Musikalische Reife, Musikverständnis

  • Da dieser Thread jetzt seit einem Monat Pause macht, trau ich mich im Zusammenhang mit dem Begriff Reife einmal folgende Frage zu stellen: Verspürte jemand an sich selbst jemals akut eine Art Reifungsprozess, was die Rezeption von Musik angeht? Wenn ja, gab es dafür einen Auslöser, der euer Hörverhalten mehr oder weniger plötzlich geändert hat, oder hat euch tatsächlich die Kenntnis z.B. der Sonatenhauptsatzform geholfen, ein Werk in einem anderen Licht zu sehen bzw. den emotionalen Zugang zu einer ganzen Gruppe von Werken erleichtert? War es etwa einfach nur das Hören eines bestimmten Stückes oder eine bestimmte Interpretation oder Interpretationsweise, die einen entscheidenden Einfluss auf euer Hörverhalten hatte?


    Was mich betrifft, passierte so ein Wandel 2007. Ich merkte, dass im Internet zum Teil ganz andere Musik zu hören war, als man sie im Radio hören oder im Plattenladen auf die schnelle Tour entdecken konnte. Dazu kam noch ein prägendes Konzerterlebnis. Dieses hätte ich aber nicht besucht, wenn ich nicht den Komponisten vorher im Internet 'kennengelernt' hätte. Alles ging keineswegs von mir aus, abgesehen von einer gewissen Neugier, der ich folgte. Was ich da hörte, rührte aber an etwas, was durch einige Jahre Geigenunterricht an Prägung vorhanden war. Ob man das aber einen Reifungsprozess nennen kann, bezweifle ich allerdings.

  • Ich möchte dafür plädieren, den Begriff "Reifeprozess" und "Reifung" hintenan zu stellen und ihn durch "Lernprozess" zu ersetzen. Die R.- Begriffe werden meist universal und allgemein verwendet, es wird selten klar ausgedrückt, was gemeint und gewollt ist. Bei "Lernprozess" kann ich z.B. sagen, ich will das und das wissen oder lernen, also von A nach B kommen, also ein Ziel zu formulieren. Es ist oft sehr genau klärbar, wann ein bestimmter Lerneffekt eingesetzt hat (bitte hier nicht mit dem Argument der "Reifeprüfung" kommen...)


    MlG
    Damiro

  • Hallo Seicento,


    Doch ich würde sagen, ja. Ob man es wirklich einen Reifungsprozess nennen darf, sei mal dahin gestellt, aber in den letzten Wochen hat ein Prozess eingesetzt, der meine Art Musik zu hören noch einmal deutlich verändert hat. Ausgelöst durch das Lesen. Die Sonatenhauptsatzform ist mir dabei natürlich auch begegneten und hat auch noch Mark einen Anreiz gesetzt, anders zu hören. Aber so richtig gefunkt hat es mit dem Buch "the rest is noise" nicht weil das Buch so toll, sondern weil mir beim Lesen immer wieder sehr deutlich vor Augen geführt wurde, was ein Komponist alles an Zitaten, an außer musikalischen Inhalten in seine Stücke eingebaut haben kann. Man darf nicht vergessen, ich bin Neulinge was klassische Musik angeht.


    Auf alle Fälle hat es dazu geführt, dass ich noch mal anders ans Musik hören dran gehe. Mehr auf das höre, was vielleicht hinter der Musik noch steckt. Während ich vorher Musik viel mehr als absolute Musik gehört habe. Was ich zwar immer noch manchmal tue, aber deutlich weniger und vielleicht auch bewusster als vorher.

  • Ich möchte dafür plädieren, den Begriff "Reifeprozess" und "Reifung" hintenan zu stellen und ihn durch "Lernprozess" zu ersetzen.


    Lieber Damiro,
    das ist eine sehr gute Idee. Der Lernprozess (Kennenlernprozess), den ich durchlaufen durfte, hat zu einer starken Spezialisierung in meinen Hörgewohnheiten geführt. Diese Spezialisierung würden viele sicher als eine krasse Einschränkung erachten. Der Begriff 'Reife' wird meistens im Sinne einer Weiterentwicklung verstanden. Lange Zeit hat sich mein Musikgeschmack ja auch parallel zu der Entwicklung der Musik-Epochen geändert - bis zu jenem "Rückfall" vor 11 Jahren. Insofern würden viele sicher meinen 'Reifungsprozess' mit dem eines Apfels vergleichen, der noch auf dem Baum fault. ;)
    Insofern gefällt mir persönlich der Begriff 'Lernprozess' wesentlich besser.


    seicento

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