Also dass die (instrumentalen) Mono-Aufnahmen Karajans mit dem Philharmonia Orchestra "ausnahmslos" oder auch nur größtenteils zu Klassikern geworden wären, halte ich für nicht richtig.
Lieber Johannes Roehl,
ich hatte "fast ausnahmslos" geschrieben, das ist schon ein kleiner Unterschied. Du hast aber recht, dass die Londoner Aufnahmen durch die späteren DGG-Aufnahmen des gleichen Repertoires an den Rand gedrängt wurden. Das heißt aber nicht, dass sie unbedingt auch künstlerisch wertvoller waren. Vielmehr hatte das m.E. im wesentlichen zwei Gründe:
1) die DGG-Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern sind natürlich den Philharmonia-Produktionen klangtechnisch überlegen, und das gilt auch für die Stereo-Aufnahmen.
2) im Gegensatz zur "knickigen" EMI hat die DGG mit den Karajan-Aufnahmen einen Werbeaufwand ohnegleichen betrieben, was den Absatz natürlich in die Höhe getrieben hat. Ich erinnere mich noch lebhaft an die 1960/70/80er Jahre, als in jedem großen Plattenladen ein riesiges Karajan-Plakat angebracht war, und die jeweils neuesten Aufnahmen mit gewaltiger Werbetrommel angepriesen wurden. Da konnte und wollte EMI nicht mithalten.
Ich nenne hier, neben dem von Dir bereits aufgeführten "Rosenkavalier" und "Falstaff" (beide Stereo), noch die bis heute unübertroffenen Aufnahmen von "Hänsel und Gretel" und vor allem "Così fan tutte" (Mono), aber es gibt auch eine große Anzahl von Konzertaufnahmen, die zu wahren Plattenklassikern wurden, z.B. die Mozart-Hornkonzerte mit Dennis Brain, das Schumann-Konzert mit Lipatti, die erste Aufnahme der "Symphonie fantastique" von Berlioz, die Suiten zu "Schwanensee" und "Dornröschen" (Stereo), Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" (in Stereo, die Aufnahme wurde bis weit in die 1970er Jahre als HiFi-Demonstrationsplatte verwendet), die Rossini-Ouvertüren (Stereo), die Brahms-Sinfonien Nr. 2 & 4 (ebenfalls Stereo), Schuberts "Unvollendete" (Stereo), die Sibelius-Sinfonien Nr. 2 & 5 (Stereo). Vor allem die Brahms-Sinfonien und die von Sibelius wurden später selbst von Karajan nicht mehr erreicht, geschweige übertroffen, auch wenn sie klangtechnisch nicht mit seinen neueren konkurrieren konnten. Beethovens Missa Solemnis, 1958 anlässlich einer Konzertreise nach Wien mit dem Philharmonia Orchestra und dem Wiener Singverein in Stereo produziert, ist IMO Karajans schlüssigste, überzeugendste Version, wenn sie auch klanglich einige Mängel aufweist, obwohl er das Werk später noch mindestens dreimal eingespielt hat.
Ich halte nach wie vor die Londoner Zeit und die Zusammenarbeit mit Walter Legge insgesamt für Karajans künstlerisch fruchtbarste Jahre. Was Soll und Haben betrifft, stand Karajan aber seine "fruchtbarste Zeit" noch bevor.
LG, Nemorino