Aussage, was in die Liedmusik auf den drei Strophen, eine deutliche Steigerung ihres auf Lobpreis ausgerichteten Grundtons einbringt.


    Melodisch stellt der zweite Teil des Liedes im Grunde eine variierte Ausfaltung des am Anfang vorgegebenen Themas Sinne einer Steigerung seiner Expressivität dar. Wenn im ersten Teil der in Moll-Harmonik gebettete Fall die dominierende und die Melodik stark prägende Figur war, so ist es hier der in kantabler Gebundenheit ausgeführte und auf weit gespannte Phrasierung hin angelegte Bogen. Die melodische Linie auf dem ersten Vers gibt ihn in gleichsam exemplarischer Weise vor: Die melodische Linie steigt in auftaktigem Gestus aus der tiefen Lage eines „E“ bis zu einem „Cis“ in oberer Mittelage empor und beschreibt bei den Worten „deiner Gnade“ einen kleinen, leicht melismatischen Achtelbogen, um bei dem Wort „füllen“ in einen Sekundfall überzugehen. Auf den ersten Versen der beiden nachfolgenden Strophen kehrt diese Melodiezeile in unveränderter Gestalt wieder, und doch meint man sie auf immer wieder neue, ihren Gehalt um weitere Dimensionen bereicherte Weise zu hören. Das Klavier ist maßgeblich dafür verantwortlich, indem es in der fünften Strophe die melodische Linie mit Figuren aus steigenden und fallenden Sechzehnteln umspielt, denen im Bass Folgen von teilweise länger gehaltenen bitonalen Akkorden zugeordnet sind, und in der sechsten Strophe dieses Prinzip dergestalt umkehrt, dass Sechzehntel-Figuren, nun in der Gestalt noch vielfältiger angelegt, im Bass erklingen.


    Auch bei den Versen zwei bis vier herrscht bei allen drei Strophen des zweiten Teils weitgehende Identität in der Struktur der melodischen Linie. Beim zweiten Vers beschreibt sie eine zweimalige Anstiegsbewegung in oberer Mittellage, um am Ende in einer taktübergreifenden Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls mit Rückkehr zur Ausgangslage aufzugipfeln. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung über die Dominante H-Dur nach E-Dur. Bei den beiden anderen Versen kehrt sie zu ihrem Gestus der Entfaltung in bogenförmiger Gestalt zurück, wobei die Haltung des Verzückt-Seins, die Beethoven aus dem Lobpreis Gottes beim lyrischen Ich herausgelesen hat, in der Liedmusik des dritten Verses dadurch zum Ausdruck kommt, dass die melodische Linie bei den Worten „um deines Namens willen“, „nach deinem Wohlgefallen“ und „der Herr erhört mein Flehen“ einen kleinen, in melismatischen Achtelschritten vollzogenen Bogen beschreibt, der vom Klavier im Diskant mit bitonalen Akkorden mitvollzogen wird, denen im Bass aber gegenläufige Oktaven zugeordnet sind.


    Am Ende greift Beethoven noch einmal zu dem Mittel der Wiederholung, dieses Mal aber in größerem Umfang. Die beiden letzten Verse werden noch einmal deklamiert, wobei die Eingangsworte „er hört“ durch „Der Herr erhört“ ersetzt werden und „Flehen“ apostrophisch zu „Fleh´n“ und aus „Seele“ „Seelen“ wird. Die melodische Linie entfaltet dabei in Forte-Deklamation durch die auf ansteigender tonaler Ebene sich ereignende und jeweils in einen Sprung mit Vorschlag mündende Tonrepetition bis zum dem Wort „Fleh´n“ hin eine Eindringlichkeit, die, auch weil das Klavier mit in hoher Lage ansetzenden Ketten von Sechzehnteln begleitet, anmutet, als beschwöre das lyrische Ich geradezu dieses „Erhört-Werden“. Auf dem Wort „nimmt“ gipfelt die melodische Linie in Gestalt einer Dehnung in höher Lage auf und senkt ich dann über einen Terz- und einen Quartfall zu einem „A“ in mittlerer Lage ab, wo sie in Gestalt einer vierfachen Tonrepetition in gewichtigen Schritten verharrt, am Ende in Gestalt einer durch eine Fermate bewirkten Dehnung.


    Und hier ereignet sich harmonisch Bemerkenswertes. Bei den Worten „und nimmt sich meiner Seelen“ ist die melodische Linie in D-Dur harmonisiert, bei der Schluss-Dehnung auf dem Wort „an“ vollzieht sie aber eine Rückung nach A-Dur. Das ist ein kirchentonartlicher Plagal-Schluss von der Subdominante zur Tonika. Warum wohl hat Beethoven dieses Lied so enden lassen? Sollte damit dem beschwörenden Gestus der Liedmusik in der Wiederholung der beiden letzten Verse die Perspektive einer Erfüllung der Bitten des lyrischen Ichs beigegeben werden?
    Man kann diesen Liedschluss so vernehmen und auffassen.

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  • „Mignons Lied“, op.75, Nr.1


    Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
    Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
    Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
    Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
    Kennst du es wohl?
    Dahin, dahin
    Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!


    Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
    Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
    Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
    Was hat man Dir, du armes Kind, getan?
    Kennst du es wohl?
    Dahin, dahin
    Möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!


    Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
    Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
    In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
    Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.
    Kennst du ihn wohl?
    Dahin, dahin
    Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!


    (J. W. v. Goethe)


    In der Rätselhaftigkeit der Metaphorik dieser Verse schlägt sich wohl das Wesen dieser Gestalt nieder, die in Goethes „Wilhelm Meister“-Roman ganz und gar in die Aura des Rätselhaften, Geheimnisvollen und schwer Zugänglichen gehüllt ist. Die drei Strophen skizzieren lyrisch den Weg einer Identitätssuche. Das dabei angesprochene Du ist aus diesem Grund nicht allein „Geliebter“, - es ist Beschützer und Vater überdies. Es ist Begleiter des lyrischen Ichs auf dem Weg der Suche nach sich selbst, das in der Idylle einer südlichen Landschaft das ersehnte Zuhause finden könnte, - wenn sie denn erreichbar ist. Daher dieses immer wiederkehrende Drängen: „Dahin, dahin“. Die Erfahrungen des Gefährlichen, Unwirtlichen und Bedrohlichen, wie sie in der dritten Strophe mit ihren die Atmosphäre der beiden vorangehenden Strophen regelrecht verstörenden Bildern evoziert werden, müssen als Stationen dieses Weges in Kauf genommen werden.


    Beethovens Liedkomposition auf dieses Goethe-Gedicht steht am Anfang der „Sechs Gesänge, in Musik gesetzt von L. v. Beethoven. Der Fürstin von Kinsky gewidmet. Op.75“, die 1809 publiziert wurden Darin findet sich, neben den Liedern „Gretels Warnung“(Textautor unbekannt), „An den fernen Geliebten“ und „Der Zufriedene“ (Texte von Chr. L. Reissig) noch zwei weitere Kompositionen auf Gedichte von Goethe: „Neue Liebe, neues Leben“ und „Aus Goethe´s Faust“). Sie sind Bestandteil jener insgesamt sieben Liedkompositionen, die aus Beethovens intensiver Beschäftigung mit dem dichterischen Werk Goethes und insbesondere seiner Lyrik hervorgingen. Schon 1792 hatte er ja die hier bereits besprochenen Lieder „Mailied“ und „Marmotte“ komponiert. Die kompositorische Auseinandersetzung mit Goethes Lyrik hatte starken Einfluss auf die Entwicklung seiner spezifischen Liedsprache. Von ihm ist der Ausspruch überliefert: „Ich werde gestimmt und aufgeregt zum Komponieren durch diese Sprache, die wie durch Geister zu höherer Ordnung sich aufbaut und das Geheimnis der Harmonien schon in sich trägt.“


    Beethovens Komposition auf dieses berühmte Goethe-Gedicht folgt auf die von Zelter (1795) und steht damit am Anfang einer die Zahl siebzig erreichenden und bis in zwanzigste Jahrhundert reichenden Vertonungen seiner Verse, von denen die bedeutendsten wohl mit den Namen Franz Schubert, Robert Schumann und Hugo Wolf verbunden sind. Und hört man sie auf dem Hintergrund der Liedmusik eben dieser bedeutenden Nachfolger, dann wird einem so recht der gleichsam liedkompositorisch anfängliche, im Geist der Klassik erfolgende Zugriff auf sie bewusst. Dies in hinreichend konkreter Weise aufzuzeigen, würde einen detaillierten Vergleich der entsprechenden Liedkompositionen erfordern, der hier nicht zu leisten ist. Es sei in diesem Zusammenhang auf die hier vorliegenden Besprechungen der Vertonungen durch Schubert und Hugo Wolf verwiesen (http://tamino-klassikforum.at/…ghlight=Mignon#post484072 // http://tamino-klassikforum.at/…ghlight=Mignon#post505524 ). Die nachfolgende Betrachtung von Beethovens Liedkomposition erfolgt, um ihre spezifische Eigenart zu erfassen, unter impliziter Bezugnahme auf diese liedhistorisch späteren Kompositionen.


    Da ist - und dabei handelt es sich um den ersten unter diesem Aspekt relevanten Sachverhalt – zunächst einmal die Tatsache, dass Beethoven hier ein variiertes Strophenlied vorlegt. Und das bedeutet: Er kann sich nicht – und will es auch nicht - in liedmusikalisch differenzierter Weise auf das evokative Potential der vielfältigen lyrischen Metaphorik einlassen und dabei berücksichtigen und zum Ausdruck bringen, welche Relevanz dieses hinsichtlich der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs hat. Der romantische Klavierlied-Komponist tut das sehr wohl. Für den sich dem Geist der Klassik verpflichtet fühlenden Beethoven ist dies ein nicht infrage kommendes liedkompositorisches Anliegen.


    Ihm geht es um das musikalische Zum-Ausdruck-Bringen der Grund-Intentionen des lyrischen Ichs, wie sie sich in dem refrainhaft wiederkehrenden „Dahin, dahin“ lyrisch-sprachlich verdichten. Und das schlägt sich in der kompositorischen Faktur dergestalt nieder, dass dieser lyrische Refrain durch Wiederholung eine liedmusikalische Ausweitung erfährt, ein eigenes Metrum (sechs Achtel statt zwei Viertel) und Tempo („geschwinder“) aufweist und in all dem so anmutet, als würde all das, was liedmusikalisch vorausgeht, auf ihn zulaufen und in ihm seine Sinnstiftung erfahren. Dieses „Dahin, dahin“ und die dahinterstehenden Intentionen des lyrischen Ichs bilden in solch starker Weise das Zentrum der liedkompositorischen Aussage, dass die Tatsache, dass beim letzten Vers eigentlich eine von den vorangehenden Strophen abweichende lyrische Aussage vorliegt, für Beethoven keine Rolle spielen konnte: Er legt diesen Worten die gleiche melodische Linie zugrunde und weicht – bezeichnenderweise – von der Verfahrensweise beim letzten Vers der ersten und der zweiten Strophe nur dadurch ab, dass er nun auf das „lass uns ziehn“ eine expressiv lange melodische Dehnung einschließlich Quintfall und Sekundanstieg legt.


    Die melodische Linie, ihre Harmonisierung und der Klaviersatz sind bei den ersten beiden Strophen identisch, in der dritten Strophe weist nur der Klaviersatz eine Modifikation auf, und zwar beim dritten und vierten Vers. Die Bilder von der in Höhlen wohnenden Drachenbrut, dem „stürzenden Fels“ und der „Flut“ reklamierten eine liedmusikalische Berücksichtigung. Beethoven kommt ihr nach, indem er statt der aufsteigend angelegten Sechzehntel-Triolen, die in den vorangehenden Strophen an dieser Stelle die Singstimme im Bass begleiten, nun forte anzuschlagende Zweiunddreißigstel-Quartolen erklingen lässt, die im Diskant von auf und ab steigenden Oktaven begleitet werden, die an die Stelle der Achtel und Sechzehntel treten, die vorangehend den Triolen zugeordnet sind. Dass der von ihm abgeänderte lyrische Text, die Worte „lass und zieh´n“ also, eine weitere Variation in der Faktur der Strophe mit sich bringt, wurde bereits erwähnt. Man kann sich also, will man die liedmusikalische Aussage in ihrem Kern erfassen, auf die analytische Betrachtung von Melodik, Harmonik und Klaviersatz der ersten Strophe beschränken.


    A-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik auf den ersten fünf Versen, also bis einschließlich „Kennst du es wohl?“, zugrunde, und diese soll „ziemlich langsam“ vorgetragen werden. Ohne Vorspiel setzt die melodische Linie ein. Bemerkenswert aber ist die Art und Weise, wie das geschieht. Auf den Worten „Kennst du das Land“ liegt ein auf einem tiefen „E“ ansetzender und in eine Dehnung auf einem „A“ mündender Sekundanstieg, der vom Klavier im Diskant mit dreistimmigen Akkorden begleitet wird. Das Wort „kennst“ erhält jedoch einen deutlichen Akzent dadurch, dass das Klavier dem dreistimmigen Akkord im Diskant noch eine lang gehaltene Oktave im Bass beigibt, so dass das Lied mit einem forte angeschlagenen fünfstimmigen Akkord einsetzt. Hat man die Gestalt „Mignon“ vor Augen, wie sie einem in Goethes Roman begegnet, so wirkt dieser gesangliche Auftritt unerwartet, wenn nicht gar überraschend. Beethoven scheint in ihr wohl eine in ihrem Auftreten und ihren Äußerungen Achtung fordernde junge Frau gesehen zu haben, und die Musik, in die er diese Verse gesetzt hat, bestätigt dies ja. Er muss um dieses Bild von „Mignon“ allerdings sehr gerungen haben, wie man aus der Tatsache schließen darf, dass er das Gedicht „Nur wer die Sehnsucht kennt“ vier Mal vertont hat.


    Es ist allerdings eine durchaus zarte melodische Linie, mit der die Liedmusik auf den ersten beiden Versen einsetzt. Der Anstieg vom tiefen „E“ her wiederholt sich beim zweiten Vers noch einmal, und er setzt sich auch in der gleichen Weise fort: Mit einem kurzen Verharren in Tonrepetition auf dem „A“ in mittlerer Lage und einem nachfolgenden zweimaligen, auf einen Quartsprung in obere Mittellage folgenden Sekundfall, der den sprachlichen Gestus der Frage zum Ausdruck bringt. Die Harmonik unterstützt das, indem sie beide Male eine Rückung von der Tonika A-Dur in die Dominante vollzieht, und das tut auch das Klavier dergestalt, dass es am Ende dieser beiden Melodiezeilen die Achtel- und Sechzehntelfiguren, mit denen es die melodische Linie zuvor begleitete, nun in Bass und Diskant auseinanderlaufen lässt. Es sind für es selbst gewichtige und bedeutsame Fragen, die dieses lyrische Ich namens „Mignon“ hier stellt, und Beethovens Melodik bringt das auch so zum Ausdruck, - aus diesem seinem Verständnis dieser literarischen Figur heraus.


    Bei den Worten „Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“ kommt ein leicht schwärmerischer Ton in die melodische Linie. Das Wort „sanfter“ trägt eine gedehnte Tonrepetition, danach senkt sich die melodische Linie in zwei Sekundschritten erst einmal ab, um dann aber bei den Worten „blauen Himmel“ mit einem Sechzehntel-Quartsprung in obere Lage aufzusteigen und von dort aus einen melismatischen Legato-Sechzehntelfall zu beschreiben. Das Klavier verstärkt diesen schwärmerischen Ton, indem es nun mit steigend angelegten Sechzehntel-Triolen im Bass begleitet, und auch die Harmonik tut das, indem sie von ihrem Verharren im Tongeschlecht Dur ablässt und nach Moll ausweicht, - ein a-Moll, das am Ende dieser Melodiezeile aber wieder eine Rückung nach Dur, die Dominante nämlich, vollzieht. Aber die melodische Linie will in diesem, von den südlich-lyrischen Bildern beseelten schwärmerischen Gestus verbleiben, und sie reflektiert diese in ihrem Gehalt dabei sogar noch. Bei den Worten „die Myrte still“ beschreibt sie einen schlichten, aus einer Tonrepetition hervorgehenden doppelten Sekundanstieg, der aber, um der Bedeutung des Bildes gerecht zu werden, mit einer gewichtigen harmonischen Rückung von E-Dur nach G-Dur verbunden ist.


    Und das Bild vom „Lorbeer“, das mit den Worten „und hoch“ eingeleitet wird, reflektiert die melodische Linie mit einer ausdrucksstarken Kombination aus Sext- und Quartsprung, der ein legato auszuführender, aus einer Dehnung in hoher Lage hervorgehende dreifacher Sechzehntelfall mit nachfolgendem Sekundanstieg nachfolgt. Es ist ein höchst bedeutsamer, vielsagender Abschluss der Liedmusik auf den ersten vier Versen, der sich hier ereignet, darin die Empfindungen des lyrischen Ichs bei der Imagination dieser fernen, exotischen Welt, in der Zitronen blühen, zum Ausdruck bringend. Und das Klavier akzentuiert das, indem es hier von seinen Sechzehntel-Triolen ablässt und fortissimo zwei F-Dur-Akkorde anschlägt, dann aber, nach einer Achtelpause, sofort wieder zu einem wärmeren und piano angeschlagenen G-Dur-Akkord übergeht, dem ein C-Dur-Akkord nachfolgt. Das Klavier weiß: Hier schwärmt eine im Grunde zarte Seele von einer fernen, ersehnten und unerreichbaren Welt südlichen Flairs.


    Vor dem Erklingen des zweiten Teils dieser Komposition, der ja inhaltlich nur aus den beiden letzten Versen besteht, aber durch Wiederholung derselben und das zweimalig hinzugefügte „dahin“ so stark ausgeweitet wird, dass er von der Taktzahl her fast den Umfang des ersten Teils annimmt, ereignet sich etwas, was man durchaus als ein liedkompositorisches Denken aus dem Geist der Klassik empfindet, für die der strukturierte innere Aufbau der Komposition ein wesentlicher Aspekt ist. In der zweitaktigen Pause für die Singstimme ereignet sich ein Fall vom im Intervall sich weitenden bitonalen Akkorden, bei dem die Harmonik eine Rückung von F-Dur nach E-Dur vollzieht. Das ist genau die gleiche Rückung, die sich auch bei dem nachfolgenden, in eine Dehnung mündenden Anstieg der melodischen Linie auf den Worten „Kennst du es wohl?“ ereignet, die wie ein liedmusikalisches Eröffnungsportal für die nachfolgende, nun in einem Sechsachteltakt stehende und „geschwinder“ vorzutragende Liedmusik des zweiten Teils wir. Denn diese setzt in A-Dur-Harmonik ein, und das vorangehende E-Dur enthüllt sich damit in seinem Dominant-Charakter.


    Sehnsucht und inniges Begehren bringt die Liedmusik in diesem zweiten, refrainhaften, aber darin wie das eigentliche Zentrum der Liedmusik wirkenden Teil des Liedes zum Ausdruck, - und dies auf höchst eindrückliche Weise. Sucht man in der Struktur der Melodik nach den Ursachen dafür, dann stellt sich alsbald heraus: Es ist der Sekundfall auf dem Wort „dahin“, das Beethoven aus seinem Verständnis dieser Mignon-Gestalt im Unterschied zu Goethe pro Strophe nicht zwei, sondern sechs Mal deklamieren lässt. Er will ihren starken Willen betonen, zugleich aber auch ihre Seelentiefe vernehmlich werden lassen, und die Liedmusik vermag das auf überzeugende Weise. Wie liedkompositorisch gekonnt Beethoven dabei vorgeht, lässt das erste Doppel dieses für ihn so gewichtigen Wortes „dahin“ erkennen. Der erste Sekundfall ist, seinerseits auf einen Sekundfall folgend, nur ein verminderter, der zweite aber, aus einer Sekunde höher ansetzend, ist ein großer, und beide münden in eine Dehnung, die das Klavier mit Akkordrepetitionen in Bass und Diskant akzentuiert.


    Auch die melodische Linie auf den Worten „möcht´ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn“ ist in dominanter Weise vom Seelentiefe zum Ausdruck bringenden Sekundfall geprägt, - freilich einem, der sich wieder erhebt und darin den Gestus des Wollens und Begehrens reflektiert. Bei „möcht´ ich mit dir“ senkt sich die melodische Linie in ruhigen Sekundschritten aus hoher Lage ab, und das Klavier folgt ihr darin mit Terzen. Bei den Worten „o mein Geliebter“ geht sie aber zu einem kleinen bogenförmigen Legato-Aufschwung in Gestalt eine Kombination aus Sekundanstieg, Terzfall und neuerlichem Anstieg über eine Sekunde über, den das Klavier nun mit dreistimmigen Akkorden im Diskant mitvollzieht. Und bei der Wiederholung dieser Worte wird aus diesem liebevolle Zuneigung bekundenden melodischen Bogen ein in höhere Lage ausgreifender und mit deklamatorischen Achtelschritten melismatisch angereicherter.


    Und erneut vernimmt man, wie kunstvoll Beethoven dieses Wort „dahin“ in seinen seelischen Dimensionen melodisch auslotet. Beim dritten Mal liegt auf ihm wieder der Sekundfall, auf der gleichen tonalen Ebene wie beim zweiten Mal,, nun aber durch zwei relativ lange Pausen (drei Achtel) davor und danach in eine liedmusikalisch exponierte Stellung gebracht. Beim vierten Mal aber liegt auf ihm kein Sekundfall, sondern eine auf einer um eine Sekunde angehobene Tonrepetitionen, und dies deshalb, weil damit der umso eindrucksvollere vierschrittige Sekundfall auf den Worten „möcht´ ich mit dir“ eingeleitet wird.


    Die beiden letzten „Dahins“ werden wieder durch lange Pause davor und danach akzentuiert, sie erfahren aber auch durch die Melodik, die auf ihnen liegt und den Klaviersatz, der ihnen zugeordnet ist und nun aus lang gehaltenen Akkorden besteht, eine große Steigerung ihrer liedmusikalischen Expressivität. Das erste wird auf einer Kombination von Legato-Sekundanstieg und Doppelsekundfall mit Vorschlag deklamiert, das zweite aber auf einem nun radikal vom vorangehenden Gestus abweichenden Quintfall, der in einen Sekundanstieg übergeht.


    Das mutet zunächst an, als sei es der Notwendigkeit geschuldet, eine Anbindung der Liedmusik an die nachfolgende Strophe herzustellen. Am Liedende erfährt es aber seine Bekräftigung. Auf „lass uns ziehn“ liegt nun die gleiche, mit der harmonischen Rückung von Subdominante über Dominante zur Tonika A-Dur verbundene melodische Figur aus Quintfall und Sekundanstieg. Nun aber geht sie sogar aus einer fast zwei Takte einnehmenden Dehnung hervor.
    Und hierin zeigt sich: In diesem „Dahin“ will Beethoven das Wesen dieser Mignon ausgedrückt sehen. Die ganze Liedmusik kreist im Grunde darum und findet in ihrer melodischen Schlussfigur zu sich selbst.

  • „Neue Liebe, neues Leben“, op.75, Nr.2


    Herz, mein Herz, was soll das geben?
    Was bedränget dich so sehr?
    Welch ein fremdes neues Leben!
    Ich erkenne dich nicht mehr.
    Weg ist Alles, was du liebtest,
    Weg, warum du dich betrübtest,
    Weg dein Fleiß und deine Ruh' -
    Ach wie kamst du nur dazu!


    Fesselt dich die Jugendblüte,
    Diese liebliche Gestalt,
    Dieser Blick voll Treu' und Güte,
    Mit unendlicher Gewalt?
    Will ich rasch mich ihr entziehen,
    Mich ermannen, ihr entfliehen,
    Führet mich im Augenblick
    Ach, mein Weg zu ihr zurück.


    Und an diesem Zauberfädchen,
    Das sich nicht zerreißen läßt,
    Hält das liebe lose Mädchen,
    Mich so wider Willen fest;
    Muß in ihrem Zauberkreise
    Leben nun auf ihre Weise.
    Die Verändrung, ach, wie groß!
    Liebe! Liebe! laß mich los!


    (J. W. v. Goethe)


    Dieses Gedicht entstand 1775, und Goethe setzt sich darin mit seiner Liebe zu Lili Schönemann auseinander. Es atmet lyrischen Sturm und Drang-Geist, freilich einen, der, und das macht die Größe dieser Verse aus, auf für diese Zeit ungewöhnliche Weise formal gebändigt und metrisch gezügelt auftritt. Gleichwohl ist er gegenwärtig: In dem reflexiven, von Fragen geradezu stürmisch bedrängten Bemühen, die emotional tiefgreifende, die Existenz geradezu umstürzlerisch erfassende Erfahrung von Liebe gleichsam rational erfassen, in ihren Dimensionen begreifen und in ihren Folgen bewältigen zu wollen.


    Eine in die Tiefe des lyrischen Textes vordringende Interpretation ist für die Betrachtung und das Verständnis ihrer Vertonung durch Beethoven nicht erforderlich. Es genügt, auf sein Wesen zu verweisen: Dieses von tiefer innerer Betroffenheit generierte, dadurch wie getrieben wirkende und in seinen Aspekten vielfältige Sich-Auseinandersetzen des lyrischen Ichs mit den umstürzlerischen Wandlungen, die die Liebe mit sich gebracht hat.
    Ein Liedkomponist kann sich nun auf diese einzelnen Aspekte, auch auf den unterschiedlichen Gehalt der einzelnen Strophen einlassen, ereignet sich darin doch erfahrungsmäßige Bestandsaufnahme der seelischen Befindlichkeit, analytische Auseinandersetzung damit und erhellende Erkenntnis der Ursachen, die schließlich in die im Titel vorweggenommene und im letzten Vers In Gestalt einer Forderung konkretisierte Einsicht mündet, dass neue Liebe eben neues Leben mit sich bringt. Bringen muss, - und darin hinzunehmen, zu akzeptieren und sogar zu begrüßen ist.


    Eine hochkomplexe, auf jeden Fall in Durchkomposition sich entfaltende Liedmusik würde daraus hervorgehen. Beethoven aber entscheidet sich für den anderen Weg und erweist sich darin wieder als ein vom Geist der Klassik geprägter Liedkomponist. Es geht ihm nicht, wie dem ihm nachfolgenden romantischen Klavierliedkomponisten, um die Einfühlung in das lyrischen Ich in der einzelnen lyrischen Aussage und der zugehörigen Metaphorik, er setzt vielmehr dessen in den Versen Goethes sich artikulierende Grundhaltung in Liedmusik, abzielend dabei auf den Gestus des Getrieben-Seins in der Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Erfahrungen. Und das hat zur Folge, dass aus den drei Strophen Goethes ein zwar ebenfalls dreistrophiges Lied wird, nicht aber in Gestalt einer einfachen Übernahme der Gliederung des lyrischen Textes, sondern in der Form, dass Strophe eins und zwei zu einer Liedstrophe zusammengefasst werden, diese anschließend in variierter Gestalt wiederholt und das Ganze schließlich mit der dritten Gedichtsstrophe als dritter Liedstrophe abgeschlossen wird. Der Komposition liegt also die Form des Bars mit zwei Stollen und einem Abgesang zugrunde, und fast möchte man annehmen, dass Beethoven hier die dichterische Intention Goethes, die Fülle der Gedanken und Gefühle dem Reglement der Form zu unterwerfen, um sie poetisch fassen zu können, auf musikalischer Ebene aufgegriffen und umgesetzt hat, - Niederschlag eines im Grunde klassischen künstlerischen Denkens.


    Ein Sechsachteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, sie steht in C-Dur als Grundtonart und soll „Lebhaft, doch nicht zu sehr“ vorgetragen werden. Aber „lebhaft“ muss sie schon auftreten, diese Liedmusik, wohnt doch der lyrischen Sprache mit ihrer Neigung zu Wiederholung und Anapher ein eminent eilig-drängender Gestus inne, der mit dem „Herz, mein Herz“ und der im trochäischen Metrum auf höchst direkte Weise artikulierten Frage des ersten Verses den ihm bis zum Ende gemäßen Auftritt hat. Und Beethoven erfasst ihn mit seiner Melodik und dem ihr zugeordneten Klaviersatz auf voll und ganz treffende Weise. Die melodische Linie auf besagtem erstem Vers wirkt in ihrer hüpfenden Rhythmisierung wie eine klanglich-musikalische Verkörperung der lyrischen Sprache. Sie entfaltet sich ganz und gar im Gestus der zweifachen deklamatorischen Tonrepetition auf sprunghaft über mindestens eine Terz ansteigender tonaler Ebene, wobei die Repetitionen in der Abfolge von Vierteln und Achteln rhythmisiert sind und darin vom Klavier Unterstützung und Akzentuierung erfahren, denn der Klaviersatz besteht – und das bis fast zum Ende der Liedmusik auf der ersten Gedicht-Strophe – aus der als Grundfigur fungierenden Kombination eines auftaktigen Viertels in Gestalt einer Oktave und zwei Achtel-Akkorden.


    Diesen sich aus der rhythmisierten Tonrepetitionen speisenden und sprunghaft größere tonale Räume durchmessenden Gestus behält die Melodik im Grunde vom Anfang bis zum Ende der Liedmusik durch, wobei ihr ganz spezifisches Wesen darin besteht, dass sie ihn, je intensiver sie sich auf die lyrischen Aussagen einlässt, desto mehr mit deklamatorischen Schritten anreichert, die mit einem Verlassen der Tonrepetition und einer Ausweitung des tonalen Raumes verbunden sind. Das ereignet sich schon in der Liedmusik auf die erste Gedichtstrophe, in der auf die zweite Gedichtstrophe steigert sich die Melodik in dieser auf höhere Expressivität ausgerichteten Binnendifferenzierung der deklamatorischen Schritte. Und das ist ja auch von dem um existenzielle Grundfragen kreisenden lyrischen Text her geradezu gefordert. In der Wiederholung der ersten Liedstrophe verfolgt Beethoven dabei die kompositorische Absicht, diese Steigerung der Expressivität der Liedmusik fortzusetzen, dies allerdings, um den Stollen-Charakter zu wahren, unter weitgehender Beibehaltung der Struktur der melodischen Linie.


    Die melodischen Variationen bestehen im wesentlichen in einer vereinzelten Vergrößerung der Intervalle in Aufstiegs- und Fallbewegungen und – das aber nur einmal, bei dem Wort „Gewalt“ nämlich – in einer Vergrößerung eines punktierten Viertels in hoher Lage zu einer fast drei Takte umfassenden Dehnung. Ansonsten erfolgt die Steigerung der liedmusikalischen Expressivität über eine klangliche Anreicherung des Klaviersatzes durch akkordische Mehrstimmigkeit im Diskant und die Einbeziehung des Basses in diese, aber auch durch Variationen im Bereich der Harmonisierung der melodischen Linie. Die erste Gedichtstrophe wird zwar im Bereich von Melodik und Harmonik unverändert wiederholt, der melodischen Aussage wird jedoch schon dadurch mehr Nachdruck verliehen, dass die Singstimme, bevor sie zum neuerlichen Vortrag der Liedmusik der ersten Gedichtstrophe ansetzt, die zentrale, alles lyrisch Nachfolgende gleichsam auslösende Frage „Herz mein Herz, was soll das geben?“ gesplittet in zwei durch eine Dreiviertelpause getrennte kleine Zeilen wie eine Einleitung im Vorhinein deklamiert. Das Klavier verleiht dann der Aussage der melodischen Linie dadurch gesteigerten Nachdruck, dass es nun nicht, wie im ersten Fall, mit der Figur aus Viertel-Oktave und zwei Achtel-Akkorden begleitet, sondern den Oktaven im Bass dreistimmige drei, bzw. zwei dreistimmige Akkorde folgen lässt.


    Beethoven setzt ja das Prinzip der Wiederholung in diesem Lied mehrfach ein. Hier, wie in allen anderen Fällen, um zum Ausdruck zu bringen, welche Bedeutung und welches Gewicht die Fragen für das lyrische Ich haben, mit denen es sich in diesem Gedicht in so intensiver Weise auseinandersetzt. So lässt er die Schlussfrage „Ach, wie kamst du nur dazu!“, die bei Goethe ja eigentlich ein Klageruf ist, zunächst auf einem aus einer Tonrepetition hervorgehenden zweifachen Sekundanstieg mit nachfolgendem Terzfall deklamieren. Beim zweiten Mal verleiht er dem Wort „Wie“ aber einen starken Akzent, indem er darauf einen Sechzehntel-Quartsprung legt. Und auch den Sekundanstieg steigert er: Nun sind es vier Sekundschritte, die die melodische Linie in hohe Lage führen, und das ohne nachfolgenden Terzfall. Das Klavier begleitet hier durchweg mit lang gehaltenen sechsstimmigen Akkorden, und die Harmonik vollzieht erst eine Rückung von F-nach G-Dur, dann aber von D- nach G-Dur.


    Auch hier wird sie also wieder als Faktor zur Steigerung des musikalischen Ausdrucks eingesetzt. Und das gilt auch für den Faktor Variation. Bei der Wiederholung liegt auf diesen erneut zwei Mal deklamierten Worten eine andere Melodik: Zunächst eine „langsam“ vorzutragende Kombination aus dreifacher Tonrepetition und nachfolgendem Achtel-Melisma, dann aber, bei der Wiederholung, wieder ein, nun aber in hohe Lage führender Quartsprung, dem ein starker, über eine Terz und eine Quarte führender Fall mit anschließendem Wiederanstieg nachfolgt. Und auch die Harmonierung ist variiert: Nun vollzieht sie eine Rückung von d-Moll nach C-Dur und danach von G-Dur nach C-Dur.


    Noch kurz sei auf die Musik der dritten Liedstrophe eingegangen, eben um ihren klanglichen Charakter als eine Art den beiden Stollen folgender Abgesang zu beschreiben. Die Liedmusik auf der den zweiten Teil der ersten und zweiten Liedstrophe bildenden zweiten Gedichtstrophe brachte ja im Bereich der Melodik und des Klaviersatzes eine Steigerung der Expressivität mit sich, - die Tatsache reflektierend, dass hier die Gedanken und Gefühle um die „Jugendblüte“ und die „liebliche Gestalt“ der Geliebten kreisen. Allein schon die melodische Exposition der Worte „Fesselt dich die Jungendblüte“ in Gestalt einer Zeile aus Tonrepetition, Achtel-Quartsprung und nachfolgend zweifachem Sekundfall, der im Diskant ein in hoher Lage ansetzender wellenförmiger, eineinhalb Takte einnehmender Sechzehntelfall nachfolgt, wirkt ein Auftakt zu dieser auf gesteigerten Ausdruck angelegten Liedmusik.


    Und in der Tat nimmt die melodische Linie immer erneut Anläufe zum Aufstieg in höhere tonale Lagen, und dies aus längerem Verharren in mittlerer in Gestalt von Tonrepetitionen oder Auf- und ab-Sprüngen. Das erste Mal bei den Worten „Blick voll Treu' und Güte / Mit unendlicher Gewalt?“ mit der langen Dehnung auf „Gewalt“ im Wiederholungsfall; das zweite bei den Versen „Will ich rasch mich ihr entziehen,/ Mich ermannen, ihr entfliehen“. Hier ereignen sich in der zweiten Liedstrophe auch wieder die zum Zwecke der Ausdruckssteigerung erfolgenden Rückungen: Nun von D-Dur nach C- und G-Dur (der Dominante also), und bei den beiden letzten Versen in den Bereich der Subdominante F-Dur. Charakteristisch für den Geist dieses zweiten Strophenteils sind die sprunghaft in hohe Lage führenden Bewegungen der melodischen Linie bei der Wiederholung der Worte „zu ihr, zu ihr mein Weg zurück“.


    Erreicht hier die Liedmusik den Höhepunkt ihrer Expressivität, geschuldet der Erkenntnis des lyrischen Ichs, dass infolge der Fesselung an die Geliebte ein Entfliehen-Wollen von ihr sinnlos ist, so kehrt in der dritten Liedstrophe eine Art Beruhigung in die Bewegung der melodischen Linie ein, die auch in diesem Fall als Reflex der lyrischen Aussage aufzufassen und zu verstehen ist, findet sich doch das lyrische Ich mit den Worten „Muß in ihrem Zauberkreise / Leben nun auf ihre Weise“ damit ab, dass es der Gebundenheit durch ein „Zauberfädchen“ erst einmal nicht zu entkommen vermag. Die melodische Linie beschreibt nun zunächst mehrfach geradezu leichtfüßig wirkende, in immer höhere Lage führende und von Fallbewegungen gefolgte Sprünge, die das Klavier, auch darin abweichend von seinem bisherigen Begleit-Gestus, nun mit triolischen, sich auf und ab entfaltenden Achtelfiguren im Diskant über Oktaven im Bass begleitet. Die Harmonik verbleibt dabei – auch dies Ausdruck eines Zur-Ruhe-Kommens der Liedmusik – ganz und gar im Bereich von Tonika (C-Dur) und Dominante.


    Bei den Worten „Muß in ihrem Zauberkreise / Leben nun auf ihre Weise“ ereignet sich freilich ein wie ein Reflex des Sich-Bewusst-Werdens wirkendes Innehalten in Gestalt eines Verharrens der melodischen Linie in Tonrepetitionen auf oberer tonaler Mittellage, das bei dem Wort „Weise“ mit einem stark gedehnten Quartfallt mit nachfolgender fermatierter Achtelpause tatsächlich in ein Innehalten übergeht. Dann aber wird die melodische Linie von dem Appell des letzten Verses ergriffen, den Beethoven zum Anlass für eine gleich mehrfache Wiederholung nimmt. Auf den vorangehenden Worten „Die Veränderung, ach, wie groß!“ liegt ein zweifacher, im tonalen Ansatz sich um eine Sekunde steigernder melodischer Fall, der vom Klavier erst mit Einzeltönen, dann gar mit Akkorden mitvollzogen wird. Und auch die Harmonik reflektiert die in dieser Melodik sich ausdrückende innere Erregung des lyrischen Ichs, indem sie nämlich nun von der Tonika abrückt und erst nach A-Dur und dann nach d-Moll übergeht.


    Die Worte „Liebe! Liebe! laß mich los!“ werden zunächst auf einer den Gestus der vorangehenden Melodik und in unmittelbarer Anbindung an diese fortsetzenden Weise deklamiert, wobei die Harmonik wieder zur Tonika zurückehrt und das Klavier nun mit sprunghaft angelegten Achtelfiguren begleitet, die es auch bis zum Ende der Melodik beibehält. Die aber hat noch einiges vor sich, denn der Schlussvers ist für Beethoven in seiner lyrischen Aussage so bedeutsam, dass er ihn wiederholen lässt, und dies gleich mehrfach. Nun wird daraus: „Laß, laß, laß mich los! Laß, laß mich los!“ Das geschieht auf einer forte vorgetragenen melodischen Linie, die sich in Gestalt von Terzfall-Schritten in immer höhere tonale Lage emporschraubt, dort beim dem letzten „laß“ in eine lange expressive Dehnung übergeht und am Ende über einen ausdrucksstarken Sextfall in einen Sekundanstieg zum Grundton „C“ beschreibt. Das Klavier begleitet das forte und crescendo mit seinen Achtel-Sprüngen und lässt im viertaktigen Nachspiel sforzato im Diskant über repetierenden Achtel-Akkord im Bass eine Kette von fallenden Sechzehnteln erklingen, bevor es schließlich das Lied mit zwei C-Dur-Akkorden beschließt.

  • Hier ein Link zu einer gesanglichen Interpretation von "Neue Liebe, neues Leben". Ich habe mich für Dietrich Fischer-Dieskau in Begleitung durch Gerald Moore entschieden. Seine - von ihm eigentlich ansonsten nicht praktizierte, ja sogar abgelehnte - theatralische Mimik und Gestik stört mich zwar ein wenig, er bringt aber die so faszinierende innere Beschwingtheit der Liedmusik auf höchst treffende Weise zum Ausdruck.



  • „Aus Goethe´s Faust“, op.75, Nr.3


    Es war einmal ein König,
    Der hatt' einen großen Floh,
    Den liebt' er gar nicht wenig,
    Als wie seinen eig'nen Sohn.
    Da rief er seinen Schneider,
    Der Schneider kam heran;
    "Da, miß dem Junker Kleider
    Und miß ihm Hosen an!"


    In Sammet und in Seide
    War er nun angetan,
    Hatte Bänder auf dem Kleide,
    Hatt' auch ein Kreuz daran,
    Und war sogleich Minister,
    Und hatt´ einen großen Stern.
    Da wurden seine Geschwister
    Bei Hof auch große Herrn.


    Und Herrn und Frau'n am Hofe,
    Die waren sehr geplagt,
    Die Königin und die Zofe
    Gestochen und genagt,
    Und durften sie nicht knicken,
    Und weg sie jucken nicht.
    Wir knicken und ersticken
    Doch gleich, wenn einer sticht.



    Mephistos giftig-spöttisches „Flohlied“ aus der „Faust“- Szene „Auerbachs Keller“ hat Beethoven, wie man deutlich aus seiner Liedmusik darauf vernehmen kann, dazu animiert, sich im Ausdruck von musikalischem Humor zu ergehen. Und dies geschieht in höchst vielfältiger und vielgestaltiger Weise, was den Einsatz der musikalischen Ausdrucksmittel anbelangt. Das wohl witzigste und subtilste darunter ist wohl das Fingersatz-Zeichen auf den fallenden Zweiunddreißigstel-Figuren im zweitletzten Takt des Nachspiels: Die Doppel-Eins beinhaltet, dass der Pianist den Daumen auf die zwei Sekundfall-Tasten so legen soll, als erdrücke er am Ende den Floh, um den es zuvor drei Strophen lang ging.


    Die Komposition ist als variiertes Strophenlied angelegt, sie steht in g-Moll als Grundtonart, und die Tempovorgabe lautet „Poco Allegretto“. Die Variation der Liedmusik beschränkt sich auf die dritte Strophe, und dies dergestalt, dass die Worte der beiden letzten Verse eine geradezu exzessive, sich liedmusikalisch auf zehn Takte erstreckende und sich dabei in geradezu furiose Ausgelassenheit steigernde Wiederholung erfahren, wobei ein Chor zur Singstimme hinzutreten soll. Ansonsten sind bis dahin Melodik, Klaviersatz und Harmonik in allen drei Strophen identisch. Die minimalen Variationen in der Struktur der melodischen Linie sind deklamatorisch bedingt, insofern der lyrische Text an der jeweiligen Stelle einen Achtelschritt erfordert, wo in der vorabgehenden Strophe ein deklamatorischer Viertelschritt angezeigt war.


    Was nun macht den musikalischen Humor in dieser Komposition aus? Da ist zunächst einmal das kompositorisch höchst witzig anmutende Vorspiel, dem insofern liedmusikalisch große Bedeutung zukommt, als es, bereichert allerdings durch eine vorgelagerte und ebenfalls witzige Vorschlags- und Trillerfigur, noch zwei Mal als Zwischenspiel fungiert und die erste Figur daraus jeweils in der eintaktigen Pause vor dem Einsatz der melodischen Linie auf dem fünften Vers als kurzes Zwischenspiel erklingt. Es ist eine Kombination aus triolisch geprägtem Sprung und Fall von Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln und seiner Fortsetzung als staccato angeschlagener Sechzehntel-Oktavfall im Bass, aus dem das Vorspiel in den ersten drei Takten besteht, wobei sich eine harmonische Rückung von G-Dur über c-Moll nach D-Dur ereignet. Im vierten Takt steigen dann in g-Moll harmonisierte Achtel-Oktaven in Sekundschritten aus tiefer Lage nach oben und münden in einen dreistimmigen D-Dur-Akkord, der als Dominante für den in g-Moll harmonisierten Einsatz der melodischen Linie auf dem ersten Vers fungiert. Witzig an diesem Vorspiel ist der sich rasant wiederholende Sturz von mit einem Oktavsprung einsetzenden triolischen Sekundsprüngen in hoher Lage in geradezu abgründige Tiefe. Man meint darin die Hintergründigkeit des Spotts zu vernehmen, die sich in den Worten Mephistos lyrisch artikuliert.


    Humorvoll an der Melodik ist ihr gewichtige Bedeutsamkeit suggerieren wollender Gestus des Verharrens in strikt silbengetreuer deklamatorischer Tonrepetition auf der jeweils eingenommenen tonalen Ebene, wobei die Ausbrüche nach oben und unten daraus so anmuten, als würden sie geradezu widerwillig, weil der Aussage des lyrischen Textes geschuldet erfolgen. Bei den Worten „Es war einmal ein König, der hatt´ einen großen Floh“ verbleibt die melodische Linie in syllabisch exakter Deklamation bis fast zum Ende der Zeile auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage, wobei sogar das jambische Versmaß reproduziert wird, indem auf der ersten Silbe von „einmal“ ein deklamatorischer Sechzehntel-Schritt erfolgt. Eine Achtelpause nach „König“ reflektiert das Versende. Erst die Worte „einen großen Floh“ bewegen, weil damit ja der zentrale Gegenstand erstmals angesprochen wird, die melodische Linie zu einem zweifachen Sekundanstieg mit nachfolgendem vermindertem Quartfall. Das Klavier vollzieht alle diese Bewegungen mit Sexten im Diskant mit, und die Harmonik verbleibt mit einer kurzen Rückung in die Dominante vor Zeilenende im Bereich von g-Moll.


    Die Worte „den liebt´ er gar nicht wenig“ werden nach einer in D-Dur harmonisierten Kombination aus Sekund- und Terzfall ebenfalls in deklamatorischer Tonrepetition auf einer, nun allerdings um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene deklamiert, wobei das Wort „nicht“ durch einen kurzen Sekundfall einen Akzent erhält. Die Harmonik ist hier nach F-Dur gerückt, und das Klavier folgt der melodischen Linie im Diskant nun mit dreistimmigen Akkorden. Bei den Worten „als wie seinen eig´nen Sohn“ verbleibt die melodische Linie zunächst auf dieser tonalen Ebene eines „F“, geht aber danach, nach einem neuerlichen kurzen Sekundfall auf „seinen“ in einen Abstieg in Sekundschritten über, der auf einem tiefen „C“ endet. Harmonisiert ist diese kleine Zeile, bei der das Klavier den Gestus der deklamatorisch synchronen Begleitung der Singstimme mit dreistimmigen Akkorden im Diskant fortsetzt, nun in c-Moll, mit einer vorübergehenden Rückung in die Dur-Dominante „G“.


    Eine Anmutung von leicht übertrieben gewichtiger Ernsthaftigkeit weist diese deklamatorisch gleichförmig silbengetreue Melodik auf, die sich nur an wenigen Stellen eine dem lyrischen Text geschuldete Rhythmisierung leistet, nach dem schon erwähnten „einmal“ nur noch bei „seinen eig´nen Sohn“. Und um sie darin bloßzustellen, lässt das Klavier in der kurzen Pause vor der Fortsetzung der melodischen Linie des fünften Verses den überaus neckisch-schelmisch wirkenden ersten Teil der Figuren des Vorspiels erklingen, - diesen triolischen Zweiunddreißigstel-Sekundfall, der in hoher Lage ansetzt und in einen Sechzehntel-Sturz über zwei Oktaven übergeht. Das Klavier will hier kommentieren, denn diese Figur bricht an dieser Stelle regelecht in die Melodik ein, die sich bei dem Wort „Sohn“ eine kleine Dehnung in Gestalt eines Viertels auf dem in c-Moll harmonisierten tiefen „C“ gönnen will, bevor sie sich nach einer kurzen Achtelpause auf den fünften Vers einlässt.


    Und da, bei den Worten „Da rief er seinen Schneider“, verfällt sie erneut in diesen Gestus der deklamatorischen Tonrepetition, nun allerdings, nach einem Sekundanstieg aus der Lage des tiefen „C“ bei dem Wort „da“, auf in einem Sekundintervall angehobener tonaler Ebene. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung vom anfänglichen c-Moll nach B-Dur, und das Klavier bleibt sich darin treu, dass es die melodische Linie synchron mit repetierenden dreistimmigen Akkorden im Diskant und Einzeltönen im Bass begleitet. Mit den Worten „der Schneider kam heran“ tritt Komik in die melodische Linie. An sich haben sie ja schlichten Bericht-Charakter, Beethoven legt aber auf sie eine aus einem Sechzehntel-Sprung und einem Vorschlag gebildete melismatische Figur, die der Szene den Anflug von Komik verleiht.


    Die melodische Linie auf den Worten „"Da, miß dem Junker Kleider und miß ihm Hosen an!" wirkt wie eine Fortführung dieser Komik. Durch die Dehnung auf dem Wort „da“, den nachfolgenden Quintsprung auf „da miss“ tritt eine Art energischer Anordnungston in sie, und der setzt sich auch in neuerlichen deklamatorischen Tonrepetitionen bei den Worten „dem Junker“ und „miss ihm“ fort, denen durch Akkordrepetitionen in Bass und Diskant der ihnen angemessene Nachdruck verliehen wird. Und auch die Harmonik trägt das Ihre dazu bei, indem sie von ihrem Moll anlässt und die melodischen Repetitionen in ernstes D-Dur bettet.


    Aber Der höchst-königlichen Anordnung wohnt ja an sich eine Komik inne, sollen es doch „Kleider“ und „Hosen“ für einen Floh sein. Beethoven lässt die Melodik in der Weise auf diesen Sachverhalt reagieren, dass an zwei Stellen wieder Melismen in die sich energisch gebende Melodik einbrechen: Bei „Kleider“ in Gestalt eines partiell durch punktiertes Achtel und Sechzehntel rhythmisierten Doppel-Sekundfalls, den das Klavier akkordisch mitvollzieht; und bei „Hosen an“ durch einen Legato-Sechzehntel Sekundsprung, der bei dem Wort „an“ über einen Sekundsprung in eine Dehnung auf einem „H“ in mittlerer Lage mündet, die in G-Dur harmonisiert ist. Und dies, nachdem diese Melodiezeile am Anfang, bei der Dehnung auf dem Wort „da“ in g-Moll-Harmonisierung eingesetzt hat.


    Und auch das Klavier findet diesen Gestus der Melodik komisch. Anders ist sein Kommentar dazu nicht zu erklären, der sich zwei Mal, also nach der ersten und der zweiten Liedstrophe, ereignet und acht Takte einnimmt. Im Bass erklingt ein gleichförmiges Auf und Ab von Sechzehntel-Terzen und Einzeltönen, im Diskant aber schlägt das Klavier extrem hohe Achtel mit einem Vorschlag versehen an, die im nachfolgenden Takt in einen mit einem Triller eingeleiteten Fall von Achteln und einem Sechzehntel übergehen, dem ein Auf und Ab von Quarten nachfolgt, bevor dann schließlich mit einem Mal das ganze Vorspiel erneut aufklingt. Die Harmonik verbleibt bei all dem im Bereich der Tonika g-Moll, ihrer Subdominante c-Moll und der Dur-Tonika „D“.


    Damit ist die Liedmusik der drei Strophen beschrieben. Bleibt noch die Erweiterung der dritten durch die exzessive Wiederholung des letzten Verspaares in dieser sprachlichen Gestalt: „„Wir knicken und ersticken doch, doch gleich, wenn einer sticht. Ja, wir knicken und ersticken doch gleich, gleich, wenn einer sticht, ja ja, wir knicken und ersticken doch, doch gleich wenn einer sticht, wenn einer sticht“. Hier ereignet sich ein regelrechter Ausbruch der Liedmusik in wilde Ausgelassenheit, den man wohl als eine Art klangliche Imagination der Reaktion der Hofgesellschaft auf das Gestochen- und genagt-Werden durch den Herrn Floh und seine Geschwister aufnehmen und verstehen darf. Oder ist es eher eine musikalische Hyperbel der subtilen Ironie, in der Mephisto seinen Gesang enden lässt? Auch das gäbe einen Sinn.


    Zunächst wiederholt die Singstimme, nun zusammen mit einem Chor, die melodische Figur auf den Worten des letzten Verspaares, die nach einem Quintsprung und einer Tonrepetitionen in einen dreischrittigen Sekundfall übergeht und am Ende, bei „einer sticht“ in einen Anstieg mit Sechzehntel-Sprung und nachfolgender kleiner Dehnung mündet. Danach aber ergeht sich die melodische Linie mit geradezu exzessiver Beharrlichkeit in Repetitionen von deklamatorischen Sechzehntel-Schritten auf wechselnden, mal um eine Sekunde steigenden, mal wieder abgesenkten tonalen Ebenen, wobei sie das Klavier, das anfänglich noch die neckische Vorschlagsfigur in hoher Lage erklingen lässt, im Diskant mit Achtel-Akkorden, im Bass mit den immer gleichen Figuren aus Sechzehntel-Akkord und Einzelton begleitet.


    Am Ende, bei den Worten „wenn einer sticht“, verfallen dann alle, Singstimme und Chor, aus einer Tonrepetition heraus in eine lange, den Takt übergreifende melodische Dehnung, und das Klavier kommentiert das Ganze im dreitaktigen Nachspiel mit spitzig wirkenden Zweiunddreißigstel-Sekundfällen in hoher Lage, die erst einen Takt lang repetieren und dann in einen Fall bis hinunter in den Bass übergehen.
    Dieses hoch beeindruckende liedmusikalische Dokument von Beethovens Humor hat damit zu seinem Ende gefunden.

  • „Wonne der Wehmut“, op.83, Nr.1


    Trocknet nicht, trocknet nicht,
    Tränen der ewigen Liebe!
    Ach, nur dem halbgetrockneten Auge
    Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint!
    Trocknet nicht, trocknet nicht,
    Tränen unglücklicher Liebe!


    (J. W. v. Goethe)


    Dieses Gedicht wird in die Gruppe der sog. „Lili-Lyrik“ eingereiht, also derjenigen Lyrik, die von Goethes Beziehung zu Lili Schönemann inspiriert wurde, - der einzigen Frau, die er, nach seinen Worten, wirklich geliebt hat. Es entstand vermutlich im Jahre 1775.
    Sechs Verse, kein dominierendes Versmaß, kein Reim, allenfalls Alliterationen, - aber große Lyrik. Das lyrische Ich spricht von „Liebe“, - und die „Geliebte“ kommt dabei nicht vor. In seinen, vom Ton der Beschwörung getragenen Meditationen geht es nicht um die Zweisamkeit der Liebe, sondern um die ganz und gar subjektive Erfahrung derselben. Und diese ist ambivalent: „Ewig“ und „unglücklich“ zugleich. Liebe hat „Tränen“ im Gefolge. Das liegt in ihrem – ewigen - Wesen begründet, denn sie kann zu einer unglücklichen werden.
    Diese Tränen mögen – so beschwört es dieses lyrische Ich in seinen wenigen Versen – niemals trocknen. Denn nur in ihnen vermag das Unglückliche der Liebe zu einer Glückserfahrung zu werden. Schon wenn sie „halbgetrocknet“ sind, erscheint die Welt öde und tot. Warum? Weil mit den Tränen auch die Liebe entflohen ist. Und auch die „unglückliche“ ist Liebe.
    Große Lyrik, weil hier das Wesen der Liebe in einer sprachlich schlichten, die Sache direkt, das heißt ohne Aufwand an Metrik und Reim erfolgenden, aber den Wesenskern treffenden Weise lyrisch angesprochen wird.


    Beethovens liedkompositorische Umsetzung dieser Verse ist – neben der von Schubert – unter den mehr als zwanzig Vertonungen diejenige, die ihren lyrischen Geist, diese in schlichter Sprachlichkeit erfolgende Evokation des emotionalen Potentials von „unglücklicher Liebe“ am treffendsten erfasst hat und vernehmlich werden lässt. Die Komposition entstand 1810 und steht am Anfang der „Drei Gesänge von Goethe, der Fürstin von Kinsky gewidmet“, die im gleichen Jahr publiziert wurden. Bei den beiden anderen „Gesängen“ handelt es sich um „Sehnsucht“ und „Mit einem gemalten Band“, die anschließend vorgestellt und besprochen werden sollen.


    Unter allgemein liedkompositorischen Aspekten betrachtet ist diese Komposition insofern interessant, als sie in fast schon exemplarischer Weise erkennen lässt, wie Beethoven einen lyrischen Text in Musik umsetzt. Es ist ein wesenhaft vom Geist der Klassik inspiriertes und geprägtes Prinzip, das er dabei verfolgt: Ein aus dem zentralen Bild der „Tränen ewiger Liebe“ hergeleitetes Klagemotiv Motiv durchläuft in kunstvollem Zusammen- und Wechselspiel Melodik und Klaviersatz und generiert, ergänzt durch ein tonmalerisch die fallenden Tränen aufgreifendes Motiv, auf diese Weise die innerlich durchgestaltete Einheit der Komposition. Im Vergleich zu der gleichzeitigen Liedmusik der „Berliner Schule“ ereignet sich hier so etwas wie eine Musikalisierung des Kunstliedes.


    Die Liedmusik steht in E-Dur als Grundtonart, ein Zweivierteltakt liegt ihr zugrunde, und die Tempoanweisung lautet „Andante espressivo“. Ohne Vorspiel setzt die melodische Linie ein, und dies mit dem Klage-Motiv auf den Worten „Trocknet nicht“, dem eine zentrale Rolle und Funktion zukommt. Es wird, dem lyrischen Text entsprechend, zwar zwei Mal deklamiert, und dies in der gleichen melodischen Grundgestalt, jedoch auf einer beim zweiten Mal um eine Sekunde angehobenen und nun in H-Dur-Harmonisierung mit Rückung zurück zur Tonika E-Dur. In seiner Gestalt ist es ein sozusagen klassisches Motiv: Deklamatorische Tonrepetition mit kleiner Dehnung am Anfang, Terzsprung verbunden mit harmonischer Rückung in die Dominante und legato auszuführender Sekundfall. Und begleitet wird es vom Klavier mit zwei schlichten fünfstimmigen Achtel-Akkorden. Beide Male folgt eine Viertelpause für die Singstimme nach, und in dieser erklingt das zweite, die Liedmusik prägende Motiv: Eine im Klavierdiskant staccato angeschlagene, in hoher Lage ansetzende und sich über das Intervall einer Sexte erstreckende Folge von Sechzehnteln, die einen Sekundfall beschreiben. Man vernimmt sie fünf Mal, am Ende als Nachspiel, dort aber eine Undezime überspannend. Man geht wohl nicht fehl, wenn man sie als klangliche Imagination fallender Tränen auffasst.


    Die Melodik des Liedes weist aber noch einen anderen Ton auf. In ihm findet die seelische Dimension musikalischen Ausdruck, die mit dem Titel des Goethe-Gedichts angesprochen ist, der immerhin gleich zwei lyrische Worte mit hochgradig affektivem Potential aufweist: „Wonne“ und „Wehmut“, wobei die durch das Pronomen dabei hergestellte Konjunktion dieses um eine wiederum affektiv reiche Dimension erweitert. Dieser Ton klingt gleich in der auf die beiden Klagetöne folgenden Melodiezeile auf den Worten „Tränen der ewigen Liebe“ auf, und er ist ein tief beeindruckender. Die melodische Linie steigt, nun darin vom Klavier mit Terzen im Diskant begleitet, in ruhigen Sekundschritten an, hält darin in Gestalt einer kurzen Repetition inne und geht danach in einen Fall über, der am Ende, bei dem Wort „Liebe“ in einem melismatischen Achtel-Zweiunddreißigstel-Bogen mündet. Die Harmonik beschreibt in dieser so wunderbar gebunden sich entfaltenden und seelische Rührung zum Ausdruck bringenden Melodiezeile eine Rückung von der Subdominante über die Tonika hin zur Dominante.


    Und nun ereignet sich Bemerkenswertes. In der drei Achtel umfassenden Pause für die Singstimme erklingt das melodische Klagemotiv auf die Worte „trocknet nicht“ im Klavierdiskant, wobei der melodische Sekundfall am Ende durch einen doppelten Zweiunddreißigstel-Fall wiedergegeben wird und auf diese Weise eine gesteigerte Eindringlichkeit erhält. Und prompt fügt das Klavier dem nun sein eigenes Motiv hinzu, das der fallenden Tränen. Und was macht die Singstimme? Sie deklamiert derweilen die Worte „trocknet nicht“ nicht etwa auf dem melodischen Klagemotiv, sondern in gleichsam rezitativischem Gestus in Gestalt einer Tonrepetition auf der Ebene eines „A“ in mittlerer tonaler Lage. Und bevor sie zur Deklamation der melodischen Linie auf dem dritten Vers einsetzen kann, lässt das Klavier das melodische Klagemotiv in seiner Version noch einmal erklingen.


    Das ist nicht nur ein klanglich höchst reizvolles Zusammen- und Wechselspiel von Singstimme und Klavier, sondern ein satzmäßiges Ineinandergreifen von Melodik und Klaviersatz, das auf ein Ausschöpfen des semantischen Potentials angelegt ist und in der Art und Weise, wie das geschieht, eminent musikalisches, vom Geist der Klassik gespeistes liedkompositorisches Denken verrät.


    Das „Ach“, mit dem der vierte Vers lyrisch-sprachlich eingeleitet wird, schlägt sich in der melodischen Linie darauf dergestalt nieder, dass sie nach einem aus einer Tonrepetition hervorgehenden Sekundanstieg bei den Worten „halb getrockneten Auge“ in einen sie über das Intervall einer Septe in tiefe Lage führenden Fall in Sekundschritten übergeht, wobei das Klavier ihr darin im Einzeltönen im Diskant folgt und die Harmonik eine kurze, aber ausdrucksstarke Rückung von E-Dur nach Fis-Dur und wieder zurück vollzieht. Dem Wort „halb“ wird dabei melodischer Nachdruck dadurch verliehen, dass sich auf ihm ein verminderter, legato auszuführender Achtel-Sechzehntel-Sekundfall ereignet.


    Starken melodischen Nachdruck erhalten auch die Worte „wie öde“ und „wie tot“, darin ihren lyrisch-sprachlichen Ausruf-Charakter reflektierend. Erst beschreibt die melodische Linie, auf der tiefen tonalen Ebene ansetzend, auf der sie bei „Auge“ ankam, einen ausdrucksstarken Sextsprung und geht danach in einen Sekundfall über. Bei „wie tot“ setzt sie nun wieder auf der gleichen tonalen Ebene an, vollzieht danach aber einen, den semantischen Gehalt des Ausrufs aufgreifenden verminderten Sekundfall, der mit einer klanglich Schmerzlichkeit zum Ausdruck bringenden Rückung von der Dominante H-Dur zur Tonika in ihrer Moll-Variante einhergeht. Danach vollzieht die Harmonik eine Rückung nach A-Dur, und in dieser Tonart lässt das Klavier auch in der mehr als eintaktigen Pause für die Singstimme ein ansteigendes Auf und Ab von Zweiunddreißigsteln erklingen, das zum Einsatz der melodischen Linie auf den beiden letzten Versen überleitet, bei denen Beethoven zum Mittel der Wiederholung greift.


    Nun deklamiert die Singstimme, wie sie das ja schon einmal getan hat, die Worte „trocknet nicht“ nicht auf dem Klagemotiv, sondern auf einem repetierenden „H“ in mittlerer Lage, und dies pianissimo und ohne jegliche Begleitung durch das Klavier. Das wartet, bis die Singstimme eine Viertelpause lang schweigt und lässt dann das Klagemotiv in seiner eigenen Version erklingen, in E-Dur-harmonik mit Rückung nach a-Moll. In dieser Tonart ist auch die neuerliche Deklamation von „trocknet nicht“ auf einem repetierenden „C“ in oberer Mittellage harmonisiert, mit der die Singstimme ihren Vortrag fortsetzt. Dieses Mal folgt aber keine Pause nach, sondern die melodische Linie geht, darin die Semantik der Worte „Tränen unglücklicher Liebe reflektierend, mit einem Crescendo in einen ausdrucksstarken Sekundanstieg über und beschreibt von der zweiten zur dritten Silbe des Wortes „unglücklicher“ hin einen auf einem hohen „E“ ansetzenden Sextfall, der hohe Expressivität entfaltet, weil das Klavier diesen melodischen Sturz mit Sexten und Terzen im Diskant mitvollzieht und die melodische Linie danach wie erschöpft auf der Ebene eines tiefen „G“ erst einmal verharrt, bevor sie bei „Liebe“ am Ende in einen Sekundfall übergeht. In e-Moll ist die melodische Linie hier harmonisiert.


    Bei der Wiederholung der Worte „unglücklicher Liebe“ geht die melodische Linie aus einer Tonrepetition zunächst in einen weiterhin in e-Moll harmonisierten Sekundfall über, dem das Klavier mit Terzen im Diskant folgt. Dann aber ereignet sich bei dem Wort „Liebe“ aus einen weiteren Sekundfall ein ritardando und legato vorzutragender Quartsprung mit nachfolgendem Doppelsekundfall, der, wie der zweite ein verminderter ist und mit einer Rückung in die Septimvariante der Tonart „H“ übergeht. Ein großer klanglicher Zauber geht von dieser melodischen Figur aus. Man meint in ihr das träumerische Sich-Versenken des lyrischen Ichs in all seine mit der „unglücklichen Liebe“ einhergehenden Gedanken und Gefühle zu vernehmen. Danach wiederholt die Singstimme die Deklamation der Worte „trocknet nicht“ in der Weise des Liedanfangs, mitsamt der nachfolgend fallenden Staccato-Kette im Klavierdiskant. Die erneute Wiederholung wird aber dann auf einer melodischen Linie deklamiert, die, auf einem hohen „Dis“ ansetzend und in H-Dur harmonisiert, mit einem Terzsprung in hohe Lage aufsteigt und diesen Weg zu dem Wort „Tränen“ mit einem neuerlichen Terzsprung weiter fortsetzt.


    Hier ereignet sich die liedmusikalische Kulmination im Ausdruck von wehmütiger Schmerzlichkeit. Auf dem Wort „Tränen“ liegt eine lange, in e-Moll harmonisierte und von Klavier mit vierstimmigen Akkorden im Diskant und dreistimmigen im Bass begleitete Dehnung in hoher Lage, die am Ende in einen Sekundfall übergeht und diese Fallbewegung bei den Worten „unglücklicher Liebe“ erst einmal fortsetzt, bis sie, wie sie das ja schon einmal tat, mitten in dem Wort „unglücklicher“ in einen regelrechten Sturz übergeht. Nur ist es dieses Mal sogar ein gesteigerter, nicht über das Intervall einer Sexte, sondern einer Septe, und die melodische Linie beschreibt überdies auch noch, im Sinne einer Steigerung der Expressivität, einen Quintsprung, dem ein Sextfall nachfolgt, der die mit einem Sprung einsetzende Fallbewegung auf dem Wort „Liebe“ einleitet.


    Noch einmal werden die Worte „unglücklicher Liebe“ deklamiert, dieses Mal auf einer melodischen Linie, die mit einem Sekundsprung in hoher Lage ansetzt, den Septfall, nun aber in fis-Moll-Harmonisierung, erneut beschreibt und bei „Liebe“ den Gestus des Fallen-Wollens in Gestalt eines Sturzes über eine Sexte in die Tiefe eines „Dis“ fortsetzt, von dem sie sie sich aber mit einem Sekundsprung wieder erhebt. Das weist klanglich die Anmutung eines Sich-Einfindens in die Faktizität der „unglücklichen Liebe“ auf, darin durchaus die Aussage des lyrischen Textes reflektierend, und dies auch deshalb, weil sich hier harmonisch die klassische Kadenz-Rückung von der Dominante in die Tonika ereignet. Und mit dieser ist auch das letzte „trocknet nicht“ harmonisiert, das auf einer melodischen Linie deklamiert wird, die nach einer kleinen Dehnung auf einem „A“ in mittlerer Lage in einen doppelten, legato vorzutragenden Sekundfall übergeht, der auf dem Grundton in tiefer Lage endet.
    Das Tränenfall-Motiv wird vom Klavier nachgereicht, - dieses Mal auf einem hohen „A“ ansetzend und in geradezu exzessiver Weise über das Intervall einer Undezime bis zum Grundton „E“ in tiefer Lage fallend.
    Die Tränen sollen ja doch nicht trocknen.

  • Hier ist das Lied "Wonne der Wehmut" in einer gesanglichen Interpretation zu hören, die das Wesen und den Zauber seiner Melodik auf so vollkommene Weise wiedergibt, dass sie einen tief anzurühren vermag.


  • "Sehnsucht", op.83, Nr.2


    Was zieht mir das Herz so?
    Was zieht mich hinaus?
    Und windet und schraubt mich
    Aus Zimmer und Haus?
    Wie dort sich die Wolken
    Um Felsen verziehn!
    Da möcht' ich hinüber,
    Da möcht' ich wohl hin!


    Nun wiegt sich der Raben
    Geselliger Flug;
    Ich mische mich drunter
    Und folge dem Zug.
    Und Berg und Gemäuer
    Umfittigen wir;
    Sie weilet da drunten;
    Ich spähe nach ihr.


    Da kommt sie und wandelt;
    Ich eile sobald
    Ein singender Vogel
    Im buschigen Wald.
    Sie weilet und horchet
    Und lächelt mit sich:
    "Er singet so lieblich
    Und singt es an mich."


    Die scheidende Sonne
    Vergüldet die Höhn;
    Die sinnende Schöne
    Sie läßt es geschehn.
    Sie wandelt am Bache
    Die Wiesen entlang,
    Und finster und finstrer
    Umschlingt sich der Gang;


    Auf einmal erschein' ich
    Ein blinkender Stern.
    "Was glänzet da droben,
    So nah und so fern?"
    Und hast du mit Staunen
    Das Leuchten erblickt;
    Ich lieg dir zu Füßen,
    Da bin ich beglückt!


    (J. W. v. Goethe)


    Im regelmäßigen, Strophe für Strophe sich fortsetzenden Fluss von Trochäen und Daktylen ereignet sich die metaphorische Konkretion der menschlich-existenziellen Ur-Erfahrung „Sehnsucht“, hier der nach der Geliebten. Das dichterisch so überaus Gelungene daran ist, dass man als Leser in sie förmlich hineingezogen wird, in der Weise, dass das lyrische Ich sich in Gestalt einer an sich selbst gerichteten Frage präsentiert. Es ist die Sehnsucht nach der Geliebten, die es „hinaus zieht“. Und in den Fluss und die Bewegung, die sich nun in imaginativen Bildern entfaltet, vom „geselligen Flug“ der Raben über den „singenden Vogel“ im Wald bis zum „blinkenden Stern“ am Himmel fühlt man sich, eben weil die lyrische Sprache in ihrer Rhythmik geradezu magische Kraft entfaltet, regelrecht einbezogen, wobei dies deshalb zu einer faszinierenden Erfahrung wird, weil einem dabei die Geliebte immer wieder einmal in geradezu lieblichen Bildern begegnet, mal als „sinnende Schöne“, mal am Bach „wandelnd“ und sogar erstaunte Fragen stellend, auf die das lyrische Ich dann in all seinen sich selbst in Bann schlagenden Imaginationen die Antwort gibt: „Ich lieg dir zu Füßen, / Da bin ich beglückt!“


    Beethoven hat all das in geradezu vollkommen anmutender Weise in Liedmusik gesetzt. Vollkommen, weil das in Gestalt einer Strophenlied-Komposition geschehen ist, der eine Melodik zugrundeliegt, die in ihrer fünfmaligen Wiederkehr die Haltung des lyrischen Ichs in seinem sehnsüchtigen Sich-Hineinsteigern in Bilder der Begegnung mit dem geliebten Du mit ihren klanglichen Mitteln zu imaginieren vermag. Der Strophenlied-Charakter dieser Komposition konstituiert sich nur aus der bis auf eine kleine Variation am Ende der letzten Strophe in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung identischen melodischen Linie, wohingegen der Klaviersatz von Strophe zu Strophe starke Variationen durchläuft. Und was die Harmonik anbelangt, so moduliert sie vier Strophen lang in identischer Weise auf der Basis von h-Moll als Grundtonart mit Rückungen ins Tongeschlecht Dur, die von Fis-Dur bis hinab nach D-Dur und G-Dur reichen. In der letzten Strophe ereignet sich dann freilich harmonisch Bemerkenswertes: Die inzwischen sattsam bekannte melodische Linie tritt ihren Hörern im frischen Gewand von durchweg beibehaltener Dur-Harmonik entgegen, die nun, mit Ausnahme einer kurzen nach A-Dur, nur noch Rückungen im Raum der Tonika H-Dur und ihrer beiden Dominanten beschreibt. Was die Liedmusik damit sagen will, darüber wird am Ende ihrer Vorstellung noch kurz nachzudenken sein.


    Ein Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde, und als „Allegretto“ soll sie vorgetragen werden. Mit bogenförmig fallenden Sechzehnteln, die am Ende in ein Auf und Ab übergehen setzt sie im Vorspiel ein. Und dieses Auf und Ab ist auch der Gestus der melodischen Linie auf den ersten vier Versen. Bei den Worten „Was zieht mir das Herz so“ setzt sie auftaktig mit einem „Fis“ in unterer Mittellage ein, beschreibt danach einen Quartsprung, fällt nach einer Tonrepetition auf das „Fis“ zurück, geht anschließend erneut zu einer Sprungbewegung mit nachfolgender Tonrepetition über, die sich nun aber über das Intervall einer Quinte erstreckt und mit einer Rückung von h-Moll nach Fis-Dur verbunden ist. Bei den Worten „Was zieht mich hinaus?“ wiederholt sich diese zweite Bewegung zunächst, der nächste Sprung ist aber einer, der sich nun sogar über eine Sexte erstreckt und der auf der zweiten Silbe von „hinaus“ nun nicht erneut in eine Tonrepetition, sondern in eine kleine Dehnung in Gestalt eines deklamatorischen Viertel-Schritts übergeht. Die Harmonik kehrt dabei von ihrem dominantischen Fis-Dur wieder zur Grundtonart h-Moll zurück.


    Bei den nächsten beiden Versen kehrt diese Liedmusik auf dem ersten Verspaar in unveränderter Gestalt wieder. Das Klavier begleitet dabei – dies allerdings nur in der ersten Strophe - die Singstimme durchweg mit je zwei sechsstimmigen Viertel-Akkorden. Die melodische Linie bringt in ihrer Struktur, in dem permanenten Auf und Ab also, bei dem sich das Intervall steigert und das am Ende in eine kleine Dehnung mündet, das drängende Sich-selbst-Befragen des lyrischen Ichs auf eindringliche Weise zum Ausdruck. Und diese Eindringlichkeit erfährt, bei gleichbleibender Melodik, in der ersten Hälfte der nachfolgenden Strophen eine Steigerung dadurch, dass das Klavier von seinem Gestus der Begleitung mit schlichten Akkord-Folgen ab- und zu lebhafteren Figuren übergeht. In der zweiten Strophe sind es, darin die melodische Linie gleichsam unterstützend, ebenfalls sprunghafte Sechzehntel-Figuren im Diskant, in der dritten sind es repetierende Achtel-Akkord-Paare, die sich in der vierten dann sogar zu repetierenden Dreiergruppen erweitern.


    Die auf den Versen fünf bis acht liegende Liedmusik hebt sich in Melodik, Harmonik und Klaviersatz in allen Strophen von der auf der ersten Vierergruppe ab, dies allerdings nicht in der tiefgreifenden Weise, dass eine deutlich ausgeprägte Zweigliedrigkeit in die Strophe käme. Das ist allein schon deshalb nicht der Fall, weil die melodische Linie bei den Worten „Wie dort sich die Wolken / Um Felsen verziehn!“ ohne Pause und auf der gleichen Tonalen Ebene an die vorangehende Melodiezeile anbindet. Sie nimmt allerdings nun, bedingt durch die Aussage des lyrischen Textes, eine andere Struktur an. Nun tritt an die Stelle des über Quarten, Quinten und Sexten erfolgenden Sprungs ein Auf und Ab über Sekunden und eine einmalige Terz, wobei der Sekundfall bei den Worten „um Felsen“ mit einem zierlich wirkenden Legato-Vorschlag versehen ist. Das Klavier, das all diesen Bewegungen der melodischen Linie mit Sexten im Diskant folgt, tut dies in so enger Bindung, dass es sogar diesen Vorschlag mitvollzieht.


    Beim letzten Verspaar bringt die Melodik zusammen mit dem Klavier den Wunsch, der sich im lyrischen Text in dem zweimaligen „möcht´ ich“ niederschlägt, auf nachdrückliche Weise zum Ausdruck. Dies nicht nur deshalb, weil Beethoven die Worte „da möcht´ ich wohl hin“ wiederholen lässt, und dies auf einem ausdruckstarken, sich um eine Quinte absenkenden und mit einer Rückung von Fis-Dur nach h-Moll verbundenen Quartsprung am Ende der Strophe. Es ist auch die Struktur der melodischen Linie selbst, die die Innigkeit des Wunsches reflektiert. Sie beschreibt eine ritardando vorzutragende, in oberer Mittellage ansetzende und das Intervall einer Sexte überspannende zweimalige Wellenbewegung, die, weil sich die Bewegung in ihrer Grundstruktur wiederholt, eine Steigerung in der Nachdrücklichkeit mit sich bringt. Diese erfährt dadurch noch eine Intensivierung, dass bei der Wiederholung aus dem doppelten Achtel-Terzfall am Anfang ein mit einer Repetition verbundener Doppel-Sechzehntel-Fall wird. Das Klavier begleitet die melodische Linie dabei zunächst dergestalt, dass es die erste Wellenbewegung mit Achteln im Diskant mitvollzieht, bei der zweiten aber einen lang gehaltenen Fis-Dur-Akkord auf das „Cis“ legt, auf dem das Wort „möcht´“ deklamiert wird. Das hat eine starke Akzentuierung desselben zur Folge.


    Von der ersten bis zur vierten Strophe leitet das Klavier mit den immer gleichen Figuren über: Erst ein zweimaliger, mit einem Triller und Sechzehntel-Doppelvorschlag versehener Achtel-Quartsprung, und dann sie Wiederholung des Vorspiels. Nur vor der fünften Strophe ist das anders: Hier folgt auf die Triller-Figuren ein zwei Takte einnehmender, in hohe Lage führender und dort in einen Terzfall mündender Sekundanstieg von Sechzehnteln im Diskant über einem ebenfalls steigend angelegten und bis in den Diskantbereich sich erstreckendes Auf und Ab von bitonalen Akkorden und Einzeltönen im Bass. Das ist die Vorbereitung und Hinführung zum nun folgenden Auftritt der Melodik in klanglich neuem Gewand: Dem einer durchgehenden Dur-Harmonisierung in Gestalt der Dur-Variante der Grundtonart h-Moll.


    Es ist ganz offensichtlich das im Zentrum der letzten Strophe stehende lyrische Bild, das Beethoven bewogen hat, diese harmonische Variation am Ende in die Liedmusik einzubringen. Die Metaphorik des Gedichts erreicht hier die Kulmination der ihr von Anfang an innewohnenden imaginären Phantastik. Das lyrische Ich sieht sich als blinkenden Stern am nächtlichen Himmel und hat in dem Beflügelt-Sein durch all die vorangehenden phantastischen Bilder keine Probleme damit, sich, die gewaltige Distanz spielerisch überwindend, am Ende zu Füßen der Geliebten liegend zu sehen.


    Da ist kein den imaginären Charakter der vorangehenden Bilder auf dezent-wehmütige Weise reflektierendes Moll mehr angesagt. Nur noch Dur-Harmonik wird der Begeisterung des lyrischen Ichs gerecht. Und so ist es denn nur konsequent, dass sich die melodische Linie am Ende, bei dem wiederholten „da bin ich beglückt“ zu der einzigen Variation regelrecht beflügelt sieht. Beim ersten Mal lagert sich in den Quartsprung, der auf den vorangehenden zweifach repetierenden Terzfall folgt, nun ein bogenförmig fallendes und wieder steigendes zärtliches Sechzehntel-Melisma ein.
    Dem Klavier bleibt als Nachtrag nur noch eine Wiederholung des Vorspiels zu dieser letzten Strophe in einer die Anstiegsfigur am Ende um den Vorlauf verkürzenden Gestalt.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • "Mit einem gemalten Band", op.83, Nr.3


    Kleine Blumen, kleine Blätter
    Streuen mir mit leichter Hand
    Gute, junge Frühlings-Götter
    Tändelnd auf ein luftig Band.


    Zephir, nimm's auf deine Flügel,
    Schling's um meiner Liebsten Kleid;
    Und so tritt sie vor den Spiegel
    All in ihrer Munterkeit.


    Sieht mit Rosen sich umgeben,
    Selbst wie eine Rose jung.
    Einen Blick, geliebtes Leben!
    Und ich bin belohnt genung.


    Fühle, was dies Herz empfindet,
    Reiche frei mir deine Hand,
    Und das Band, das uns verbindet,
    Sei kein schwaches Rosenband!


    (J. W. v. Goethe)


    Ein Spiel mit anakreontischer Lyrik ist das, in dem der junge Goethe sich hier betätigt, - alle die Asservaten, Bilder und Verhaltensmuster höchst kunstvoll nutzend, die zu deren Repertoire gehören. Das Gedicht bliebe ein hübsches, aber letztlich unbedeutendes kleines lyrisch-sprachliches Werk, ginge das vier Strophen lang so hin und erschöpfte es sich darin.
    Dem aber ist nicht so. In der letzten Strophe durchbricht die Lyrik die anakreontische Szenerie und wird zur personalen und damit existentiell relevanten Aussage. Goethes Liebe zu Friederike Brion schlägt durch, und damit ein Entwurf von Liebe, der in der Wahrheit des Fühlens und der Freiheit der Hinwendung zum Anderen gründet. Das „Rosenband“, gerade noch Requisit eines dem Geist des Rokokos zugehörigen gesellschaftlichen Spiels, wird mit einem Mal zum Symbol wahrer Liebe.


    Beethovens Liedmusik darauf lässt sich, obwohl sie der Durchkomposition nahekommt, doch vom Geist des Strophenliedes leiten. Die erste, die zweite und die dritte Strophe weisen eine je eigene Liedmusik auf, wobei aber nur die erste durch ein zweitaktiges Nachspiel deutlich von der nachfolgenden Strophe abgesetzt ist. Diese geht dann aber ohne Pause unmittelbar in die dritte über. Die vierte Strophe stellt bis einschließlich viertem Vers eine Wiederholung der ersten dar: Sowohl Melodik und Harmonik, wie auch der Klaviersatz sind, bis auf eine kleine Variante in diesem, identisch. Danach greift Beethoven in geradezu exzessiver Weise zum Mittel der Textwiederholung. Das geschieht ja bereits in der dritten Strophe, dort wird aber nur das zweite Verspaar wiederholt. Bei der letzten ereignen sich aber insgesamt fünf Wiederholungen, deren Textmaterial aus dem letzten Verspaar genommen sind. Auch das einleitende Wort „fühle“ wird zweimal deklamiert. Das Lied steht in F-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Anweisung lautet: „Leichtlich und mit Grazie vorgetragen“. Dem Klaviersatz ist eine eigene Anweisung beigegeben: Er soll „leichtlich, nicht geschliffen“ ausgeführt werden.


    Schon diese formalen Eigenschaften und Vorgaben verraten viel über das Wesen und den Charakter dieser Komposition. Sie atmet, sich ganz darin den lyrischen Bildern verpflichtet fühlend, musikalisch spielerischen Geist, und sie ist auf Nachdrücklichkeit hin angelegt, die lyrische Aussage der letzten Strophe betreffend. Auch wenn gerade sie keine eigene Liedmusik aufweist, so verleihen ihr die vielen Wiederholungen ein eigenes Gewicht. Immerhin bringt sie es auf 21 Takte und reicht damit fast an die 26 heran, die die Strophen eins bis drei in Anspruch nehmen. Beethoven will ganz offensichtlich die Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringen und in den Vordergrund seiner Liedmusik rücken. Daher die vielen Wiederholungen, die ja bezeichnenderweise dort einsetzen, wo das lyrische Ich zum ersten Mal davon spricht, was ihm die Liebe zum Du bedeutet: „Einen Blick, geliebtes Leben! / Und ich bin belohnt genung.“ Und es ist von daher ganz konsequent, dass die Worte „sei kein schwaches Rosenband“ am Ende des Liedes drei Mal deklamiert werden, und dies auf einer melodischen Linie, die eine Bewegung aus fallenden Quinten beschreibt, in der die deklamatorischen Schritte durch Achtelpausen voneinander abgehoben werden und auf diese Weise große Nachdrücklichkeit entfalten.


    Schon im ersten Takt setzt die Singstimme auf dem klanglichen Fundament ein, das ihr das Klavier bereitet. Es besteht aus triolischen Auf-und-Ab-Achtelfiguren im Diskant über jeweils deren Anfang betonenden Einzeltönen im Bass, so dass der Eindruck spielerisch-lebhafter Bewegung entsteht. Die melodische Linie beschreibt bei der ersten Strophe gleich drei Mal eine bogenförmig angelegte Bewegung, wobei der Reiz darin besteht, dass nach einem gleichsam deklamatorisch gewichtigen Anlauf der Bogen selbst in kleinen melismatisch angehauchten Schritten erfolgt, worin sie jeweils die lyrische Aussage reflektiert. Bei „kleine Blumen“ besteht der Bogen aus legato ausgeführten Achtel-Sekundschritten, bei „mit leichter Hand“ beschreibt die melodische Linie hingegen einen Sextsprung, der in eine Kombination aus Quart- und Terzfall übergeht, und das Bild von den tändelnd auf ein „luftig Band“ streuenden „Frühlingsgötter“ bewegt die melodische Linie dazu, in einen fünfschritten Achtel-Sekundanstieg überzugehen, und nach einem leicht gedehnten Quartfall mit einem Sprung zurück in die hohe Ausgangslage zu einem lang gestreckten, sie in tiefe Lage führenden Fall in deklamatorischen Sekundschritten überzugehen, dem das Klavier mit seinen triolischen Figuren folgt. Das ist heitere, sich in leicht tänzerischem Gestus entfaltende und harmonisch durchweg im Bereich der Tonika F-Dur und ihrer beiden Dominanten verbleibende Liedmusik, was man da vernimmt.


    Vor der Liedmusik auf dem ersten Vers der zweiten Strophe lässt das Klavier im Diskant zwei Takte lang eine Folge von Achteln erklingen, die die melodische Linie auf den Worten „tändelnd auf ein luftig Band“ noch einmal nachvollzieht. Den beiden ersten Versen ist je eine eigene Melodiezeile zugeordnet, und beide sind in dem, was sie zu sagen haben, durch längere Pausen davor und danach liedmusikalisch exponiert. Das lyrische Ich möchte, dass das „luftig Band“ durch Zephir um der Liebsten Kleid geschlungen werde, und Beethoven verleiht dem auch durch die Struktur der melodischen Linie Nachdruck. Diese weist nämlich beide Male die gleiche Grundgestalt auf, beim zweiten Mal erfährt der auf die deklamatorischen Tonrepetitionen folgende Quartsprung aber eine Ausweitung und Anreicherung durch eine triolische Figur. Und jedes Mal folgt ein die Aussage noch nachträglich akzentuierender Fall von Achteln über eine Doppeloktave nach. Auf den Worten „Und so tritt sie vor den Spiegel / All in ihrer Munterkeit“ verbleibt die melodische Linie noch im Gestus der Tonrepetition, steigt dabei sogar noch um eine Sekunde an, um danach aber eine sprunghafte bogenförmige Fallbewegung zu beschreiben, wobei die Harmonik eine Rückung vom anfänglichen B-Dur über die Dominante C-Dur zur Tonika macht. Das Klavier begleitet, ganz der kleinen Szene entsprechend, mit munteren aufsteigend angelegten Dreigruppen von Achteln im Diskant über Achtel-Oktaven im Bass.


    Nach dem Sekundfall auf den beiden letzten Silben von „Munterkeit“ geht die melodische Linie bei dem Wort „sieht“, mit dem der erste Vers der dritten Strophe einsetzt, ohne Pause mit einem Quartsprung in eine Dehnung auf einem hohen „Es“ über, was diesem Wort eine Art Eröffnungsfunktion dafür verleiht, wie die Geliebte sich nun sehen soll: Mit Rosen umgeben. Und weil sich das lyrische Ich in dieses reizende Bild hineinsteiget, die Geleibte selbst sogar als junge Rose sehend, geht die melodische Linie zu einer Bewegung über, die Entzücken zum Ausdruck bringt: Sie steigt in wie beschwingt wirkenden und anfänglich gar mit einem melismatischen Sechzehntelfall versehenen und legato auszuführenden Achtel-Schritten in die obere Lage des Grundtons „F“ auf, geht von dort mit zierlich wirkenden Folge von Sekundschritten zu einem Fall über, der sie in mittlere Lage führt, dies aber nur, um danach bei den Worten „Rose jung“ in einen wiederum melismatisch wirkenden Bogen aus zwei Triolen zu münden. Auch hier begleitet das Klavier mit Achtel-Dreierfiguren im Diskant, und die Harmonik beschreibt mehrfach Rückungen von der Tonika F-Dur hin zur Subdominante.


    Das Verspaar „Einen Blick, geliebtes Leben! / Und ich bin belohnt genung“ lässt Beethoven wiederholen, weil es die hohe, geradezu lebensstiftende Kraft zum Ausdruck bringt, die diese Liebe für das lyrische Ich in sich birgt. Zunächst wird sie auf einer melodischen Linie deklamiert, die nach einer ausdrucksstarken Kombination aus Sextsprung, Terz- und Sekundfall auf den Worten „geliebtes Leben“ in einen fast schon dramatisch anmutenden, mit einem ins Forte führenden Crescendo vorzutragenden Sekundanstieg übergeht, der vom Klavier akkordisch mitvollzogen wird und am Ende in Tonrepetitionen auf der tonalen Ebene eines hohen „Es“ mündet. Bei der Wiederholung liegt auf „einen Blick“ eine Art melodische Seufzerfigur aus gedehntem Sekundsprung und Terzfall, eine Achtelpause folgt ihr nach, und dann geht die melodische Linie bei „geliebtes Leben“ zu einer Wiederholung dieser Figur über. Auch die Anstiegsbewegung auf dem letzten Vers wird noch einmal wiederholt, nun endet sie aber nicht in einer Tonrepetition sondern in einem doppelten Fall: Erst einem expressiven Quintfall und dann, nach einem Terzsprung, in einem ruhigen, nun in deklamatorischen Viertel-Schritten erfolgenden Sekundfall, den das Klavier, Ausklang und Ruhe zum Ausdruck bringen wollend, mit Tonrepetitionen im Diskant kommentiert. Vorher aber, bei der melodischen Linie auf der Wiederholung des fünften Verses, agierte es ganz anders: Mit fortepiano ausgeführten hochexpressiven Staccato-Figuren aus in hoher Lage fallenden Achteln, denen ein Akkord vorausgeht und eine Kombination aus Akkord und im Bass aufsteigenden Achteln nachfolgt, unterstreicht es die Bedeutung der melodischen Aussage.


    Bei der vierten Strophe kehrt die Liedmusik der ersten zwar in zunächst unveränderter Gestalt bis hin zum letzten Vers wieder, aber das stellt sich alsbald wie eine Art Einleitung zu dem heraus, was sie wirklich sagen will: Es ist das, was der lyrische Text in seinem letzten Vers zum Ausdruck bringt. Beethoven scheint ihn, und darin durchaus den dichterischen Intentionen Goethes entsprechend, als den Kern der lyrischen Aussage des Gedichts aufgefasst zu haben. Und so leitet er denn, abweichend von der ersten Strophe, die Liedmusik mit einer wie eine suggestive Beschwörung anmutenden Wiederholung des Wortes „fühle“ ein. Es wird zunächst auf einer Tonrepetition deklamiert, der eine lange, drei Viertel in Anspruch nehmende Pause nachfolgt, in der das Klavier zunächst crescendo eine Folge von Terzen erklingen lässt, bevor es mit seiner aus der ersten Strophe schon bekannten Begleitung einsetzt und die Singstimme danach die Worte „fühle, was dies Herz empfindet“ auf der melodischen Linie der Worte „Kleine Blumen, kleine Blätter“ deklamiert.


    Was sich im Anschluss an die Wiederholung der Liedmusik der ersten Strophe ereignet, stellt sich in den zugrundeliegenden lyrischen Worten wie folgt dar. Nach den Worten „Ja, sei kein schwaches Rosenband!“ wird der Text der letzten Strophe in Gänze noch einmal wiederholt, und im Anschluss daran zusätzlich noch einmal der Inhalt des letzten Verses in Gestalt der Worte „sei kein schwaches Rosenband, kein schwaches Rosenband.“ Beethoven nimmt dabei das melodische Material aus der Liedmusik der ersten Strophe, aber er reduziert es fortlaufend mehr und mehr auf seinen Kern und bringt auf diese Weise eine geradezu suggestiv wirkendes Sich-Hineinsteigern der Melodik in ihre eigenen Figuren zustande, die der Liedmusik am Ende eine starke Ausdruckskraft verleiht. Das gipfelt in dem hochgradig artifiziellen liedmusikalischen „Adagio“ auf der Wiederkehr der Worte „das uns verbindet“. Aus einem Sekundanstieg geht die melodische Linie in eine „ad libitum“ auszuführende, extrem lang gedehnte, weil gleich zwei Mal mit melismatischen Figuren angereicherte Dehnung aus Terzsprung und nachfolgend dreischrittigem Sekundfall auf den Silben „bindet“ über, die das Klaviermit einer ebenfalls gedehnten Legato-Rückung eines F-Dur-Akkords in einen C-Dur-Akkord begleitet.


    Bei der zweimaligen Wiederholung der Worte des letzten Verses geht die melodische Linie zum Gestus eines immer wieder von Achtelpausen unterbrochenen und sich darin wiederholenden Falls über das Intervall einer Quinte über, der anmutet, als wolle sie gleich mehrfach bekräftigen, was sie gerade zuvor zum Ausdruck gebracht hat.
    Das ist ein Ausklang der Liedmusik, der es darin aber gleichwohl zustande bringt, die Expressivität der Liedmusik auf seine eigene Weise noch einmal abschließend zu steigern.
    Und darin ist er wohl durchaus repräsentativ für Beethovens Liedmusik.

  • "Mit einem gemalten Band" ist hier in einer Aufnahme mit Peter Schreier zu hören. Er wird von Norman Shetler begleitet. Die Aufnahme entstand in Bad Urach.


  • „An die ferne Geliebte“, op.98


    Diesem Liederzyklus liegen sechs Gedichte des in Brünn praktizierenden und sich auch als Lyriker betätigenden Arztes Aloys Jeitteles (1794-1858) zugrunde. Beethoven hatte ihm seine Anerkennung in der Seuchenbekämpfung ausgesprochen, und er schenkte ihm daraufhin diesen kleinen Gedichtzyklus, der Beethoven offensichtlich so stark ansprach, dass er in alsbald in Liedmusik umsetzte. Begonnen hatte er mit der Komposition bereits im Frühjahr. Im Manuskript findet sich über dem ersten Lied die Notiz: „Componiert im April 1816“, und noch im gleichen Monat wurde die Komposition beendet. Publiziert wurde der Zyklus Im Oktober 1816 im Verlag S. A. Steiner&Comp. Gewidmet ist er dem Fürsten Joseph von Lobkowitz. In der Beethoven-Forschung wird vermutet, dass Lobkowitz Beethoven den Auftrag zur Komposition gegeben haben könnte, - zum Andenken an seine im Januar 1816 verstorbene Frau.


    Dieses Opus ist in gleich mehrfacher Weise liedhistorisch bedeutsam. Es stellt Beethovens größten Beitrag zur Geschichte des Kunstliedes dar, und es entfaltete darin eine gleich doppelte maßstabgebende Vorbildfunktion: In der Art und Weise der Umsetzung eines lyrischen Textes in Liedmusik und in dem liedkompositorischen Modell des Zyklus. Dass Beethoven der erste war, der diese dann zu einer Art Gattung gewordene Form des formal durchgestalteten liedmusikalischen Zyklus geschaffen hat, ist eigentlich nicht verwunderlich. Fast möchte man von einer Art logischer Konsequenz aus seinem grundlegenden kompositorischen Denken sprechen:
    Der sich ganz und gar dem Konzept eines formal in sich geschlossenen, strukturierten und sich aus einem inneren Bezug der Einzelelemente zueinander aufbauenden musikalischen Kunstwerks verpflichtet fühlende Komponist Beethoven musste eigentlich aus einer gewissen Notwendigkeit heraus auch die Musik auf lyrische Texte in einen solchen inneren Zusammenhang bringen, wie die der Sonatensatz in exemplarischer Weise vorgibt.


    Und Beethoven tat dies in einer kompositorischen Folgerichtigkeit, wie keiner seiner Nachfolger mehr. Wenn es einen Liederzyklus gibt, der das Wesen dieser kleinen liedmusikalischen Gattung in gleichsam reiner und in sich vollkommener Weise verkörpert, dann ist das Beethovens „An die ferne Geliebte“. Keiner der nachfolgenden großen Liederzyklen ist thematisch und strukturell so konsequent einem zyklischen Geist verpflichtet und dementsprechend konsequent kompositorisch umgesetzt.
    In seiner Ausrichtung auf ein zentrales lyrisches Thema, dem engen, in der unmittelbaren Aufeinanderfolge sich konstituierenden Bezug der einzelnen Lieder untereinander, ihrer Einbindung in einen durch das erste und das letzte hergestellten Rahmen und die tonartliche Logik die all dem zugrunde liegt (von Es-Dur über G-Dur, As-Dur und C-Dur zurück nach Es-Dur) stellt dieser Zyklus ein in sich geschlossenes und in seiner kompositorischen Struktur motivisch und harmonisch bis ins kleinste Detail durchgestaltetes liedmusikalisches Werk dar.
    In dieser aus kompositorischer Durchgestaltung und Strukturierung hervorgehenden Geschlossenheit als musikalisches Werk erweist sich dieser Liederzyklus als geradezu exemplarischer Fall von Beethovens aus dem Geist der Klassik geschaffener Liedmusik.


    Und natürlich lieferte die Lyrik dafür die Vorlage. Die hat nur ein Thema: Sehnsucht nach der „fernen Geliebten“. Das erste Gedicht liefert den situativen Ausgangspunkt dafür: Das lyrische Ich, „weit geschieden“ von der Geliebten, sieht sich auf einem Hügel sitzen und in die Ferne spähen,- dorthin wo es sie „fand“. Da es in seiner großen Sehnsucht nach ihr ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist, bleibt ihm nur die Hoffnung, dass seine Lieder, das Singen von all seiner Pein, Raum und Zeit überwinden und zu ihr dringen können. Und die nachfolgenden Gedichte wollen dann als ein solches Singen verstanden werden. Das lyrische Ich spricht die naturhafte Welt um es herum an, legt seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen in Berge, Bächlein, Vögel und Wolken und erfährt den frühlingshaften Mai in all seinen Bildern von Aufbruch in neues gemeinsames Leben auf schmerzliche Weise als Inbegriff einer Welt, von der er ausgeschlossen ist. Das letzte Gedicht schließt mit den Eingangsworten „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ ausdrücklich an diese Ausgangssituation an und bringt in der Wiederholung der beiden letzten Verse des Eingangsgedichts die Hoffnung zum Ausdruck, die all dem zugrundeliegt: Dass ein „liebend Herz erreichet, was ein liebend Herz geweiht“.


    Aloys Jeitteles hat Beethoven also in der formalen Anlage seines Gedicht-Zyklus gleichsam die Vorlage für ein zyklisch angelegtes liedmusikalisches Werk geschaffen und das überdies in einer lyrischen Sprache und Metaphorik, die Beethoven ganz offensichtlich unmittelbar anzusprechen vermochten. In einer 1817 in der AmZ erschienenen Rezension hieß es:
    „Der Dichter (…) hat nicht nur überhaupt wahrhaft liebliche Lieder, sondern auch für die Musik äusserts günstige geliefert. Sie deuten bestimmte, glücklich wechselnde Situationen an, sind mit Innigkeit aus der Seele gesungen, und thun beydes in, ebenfalls glücklich wechselnden, stets gefälligen Formen, auch in einer blühenden, ausgebildeten, und (bis auf einige Härten in den Reimen, Hiatus u. dgl.) wohltönenden, auch echtmusikalischen Sprache.“


    Beethoven hat wohl die letzte Strophe dem ersten Gedicht selbst hinzugefügt und hatte, wie die Skizzen zu diesem Werk erkennen lassen, wohl zunächst die Absicht, die Liedmusik auf das erste Gedicht beim sechsten von Anfang an wiederkehren zu lassen. Davon nahm er dann aber Abstand und beschränkte sich damit auf dessen letzte Strophe. Der Charakter des Werkes als Zyklus fand auf diese Weise hinreichenden musikalischen Ausdruck, aber er konnte nun, über die fünfte Strophe des ersten Liedes hinausgehend und das „Stringendo“ weiterführend, das Ende des sechsten Liedes zu einem ins Hymnische gesteigert Schluss des ganzen Zyklus ausweiten.

  • An die ferne Geliebte", Lied 1


    Auf dem Hügel sitz ich, spähend
    In das blaue Nebelland,
    Nach den fernen Triften sehend,
    Wo ich dich, Geliebte, fand.


    Weit bin ich von dir geschieden,
    Trennend liegen Berg und Tal
    Zwischen uns und unserm Frieden,
    Unserm Glück und unsrer Qual.


    Ach, den Blick kannst du nicht sehen,
    Der zu dir so glühend eilt,
    Und die Seufzer, sie verwehen
    In dem Raume, der uns teilt.


    Will denn nichts mehr zu dir dringen,
    Nichts der Liebe Bote sein?
    Singen will ich, Lieder singen,
    Die dir klagen meine Pein!


    Denn vor Liedesklang entweichet
    Jeder Raum und jede Zeit,
    Und ein liebend Herz erreichet,
    Was ein liebend Herz geweiht!


    Die Liedmusik steht in Es-Dur als Grundtonart, ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „ziemlich langsam und mit Ausdruck“ vorgetragen werden. Von seiner formalen Anlage her handelt es sich bei dieser Komposition um ein variiertes Strophenlied, - was übrigens für alle nachfolgenden Lieder mit Ausnahme des sechsten und letzten ebenfalls gilt. Aber selbst dieses Lied, bei dem es sich, formal betrachtet, um ein durchkomponiertes handelt, weist noch strophische Elemente auf. Beethoven orientiert sich in seiner Liedkomposition noch stark an der zu seiner Zeit traditionell als für die Gattung Lied gleichsam typisch und konstitutiv angesehenen Strophenform, hat aber, darin eminent liedmusikalisch denkend, aus der kompositorischen Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text alsbald den Schluss gezogen, das die reine, strikt durchgehaltene Strophenform nicht hinreicht, dessen sprachliche Gestalt und dichterische Aussage musikalisch hinreichend zu erfassen. Und so griff er zum Konzept des variierten Strophenliedes, und dies unter höchst kunstvoller Nutzung der kompositorischen Möglichkeiten zum Zwecke der vollen Ausschöpfung des musikalischen Aussage-Potentials.


    Hier, bei diesem Lied, beschränkt sich die Variation ausschließlich auf den Klaviersatz. Die Melodik wiederholt sich von Strophe zu Strophe in unveränderter Weise, mit nur zwei kleinen Ausnahmen in der vierten. Beim Klaviersatz ist das aber ganz anders. Er erfährt eine permanente Variation, in der sich eine Art Steigerungseffekt in der klanglichen Evokation von Bewegung aufzeigen lässt, auf deren kompositorischen Sinn nach der Beschreibung der Struktur der Melodik noch kurz eingegangen werden soll. Diese erweist sich in ihrem musikalischen Geist, ihrer Phrasierung und ihrem klanglichen Charakter gleich hier am Anfang als repräsentativ für den ganzen Zyklus. Der vorangehend bereits zitierte Rezensent der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ meinte treffend: „Fliessender und auch den Organen gemässer kann man (…) gar nicht schreiben.“ Beethoven lässt die Liedmusik in diesem und in allen nachfolgenden Liedern sich in einer Melodik entfalten, die in weit ausgreifender Phrasierung auf kantabel-gebundenen Fluss und das in ruhigen Schritten erfolgende Ausmessen eines relativ großen tonalen Raumes hin angelegt ist. Darin reflektiert sie die Haltung eines lyrischen Ichs, das sich auf schwärmerische Weise den Visionen einer Annäherung an die „ferne“ und fern bleibende Geliebte im Medium des Liedes hingibt.


    Hier, bei diesem ersten Lied, schlägt sich der die Melodik des ganzen Zyklus prägende Geist in der melodischen Linie dergestalt nieder, dass sie keine Untergliederung in kleine Zeilen aufweist, sondern, die lyrisch-sprachliche Struktur ignorierend, über die Verse gleichsam hinweg fließt. Vier gibt es jeweils in den Strophen davon, im Fluss der melodischen Linie lässt sich aber nur eine einzige Zäsur vernehmen, und das ist überdies auch noch eine kleine, kaum als solche auftretende. Sie ereignet sich in Gestalt einer Achtelpause nach dem Sextfall der melodischen Linie am Ende des ersten Verses, im Falle der ersten Strophe also nach dem Wort „spähend“ und ist nicht syntaktisch bedingt, denn eigentlich ignoriert Beethoven hier das Komma, das das Wort „spähend“ als in der Syntax dem zweiten Vers zugehörig ausweist.


    Und hier zeigt sich: Er denkt melodisch-kompositorisch nicht primär textbezogen, sondern musikalisch-strophisch. Der den ersten Vers umfassende Melodiezeile kommt von ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung her im Grunde die Funktion einer Eröffnung der Liedmusik der Strophe zu. Nach einer am Ende leicht gedehnten, den Anlaufcharakter betonenden deklamatorischen Tonrepetition nimmt sie einen dreifachen Sekundanstieg, verharrt auf der damit erreichten hohen tonalen Lage kurz in einer neuerlichen Tonrepetition und geht danach in den besagten Sextfall über. Die Harmonik beschreibt hierbei eine Rückung vom anfänglichen Es-Dur nach c-Moll, und da die auf dem zweiten Vers liegende melodische Linie in eben dieser Harmonisierung auf einer nur um eine Sekunde angehobenen tonalen Lage einsetzt und danach in ihrer Harmonisierung nach f-Moll rückt, erweist sich diese erste kleine Melodiezeile als eine von nur geringer liedmusikalischer Autonomie. Sie will hinführen und sich öffnen für das, was melodisch nachfolgt. Und das lässt, zusammen mit dem Neuansatz der Melodik in Gestalt eines Sekundsprungs, die Achtelpause in ihrer klanglich Wirkung bedeutungslos werden.


    Der melodische Anstieg in Sekundschritten, wie er sich auf den Worten des ersten Verses ereignet, ist Ausdruck des Geistes, der die Melodik des ganzen Liedes prägt. Er ereignet sich in ihrem weiteren Verlauf immer wieder aufs Neue, wobei der Reiz in der Unterschiedlichkeit besteht, in der das geschieht. Denn diese erweist sich als Niederschlag der Haltung des lyrischen Ichs, das sich in den jeweils zugrundliegenden Versen artikuliert. Und dies durchgängig in allen Strophen, gültig für alle Aussagen der einzelnen Verse darin. Das ist ein unmittelbar überzeugender Beleg dafür, dass Beethoven seine Liedmusik nicht in wortbezogen enger Anlehnung an den lyrischen Text entwirft, sondern von ihrer zentralen Aussage her in Gestalt seines Sich-Einfühlens in das lyrische Ich, das sich da äußert. Und eben dies ermöglicht ihm dann das von ihm nicht nur aus Gründen der Tradition, sondern auch von seinem Grundverständnis der Gattung „Lied“ her bevorzugte Konzept des variierten Strophenlieds. Auch dies darf man wohl in seiner eminenten Form-Orientiertheit als Niederschlag eines sich wesenhaft der Klassik verpflichtet fühlenden liedkompositorischen Denkens auffassen und verstehen.


    Bei den Worten „In das blaue Nebelland“ behält die melodische Linie im Grunde den Gestus der anfänglichen Zeile bei. Es ist der eines Anstiegs mit einem einer Tonrepetition nachfolgendem Fall, nur dass dieser Anstieg dieses Mal in tieferer Lage und nicht in Sekund-, sondern in Terzschritten erfolgt und der Fall nicht über eine Sexte, sondern eine Quinte. Sie Harmonik vollzieht dabei nun eine Rückung von f-Moll nach B-Dur. Sie will nicht im klanglichen Chroma verharren, das würde dem Geist und der Haltung des lyrischen Ichs nicht gerecht. Das war´s ja auch schon mit dem Tongeschlecht Moll in der Harmonisierung der Melodik dieses Liedes. Es kann nur vorübergehend kompositorische Ansprüche erheben, darin zum Ausdruck bringend, dass die lyrisch im Zentrum stehende Sehnsucht des lyrischen Ichs nach der „fernen Geliebten“, so wie Beethoven sie verstanden hat, auch eine schmerzliche Komponente aufweist.


    Bei den Worten „nach den fernen Triften sehend“ geht die melodische Linie nach einem leicht gedehnten Sekundanstieg zu einem ruhigen Auf und Ab in Sekundschritten auf mittlerer tonaler Lage über, wobei die Harmonik eine Rückung von der Dominante zur Tonika vollzieht. Wenn sich darin die situative Haltung des lyrischen Ich, der in die Ferne schweifende Blick ausdrückt, so ist dies auch bei der Bewegung der Fall, die die melodische Linie auf dem letzten Vers der Strophe beschreibt. Die Erinnerung an die erste Begegnung mit der Geliebten stellt sich bei diesem Blick ein, und so geht denn die melodische Linie mit einem Sextsprung in hohe Lage über und überlässt sich bei den Worten „Wo ich dich, Geliebte, fand“ einem ruhigen Fall über das große Intervall einer Septe, der zunächst in partiell legato auszuführenden Sekundschritten erfolgt, dann aber in einen Terzfall übergeht, um schließlich nach einem neuerlichen Sekundfall auf dem Grundton „Es“ zur Ruhe zu kommen. Nur ein Hauch von Wehmut wohnt hier der Melodik inne. Dies auch deshalb, weil die Harmonik mit einer Rückung von der Subdominante und der Dominante hin zur Tonika ganz im Bereich des Tongeschlechts Dur verbleibt.


    Das Klavier ist dieser Fallbewegung der melodischen Linie mit dreistimmigen Achtelakkorden im Diskant und gegenläufigen im Bass gefolgt und geht danach zu dem zweitaktigen Zwischenspiel über, das es, mit Ausnahme vor der letzten, zwischen allen Strophen erklingen lässt. Dies aber, und das gilt ja generell für den ganzen Klaviersatz, in nicht durchweg identischer, sondern strukturell sich anreichernder Gestalt. In allen Fällen liegt ihm aber ein zweifacher Vorschlag-Oktavsprung zugrunde, einmal in Es-, das andere Mal in B-Dur, womit dieser nun als Dominante für den Neuansatz der in Es-Dur harmonisierten melodischen Linie fungiert.


    Der Klaviersatz ist bei diesem Lied für Beethoven das Medium, in dem er das Ausdruckspotential der Variation zum Einsatz bringen kann. Und dies mit einer liedkompositorisch höchst relevanten Intention: Der klanglichen Imagination einer sich steigernden Bewegung in der Liedmusik, darin die lyrische Aussage der in die Ferne schweifenden, an die Geliebte gerichteten und dabei in wachsendem Maß mit Emotionen angereicherten Lieder musikalisch zum Ausdruck bringend. Die Liedmusik vermag auf diese Weise, unbeschadet ihrer rahmenmäßigen Beschränkung durch das kompositorische Konzept des Strophenliedes in der Melodik, dem lyrischen Text eine dimensionale Bereicherung seiner dichterischen Aussage zu vermitteln.


    In der ersten Strophe folgt der Klaviersatz im Diskant in Gestalt von zwei- und dreistimmigen Akkorden mit verbindenden Einzeltönen der melodischen Linie durchweg auf ruhige Weise in allen ihren Bewegungen. In der zweiten Strophe begleitet er sie aber mit einer rhythmisierten, weil durch Achtel- und Sechzehntelpausen unterbrochenen Folge von zwei- und dreistimmigen Achtel- und Sechzehntelakkorden. In der dritten werden im Diskant daraus repetierende bitonale Sechzehntel-Figuren mit in der Tiefe nachschlagendem Bass, und die wachsende Komplexität des Klaviersatzes zeigt sich darin, dass diese, darin die lyrische Aussage reflektierend, bei den Worten „Und die Seufzer, sie verwehen…“ mit einem Mal in klangliche Seufzer-Figuren von fallenden bitonalen Sechzehntel- und Achtelakkorden übergehen. In der vierten Strophe kehrt der Klaviersatz zum Gestus der ersten Strophe zurück. Und auch das hat einen in der lyrischen Aussage gründenden Sinn, denn das lyrische Ich kehrt hier in den Fragen, die es an sich selbst richtet, gleichsam zu seiner Ausgangsituation des Auf-dem-Hügel-Sitzens zurück.


    Vor der fünften Strophe lässt das Klavier, abweichend von seinem bisherigen Gestus eine aus einem triolischen Achtelanstieg hervorgehende triolische Fallfigur erklingen, die zusammen mit einer nachfolgenden, ebenfalls in einen Fall mündenden Achtelfigur überleitet zu der relativ lebhaften Begleitung der Singstimme in der letzten Strophe. Nun besteht der Klaviersatz aus repetierenden Sechzehntelakkorden mit vorgelagertem Bass, und das Klavier trägt damit in wesentlicher Weise zur Steigerung der Expressivität bei ,wie sie sich mit der Anweisung „Nach und nach geschwinder, stringendo“ mit der Liedmusik auf den beiden letzten Versen ereignet.


    Mit einem fünftaktigen Nach- bzw. Zwischenspiel aus hochlaufenden Sechzehnteln im Bass, die letzte melodische Figur nachvollziehenden Achteln und Sechzehnteln im Diskant und einer von Es-Dur zu G-Dur übergehenden Folge von drei Akkorden leitet das Klavier zum nächsten Lied über. Eine solch lange Überleitung von einem Lied zum anderen, schließlich kommt das dreitaktige Vorspiel des zweiten Liedes hinzu, wird sich nachfolgend nicht noch einmal ereignen. Sie erklärt sich aus der zyklischen Eröffnungsfunktion, die dem ersten Lied zukommt.

  • An die ferne Geliebte", Lied 2


    Wo die Berge so blau
    Aus dem nebligen Grau
    Schauen herein,
    Wo die Sonne verglüht,
    Wo die Wolke umzieht,
    Möchte ich sein!


    Dort im ruhigen Tal
    Schweigen Schmerzen und Qual.
    Wo im Gestein
    Still die Primel dort sinnt,
    Weht so leise der Wind,
    Möchte ich sein!


    Hin zum sinnigen Wald
    Drängt mich Liebesgewalt,
    Innere Pein.
    Ach, mich zög's nicht von hier,
    Könnt ich, Traute, bei dir
    Ewiglich sein!


    Die „Liebesgewalt“ löst beim einsamen lyrischen Ich visionäre Wunschträume von naturhaften Räumen und Landschaften aus, in denen es Erlösung von seiner „inneren Pein“ zu finden hofft. Es sind schöne, idyllische und von tiefer Ruhe erfüllte lyrische Bilder, die den Gehalt der ersten beiden Strophen ausmachen. Aber beide münden gleichförmig in das „Möchte ich sein“, das am Ende der dritten Strophe eine Steigerung durch das adverbiale „ewiglich“ erfährt. Und das zeigt, dass hinter der Idyllik der lyrischen Bilder die tiefen seelischen Regungen stehen, wie sie die Sehnsucht nach der „fernen Geliebten“ mit sich bringen und damit zur Quelle der „lyrischen Lieder“ werden. Das hohe emotionale Potential, das sie in sich bergen, schlägt, wie sie letzte Strophe zeigt, selbst in einem lyrischen Text durch, der sich ganz der sehnsuchtsvoll-schwärmerischen Vision verschrieben hat.


    Das von Beethoven in diesem Zyklus kompositorisch verfolgte Konzept des Strophenlieds schließt ein Sich-Einlassen auf diese beiden Ebenen des lyrischen Textes aus. Es zwingt zu einer Entscheidung für eine von beiden, und das kann für ihn nur die der metaphorischen Idyllik sein, die den lyrischen Text in dominanter Weise bis zum ersten Vers der dritten Strophe prägt. Für die Berücksichtigung der den Motor aller lyrischen Aussagen dieses Zyklus bildenden und in der dritten Strophe sich artikulierenden seelischen Regungen des lyrischen Ichs können dann nur noch die kompositorischen Faktoren „Variation des Klaviersatzes“, „Dynamik“ „Tempo“ und „Vortragsanweisung“ zur Verfügung stehen. Und so ist das hier auch, und Beethoven setzt sie in höchst gekonnter Weise ein.


    Der Liedmusik liegt ein Sechsachteltakt zugrunde, und sie soll, so die erste Anweisung, „Ein wenig geschwinder, poco allegretto“ vorgetragen werden. Diese erfährt aber, und dies aus den genannten Gründen, im Liedverlauf zwei, für die musikalische Aussage höchst bedeutsame Abwandlungen. Für das zweitaktige Zwischenspiel vor der dritten Strophe lautet sie „Nach und nach geschwinder, stringendo“ und wird dann beim Einsatz der melodischen Linie ersetzt durch „Ziemlich geschwind“, assai allegro“. Das Tempo erfährt in der dritten Strophe gleich vier Abwandlungen, vom anfänglichen „assai allegro“ über „poco adagio“, der Rückkehr zu „Tempo I“ bis hin zu einem neuerlichen „poco adagio“ auf dem aus einer gedehnten Tonrepetition hervorgehenden Sekundfall der melodischen Linie, wie er auf dem das Lied beschließenden Wort „ewiglich“ liegt. Die Liedmusik der dritten Strophe reflektiert also, obgleich die Melodik eine identische Wiederkehr derjenigen darstellt, die auf den Worten der ersten Strophe liegt, sehr wohl die lyrische Aussage. Und der Klaviersatz trägt, worauf noch einzugehen ist, das Seine dazu bei.


    Mit einem fermatierten und einer nachfolgenden Achtelpause akzentuíerten G-Dur-Quartsext-Akkord, was ja durch die Rückung von Es- nach G-Dur am Ende des Nachspiels vom ersten Lied gleichsam eine Vorbereitung erfährt, setzt das viertaktige Vorspiel ein. Was nachfolgt mutet wie eine zögerliche Vorwegnahme der nachfolgend auftaktig einsetzenden melodischen Linie in akkordischer Gestalt an, - zögerlich, weil der dreifache Sekundanstieg, den diese auf den Worten „wo die Berge“ beschreibt, zweimal erfolgt, bevor sich die Akkordfolge fortsetzt und nach einer kleinen Dehnung in einen in G-Dur harmonisierten zweifachen Sekundfall übergeht.
    Strukturell betrachtet ist die Melodik dieses Liedes von großer Einfachheit. Im Grunde generiert sie sich in den beiden, je zwei Verse umfassenden Zeilen aus nur einer einzigen deklamatorischen Figur: Es ist eine bogenförmig angelegte, nach dem dreischrittigen Anstieg in einer Dehnung innehaltende und sich danach wieder absenkende Bewegung. Pro Zeile ereignet sie sich zwei Mal und endet dann in einem aus einer Tonrepetition hervorgehenden doppelten Sekundfall, der ebenfalls der immer gleiche ist. Die Harmonisierung ist dabei von gleicher Schlichtheit, denn die jeweiligen Rückungen finden ausschließlich zwischen Tonika und Dominante statt.


    Was aber ist es dann, was dieser Melodik ihre so große und eindringliche Anmutung von klanglicher Lieblichkeit verleiht?
    Es ist wohl gerade diese Schlichtheit der Bewegung, die im Gestus des Anstiegs und der Rückkehr zur Ausgangslage erfolgt und darin wie ein Ein- und Ausatmen wirkt. Hinzu kommt, dass sich in der Abfolge der immer gleichen Bewegung eine Steigerung der Expressivität dadurch ereignet dass die tonale Ebene von Zeile zu Zeile, aber auch innerhalb der Zeile jeweils um eine Sekund angehoben wird, was mit einer Rückung von der Tonika in die Dominante verbunden ist. Die zweite Melodiezeile hebt sich von der ersten dadurch ab, dass sie in der Dominante D-Dur einsetzt und sich die harmonischen Rückungen nun nicht ansteigend, sondern gleichsam fallend, also hin zur Tonika ereignen.
    Und da ist noch etwas, was vielleicht die hohe Eindringlichkeit zu erklären vermag. Der nachgelagerte, mit einer Tonrepetition eingeleitete Doppel-Sekundfall (auf schauen herein“ und „möchte ich sein“ in der ersten Strophe“) wirkt wie eine Bekräftigung des Falls den die melodische Linie in ihrer Bogenfigur beschrieben hat. Und Beethoven nutzt diese Figur ja in diesem Sinn, indem er sie nicht nur in den auf die beiden Melodiezeilen nachfolgenden Pausen vom Klavier wiederholen lässt, sondern auch am Ende noch einmal von der Singstimme im Anschluss an das Klavier.


    Darin erschöpft sich dessen Eigenständigkeit in der Liedmusik der ersten Strophe. Seine Aufgabe besteht hier nämlich darin, die Singstimme in allen ihren Bewegungen mit Diskant und Bass übergreifenden Akkorden zu begleiten. Dann aber ereignet sich Überraschendes und liedkompositorisch Ungewöhnliches: Das Klavier übernimmt in der zweiten Strophe in Gestalt von Sexten und Terzen die Artikulation der melodischen Linie der Singstimme im Diskant, und diese beschränkt sich darauf, den lyrischen Text auf nur einer tonalen Lage, der des Grundtones in mittlerer Lage, zu deklamieren. Im Bass lässt das Klavier dazu repetierende Oktaven und Sexten erklingen.
    Im Pianissimo spielt sich das alles ab, und es entfaltet eine geradezu verblüffende Wirkung. Empfand man schon in der ersten Strophe die Melodik in ihrer Schlichtheit als vollkommene klangliche Konkretion der Haltung und der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs, so erfährt das nun eine wahrlich in Bann schlagende Steigerung. Man fühlt sich auf unwiderstehliche Weise in die Liedmusik hineingezogen, möchte tun, was die in die Introversion versunkene Singstimme hier nicht vermag: Mitsingen.


    In der dritten Strophe entfaltet die melodische Linie, obgleich in ihrer Struktur unverändert, durch die Steigerung des Tempos („ziemlich geschwind“), dessen Binnendifferenzierung durch zwei eingelagerte Adagios bei der Wiederholung der Worte „innere Pein“ und „ewiglich sein“ und den Übergang vom gleichförmigen Pianissimo der zweiten Strophe in eine durch Crescendi und Decrescendi bis in Richtung Forte sich steigernde Dynamik eine stärkere Expressivität. Und das Klavier leistet einen wichtige Beitrag dazu, indem es von seinem Gestus der konsequenten Begleitung der melodischen Linie ablässt, dieser zwar immer noch in die tonalen Ebenen ihrer Entfaltung mit Akkorden folgt, diesen aber immer wieder fallend und steigend angelegte Achtel-Figuren vorangehen lässt, so dass vom zuvor so ruhigen Klaviersatz nun eine deutlich ausgeprägte Bewegtheit ausgeht. Und dieses Bestreben des Klaviers, die lyrische Aussage zu reflektieren, führt sogar dazu, dass es nicht, wie ansonsten üblich, im Nachspiel die melodische Fallfigur auf den Worten „innere Pein“ wiederholt, sondern nun einen sforzato angeschlagenen stark chromatisch eingefärbten Akkord aus den Tönen „D-Es-Fis-A-C“ hinzufügt und die Wiederholung dieser melodischen Figur mit einem wiederum dissonanten Akkord aus den Tönen „D-G-B-Cis-E“ begleitet, bevor es dann zu einer Rückung von d-Moll nach D-Dur übergeht.


    Das sind die kompositorischen Mittel, mit denen Beethoven im Rahmen des Strophenlied-Konzepts die seelische Pein des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt. Und dies gelingt ihm auf voll und ganz angemessene und höchst beeindruckende Weise.

  • "An die ferne Geliebte", Lied 3


    Leichte Segler in den Höhen,
    Und du, Bächlein klein und schmal,
    Könnt mein Liebchen ihr erspähen,
    Grüßt sie mir viel tausendmal.


    Seht ihr, Wolken, sie dann gehen
    Sinnend in dem stillen Tal,
    Laßt mein Bild vor ihr entstehen
    In dem luft'gen Himmelssaal.


    Wird sie an den Büschen stehen,
    Die nun herbstlich falb und kahl.
    Klagt ihr, wie mir ist geschehen,
    Klagt ihr, Vöglein, meine Qual.


    Stille Weste, bringt im Wehen
    Hin zu meiner Herzenswahl
    Meine Seufzer, die vergehen
    Wie der Sonne letzter Strahl.


    Flüstr' ihr zu mein Liebesflehen,
    Laß sie, Bächlein klein und schmal,
    Treu in deinen Wogen sehen
    Meine Tränen ohne Zahl!


    In seiner Einsamkeit bleibt dem lyrischen Ich nur – eine Grund-Figur der Liebeslyrik –, Elemente und Wesen der Natur, die raumgreifende Bewegung verkörpern, als Boten anzusprechen, auf dass sie alle seine Gedanken und Gefühle der fernen Geliebten überbringen mögen. Die Metaphorik, die Jeitteles dabei in seine Verse einbringt, weist ihn in ihrer Originalität und ihrem evokativen Potential als durchaus fähigen Lyriker aus. Dass „leichte Segler“ in den Höhen und das „Bächlein klein und schmal“ das „Liebchen“ tausendmal grüßen sollen, mutet lyrisch nicht sonderlich originell an, eher schon die Bitte, dass dieses Bächlein in seinen „Wogen“ die „Tränen“ des lyrischen Ichs sehen möge. Und geradezu poetisch groß dürfte die Vision des Einsamen sein, dass die „Wolken“ vor der „sinnend im stillen Tal“ gehenden Liebsten sein Bild „entstehen“ lassen.


    Wieder ist es eine Fülle von lyrischen Bildern und eine entsprechend komplexes Potential an die seelischen Regungen des lyrischen Ichs bekundenden lyrischen Aussagen, was sich da in den fünf Strophen entfaltet und für einen Liedkomponisten, der sich dem Konzept des Strophenlieds verpflichtet fühlt, eine gewaltige Herausforderung darstellen muss. Beethoven findet eine in ihrer liedkompositorischen Einfachheit geradezu geniale Lösung dafür: Er fängt mit einer in ihrem Gestus vom Staccato geprägten Melodik die Grundhaltung des lyrischen Ichs ein und mit einem von triolischer Lebhaftigkeit vorangetriebenen Klaviersatz den Geist der sich als elementare Bewegung präsentierenden lyrischen Bilder. Und als bei strukturell gleichbleibender und darin das Strophenlied-Konzept konstituierender Melodik zusätzlich hinzukommendes liedkompositorisches Ausdrucksmittel zieht er, neben jenen von ihm immer wieder genutzten des Tempos, der Dynamik und der Variation des Klaviersatzes, in diesem Fall auch das Tongeschlecht hinzu.


    As-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und in der ersten und der zweiten Strophe ist die melodische Linie durchweg in dieser Tonart und der Dominante Es-Dur harmonisiert. Mit der dritten Strophe tritt die Moll-Variante der Grundtonart in die Liedmusik und nimmt darin, unbeschadet der sich immer wieder ereignenden Rückungen in die Dur-Dominante, eine harmonisch dominante Rolle ein. Es ist die schmerzliche Wehmut, die Beethoven in den sehnsüchtigen Äußerungen des lyrischen Ichs gleichsam untergründig vernommen hat und denen er auf diese Weise musikalischen Ausdruck verleiht. „Allegro assai“ lautet die Tempo-Vorgabe für die Liedmusik, aber die wird nicht durchgehalten. Mit dem Einbruch des Tongeschlechts Moll in die Harmonik, wie er sich in der dritten Strophe ereignet, tritt in der Melodik drei Mal und im Klaviersatz ein viertes Mal ein deutliches Ritardando in sie, - jeweils liedmusikalischer Niederschlag der schmerzlichen Empfindungen, die sich beim lyrischen Ich bei der Imagination der Bilder einstellen, denen es sich visionär hingibt. Bezeichnenderweise geschieht das bei den Worten „klagt ihr, Vöglein, meine Qual“, „wie der Sonne letzter Strahl“ und „meine Tränen ohne Zahl“.


    Die Überleitung vom zweiten Lied zu diesem ereignet sich in zwei Takten dergestalt, dass in einer Folge von im Intervall sich verengenden bitonalen Akkorden im Diskant und mehrstimmigen Achtelakkorden im Bass eine Modulation von G-Dur nach As-Dur stattfindet. Und dann setzen die zunächst ansteigend angelegten triolischen Achtelfiguren im Diskant ein, die, später in ein Auf und Ab übergehend, mit Ausnahme der dritten und der vierten Strophe die Struktur des Klaviersatzes im Diskant bestimmen und den klanglichen Charakter des Liedes stark prägen.
    Man könnte darin eine klangliche Evokation des einleitenden Bildes von den „leichten Seglern in den Höhen“ sehen, es ist aber wohl eher eine des Geistes, der das lyrische Ich bei seiner an die Naturelemente gerichteten Ansprache beflügelt. Es ist angesichts der lyrischen Bilder der ersten beiden Strophen ein geradezu tänzerisch-beschwingt schweifender. Aber das kann nicht so bleiben, denn mit der dritten Strophe beginnt das lyrische Ich von seiner „Qual“ zu sprechen, und so legt das Klavier denn seinen beschwingten Gestus ab und begleitet die nun Moll harmonisierte melodische Linie mit je vier gewichtigen Viertel-Akkorden pro Takt.


    Die behält zwar durchweg ihre Grundstruktur bei, nicht aber ihren deklamatorischen Gestus. In der ersten Strophe entfaltet sie sich wie in leicht beschwingten Schritten, ein Eindruck, der dadurch zustande kommt, dass es Schritte im Wert eines Achtels sind und jedem eine Achtelpause nachfolgt. Schon in der zweiten Strophe ändert sich das aber. Bei den Worten „sinnend in dem stillen Tal“ wird mit einem Mal der erste Sekundfall legato deklamiert und die nachfolgenden deklamatorischen Schritte ereignet sich nicht mehr in von Pausen unterbrochenen Achtel-Schritten, sondern in solchen im Wert eines Viertels, was zur Folge hat, dass die melodische Linie nun von dem beschwingten Gestus ablässt und zu einer stärker gebundenen Bewegung übergeht. Und das ereignet sich so wie hier im folgenden immer dort, wo in der lyrischen Aussage oder in dem dazu benutzen Bild die Tiefe der seelischen Regungen durchschimmert.
    Beethoven setzt also subtile Mittel ein, um auf der Grundlage und im Rahmen dieses Strophenlied-Konzepts gleichwohl die jeweilige lyrische Aussage liedkompositorisch berücksichtigen zu können. Bei den Worten „Laßt mein Bild vor ihr entstehen“ lässt er zum Beispiel – aus den genannten Gründen – die melodische Linie, abweichend von der parallelen Stelle in der ersten Strophe, nicht in Achtel-Schritten, sondern in der gebundenen Weise von Vierteln deklamieren, kehrt aber dann bei den Worten „In dem luft'gen Himmelssaal“, dem lyrischen Bild entsprechend, zum Staccato-Gestus der ersten Strophe zurück.


    Auch wenn die Melodik dieses Liedes in dieser Weise mehrfach eine deklamatorische Variation erfährt, so ist sie doch grundsätzlich in ihrer Struktur vom Geist des seelenvollen imaginativen Ausbruchs aus der Einsamkeit des an Liebe Leidenden hin zur „fernen Geliebten“ geprägt. Und das drückt sich in ihrem Grund-Gestus aus, der einer des Aufstiegs in obere tonale Lagen ist. Höchst bezeichnend ist, dass dieser in der Melodiezeile auf den ersten beiden Versen nach einem wie zögerlich wirkenden Auf und Ab in Sekundschritten erfolgt und dann, nach einer nur kurzen Aufgipfelung auf der ersten Silbe von „Höhen“ (um das beim Text der ersten Strophe aufzuzeigen), schon auf der zweiten in einen sich über eine ganze Oktave erstreckenden Fall übergeht. Beim zweiten Verspaar findet die Melodik dann aber gleichsam zu sich selbst und dem sie prägenden Geist des beflügelten Aufbruchs. Nun steigt sie nicht mehr in zögerlichem Auf und Ab, sondern gleich in Terz- und nachfolgenden großen und kleinen Sekundschritten zu dem hohen „Es“ auf, das sie zuvor schon einmal angestrebt hatte. Aber jetzt verharrt sie darauf in einer Tonrepetition (bei den Worten „grüßt sie“), bevor sie sich erneut einem Fall überlässt. Der aber ist nun keiner, der sich wieder über eine Oktave erstreckt, sondern nur zum Grundton „As“ auf mittlerer Lage will, und dies, weil er eigentlich keine wirkliche Abwärtsbewegung sein will, in Gestalt eines anfänglich verminderten Schritts nach unten und einem nachfolgend neuerlichen Sekundsprung, bevor es dann wirklich über eine Terz und eine Sekunde zum Grundton geht.


    Dieses lyrische Ich will, so wie Beethoven es verstanden hat, mit den Mitteln des imaginativen Ansprechens von Elementen der es umgebenden Natur und daraus hervorgehenden Liedern einen Ausbruch aus der Einsamkeit seines „Sitzens auf dem Hügel“ versuchen. Und da ist keine Melodik angebracht, die sich dem Gestus des Fallens überlassen darf. Aufbruch und Schwung nach oben sind angesagt. Dieser drückt sich in der Melodik dieses Liedes dergestalt aus, dass sie sich in der zweiten Zeile vom anfänglich zögerlichen Auf und Ab nun in gleichsam energischerer Weise, nämlich in zweimaligem Anlauf und mit einem Crescendo, zu jener bereits schon einmal erreichten hohen tonalen Lage hinaufbewegt und dort in Gestalt einer Tonrepetition so etwas wie einen Akzent setzt.


    Aber die Sehnsucht nach der fernen Geliebten birgt ja neben den Freuden des Denkens an sie auch schmerzliche Gefühle in sich, die sich in den Strophen drei und vier lyrischen Ausdruck suchen, und so wechselt denn die Melodik bei unverändert bleibender Grundstruktur in ihrer Harmonisierung zum Tongeschlecht Moll hinüber. Ein as-Moll, das allerdings, weil ihm keine wirklich dominante Rolle zukommen darf, immer wieder Rückungen nach Es-Dur vollzieht. Es ist eben kein wirklicher tief reichender und schwer wiegender seelischer Schmerz, der, so wie Beethoven das aufgefasst hat, mit den Worten „klagt ihr, Vöglein, meine Qual“ und „meine Seufzer, die vergehen“ lyrisch artikuliert wird. Und so geht denn auch der Klaviersatz nur zwei Strophen lang zu einer Begleitung der melodischen Linie in Gestalt von gewichtigen Viertel-Akkorden über. Schon in der vierten passt er sich darin aber dem wieder aufkommenden Staccato-Gestus der melodischen Linie an, indem aus den Viertel-Akkorden solche von Achteln werden, denen eine Achtelpause nachfolgt. Und in der letzten Strophe überlässt sich das Klavier wieder bis zum Ende seinen triolischen Achtelfiguren.


    Fast bis zum Ende. Und das gilt auch für das as-Moll als die melodische Linie ab der dritten Strophe harmonisierendes Tongeschlecht. Die zweimalige Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „Meine Tränen ohne Zahl“ wird vom Klavier zunächst mit Terzen, dann aber auch mit dreistimmigen Akkorden begleitet, und noch ereignet sich dabei die für die Strophen drei bis fünf geltende Rückung von as-Moll über die Dur-Dominante Es-Dur und wieder zurück. Aber das in der Identität der lyrischen Ausgangssituation wurzelnde kompositorische Grundkonzept des möglichst unmittelbaren Übergangs von einer Liedmusik in die andere erfordert eine deklamatorische Wiederholung der Worte „ohne Zahl“. Und dies geschieht auf einem in as-Moll harmonisierten repetierenden „Ces“ in mittlerer Lage, dem eine Kombination aus Sekundfall und Quartsprung nachfolgt, bei der sich eine Rückung nach Es-Dur ereignet, - der Tonart, in der - und dies in dominantischer Funktion - die lange, sich über mehr als zwei Takte erstreckende Dehnung des hohen „Es“ harmonisiert ist, die nun auf dem Wort „Zahl“ liegt.

  • Hier ein Link zu einer Aufnahme des Liedes "Leichte Segler in den Höhen" mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll als Interpreten.
    Das die Haltung des lyrischen Ichs reflektierende innere Beflügelt-Sein der Liedmusik ist von den beiden auf beeindruckende Weise zum Ausdruck gebracht.



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