Andrew Manze – the mad scientist

  • Manze ist nach meiner Einschätzung sicherlich einer der markantesten Violinisten im historisch informierten Sektor - und zudem einer, der a) einen sehr individuellen Ton hat (den ich so gar nicht als besonders »kratzig« empfinde) und b) eigenwillige und unverwechselbare Interpretationen vorlegt. Die hier schon mehrfach erwähnten Rosenkranz-Sonaten Bibers etwa sind in seiner Lesart durchaus zwingend und in ihrer kontemplativen Zurückgenommenheit einzigartig - auch wenn mir persönlich einige andere Interpretationen näher sind. Auch andere Violinsonaten Bibers spielt er makellos und sehr eigen - und zeigt dabei, daß er sich durchaus auch auf virtuos-artistische Äußerlichkeiten versteht. Seine Interpretation der Händel-Sonaten gefällt mir mindestens so gut wie die Holloway-Einspielung.


    In den letzten Tagen habe ich erstmals auch »Bekanntschaft« mit ihm als Orchesterleiter gemacht und zwar durch diese Scheibe:



    Eingespielt sind die vier 12stimmigen Orchestersinfonien (Wq. 183, 1-4) Carl Philipp Emanuel Bachs. Die Interpretationen hinterlassen bei mir einen irgendwie zwiespältigen Eindruck. Ja, es wird auf allerhöchstem Niveau musiziert, das Ganze hat eine ungeheure innere Dynamik und einen ordendlichen Drive. Mitreißend! Seltsam jedoch muten die in den schnellen Sätzen am Ende nahezu jeder melodisch-thematischen Phrase gesetzten ritardandi (bisweilen verbunden mit einem heftigen decrescendo) an sowie ein bisweilen aufgesetzt wirkender Hang zum rubato. Einerseits werden damit die bei Bach ohnehin heftigen Registerwechsel der Leidenschaften ordenlich forciert - andererseits verlieren die Wechselbäder der Affekte durch die Ritardando-Ankündigungen doch an Spontanität und Plötzlichkeit. Ich weiß noch nicht so recht, ob mir das dauerhaft gefallen wird...
    Ist das allgemein der Personalstil des Dirigenten Manze oder ausschließlich seiner Interpretation dieser »Leidenschafts-Sinfonik« C.P.E. Bachs vorbehalten?


    Ganz herzlich,
    Medard


  • Sechseinhalb Jahre kein Beitrag hier. Seither hat sich doch einiges in Bezug auf Andrew Manze, der am 14. Januar 50 Jahre alt wurde, getan.


    Zwischen 2003 und 2007 amtierte Manze als Chefdirigent von The English Concert. Von 2006 bis 2014 leitetete er das Symphonieorchester Helsingborg, eines der ältesten Orchester Schwedens. 2014 übernahm er schließlich die NDR Radiophilharmonie.


    Es scheint so, als würde sich Manze nun mehr und mehr von der Alten Musik lösen und sich mitunter gar bis zur Spätromantik vorwagen. Er legte u. a. eine Gesamtaufnahme der Brahms-Symphonien für cpo (entstanden 2009/10) und einige Britten-Aufnahmen für Hyperion (entstanden 2012) vor. Bereits 2007 spielte er eine kontrovers diskutierte Einspielung von Beethovens "Eroica" für Harmonia Mundi France ein. Für dasselbe Label nahm er 2006 auch Schuberts Violinsonaten auf. Kürzlich, am 11. März 2015, erfolgte sein viel beachtetes Debüt beim London Philharmonic Orchestra mit einem rundum gelungenen Programm aus Elgar, Ireland und Walton.



    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Es scheint so, als würde sich Manze nun mehr und mehr von der Alten Musik lösen und sich mitunter gar bis zur Spätromantik vorwagen.


    Lieber JosephII!


    Da hast Du vollkommen recht!


    Heute abend beginnt ja in Hannover schon die zweite Saison, in der Andrew Manze die Radiophilharmonie Hannover als Chefdirigent leitet:


    Es gibt von Beethoven die 2. und die 9. Sinfonie!
    Der NDR überträgt das Konzert live.
    Ich werde aber das Konzert doch lieber im Konzertsaal hören.


    Schon in der letzten Saison hat Manze bewiesen, dass er weit mehr kann als Barock und Klassik.
    In der neuen Saison wird er natürlich auch wieder Barockmusik aufführen (u.a. Matthäus-Passion) aber der Schwerpunkt ist sie nicht!


    So dirigiert Manze - ausser dem oben schon erwähnten Beethoven-Programm - unter anderem:
    Mendellsohn 3. Sinfonie
    Rachmaninoff. 3. Klavierkonzert (Lugansky)
    Mahler Rückert-Lieder (Baechle)
    Mahler 5. Sinfonie
    Franck Sinfonische Variationen (Ax)
    Bruckner 5. Sinfonie
    Brahms 4. Sinfonie
    Soerensen Trompetenkonzert
    Berlioz Harold in Italien (Tabea Zimmermann)
    Mendelssohn 4. Sinfonie
    Glasunov Violinkonzert (Barati)
    Beethoven 4. Sinfonie
    Hillborg King Tide


    Interessant ist übrigens, dass die Radiophilharmonie zwar einen eigenen ABO-Ring Barock anbietet, Manze davon aber nur ein Konzert leiten wird.


    Eivind Gulberg-Jensen war ein guter Leiter des Orchesters und hat ausgezeichnete Aufführungen dirigiert.
    Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Programme jetzt nicht weniger interessant sind - finde die Konzerte unter Andrew Manze aber noch deutlich spannender.
    Allerdings habe ich in der letzten Saison nur drei Konzerte unter seiner Leitung mitbekommen!
    Trotzdem wage ich zu sagen, dass sich die Radiophilharmonie unter ihm in ihrem Spielniveau und in ihrer Klangkultur unter Manze schon erfreulich weiter entwickelt hat und sicher noch entwickeln wird!


    Also Andrew Manze verdient reichlich Lob und weiter Aufmerksamkeit!


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Mein Zugang zu Manze war zu Beginn durch die Tatsache gestört, daß er bei "The English Concert" der Nachfolger des von mir geschätzten Trevor Pinnock wurde. Ich sah den eleganten Eigenklang des einzigen HIP Orchesters, das ich damals mochte in Gefahr und habe seit Pinnocks Weggang keine einzige Aufnahme mit diesem Orchester mehr erworben.
    Die deutschsprachige Wikipedia verschweigt übrigens auf der Seite über "The English Concert" die Jahre 2003 - 2007 völlig, wo Manze die Formation führte und lässt Harry Bicket 2007 quasi nahtlos auf Pinnock folgen.
    Ich höre soeben einige Violinsonaten von Biber, gespielt von Andrew Manze (Barockvioline), Nigel North (Laute und Theorbe), John Toll (Cembalo und Orgel), sowie "Romanesca" Dieses Ensemble wurde, wenn man Wikipedia Glauben schenken darf, von Manze gegründet. Dieses Ensemble dürfte meines Wissens nach nicht mehr existieren - man findet keine Angaben darüber im Internet. Das ist schade, denn die Aufnahme der Biberschen Violinsonaten ist in jeder Hinsicht superb...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich höre soeben einige Violinsonaten von Biber, gespielt von Andrew Manze (Barockvioline), Nigel North (Laute und Theorbe), John Toll (Cembalo und Orgel), sowie "Romanesca" Dieses Ensemble wurde, wenn man Wikipedia Glauben schenken darf, von Manze gegründet. Dieses Ensemble dürfte meines Wissens nach nicht mehr existieren - man findet keine Angaben darüber im Internet. Das ist schade, denn die Aufnahme der Biberschen Violinsonaten ist in jeder Hinsicht superb...


    "Romanesca" ist nur bedingt als festes Ensemble zu verstehen, vielmehr ist es eine Bezeichnung, die ursprünglich für Aufzeichnungen bei HMF kreiert wurde, von denen schliesslich sieben erschienen.


    Diese Gruppe bestand im Kern aus den bereits Genannten - Manze, dem Lautenisten Nigel North (welcher bereits mit Deller und Munrow zusammengearbeitet hatte und übrigens im fraglichen Zeitraum eine Professur an der HdK Berlin bekleidete) sowie dem mit Manze bereits aus Studientagen in Cambridge bekannten Cembalisten John Toll. Letzterer starb 2001, was zugleich das Ende des Ensembles bedeutete.


    (Nicht zu verwechseln ist diese Gruppe mit "La Romanesca" aus Spanien...)

  • Heute abend beginnt ja in Hannover schon die zweite Saison, in der Andrew Manze die Radiophilharmonie Hannover als Chefdirigent leitet:


    Es gibt von Beethoven die 2. und die 9. Sinfonie!


    In dem Konzert war ich nun vorgestern. Einen eingehenden Bericht zu schreiben, werde ich mir ersparen - vermutlich würde er doch nicht so sehr interessieren.
    Aber vielleicht ist es sinnvoll, gerade in diesem Thread hier ein paar Eindrücke mitzuteilen.


    Zunächst war ich sehr beeindruckt, wie Manze die Musiker seines Orchesters für seine Interpretation Beethovens begeistert und regelrecht entflammt hat. Man sah und hörte, dass alle mit wachem Verstand und glühendem Herzen dabei waren und mit einer Konzentration und Hingabe musizierten, auch mit einem enormem Mut zum Risiko, die ich bei diesem Orchester so noch nicht erlebt habe.


    Dann hat mich überrascht, dass er überhaupt nicht darauf versessen war, seinen Musikern die Klangvorstellungen und Artikulationsmanieren der sogenannten historischen Aufführungspraxis abzuverlangen. Er hat halt viele Jahre in ganz normalen Sinfonieorchestern gespielt, ehe er sich mit der Alten Musik befasste und eine Solokarriere als Geiger begann und zum Spezialisten für historische Aufführungspraxis wurde. Man hat den Eindruck, ihm ist wichtig, zu diesen Wurzeln jetzt zurück zu kommen und die musikalischen Werke ganz sorfältig so zu musizieren, dass ihre Sinnpotentiale erfasst und entfaltet werden.


    Schließlich hat mich auch sein Beethoven überrascht.
    Gesamteindruck: da wird ungemein spontan und lebendig musiziert! Natürlich ist ganz sicher extrem viel und ernsthaft geprobt worden (Rhythmische Prägnanz und Schärfe, fein abgestimmtes Zusammenspiel der Gruppen, genau ausbalancierte Klangfarben) aber die Aufführung klingt unverkrampft, frei und gelegentlich sogar entspannt. Beispielsweise habe ich das Scherzo der 2. Sinfonie noch nie so gelöst fast tänzerisch gehört. Umso frappierender ist dann, dass im Schlusssatz der Sinfonie, der doch meist frohgemut und eher beschwingt klingt, Verschattungen und Untiefen zu hören sind, wie man sie eigentlich erst aus späteren Sinfonien Beethovens kennt. Aber man hat nicht das Gefühl, hier würde etwas in die Musik hineingelegt, das eigentlich gar nicht drin ist. Solche Momente gewinnt Manze - so mein Eindruck - durch eine Emanzipation der Einzel- zumal der Mittelstimmen (selten ist mir die Bedeutung der Bratschen so bewusst geworden), durch eine genau Pointierung der harmonischen Vorhalte und Konvergenzen sowie durch agogische Nuancierungen.


    So! Weiter will ich jetzt erst mal nicht in eine Beschreibung des Konzertes und der Interpretationen gehen.
    Zumal in der 9. Sinfonie gab es vieles, das zu beschreiben und zu rühmen lohnen würde. Wie schon lange nicht mehr, ist mir hier bewusst geworden, wie sehr unser - ganz besonders auch mein ganz persönliches - Verständnis dieser Sinfonie durch die Bedeutungszuschreibungen späterer Jahrzehnte geprägt ist. Dass Beethoven - wie viele Humanisten der Zeit - sich der Unerreichbarkeit der von ihm verkündeten Utopie bewusst war und darunter litt, habe ich jedenfalls schon lange nicht mehr so intensiv erlebt wie in Manzes Aufführung der 9. Sinfonie - besonders in 3, und im 4. Satz.


    Langer Rede kurzer Sinn: Manze ist als Dirigent nicht weniger interessant denn als Geiger.
    Gerade mit einem ganz traditionellen Sinfonieorchester dürfte von ihm noch manch lohnendes Konzert zu erwarten sein.
    ( Im November wird Manze mit der NDR-Radiophilharmonie Hannover drei Konzerte in Salzburg und je eines in Wien, Köln und Freiburg geben. Im kommenden Frühjahr stehen Konzerte in Paris, Lyon und Monte Carlo an)
    In Hannover hat er ja inzwischen seinen Vertrag bis 2019 verlängert und es sind bereits diverse Aufnahmen geplant, die auch auf CD erscheinen werden!
    Man darf gespannt sein!


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Andrew Manze hat ja im Frühjahr seinen Vertrag in Hannover bis 2021 verlängert! :thumbsup:


    Durch ihn habe ich die Rosenkranz Sonaten kennen und lieben gelernt und vieles mehr!


    Hier ein par kleine Anmerkungen von ihm zu div.Werken, hier zu Mahlers Rückert Liedern!


    Wer die Seite aufgerufen hat kann dann weiter nach unter Scrollen und findet den Rest!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ein Artikel in der HAZ zeigt, welche Bedeutung die Radiophilharmonie Hannover unter Manze gewonnen hat.


    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Andrew Manze wird zur kommenden Saison auch Erster Gastddirigent des Royal Liverpool Orchestra. Wichtigstes Projekt derzeit, eine Einspielung aller 9 Symphonien von Ralph Vaughn Williams.

  • Andrew Manze wird zur kommenden Saison auch Erster Gastddirigent des Royal Liverpool Orchestra. Wichtigstes Projekt derzeit, eine Einspielung aller 9 Symphonien von Ralph Vaughn Williams.

    Das kann ich mir schon gut vorstellen! - Ich habe Manze im vergangenen November in der Elbphilharmonie gehört. Für sein Debut(!) beim NDR Elbphilharmonieorchester hatte er sich ein rein englisches Programm zusammengestellt:


    Henry Purcell, Music for the Funeral of Queen Mary
    William Walton, Cellokonzert (Alban Gerhardt Violincello)
    Ralph Vaughan Williams, Symphony No.2 "A London Symphony"


    Das Konzert hat sehr gefallen!

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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